Ein neuer Morgen für Samuel - Ruth Druart - E-Book
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Ein neuer Morgen für Samuel E-Book

Ruth Druart

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Beschreibung

Paris, 1944: Sarah und David befinden sich im Lager Drancy. Gerüchte über Todeslager machen die Runde, und die beiden ahnen, dass sie in ein anderes Lager abtransportiert werden. Sie bangen um ihr Leben. Und um das Leben ihres neugeborenen Sohns Samuel. In einem Akt purer Verzweiflung drückt Sarah ihr Baby dem Gleisarbeiter Jean-Luc in die Arme und bittet ihn, Samuel zu retten. Gemeinsam mit Charlotte stellt Jean-Luc sich dieser Aufgabe, und die drei wagen die gefährliche Flucht in die USA ...

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

ZWEITER TEIL

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

DRITTER TEIL

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel

Achtunddreißigstes Kapitel

Neununddreißigstes Kapitel

Vierzigstes Kapitel

Einundvierzigstes Kapitel

Zweiundvierzigstes Kapitel

Dreiundvierzigstes Kapitel

Vierundvierzigstes Kapitel

VIERTER TEIL

Fünfundvierzigstes Kapitel

Sechsundvierzigstes Kapitel

Siebenundvierzigstes Kapitel

Achtundvierzigstes Kapitel

Neunundvierzigstes Kapitel

Fünfzigstes Kapitel

Einundfünfzigstes Kapitel

Zweiundfünfzigstes Kapitel

Dreiundfünfzigstes Kapitel

Vierundfünfzigstes Kapitel

Fünfundfünfzigstes Kapitel

Sechsundfünfzigstes Kapitel

Siebenundfünfzigstes Kapitel

Achtundfünfzigstes Kapitel

Neunundfünfzigstes Kapitel

Sechzigstes Kapitel

Einundsechzigstes Kapitel

Zweiundsechzigstes Kapitel

Dreiundsechzigstes Kapitel

Vierundsechzigstes Kapitel

Fünfundsechzigstes Kapitel

Sechsundsechzigstes Kapitel

Siebenundsechzigstes Kapitel

Achtundsechzigstes Kapitel

Neunundsechzigstes Kapitel

Siebzigstes Kapitel

Einundsiebzigstes Kapitel

Zweiundsiebzigstes Kapitel

Dreiundsiebzigstes Kapitel

Vierundsiebzigstes Kapitel

Fünfundsiebzigstes Kapitel

Sechsundsiebzigstes Kapitel

Siebenundsiebzigstes Kapitel

Achtundsiebzigstes Kapitel

Neunundsiebzigstes Kapitel

Achtzigstes Kapitel

Einundachtzigstes Kapitel

Zweiundachtzigstes Kapitel

Dreiundachtzigstes Kapitel

Vierundachtzigstes Kapitel

Fünfundachtzigstes Kapitel

Sechsundachtzigstes Kapitel

Siebenundachtzigstes Kapitel

Achtundachtzigstes Kapitel

Neunundachtzigstes Kapitel

Epilog

Danksagungen

Gedicht für ein angenommenes Kind

Über dieses Buch

Paris, 1944: Sarah und David befinden sich im Lager Drancy. Gerüchte über Todeslager machen die Runde, und die beiden ahnen, dass sie in ein anderes Lager abtransportiert werden. Sie bangen um ihr Leben. Und um das Leben ihres neugeborenen Sohns Samuel. In einem Akt purer Verzweiflung drückt Sarah ihr Baby dem Gleisarbeiter Jean-Luc in die Arme und bittet ihn, Samuel zu retten. Gemeinsam mit Charlotte stellt Jean-Luc sich dieser Aufgabe, und die drei wagen die gefährliche Flucht in die USA …

Über die Autorin

Ruth Druart wuchs auf der Isle of Wight auf. Mit achtzehn Jahren zog sie von dort fort, um an der Leicester University Psychologie zu studieren. Seit 1993 lebt sie als Lehrerin in Paris. Ein neuer Morgen für Samuel ist ihr erster Roman.

RUTH DRUART

Ein neuer Morgen für SAMUEL

Roman

Übersetzung aus dem Englischen von Ulrike Moreno

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der englischen Originalausgabe:»While Paris Slept«

Für die Originalausgabe:Copyright © 2021/2022 by Ruth DruartPublished by arrangement with Headline Review, an imprint of HEADLINE PUBLISHING GROUP

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dorothee Cabras, GrevenbroichUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung von Motiven von © arcangel: Caroline FLORNOY | Lee Avison; © shutterstock.com: David M. SchradereBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0370-3

luebbe.delesejury.de

Für Jeremy, Joachim und Dimitri,die mich zu dieser Geschichte inspiriert habenUnd in Erinnerung an meine Großmutter Diana White

»Lasst uns einen Tag opfern,um vielleicht ein ganzes Leben zu gewinnen.«

Aus: Les Misérables von Victor Hugo

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

Santa Cruz, 24. Juni 1953

JEAN-LUC

Jean-Luc führt das Rasiermesser an seine Wange und betrachtet sich im Badezimmerspiegel. Im ersten Moment erkennt er sich selbst nicht. Mit dem Rasiermesser in der erhobenen Hand hält er inne, schaut sich in die Augen und fragt sich, was es sein mag. Irgendwie hat er jetzt etwas Amerikanisches an sich, das sich an seiner gesunden Bräune, den weißen Zähnen und etwas anderem zeigt, das er jedoch nicht genau bestimmen kann. Ist es vielleicht die selbstsichere Haltung seines Kinns? Oder sein Lächeln? Wie dem auch sei, es gefällt ihm jedenfalls. Wie ein Amerikaner auszusehen ist gut.

Nur mit einem Handtuch um die Hüften geht er ins Schlafzimmer zurück, wo ein dunkler Schatten draußen vor dem Fenster seine Neugierde erregt. Es ist ein schwarzer Chrysler, sieht er jetzt, der im Kriechtempo die Straße hinaufkommt und dann unter der Eiche vor ihrem Haus anhält. Komisch. Wer sollte um sieben Uhr morgens bei ihnen vorbeischauen? Irritiert starrt er das Auto an, bis der buttrige Duft von warmen Crêpes die Treppe hinaufsteigt und ihn zum Frühstück ruft.

Als er die Küche betritt, küsst er Charlotte auf die Wange und fährt seinem Sohn mit der Hand durchs Haar. Ein Blick aus dem Fenster verrät ihm, dass das Auto noch immer vor dem Haus steht. Aber nun sieht er auch, dass ein schlaksiger Mann an der Fahrerseite aussteigt und sich fast den Hals verrenkt, um sich umzuschauen. Wie ein Pelikan, denkt Jean-Luc. Ein zweiter, untersetzter Mann steigt auf der anderen Seite aus, und gemeinsam gehen sie auf das Haus zu.

Die Türklingel zerreißt die morgendliche Stille.

Charlotte blickt verwundert auf.

»Ich gehe schon.« Jean-Luc ist bereits auf dem Weg nach draußen, entfernt die Kette aus dem Schloss und zieht die Tür auf.

»Mr. Bow-Champ?«, fragt der Pelikan-Mann, ohne eine Miene zu verziehen.

Jean-Luc starrt ihn nur schweigend an und registriert den dunkelblauen Anzug, das weiße Hemd mit der schlichten Krawatte und den arroganten Ausdruck seiner Augen. Die falsche Aussprache seines Namens ist etwas, was er für gewöhnlich durchgehen lässt, doch irgendetwas verletzt heute Morgen seinen Stolz. Vielleicht liegt es ja daran, dass der Mann direkt vor seiner Haustür steht. »Beauchamps«, berichtigt er ihn. »Das ist ein französischer Name.«

»Das wissen wir auch, aber wir sind hier in Amerika.« Die Augen des Pelikan-Mannes verengen sich ein wenig, als er einen glänzenden schwarzen Schuh über die Schwelle setzt. Er späht über Jean-Lucs Schulter, und sein Nacken knackt, als er sich umdreht und mit schief gelegtem Kopf zu dem überdachten Carport hinüberschaut, in dem ihr neuer Nash 600 parkt. Seine Oberlippe kräuselt sich ein wenig. »Mein Name ist Jackson, und das ist Mr. Bradley, und wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen, Mr. Bow-Champs.«

»Fragen wozu?«, entgegnet Jean-Luc in einem Ton, der sein Erstaunen zum Ausdruck bringen soll. Doch selbst in seinen eigenen Ohren klingt seine Stimme unaufrichtig – und definitiv eine Oktave zu hoch.

Die gedämpften Geräusche des Frühstücks sind bis zur Tür zu hören: Tellergeklapper und das helle Lachen seines Sohnes. Die vertrauten Laute hallen in Jean-Luc wider wie ein ferner Traum. Er schließt die Augen und klammert sich an die jetzt nachlassenden Geräusche. Eine kreischende Möwe holt ihn allerdings in die Gegenwart zurück, und sein Herz schlägt jetzt so schnell und hart gegen seine Rippen wie das eines gefangenen Vogels.

Der untersetzte Mann namens Bradley beugt sich vor und sagt mit gedämpfter Stimme: »Sind Sie nach einem Autounfall vor sechs Wochen in das hiesige Krankenhaus eingeliefert worden?« Während er spricht, reckt er den Hals, als hoffe er, so einen Einblick in das Leben innerhalb des Hauses zu gewinnen.

»Ja.« Jean-Lucs Puls rast. »Ich bin von einem Auto angefahren worden, das zu schnell um eine Kurve kam.« Er hält inne und holt tief Atem. »Danach verlor ich das Bewusstsein.« Der Name des behandelnden Arztes, Dr. Wiesmann, kommt ihm in den Sinn. Er hatte ihn schon mit Fragen bombardiert, als er gerade erst wieder bei Bewusstsein, aber immer noch wie benebelt gewesen war.

»Wie lange sind Sie schon in Amerika?«, hatte der Arzt gefragt. »Und woher haben Sie diese Narbe in Ihrem Gesicht? Hatten Sie schon von Geburt an nur einen Finger und einen Daumen an der linken Hand?«

Bradley hüstelt. »Mr. Bow-Champs, wir möchten, dass Sie uns ins Rathaus begleiten.«

»Aber wieso das denn?« Jean-Lucs Stimme hört sich wie ein Krächzen an.

Mit vorgeschobener Brust und hinter dem Rücken verschränkten Händen stehen die beiden Männer da wie eine Barrikade.

»Weil wir es für besser halten, die Angelegenheit dort und nicht hier vor Ihrer Tür und Ihren Nachbarn zu besprechen.«

Die in seinen Worten implizierte Drohung verstärkt die nervöse Anspannung in Jean-Lucs Magen noch. »Aber was habe ich denn getan?«

Bradley schürzt die Lippen. »Es geht nur um eine Befragung. Wir könnten auch die Polizei hinzuziehen, doch in diesem frühen Stadium ziehen wir es vor … nun ja … möchten wir zunächst die Fakten klären. Was Sie sicherlich verstehen können.«

Nein, das kann ich nicht!, hätte Jean-Luc ihn am liebsten angeschrien. Ich weiß ja nicht einmal, wovon Sie reden. Stattdessen murmelt er jedoch nur zustimmend: »Geben Sie mir zehn Minuten«, und nachdem er ihnen die Tür vor der Nase geschlossen hat, geht er in die Küche zurück.

Charlotte lässt gerade einen Crêpe auf einen Teller gleiten. »War es der Postbote?«, fragt sie, ohne aufzublicken.

»Nein.«

Mit einer kleinen Falte zwischen den Brauen wendet sie sich ihm zu, und ihre braunen Augen durchbohren ihn geradezu. »Wer dann?«

»Zwei Beamte, die ich ins Rathaus begleiten soll, um ihnen ein paar Fragen zu beantworten.«

»Fragen zu deinem Unfall?«

Er schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Ich weiß nicht, worum es geht. Sie wollen es mir nicht sagen.«

»Sie wollen es dir nicht sagen? Aber das müssen sie! Sie können doch nicht von dir verlangen mitzugehen, ohne dir den Grund dafür zu nennen!« Charlotte ist kreidebleich geworden.

»Mach dir keine Sorgen, Liebling. Ich denke, es ist das Beste, wenn ich tue, was sie sagen, und die Sache kläre. Es ist ja nur eine Befragung.«

Ihr Sohn blickt mit einem leichten Stirnrunzeln zu ihnen auf.

»Ich bin bestimmt bald wieder da.« Jean-Lucs Stimme klingt selbst in seinen eigenen Ohren so gekünstelt, als spräche jemand anders diese tröstenden Worte aus. »Kannst du bitte im Büro anrufen und Bescheid geben, dass ich heute später komme?« Dann wendet er sich wieder an seinen Sohn. »Und dir wünsche ich einen schönen Schultag.«

Die plötzliche Stille in der Küche ist wie die Ruhe vor einem Sturm, als Jean-Luc sich abwendet und geht. Normal, denkt er. Er muss sich so normal wie möglich verhalten. Das Ganze ist doch nur eine Formalität. Was könnten sie schon von ihm wol-len?

Zehn Minuten Zeit hat er verlangt. Und da er nicht will, dass sie erneut klingeln, eilt er ins Schlafzimmer, öffnet eine Schublade im Kleiderschrank und lässt den Blick über die wie Schlangen zusammengerollten Krawatten darin gleiten. Schließlich entscheidet er sich für eine blaue mit winzigen grauen Punkten. Da die äußere Erscheinung wichtig ist in einer Situation wie dieser, nimmt er auch ein Jackett vom Bügel, bevor er wieder hinuntergeht.

Charlotte steht mit besorgter Miene in der Küchentür.

Er ergreift ihre Hand, küsst seine Frau auf die kalten Lippen und blickt ihr noch einmal beruhigend in die Augen, bevor er geht. »Bis später, mein Junge. Viel Spaß in der Schule«, ruft er in Richtung Küche.

»Bis dann, Daddy«, antwortet Samuel.

»Bis dann.« Jean-Lucs Stimme bricht, und nicht einmal jetzt trifft er den richtigen Ton.

Er spürt Charlottes Blick im Rücken, als er die Haustür öffnet und den Männern draußen zu ihrem schwarzen Chrysler folgt. Auf dem Weg holt er ein paarmal tief Luft und zieht sie in den Bauch, so weit er kann. Die wasserdurchtränkte Erde unter seinen Füßen erinnert ihn wieder an das Gewitter, das mitten in der Nacht begonnen hatte. Die Feuchtigkeit, die es hinterlassen hat, verdunstet jedoch schon, und bald wird es wieder schwül und heiß sein.

Niemand spricht, während sie an den Nachbarhäusern mit ihren gepflegten Vorgärten und dann an dem Zeitungs- und Papierladen und der Bäckerei und Eisdiele vorbeifahren.

Sie alle sind ein Teil des Lebens, das er zu lieben gelernt hat.

Zweites Kapitel

Santa Cruz, 24. Juni 1953

CHARLOTTE

Obwohl das schwarze Auto schon seit geraumer Zeit verschwunden ist, stehe ich noch immer am Küchenfenster und starre auf die Straße hinaus.

Die Zeit fühlt sich wie eingefroren an, und ich will auch nicht, dass sie vergeht.

»Mom, irgendwas riecht angebrannt!«

»Merde!« Schnell nehme ich die Pfanne vom Herd und lasse den schon halb verkohlten Crêpe in die Spüle fallen. Meine Augen beginnen zu tränen von dem beißenden Rauch, der von ihm aufsteigt. »Ich mach dir schnell einen neuen.«

»Danke, Mom, aber ich bin satt.« Sam springt auf und flitzt aus der Küche.

Als ich mich umsehe, erfüllen mich die Überreste des so jäh gestörten Frühstücks mit Panik. Doch ich muss mich zusammenreißen. Langsam steige ich die Treppe hinauf und gehe ins Bad, wo ich mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht spritze, bevor ich in dasselbe Kleid schlüpfe, das ich auch schon gestern anhatte, und wieder hinuntergehe.

Auf dem Weg zur Schule hüpft Sam aufgeregt neben mir auf und ab. »Was glaubst du, was diese Männer von Daddy wissen wollen, Mom?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Aber was könnte es denn sein, Mom?«

»Ich weiß es wirklich nicht, Sam.«

»Vielleicht geht es ja um einen Einbruch?«

»Was?«

»Oder einen Mord!«

»Schluss jetzt mit dem Blödsinn, Sam. Sei still.«

Tatsächlich hört er mit der Hüpferei auf und schlurft jetzt nur noch still neben mir her.

Sofort beschleichen mich Gewissensbisse, aber heute habe ich wichtigere Sorgen.

Als wir uns der Schule nähern, befinden sich die anderen Mütter schon wieder auf dem Heimweg.

»He, Charlie! Du bist ganz schön spät dran heute. Kommst du nachher noch auf einen Kaffee vorbei?«, ruft Marge mir zu.

»Na klar«, antworte ich wider besseres Wissen.

Nachdem ich Sam zum Schultor begleitet habe, trödle ich dort noch ein bisschen herum, um den anderen Müttern einen Vorsprung zu geben. Sobald ich sehe, dass sie weit genug entfernt sind, mache auch ich mich langsam auf den Heimweg, wobei mich allerdings ein Gefühl der Einsamkeit zu überfluten droht.

Ich bin sogar schon halb versucht, mit den anderen Kaffee trinken zu gehen, doch mir ist klar, dass ich mich dann nicht bremsen könnte und alles ausplaudern würde. Es war zwar möglich, dass niemand das Auto gesehen hat, mit dem Jean-Luc am Morgen abgeholt wurde, aber falls doch, müsste ich eine logische Erklärung parat haben. Sie würden natürlich alle Einzelheiten wissen wollen, und deshalb ist es wohl das Beste, vorerst jeden Kontakt zu vermeiden.

Als ich wieder daheim bin, gehe ich von Zimmer zu Zimmer, schüttele die Sofakissen auf, spüle das Frühstücksgeschirr und ordne die Zeitschriften auf dem Couchtisch. Und die ganze Zeit über tröste ich mich mit dem Gedanken, dass es sinnlos ist, mir Sorgen zu machen, weil es ohnehin nichts nützen wird, denn schließlich ist Jean-Luc ja nur zu einer Befragung mitgenommen worden. Ich sollte also besser etwas Praktisches tun, um mich abzulenken. Wie zum Beispiel den Rasen zu mähen und Jean-Luc die Mühe zu ersparen …

Und so ziehe ich meine Gartenschuhe an und schiebe den Rasenmäher aus der Garage. Da ich gesehen habe, wie Jean-Luc an der Schnur an der Seite zieht, um ihn in Gang zu bringen, versuche ich das auch. Aber es tut sich nichts. Also ziehe ich erneut, und diesmal höre ich ein Zischen in der Maschine, das jedoch sofort wieder erstirbt. Daraufhin ziehe ich noch fester und schneller, worauf das Ding diesmal tatsächlich surrend in Bewegung kommt und mich mit sich wegzieht. Es stinkt nach Benzin, doch eigentlich mag ich den Geruch sogar.

Der Rhythmus der Maschine ist so erstaunlich beruhigend, dass ich fast enttäuscht darüber bin, wie schnell die Arbeit erledigt ist. Nachdem ich den Mäher wieder in die Garage gestellt habe, gehe ich ins Haus zurück.

Vielleicht könnte das Wohnzimmer ja eine Reinigung vertragen … Als ich den Staubsauger unter der Treppe hervorhole, fällt mir plötzlich wieder ein, dass ich erst am Vortag alles gründlich gesaugt habe. Resigniert und mit dem dicken Vakuumrohr noch in der Hand, kauere ich mich auf dem Boden nieder …

Und schon werde ich von Erinnerungen überflutet. Von Erinnerungen an die Vergangenheit, über die Jean-Luc mich niemals reden lässt. In seiner pragmatischen Art hat er mir geraten, sie hinter mir zurückzulassen, wo sie seiner Meinung nach auch hingehört. Als wäre das so einfach!

Ich habe es versucht, wirklich versucht, aber ich kann nichts dafür, wenn ich im Schlaf meine Mutter, meinen Vater und mein einstiges Zuhause sehe. Diese Träume hinterlassen in mir eine Sehnsucht nach meiner Familie, die einen langen Schatten auf mein Leben wirft. Einmal habe ich Kontakt zu ihnen aufgenommen und ihnen geschrieben, nachdem wir eine Wohnung gefunden und uns hier niedergelassen hatten.

Meine Mutter schrieb zurück – einen kurzen, schroffen Brief, in dem sie mir mitteilte, dass Papa noch nicht bereit sei, mich zu sehen, weil er mir immer noch nicht ganz verziehen habe.

Ich gehe in die Küche zurück, wo ich wieder aus dem Fenster starre und meine ganze Willenskraft darauf konzentriere, Jean-Luc zu mir zurückzuholen. Von der Vernehmung entlassen und von jeglichem Verdacht befreit. Aber das Einzige, was ich sehe, ist die leere Straße.

Dann bringt das entfernte Geräusch eines Motors meinen Puls zum Rasen. Ich beuge mich vor, bis meine Nase fast das Fenster berührt, und spähe hinaus. Bitte, lieber Gott, lass es Jean-Luc sein! Mein Magen macht jedoch einen Satz nach unten, als ich eine vertraute blaue Motorhaube um die Ecke biegen sehe: Es ist Marge von gegenüber.

Ich schaue zu, wie sie mit ihren Einkaufstüten kämpft, während einer ihrer Zwillinge den anderen um den Wagen herumjagt. Jetzt blickt sie zu mir herüber, und ich trete blitzschnell von den Gardinen zurück und stelle mich seitlich neben das Fenster. Geheimnisse und Lügen. Was weiß man schon wirklich über das Leben seiner Nachbarn?

Und ich will heute auch keinem von ihnen begegnen. Falls jemand das schwarze Auto gesehen hat, werden alle Mütter es inzwischen wissen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sie Vermutungen anstellen und sich echauffieren. Nein, nein, ich muss von hier verschwinden und auf Abstand gehen. Ich könnte Einkäufe machen, in einer anderen Stadt und einem dieser großen, anonymen Supermärkte, wo ich niemandem begegnen würde, der mich kennt …

Und so schnappe ich mir meine Handtasche, nehme meine Schlüssel vom Haken an der Tür und steige ins Auto, bevor mich irgendjemand sehen kann. Der Wind zerzaust mir das Haar, als ich mit offenem Fenster der Küstenstraße in Richtung Norden folge. Ich fahre gern schnell, weil es mir ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit gibt und ich so tun kann, als wäre ich, wer immer ich gern gerade wäre.

Nach einer halben Stunde sehe ich ein Schild, das eine Abzweigung zum Lucky Store anzeigt. Nach ein paar Hundert Metern biege ich links vom Highway ab und folge den Pfeilen, bis ich einen mit Kombis vollgeparkten Parkplatz sehe. Sofort entdecke ich auch einen dieser Burger-Shops und sogar ein Karussell. Sam würde es hier gefallen; vielleicht sollten wir samstags einmal mit ihm herfahren und einen Tagesausflug daraus machen.

Normalerweise meide ich diese großen Supermärkte und kaufe lieber im Ort ein, wo ich den Lebensmittelhändler nach seinen knackigsten Äpfeln oder den Metzger nach seinem magersten Fleisch fragen kann. Sie nehmen sich immer die Zeit, die besten Produkte für mich herauszusuchen, und wissen es zu schätzen, dass Qualität mir wichtig ist.

Ich fühle mich auch gar nicht wohl in diesem riesigen Supermarkt mit seinen endlosen Reihen perfekt verpackter Waren. Hausfrauen in weiten Röcken, bequemen Schuhen und mit Dauerwellen schieben bis oben hin beladene Einkaufswagen voller Gläser und Konservendosen vor sich her. Der Anblick weckt Nostalgie in mir und erfüllt mich mit einer schmerzlichen Sehnsucht nach Zuhause, nach Paris.

Hühnchen, sage ich mir. Heute Abend gibt es Hühnchen zum Abendessen. Zitronenhühnchen, weil das Jean-Lucs Lieblingsessen ist.

Ein Päckchen mit zwei Hühnerbrustfilets, ein halber Liter Milch und vier Zitronen sehen einsam und verloren auf dem Boden meines Einkaufswagens aus, als ich schließlich an der Kasse stehe. Es ist mir peinlich, aber ich kann mich einfach nicht darauf konzentrieren, was wir sonst noch für die Woche brauchen.

Die Kassiererin schaut mich befremdet an. »Brauchen Sie Hilfe beim Einpacken, Ma’am?«

Meint sie das ironisch? Ich schüttele den Kopf. »Nein, danke. Ich komme schon zurecht.«

Mein Magen knurrt, als ich die kleine braune Papiertüte in den Kofferraum lege, und erinnert mich daran, dass ich heute nicht einmal gefrühstückt habe. Vielleicht sollte ich mir einen Burger holen – aber allein bei dem Gedanken daran dreht sich mir der Magen um, und so fahre ich also hungrig heim und hoffe und bete, dass Jean-Luc schon wieder da sein wird.

Ich parke das Auto in der Einfahrt und laufe erwartungsvoll zur Haustür. Sie ist abgeschlossen. Er kann also noch nicht wieder zu Hause sein. Wie komme ich überhaupt darauf, dass er es sein könnte? Er wäre ohnehin direkt zur Arbeit weitergefahren. Ich weiß doch, wie besorgt er schon gewesen war, er könne sich verspäten.

Es ist bereits drei Uhr, und in einer halben Stunde muss ich Sam von der Schule abholen. Vielleicht wäre es besser, heute ein bisschen unpünktlich zu sein, um mich nicht an dem Geplänkel der anderen Mütter beteiligen zu müssen. Sam könnte natürlich auch allein nach Hause gehen – einige andere Kinder tun es auch –, doch ich hole ihn so gern ab, dass dies meine liebste Tageszeit ist.

Als ich noch ein kleines Mädchen war und in Paris lebte, kamen alle Mütter, um ihre Kinder abzuholen, und brachten ihnen auch immer ein mit Schokolade gefülltes Baguette mit. Deshalb ist es für mich so etwas wie eine Familientradition, Sam am Ende seines Schultags abzuholen.

Da ich heute jedoch zum ersten Mal fünf Minuten zu spät kommen werde, bleibt mir noch fast eine halbe Stunde Zeit, die ich irgendwie totschlagen muss.

Zunächst einmal lege ich die Hühnerbrustfilets in den Kühlschrank, wasche mir die Hände und schrubbe meine Fingernägel mit der alten Zahnbürste, die auf der Fensterbank liegt. Sofort ertönt die Stimme meines Vaters in meinem Kopf: »Saubere Fingernägel sind ein Anzeichen dafür, ob ein Mensch gepflegt ist oder nicht«, sagte er immer, wenn er mich mit schmutzigen Nägeln erwischte. »Das ist wie mit Schuhen«, fügte er oft hinzu. »Man kann einen Menschen sehr gut nach seinen Fingernägeln und Schuhen beurteilen.«

»Nicht in Amerika«, würde ich jetzt erwidern, wenn ich ihn sähe. »Hier achten die Leute mehr auf dein Haar und deine Zähne.«

Als ich die Zahnbürste zurücklege, werfe ich einen Blick aus dem Fenster und versuche, mir keine Hoffnungen zu machen. Wie erwartet ist die Straße leer. Und wieder knurrt mein Magen, und mir ist sogar ein bisschen schwindlig. Vielleicht sollte ich etwas Süßes essen.

Nachdem ich die Keksdose aus dem Küchenschrank genommen habe, packe ich einen großen für Sam in Alufolie ein und breche einen anderen in zwei Hälften für mich selbst. Aus Angst, dass ich Magenkrämpfe davon bekommen könnte, knabbere ich nur daran, da ich mich danach aber besser fühle, esse ich auch noch die andere Hälfte.

Noch zwanzig Minuten. Ich gehe zu unserem Schlafzimmer hinauf und setze mich an meine Frisierkommode, nehme meine Bürste mit den Echthaarborsten aus der obersten Schublade und bearbeite mit ihr meine Haare, bis sie glänzen. Der Spiegel verrät mir, dass ich noch immer eine gut aussehende Frau bin: Ich kann weder feine Fältchen noch graue Haare oder schlaffe Haut unter meinem Kinn entdecken. Äußerlich ist also alles in Ordnung. Es ist mein Herz, das sich wie das einer Hundertjährigen anfühlt.

Schließlich stehe ich wieder auf und streiche die Patchworkdecke glatt, die aus unzähligen perfekt per Hand zusammengenähten Sechsecken besteht. Wir haben sie bei einem Besuch in Pennsylvania von den dortigen Amish gekauft. Diese Reise war unser erster Urlaub zu dritt gewesen. Sam hatte gerade erst laufen gelernt, war aber immer noch ein wenig unsicher auf den Beinen und fiel auch ab und zu noch hin. Ich erinnere mich gut, dass ich ständig vor ihm herging, um eventuelle Stürze abzufangen …

Noch zehn Minuten. Ich gehe wieder hinunter und drehe eine Runde durch die Zimmer, bevor ich endlich die Haustür öffne. Grelles Sonnenlicht schlägt mir entgegen, und ich kehre schnell wieder ins Haus zurück, um meinen Hut zu holen.

Als ich den Gartenweg entlanggehe, frage ich mich nicht zum ersten Mal, warum die Amerikaner es vorziehen, ihre Gärten offen zu lassen, statt sie mit Hecken oder Mauern zu umgeben. Denn so kann schließlich jeder einfach hineinspazieren, zum Haus hinaufgehen und durch die Fenster hineinschauen. Sie sind völlig anders als französische Gärten, die immer von hohen Mauern oder dichten Büschen umgeben sind, um ungebetene Besucher zu entmutigen.

Jean-Luc liebt diese Offenheit hier. Er sagt, was in Frankreich passiert ist, hätte hier nie geschehen können, weil alle so offen zueinander sind. Niemand hätte seine Nachbarn denunziert und sich dann hinter verschlossenen Türen versteckt, während sie weggebracht wurden. Aber ich kann nicht anders, als es als untreu Frankreich gegenüber zu empfinden, wenn Jean-Luc so redet. Jahre des Hungers, der Furcht und der Entbehrungen – all diese Dinge können einen guten Menschen durchaus zu einem schlechten machen.

»Charlie!«, ruft Marge aus dem gegenüberliegenden Garten und reißt mich aus meinen Gedanken. »Wo warst du heute? Wir waren alle zum Kaffee bei Jenny und dachten, du würdest auch kommen.«

»Das tut mir leid, Marge«, antworte ich und ertappe mich schon wieder bei einer Lüge. »Aber ich hatte sehr viel einzukaufen und bin dazu zum Lucky Store gefahren.«

»Was? Du bist den ganzen weiten Weg dorthin gefahren? Ich dachte, du hasst diese riesigen Einkaufszentren? Du hättest etwas sagen sollen, dann wäre ich mitgekommen.«

»Wie schade, dass ich den Kaffee verpasst habe!«

»Mach dir nichts daraus, Charlie. Am Freitag treffen wir uns bei Jo. Hör mal, ich muss dich um einen Gefallen bitten. Könntest du Jimmy mitbringen, wenn du Sam abholst? Ich muss mit Noah zum Arzt, weil er Fieber hat, das nicht sinken will.«

»Aber sicher«, sage ich mit einem bemühten Lächeln, bei dem ich mir wie eine Verräterin dieser Frau gegenüber vorkomme, die ich seit Jahren kenne.

»Danke, Charlie«, antwortet unsere Nachbarin mit einem aufrichtigen Lächeln.

Als ich zur Schule gehe, erinnere ich mich daran, mit welcher Herzlichkeit diese und andere Nachbarn dafür gesorgt hatten, dass wir uns vor neun Jahren vom Tag unserer Ankunft an in Santa Cruz willkommen und wohl fühlten.

Schon in der ersten Woche waren wir von ihnen eingeladen worden, und nicht nur auf einen Drink, sondern gleich zu einem richtigen Barbecue. Ich war gerührt gewesen von der Art und Weise, wie alle sich zu diesem Anlass eingefunden und mit ihren lauten, fröhlichen Stimmen verkündet hatten, wie sehr sie sich freuten, die neu hinzugezogene Familie kennenzulernen.

Jean-Luc wurde gleich ein großes Bier in die Hand gedrückt und mir ein Glas Weißwein, sowie wir auch nur einen Fuß in den Garten gesetzt hatten. Alle machten einen Riesenwirbel um Sam, und für ihn wurde ein schattiger Platz unter einem Baum gefunden, wo er inmitten von Bergen von Spielzeug auf seiner Babydecke sitzen konnte.

Bei den Amerikanern schien es keine Verhaltensregeln für derartige Anlässe zu geben, zumindest nicht, soweit ich sehen konnte. Sobald ein Steak bereit war, strömten die Gäste zu dem Grill hinüber. Ich war froh, als ein Mann mir einen schon gefüllten Teller reichte. Da es auch keine Sitzordnung gab, setzten wir uns, wohin wir wollten, oder zogen mit unseren Gartenstühlen weiter, um uns anderen kleinen Gruppen anzuschließen.

Es war alles ganz anders als in Paris. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn meine Eltern Gäste empfingen, machten sie Sitzpläne für das Diner. Die Gäste warteten still und geduldig, bis der Gastgeber ihnen ihre Plätze zuwies, und niemandem wurde je ein Getränk serviert, bis alle Gäste eingetroffen waren. Maman beklagte sich oft darüber, dass Monsieur und Madame Soundso sich verspäteten und sie ihretwegen alle eine Stunde auf ihren ersten Drink warten mussten. Aber na ja, der Krieg setzte diesen Diners ohnehin ein Ende.

Hier dagegen schien es keine Regeln zu geben. Frauen plauderten und lachten völlig zwanglos mit mir, Männer zogen mich auf und sagten mir, wie sexy mein Akzent doch sei. Ich war bezaubert und Jean-Luc sogar noch mehr. Er hatte sich vom ersten Tag an in Amerika verliebt. Falls er jemals Heimweh hatte, erwähnte er es nicht. Alles war wunderbar und erstaunlich für ihn: die Fülle von Essen, die Freundlichkeit der Leute, die Leichtigkeit, mit der man alles kaufen konnte.

»Das ist der amerikanische Traum«, sagte er immer wieder. »Wir müssen lernen, perfekt Englisch zu sprechen. Für Samuel wird es leicht sein, weil es seine erste Sprache ist, und er wird uns helfen können.«

Aus Samuel wurde sehr schnell Sam, aus Jean-Luc John und aus Charlotte Charlie. Wir waren amerikanisiert worden. Jean-Luc meinte, das bedeutete, dass wir akzeptiert worden waren und wir der herzlichen Begrüßung wegen, die uns zuteilgeworden war, vermeiden sollten, Französisch zu sprechen. Weil es sonst so aussehen würde, als wollten wir uns nicht in die Gemeinschaft integrieren.

Also sprachen wir nur Englisch, sogar unter uns. Natürlich konnte ich seinen Standpunkt verstehen, auch wenn es mir ein bisschen wehtat, Sam nicht mehr die Schlaflieder singen zu können, die meine Mutter mir früher vorgesungen hatte. Es entfernte mich noch weiter von meiner Familie und meiner Kultur, und es veränderte unsere Kommunikationsweise und möglicherweise sogar unsere Persönlichkeit.

Ich liebe Jean-Luc nach wie vor von ganzem Herzen, aber es fühlt sich jetzt ein bisschen anders an. Er nennt mich heute nicht mehr mon cœur, mon ange, mon trésor, sondern Darling, Honey oder, was sogar noch schlimmer ist, Baby.

Die Glocke schallt über den leeren Schulhof und unterbricht meine Gedanken. Scharen von Kindern schwärmen aus dem Gebäude und machen sich auf die Suche nach ihren Müttern.

Sam ist leicht zu erkennen mit seinem dunklen Haar, das aus dem Gewimmel hellerer Köpfe hervorsticht. Seine olivfarbene Haut und die feinen Gesichtszüge künden von einer anderen Herkunft. Eine Nachbarin sagte einmal, seine langen Wimpern seien die reinste Verschwendung bei einem Jungen. Als könnte Schönheit an jemanden verschwendet sein! Was für ein komischer Gedanke!

Sam schaut zu mir herüber und lächelt sein Lächeln, das ebenso schief ist wie Jean-Lucs. Mit neun Jahren ist er zu alt, um wie früher auf mich zuzulaufen, und beendet zunächst einmal das Gespräch mit seinen Freunden, bevor er betont lässig zu mir herüberkommt.

Ich küsse ihn auf beide Wangen, obwohl ich weiß, wie sehr es ihn in Verlegenheit bringt, aber ich kann einfach nicht anders. Und ein bisschen Verlegenheit hin und wieder kann durchaus charakterbildend sein.

»Geh und sag Jimmy, dass er mit uns heimgeht«, fordere ich ihn auf.

»Prima!« Er rennt los, bleibt dann jedoch plötzlich stehen, dreht sich um und kommt einen Schritt zurück. »Ist Daddy zu Hause?«

»Noch nicht.«

Wortlos geht er wieder, um Jimmy zu suchen.

Als er mit seinem Freund zurückkommt, nehme ich den Schokokeks heraus und breche ihn in zwei Hälften. Jimmy verschlingt die seine gierig.

»Zu Hause gibt es noch mehr davon«, sage ich.

»Super!« Jimmy läuft voraus. »Komm schon, Sam!«

Aber Sam bleibt neben mir.

Jimmy rennt trotzdem weiter und verschwindet um die nächste Hausecke. Ich lege meine Hand auf Sams Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Daddy wird bald nach Hause kommen.«

»Aber was wollten diese Männer von ihm?«

»Darüber reden wir später.«

»Buh!«, schreit Jimmy und springt hinter der Hausecke hervor.

Mein Herz schießt mir in die Kehle, und ich schreie auf.

Jimmy lacht hysterisch. »’tschuldigung«, sagt er kichernd.

Als mein Herzschlag sich wieder normalisiert, tue ich so, als müsste auch ich lachen, um die Atmosphäre zu entspannen.

Jimmy ergreift Sams Arm, und die Jungs laufen voraus.

Als wir nach Hause kommen, stelle ich die Keksdose vor den beiden auf den Küchentisch. »Nehmt euch so viele, wie ihr wollt.«

Jimmy schaut mich mit großen Augen an und grinst von einem Ohr zum anderen. »Wow! Danke.«

Es tröstet mich ein wenig zu sehen, wie die beiden zulangen und meine selbst gebackenen Kekse verputzen.

»Das sind deine besten bisher, Mom«, sagte Sam mit Krümeln in den Mundwinkeln. Jimmy nickt nur zustimmend, da sein Mund zu voll ist, um zu sprechen.

»Soll ich welche für eure ganze Klasse backen?«, schlage ich vor.

»Nein, danke, Mom. Back sie nur für uns.« Sam sieht mich mit seinen dunklen Augen an, in denen ich eine Spur von Eifersucht erkenne.

Am liebsten würde ich ihn in die Arme nehmen und ihm sagen, dass er keinen Grund zur Sorge hat. Dass meine Liebe zu ihm tiefer ist als der Ozean und sich daran niemals etwas ändern wird. Stattdessen beginne ich jedoch mit den Vorbereitungen für das Abendessen, rasple die Zitronenschalen und presse die Früchte aus, um ihren Saft den geraspelten Zitronen hinzuzufügen. Dann schneide ich die Hühnerbrustfilets in Scheiben, bevor ich sie in die Marinade lege. Ich halte mich an kein Rezept, sondern koche einfach nur so, wie auch Maman ihr Zitronenhühnchen früher für das sonntägliche Mittagessen zubereitete.

Drittes Kapitel

Santa Cruz, 24. Juni 1953

JEAN-LUC

Sie halten vor dem Rathaus an, und Jackson schaltet den Motor ab, bleibt dann aber noch eine Minute sitzen, um Jean-Luc durch den Rückspiegel anzustarren. Dann steigen die beiden Männer vorne aus und warten darauf, dass auch Jean-Luc es tut. Doch er hat es nicht eilig. Er ist sogar versucht zu warten, bis einer von ihnen ihm die Tür öffnet. Das würde den Dingen eine andere Perspektive geben. Auch solch kleine Gesten zählen.

Plötzlich klopft Bradley mit den Fingerknöcheln an das Fenster. Das Geräusch ist harsch und ruppig und verstärkt die Anspannung und Furcht in Jean-Lucs Magen noch. Aber warum hat er solche Angst? Sie ist völlig irrational, da er sich doch nichts hat zuschulden kommen lassen. Schließlich beugt er sich doch vor, zieht an der Türklinke und tritt in die Morgensonne hinaus.

Schweigend steigen sie die Stufen zum Rathaus hinauf und treten durch die mächtigen Doppeltüren ein. Es ist noch früh, was vermutlich der Grund dafür ist, dass nirgendwo jemand zu sehen ist. Die beiden Männer führen Jean-Luc nun eine Treppe hinunter, dann durch einen nur schwach beleuchteten Gang und schließlich in einen tristen, fensterlosen Raum.

Bradley drückt auf einen Schalter, und eine fluoreszierende Lichtleiste summt und flackert, bevor sie den Raum mit hellem weißen Licht erfüllt. Ein kunststoffbeschichteter Tisch und drei Stühle mit metallenen Beinen sind die einzigen Gegenstände in dem kahlen Raum.

»Das hier könnte eine Weile dauern.« Jackson zieht ein zerknittertes Zigarettenpäckchen aus der Brusttasche und klopft damit auf den Tisch. »Setzen Sie sich«, sagt er zu Jean-Luc und bietet seinem Kollegen eine Zigarette an.

Während sie ihre Zigaretten anzünden, beobachten sie Jean-Luc.

Er setzt sich und verschränkt die Arme vor der Brust, löst sie dann jedoch gleich wieder und versucht, ein Lächeln aufzusetzen. Ein Lächeln, mit dem er ihnen zu verstehen geben möchte, dass er gern bereit ist, sich zu fügen und ihnen alles zu sagen, was sie wissen wollen.

Die Männer bleiben jedoch stehen und schauen ihn mit strengen, unnachgiebigen Gesichtern an. Bradleys fettige Haut schimmert unter der Leuchtstoffröhre über ihnen, deren Licht sich auch in seinen glänzend roten Pockennarben fängt. Er nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, füllt seine Lunge mit dem Rauch und hinterlässt beim Ausatmen einen dichten Nebel, der sekundenlang in der Mitte des Raumes hängen bleibt.

»Mr. Bow-Champs, woher haben Sie diese Narbe in Ihrem Gesicht? Sie ist sehr markant.«

Jean-Luc ermahnt sich, dass es in Situationen wie dieser besser ist, nichts und niemanden zu provozieren. Passivität ist das Beste, aber er darf auch nicht zu defensiv erscheinen. Verärgere niemanden und bleib ruhig, sagt er sich. Doch er spürt schon einen Schweißtropfen, der an seinen Rippen hinunterrinnt. »Die habe ich aus dem Krieg«, murmelt er.

Bradley blickt zu Jackson hinüber und zieht eine Augenbraue hoch.

»Und woher genau?«, hakt Jackson nach.

Jean-Luc zögert und fragt sich, ob er die Geschichte erzählen kann, die er bisher immer verwendet hat, dass er nämlich während einer Bombardierung von Paris von Granatsplittern getroffen wurde. Doch er weiß instinktiv, dass diese Erklärung ihm jetzt nicht helfen wird.

Bradley beugt sich vor und schaut ihm forschend in die Augen. »Was haben Sie während des Kriegs getan?«

Jean-Luc erwidert seinen Blick. »Ich war am Bahnhof Bobigny beschäftigt«.

Bradley zieht eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. »In Drancy?«

Jean-Luc nickt.

»In dem Konzentrationslager dort?«

Wieder nickt Jean-Luc. Er hat das Gefühl, in die Enge getrieben und gezwungen zu werden, die Fakten zu bejahen. Aber die Fakten erzählten nicht die ganze Geschichte.

»Aus dem unzählige Juden nach Auschwitz in den Tod geschickt wurden?«

»Ich habe nur an den Bahngleisen gearbeitet.« Jean-Luc hält den Blickkontakt mit Bradley, weil er nicht als Erster wegsehen will.

»Um die Züge am Laufen zu halten.«

»Ich habe nur meine Arbeit getan.«

Bradleys Gesicht wird noch glänzender und röter. »Sie haben nur Ihre Arbeit getan? Immer die gleiche alte Leier. Aber Sie waren dort, nicht wahr, und haben Beihilfe geleistet.«

»Nein!«

»Drancy war doch ein Durchgangslager, nicht? Und Sie haben den Nazis geholfen, die Juden nach Auschwitz zu verlegen.«

»Nein! Ich wollte sie sogar daran hindern! Ich habe versucht, eins der Gleise zu sabotieren, und bin deswegen im Krankenhaus gelandet!«

»Ach ja?«, fragt Bradley spöttisch.

»Es ist wahr, das schwöre ich!«

Viertes Kapitel

Paris, 6. März 1944

JEAN-LUC

Nach vier Jahren war die Besatzung zur gewohnten Lebensweise geworden. Einige hatten sich besser damit arrangiert als andere, aber Jean-Luc erwachte nach wie vor jeden Tag mit einem Gefühl der Beklommenheit.

An diesem Morgen schleppte er sich aus dem Bett, um sich zum Dienst am Bahnhof Saint Lazare zu melden, doch anstatt ihm seine Werkzeugtasche zu überreichen, wie sein Chef es für gewöhnlich tat, starrte er ihn für einen Moment nur prüfend an. »Du wirst heute in Bobigny arbeiten«, sagte er dann.

»In Bobigny?«, wiederholte Jean-Luc.

»Ja.« Sein Chef schaute ihm in die Augen, denn beide wussten, was Bobigny bedeutete.

»Aber ich dachte, dieser Bahnhof sei geschlossen?«

»Für Personenzüge ja, doch für andere Zwecke wird er noch benutzt.« Sein Chef schwieg einen Moment, um seine Worte wirken zu lassen.

»Sie meinen den neben dem Durchgangslager in Drancy?« Jean-Lucs Stimme klang wie ein Krächzen, und auch sein Puls begann zu rasen, als er fieberhaft nach einem Ausweg suchte.

»Ja, die Gleise dort müssen gewartet werden. Wir haben Anweisung, sechs Männer hinzuschicken.« Jean-Lucs Chef unterbrach sich kurz. »Mach da drüben nur ja keinen Blödsinn, hörst du? Die Boches haben nun das Kommando dort. Und gib dir Mühe, sie deine Hand nicht sehen zu lassen.«

Jean-Luc arbeitete seit sechs Jahren bei der SNCF, seit er mit fünfzehn von der Schule abgegangen war. Aber wie alles andere gehörte jetzt auch die Nationale Eisenbahngesellschaft den Deutschen. Jean-Luc senkte den Blick und schob die missgebildete Hand in die Hosentasche. Er selbst dachte kaum je einmal daran. Die Tatsache, dass er mit nur einem Finger und einem Daumen an der linken Hand zur Welt gekommen war, hatte ihn noch nie daran gehindert oder davon abgehalten, irgendwas zu tun.

»Die Boches mögen so etwas nicht.« Die Augen seines Chefs nahmen einen etwas sanfteren Ausdruck an. »Du arbeitest genauso gut wie jeder andere, besser sogar noch, aber für die Krauts muss immer alles … Na ja, du weißt schon, was ich meine. Und du willst ja sicher nicht, dass sie dich in eines ihrer Arbeitslager schicken.«

Plötzlich verunsichert, nahm Jean-Luc die entstellte Hand aus der Tasche und verschränkte sie mit der normalen.

Sein Vater war ein guter Freund des Vorarbeiters gewesen, und durch diesen Kontakt hatte er trotz seines Handicaps seinen ersten Job bekommen. Natürlich hatte er besonders hart arbeiten müssen, um sich zu beweisen, doch es hatte nicht lange gedauert, bis seine Kollegen und Vorgesetzten erkannten, dass seine Entstellung keine Auswirkungen auf seine Geschicklichkeit hatte, da er mit einer Art Zangenbewegung alles zwischen Finger und Daumen seiner linken Hand festhalten konnte und seine gesunde Hand dazu benutzte, die Arbeit zu erledigen.

»Muss ich … muss ich wirklich dorthin?«, fragte er und steckte die Hände wieder in die Hosentaschen.

Sein Chef zog lediglich eine Augenbraue hoch, bevor er sich abwandte und ging.

Jean-Luc blieb keine andere Wahl, als ihm zu dem draußen wartenden Armeelaster zu folgen. Sie schüttelten einander fest die Hand, bevor Jean-Luc hinten in den Wagen stieg. Fünf andere Männer saßen bereits dort, denen er schweigend zunickte.

Während sie durch die menschenleeren Straßen fuhren, blickten die Männer sich mit grimmiger Miene in der Runde um und versuchten offenbar, einander einzuschätzen. Jean-Luc vermutete, dass keiner von ihnen sehr erpicht darauf war, so dicht an dem berüchtigten Lager zu arbeiten. Unzählige Juden, aber auch Kommunisten und Mitglieder der Résistance waren dorthin geschickt worden. Niemand wusste, was danach mit ihnen geschah, obwohl es natürlich Gerüchte gab … Doch Gerüchte gab es immer.

Als sie in schnellem Tempo durch die leeren Straßen von Paris und dann stadtauswärts in nordöstlicher Richtung nach Drancy fuhren, begegneten sie hin und wieder anderen Militärfahrzeugen.

Jean-Luc sah, wie ihr französischer Fahrer sie im Vorbeifahren grüßte. Un collabo. Das konnte er sehen. Es war ein Spiel, das er gern mit sich selbst spielte – zu erraten, wer ein Kollaborateur war und wer nicht. Auch wenn die Grenzen dazwischen oft verschwammen.

Er hatte Freunde, die Dinge auf dem Schwarzmarkt kauften. Aber wer betrieb den Schwarzmarkt? Für gewöhnlich waren es nur die Boches und die collabos, die Zugang zu bestimmten Waren hatten. Das Ganze war eine Grauzone, und er selbst zog es vor, nur Dinge anzunehmen, wenn er genau wusste, woher sie kamen – wie ein Kaninchen oder eine Taube, die von einem Freund geschossen worden waren, oder Gemüse von einem Bekannten, der einen Bauernhof besaß.

Ein Schlagloch in der Straße holte ihn in die Gegenwart zurück. Als er zu den anderen Männern aufschaute, begegnete er jedoch nur ausdruckslosen Blicken. Die Tage offener, unbeschwerter Kameradschaft waren vorbei. Ebenso vorbei wie das Geplänkel junger Männer, die auf dem Weg zu einer neuen Arbeitsstelle waren. Eine grimmige Stille war das Einzige, was geblieben war.

Stille, die so etwas wie eine Waffe war, und die einzige, die Jean-Luc zur Verfügung stand. Er weigerte sich, mit den Boches zu reden, auch wenn sie freundlich aussahen und ihn nur höflich nach dem Weg fragten. Er beachtete sie einfach nicht. Noch etwas, was er gern tat, war, seine Métro-Fahrscheine zu einem V zu falten, bevor er sie in einem der Tunnel auf den Boden fallen ließ. V wie Victory. Solch kleine Trotzreaktionen waren das Einzige, was ihm geblieben war, nur änderten sie leider gar nichts.

Deshalb wollte er unbedingt mehr tun.

Als die Boches die SNCF übernommen hatten, war er ganz offen zu seinen Eltern gewesen. »Für diese Mistkerle arbeite ich nicht. Ich werde kündigen«, hatte er ihnen schon wenige Wochen nach der Besetzung gesagt.

»Das kannst du nicht tun!« Sein Vater hatte die Hand ganz fest auf Jean-Lucs Schulter gelegt, um ihm zu verstehen zu geben, dass alles, was er sonst noch sagen wollte, außer Diskussion stand. »Sie werden einen Weg finden, um dich zu bestrafen. Sie könnten dich irgendwohin in den Kampf schicken. Jetzt bist du wenigstens noch in Paris und bei uns. Also lass uns abwarten und sehen, wie die Dinge sich entwickeln.«

Papa. Wann immer Jean-Luc an ihn dachte, empfand er eine Mischung aus Scham und Sehnsucht. Er hatte getan, was sein Vater von ihm verlangt hatte, und für die Boches gearbeitet, doch es passte ihm ganz und gar nicht und führte dazu, dass er es seinem Vater verübelte, ihn dazu gebracht zu haben, sich anzupassen und zu fügen.

Und tatsächlich war es genau so gewesen, wie er es sich vorgestellt hatte: Aus der anfänglichen Freundlichkeit und Professionalität der Deutschen war nach und nach Geringschätzung und Arroganz geworden. Was könnte man auch sonst erwarten? Jean-Luc war schockiert gewesen von der Ignoranz und Naivität einiger Leute, die meinten, dass die Boches ja vielleicht gar nicht so schlimm wären.

Aber dann hatten sie im Sommer 1942 etwas getan, was bei niemandem mehr Zweifel aufkommen ließ: Sie hatten begonnen, Frankreichs Männer zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu schicken. Papa war einer der Ersten gewesen. Eine Woche, nachdem er die Papiere erhalten hatte, war er schon unterwegs gewesen.

Jean-Luc waren weder genügend Zeit noch Worte geblieben, um sich für sein unfreundliches Verhalten ihm gegenüber zu entschuldigen und ihm zu sagen, dass er ihn liebte und respektierte. Aber leider war er auch nicht mit einer Sprache aufgewachsen, mit der sich solche Dinge in Worte fassen ließen.

Als er jetzt aus dem Fenster blickte, sah er zwei nahezu turmhohe Gebäude, die jeweils mindestens fünfzehn Stockwerke hoch waren und hinter denen sich eine große, hufeisenförmige Anlage befand.

»Voilà le camp!« Der Fahrer schaute die Männer im Rückspiegel an. »Ganz schön hässlich, was? Das Gebäude war ursprünglich für Sozialwohnungen vorgesehen, doch da es noch nicht fertig war, als die Deutschen kamen, beschlossen sie, es in das hier zu verwandeln.« Er machte eine vielsagende Pause. »Arme Leute.«

Jean-Luc war sich nicht sicher, ob das ironisch gemeint war oder nicht, da der Ton des Mannes flapsig und sogar ein bisschen spöttisch war.

»Es gibt Tausende von Juden hier, die darauf warten, umgesiedelt zu werden«, fuhr der Fahrer fort, als er um eine Ecke bog und einen Gang herunterschaltete. »Das Lager ist schrecklich überfüllt.«

Jean-Luc schaute sich zu dem u-förmigen, vier Stockwerke hohen und von Stacheldrahtzäunen umgebenen Komplex um. Oben auf beiden Türmen standen mit Gewehren bewaffnete Wachposten. »Wo bringen sie die Leute hin?«, wagte er zu fragen.

»Nach Deutschland.«

»Nach Deutschland?«, wiederholte Jean-Luc, um einen beiläufigen Ton bemüht.

»Ja, denn sie haben jede Menge Arbeit dort. Mit dem Wiederaufbau, meine ich.«

»Dem Wiederaufbau?«, fragte Jean-Luc.

»Ja, ja. Wegen all der Kriegsschäden. Und die Engländer bombardieren Deutschland immer noch.«

»Und was ist mit den Frauen und Kindern? Nehmen sie die auch mit?«

»Na klar. Sie werden schließlich Personal für das Kochen und die Hausarbeit brauchen. Und ein paar hübsche Frauen werden die Männer bei Laune halten, meinen Sie nicht?«

»Aber was ist mit den alten Leuten?«

Der Fahrer warf Jean-Luc durch den Rückspiegel einen scharfen Blick zu. »Sie stellen zu viele Fragen, junger Mann.«

Jean-Luc sah sich zu seinen Arbeitskollegen um und fragte sich, was sie wohl dachten, doch sie alle saßen nur mit gesenktem Kopf da und starrten auf ihre Schuhe.

Ein paar Minuten lang fuhren sie in unbehaglicher Stille weiter, und dann fing der Fahrer wieder an: »Die Boches sind gar nicht so schlimm. Sie behandeln einen gut, solange man hart arbeitet und nicht mit den Juden sympathisiert. Sie werden sogar mit Ihnen trinken. Es gibt ein nettes kleines Café auf der anderen Straßenseite, zu dem wir oft auf ein Bier hinübergehen. Sie lieben ihr Bier, die Deutschen!«

Der Fahrer hielt kurz inne. »Als ich vor zwei Jahren auf dieser Baustelle zu arbeiten begann, gab es hier überhaupt keine Deutschen, doch wahrscheinlich dachten sie, wir wären nicht tüchtig genug, und schickten deshalb Brunner und seine Männer her.« Wieder machte er eine Pause. »So, da sind wir. Hier sind eure Unterkünfte, Männer.« Er parkte vor einem der hohen Häuser und drehte sich dann auf seinem Sitz um.

Die Männer im hinteren Teil des Lastwagens blickten sich gegenseitig an, und ihre Angst und Sorge standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Wie lange würden sie hier sein?

Jean-Luc wusste, dass seine Mutter annehmen würde, er sei verhaftet oder in ein Arbeitslager gebracht worden. Er musste sie benachrichtigen, weil sie bestimmt ganz krank vor Sorge war. Es gab nur noch sie beide, seit sein Vater nach Deutschland geschickt worden war. Sie waren sich seitdem sehr nahegekommen, und sie verließ sich in allem auf ihn, angefangen von finanzieller bis hin zu emotionaler Unterstützung. Es hatte seine Beschützerinstinkte ihr gegenüber geweckt und ihm geholfen, zu einem verantwortungsvollen Mann heranzuwachsen.

Der Wachposten, der sie empfing, drückte ihnen kleine Rucksäcke in die Hand, als sie aus dem Lastwagen sprangen, und führte sie dann auf einen der Wohnblöcke zu.

Ein Aufzug brachte sie zu ihren Zimmern im fünfzehnten Stock, der obersten Etage des Gebäudes. Als sie aus den Fenstern schauten, stellten sie fest, dass sie zur anderen Seite des Lagers hinausgingen und von ihren Zimmern aus nichts davon zu sehen war.

Jean-Luc blickte zu dem grauen Himmel auf und dann auf die winzig aussehenden Straßen unter ihnen und die vielen Eisenbahngleise, die in die Stadt hinein- und wieder herausführten. Nur Züge waren nirgendwo zu sehen.

Er packte gerade die kleine Tasche aus, die einen Pyjama und eine Zahnbürste enthielt, als ein Boche ins Zimmer kam.

»Willkommen in Drancy«, sagte er auf Deutsch.

Jean-Luc ließ die Tasche auf das Bett fallen und drehte sich zu ihm um. Das blasse Gesicht des Soldaten hatte einen ungesunden Glanz, und seine schmalen Lippen waren sogar völlig farblos. Er war jung, vermutlich nicht älter als zwanzig. Jean-Luc fragte sich, was die Boches sich dabei dachten, ein halbes Kind wie diesen Jungen nach Drancy zu schicken.

Dennoch lächelte er den Soldaten nicht an und erwiderte auch nicht seinen Gruß, sondern folgte ihm nur schweigend aus dem Raum zu dem wartenden Aufzug.

Derselbe Fahrer wie schon zuvor erwartete sie draußen in demselben Lastwagen. »Salut, les gars!«, begrüßte er sie, als wären sie alte Freunde, wofür Jean-Luc ihn hasste.

Als sie diesmal an dem Lager vorbeikamen, reckte er den Hals und fragte sich, wie es wohl dort drinnen aussehen mochte, als er sich an all die Geschichten erinnerte, die er über die Verhöre und Deportationen gehört hatte.

Der Fahrer hielt vor einem kleinen Bahnhof, wo er sich umdrehte und ihnen blaue Overalls zuwarf.

»Hier – die müsst ihr tragen. Ihr wollt ja wohl nicht mit den Gefangenen verwechselt werden!«

Als sie durch den Bahnhof gingen, fragte sich Jean-Luc, warum es dort so still war und wo die Züge waren. Sein Blick glitt den Bahnsteig hinauf und hinunter. Ein brauner Gegenstand erregte seine Aufmerksamkeit, und er ging ein paar Schritte näher darauf zu. Es war ein Teddybär, der so flach gedrückt war, als hätte ein Kind ihn als Kissen benutzt.

Weiter unten auf dem Bahnsteig sah er ein offenes Buch liegen, dessen Seiten in der morgendlichen Brise wehten.

»Schnell! Schnell!« Eine Hand stieß Jean-Luc so hart in den Rücken, dass er zu den anderen Männern hinüberstolperte, die in das Haus des Bahnhofsvorstehers gingen. Drinnen war es ruhig; das einzige Geräusch war das Klappern der Schreibmaschinen, an denen in sehr gerader Haltung uniformierte Frauen saßen und Wort um Wort in die Maschinen tippten.

»Name?«, bellte der Boche am Empfang ihn an.

»Jean-Luc Beauchamps.«

Der Mann schrieb den Namen in sein Bestandsaufnahmebuch und blickte dann einen Moment zu lange zu Jean-Luc auf.

Unangenehm berührt davon, vor einem Boche zu stehen und sich zur Arbeit zu melden, wandte Jean-Luc den Blick ab.

»Hart arbeiten und nicht reden«, sagte der Boche und starrte ihn weiter prüfend an.

Jean-Luc nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

»Und jetzt gehen Sie die Gleise überprüfen. Sie sind schlecht – schlecht gemacht. Werkzeug ist in der Hütte auf dem Bahnsteig.«

Jean-Luc zuckte mit den Schultern und wandte sich wortlos ab.

Fünftes Kapitel

Paris, 24. März 1944

JEAN-LUC

Tage wurden zu Wochen, und ein gewohnheitsmäßiger Ablauf etablierte sich. Ihr Arbeitstag begann um acht Uhr morgens, um zwölf hatten sie eine halbstündige Mittagspause, und gegen sechs, wenn es dunkel wurde, war ihr Arbeitstag beendet.

Jean-Lucs Aufgabe bestand darin, die Gleise zu überprüfen und dafür zu sorgen, dass die Schwellen nicht zu abgenutzt waren, die Laschen, die die Schienen zusammenhielten, sich alle an Ort und Stelle befanden und die Bolzen gut befestigt waren. Danach nahm ein anderer Mann eine Qualitätskontrolle seiner Arbeit vor, und falls Jean-Luc etwas übersehen hatte, würde sein ohnehin schon karger Lohn gekürzt.

Sonntags hatte er jedoch frei, und so nahm er jeden Samstagabend den Zug von Bourget, dem Personenbahnhof in Drancy, nach Paris, um seine Mutter zu besuchen.

In der Woche war er abends viel zu abgekämpft und müde, um in dem Café, das dem Lager gegenüberlag, etwas trinken zu gehen, selbst wenn er es gewollt hätte. Was sowieso nicht der Fall war, denn wer wollte sich schon mit den Boches abgeben? Und so blieb er in seinem Zimmer und las im Schein der kleinen Tischlampe.

Auch die anderen Männer blieben die meiste Zeit für sich. Aber manchmal führte das Bedürfnis nach menschlichem Kontakt sie zusammen, und dann versammelten sie sich in einem ihrer Zimmer, wo das Gespräch jedes Mal unweigerlich auf das Thema »Bahnhof« kam.

»Wie kommt es, dass wir dort überhaupt nie Züge sehen?«, fragte Marcel und zog an seinem Zigarettenstummel.

»Weil sie noch vor Tagesanbruch losfahren.« Jean-Luc blickte sich in dem kargen Zimmer um. Blanke graue Wände starrten ihn an, und die Männer saßen mit gesenktem Kopf da und hielten den Blick auf den Zementboden gerichtet. Er konnte verstehen, dass sie nicht an dem Gespräch teilnehmen wollten. Schließlich könnte jeder hier ein Kollaborateur sein, der hergeschickt worden war, um die anderen zu bespitzeln.

»Ja, aber warum?« Marcel gab seine Zigarette schließlich auf und ließ den winzigen Stummel zwischen den Fingern hindurch auf den kahlen Boden gleiten.

»Weil sie nicht wollen, dass wir sie sehen.« Jean-Luc zog eine Gitane aus einem zerknitterten Päckchen und bot sie Marcel an. Er bemitleidete ihn schon fast für seine Versuche zu verstehen, was direkt vor seiner Nase ablief. »Sie deportieren von hier die Gefangenen«, fuhr er fort. »Hunderte, ja wahrscheinlich sogar Tausende von ihnen.«

»Merci.« Marcel griff nach der Zigarette und nickte dankbar.

Jean-Luc spürte, wie die Blicke der anderen Männer ihn schier durchbohrten. Niemand verschenkte wertvolle Zigaretten einfach so. Jean-Luc rauchte selbst gar nicht, hatte für Momente wie diese aber immer gern ein Päckchen bei sich. Es lockerte die Anspannung, und deshalb bot er nun auch den anderen Männern das Päckchen an.

»Aber warum machen sie so ein Geheimnis daraus?«, fuhr Marcel fort und starrte seine Zigarette an, als könnte er sein Glück kaum glauben. »Wir wissen doch alle, was sie tun.«

Jean-Luc blickte in die Gesichter der Männer in der Runde. Sie alle sahen so gelassen aus. So leichtgläubig und stumm. Mit einem tiefen Atemzug beschloss er, jede Vorsicht außer Acht zu lassen. »Warum glaubt ihr wohl, dass sie nicht von uns gesehen werden wollen?«

Das anhaltende Schweigen im Zimmer wurde noch lastender und gab ihm das deprimierende Gefühl, machtlos und unfähig zu sein. Er machte einen Schritt auf Marcel zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und beugte sich vor, um den Mund an Marcels Ohr zu bringen. »Weil wir anfangen könnten, Fragen zu stellen. Und wenn wir wirklich wüssten, was hier vorgeht, wären wir furchtbar wütend.«

»Wütend?«, schrie Frédéric. »Putain! Wir sind auch so schon stinkwütend. Sie haben uns schließlich unser verdammtes Land genommen! ›Wütend‹ ist dafür nicht mal das richtige Wort.« Seine Blicke huschten wie wild durch das Zimmer und von einem Mann zum anderen. Aber keiner wollte seinen Blick erwidern. Sie scharrten verlegen mit den Füßen, jemand hustete, und ein anderer blies seinen Zigarettenrauch mitten in den Raum hinein. Das Schweigen dehnte sich aus und wurde sogar noch beklemmender.

»Sind wir das wirklich?« Jean-Luc sprach langsam und ruhig. »So wütend, meine ich? Was haben wir denn dann getan, um es zu zeigen?« Ihm war bewusst, dass das Gespräch gefährlich wurde, und so hielt er inne, konnte sich schließlich aber einfach nicht mehr zurückhalten. »Herrgott noch mal, wir sind sogar hier und arbeiten für sie!« Er unterbrach sich erneut, als er sah, dass Philippe sich mit ausdruckslosen Augen an die Wand zurückzog.

»Es ist nicht unsere Schuld. Wir hatten keine Armee, um sie zu bekämpfen«, sagte Jacques leise aus einer Ecke des Raumes. »Keine richtige jedenfalls, und jetzt haben wir überhaupt keine mehr.«

»Tja, dafür haben wir de Gaulle in London«, bemerkte Frédéric ironisch.

»’ne schöne Hilfe ist uns das.« Jacques trat einen Schritt vor.

»Aber wohin bringen sie die Leute denn?« Marcel schaute sich fragend in dem Zimmer um.

Die Männer sahen sogleich wieder zu Boden.

»Irgendwohin weit weg.« Jean-Luc hörte, dass seine Stimme einen eigenartigen Tonfall annahm, fast so, als würde er etwas Erfundenes erzählen. »Irgendwohin weit weg von jeglicher Zivilisation.«

»Genau!« Speichel flog aus Frédérics Mund. »Und dann tauschen sie den französischen Fahrer an der Grenze gegen einen Boche aus. Weil sie nicht wollen, dass wir erfahren, wohin sie die Leute bringen. Sie wollen nicht, dass wir es wissen, weil …« Er zögerte.

»Weil was?« Marcel sah ihn an.

»Ich weiß es nicht.« Frédéric senkte den Blick.

»Und was denkst du?«, wandte Marcel sich wieder an Jean-Luc.

»Dass ich müde bin und zu Bett gehen werde.« Er wollte das Gespräch beenden, bevor einer von ihnen in Worte fasste, was sie alle dachten. Bereits für bloße Worte konnte man schon verhaftet werden.

»Aber diese verdammten Züge sind Viehwagen, Herrgott noch mal!«, fuhr Frédéric fort. »Und was ist mit all den persönlichen Gegenständen, die wir auf dem Bahnsteig finden, nachdem der Zug abgefahren ist? Ich wette, die Boches lassen sie in dem Glauben, sie könnten einige Dinge mitnehmen, um ihnen den Umzug zu erleichtern. Doch dann …«

Ein beklemmendes Schweigen breitete sich aus, als sie sich das Schicksal der Gefangenen vorstellten.

»Merde alors! Sie bringen sie um!« Frédéric schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. »Ich weiß es.«

Jean-Luc blickte zu Philippe hinüber, dessen Gesicht jedoch noch immer ausdruckslos war. Er wandte sich wieder Frédéric zu, weil ihm nur allzu gut bewusst war, dass es höchste Zeit war, das Gespräch zu beenden. Sie brachten sich alle in Gefahr, wenn sie so redeten. »Das wissen wir nicht. Wir wissen gar nichts. Jedenfalls nicht mit Sicherheit.«

Sechstes Kapitel

Paris, 25. März 1944

JEAN-LUC

Samstags konnte er dem Lager entkommen. Sobald der Arbeitstag vorüber war, fuhr er mit der Bahn von Bourget nach Paris, wo er gern an der Haltestelle Blanche ausstieg, um sich das Moulin Rouge anzuschauen, bevor er die Rue Lepic hinaufging, wo er mit seiner Mutter lebte.

Da er sich der Abwesenheit seines Vaters in der elterlichen Wohnung an diesem Abend jedoch noch nicht gewachsen fühlte, ging er vorher noch auf einen Pastis in das Café an der Ecke.

»Salut, Jean-Luc.« Thierry schenkte ihm ein Glas des starken Anisschnapses ein, der stets mit einem kleinen Krug Wasser serviert wurde. Jean-Luc gab ein wenig davon hinzu und beobachtete, wie sein Pastis eine gelblich-trübe Farbe annahm.

Thierry stützte sich mit beiden Ellbogen auf die Bar, legte die Hände um seinen Nacken und verdrehte ihn, als hätte er Schmerzen. »Quoi de neuf?«

»Ob’s was Neues gibt?« Jean-Luc runzelte die Stirn. »Nicht, dass ich wüsste.«

Thierry beugte sich noch näher zu ihm vor. »Habt ihr etwas von deinem Vater gehört?«

Jean-Luc nickte. »Vor zwei Monaten haben wir einen Brief von ihm bekommen mit der Bitte, ihm warme Socken und Lebensmittel zu schicken. Er schrieb, es ginge ihm so weit gut, er sei bloß dünner und älter geworden.«

»Schlimme Sache, die Männer einfach so zu verschleppen. Ich hatte das Glück, dass ich den Kerlen zu alt war, und du … Na ja, du hattest das Glück, dass sie Eisenbahner brauchten. Doch ich frage mich, wie’s hier weitergehen soll? Es ist kaum noch jemand da, um das Land zu bewirtschaften.«

»Als wüsste ich das nicht!« Jean-Luc hatte dieses Gespräch schon hundertmal geführt.

»›Arbeitsdienst‹ nennen sie es – dass ich nicht lache! Es ist nichts weiter als Zwangsarbeit für die verdammten Boches.«

»Natürlich. Aber zumindest wissen wir, dass Papa in Deutschland und nicht Gott weiß wo ist.« Jean-Luc nahm einen großen Schluck von seinem Pastis.

Er hatte sein Bestes getan, um seinen Vater zu vertreten, doch die kleine Wohnung, die er mit seiner Mutter teilte, fühlte sich so leer an, als wäre sein Vater von einem klaffenden Loch ersetzt worden, das einen bitterkalten Wind durch die Räume wehen ließ. Jeden Sonntag ging er mit seiner Mutter zur Messe im Sacré-Cœur, wo sie im Anschluss eine Kerze für Papa anzündeten.

Jean-Luc stellte sich gern vor, dass diese kleine Flamme seinem Vater Mut gab, wo immer er auch war. Jean-Luc dachte oft an ihn, aber meist verdross und deprimierte es ihn. Sein Vater war solch ein starker, selbstständiger Mann! Die Vorstellung, dass er sich den Boches und ihrer Brutalität unterwerfen musste, zerriss Jean-Luc beinahe das Herz. Ein solches Leben verdiente Papa nicht.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Thierry mit gedämpfter Stimme. »Dein Vater wird zurückkommen. Hast du das mit den Amerikanern gehört?«

»Was?«

Thierry beugte sich noch weiter vor und senkte die Stimme zu einem Flüstern, obwohl außer ihnen niemand in dem Café war. »Dass sie in Frankreich landen werden. Oh ja! Sie machen ihre Truppen schon bereit, und sehr bald werden sie hier landen und die Nazis zum Teufel jagen.«

Jean-Luc starrte Thierry an und fragte sich, wo er so etwas gehört haben mochte. »Na, dann lass uns hoffen, dass das stimmt«, sagte er und stürzte den Drink in einem Zug hinunter.

»Noch einen?« Thierry hatte schon den Deckel von der Flasche abgeschraubt. »Dann werden all diese armen Familien, die sie weggebracht haben, endlich heimkehren können – und dein Vater auch.«