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Deutschland im Jahr 2063. Die nationalistische Neuer Weg Partei hat die Macht an sich gerissen. Eine unterdrückte Bevölkerung versinkt in Armut, während die reiche und korrupte Elite das Land fest im Griff hat. In dieser Welt voller Elend und Misstrauen widersetzt sich die junge Ili gegen die mächtige und kaltblütige Partei. Ein glücklicher Zufall schenkt ihr die Chance, einen echten Wandel herbeizuführen. Aber der Weg dorthin birgt viele Ungewissheiten und Gefahren. Währenddessen kämpft ihr Vater Marko, Parteimitglied und Kleinstadtbürgermeister, seinen eigenen Kampf gegen die Partei, bei dem es um nicht weniger geht als das Überleben seiner Familie.
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Berlin, 29. September 2042
Eine Gruppe anzugtragender Männer sitzt, mit versteinerten Gesichtern, in einem sterilen Konferenzraum zusammen, einer von ihnen steht vor seinem Stuhl und berichtet.
„So meine Herren, das soll es von mir jetzt auch gewesen sein. Um es nochmal auf den Punkt zu bringen, es herrscht wieder Ruhe im Land und zwar überall.“
Der ältere Herr, der aufrecht steht wie ein Soldat auf dem Exerzierplatz, guckt nochmal in die Runde, bevor er sich mit einem selbstgefälligen Gesichtsausdruck wieder auf seinen Stuhl setzt. Marko Friedrich, der im Gegensatz zu dem alten Soldaten nach vorn gebeugt und krumm über seinen Notizen hockt, hatte nur mit einem Ohr zugehört, aber auch das reichte schon, um ihn vor Wut kochen zu lassen.
Für einen Moment herrscht Stille, kein Wort wird gesprochen und auch aus der Richtung der fest verschlossenen Türen und Fenster dringt kein Ton nach innen. Ein anderer Herr aus dem Kreis der zwölf Männer, die sich um den Konferenztisch versammelt haben, übernimmt das Wort. Er ist jünger als der Soldat, steht nicht so stramm, redet aber genauso selbstsicher und selbstgefällig wie der Alte.
„Meine Herren, seit fünf Tagen arbeiten wir hier im NWP-Vorstand und auch in der Regierung in dieser neuen personellen Konstellation und ich möchte bereits jetzt eine kurze Bilanz ziehen ... Ich sehe hier viele neue Gesichter. Männer, die ich selbst ausgewählt habe.“
Machthungrige Männer ohne Gewissen, denkt sich Marko.
„Ihr musstet euch schnell beweisen und in dieser schwierigen Situation Entscheidungen treffen. Ich weiß, es waren keine leichten Entscheidungen. Auch ich musste mich in der neuen Rolle des Parteivorsitzenden und bald dann hoffentlich auch in der des offiziellen Regierungschefs zurechtfinden, aber ich bin sicher, wir haben das Richtige getan.“
Marko möchte aufstehen und gehen, egal wohin, nur weg von diesen selbstgerechten, machtgierigen Menschen um ihn herum.
„Und jetzt, nach diesen fünf Tagen, haben wir das Land wieder auf die Siegerseite gebracht. Die Proteste sind beendet und das normale Leben kann bald wieder beginnen.“
Marko ballt die Fäuste.
„Einen Kontrollverlust, wie wir ihn in den letzten Wochen erlebt haben, wird es nicht noch einmal geben. Wir werden die staatlichen Strukturen weiter stärken. Was aber das Wichtigste ist, die Personen, die unserem Vaterland schaden wollten, haben keine Stimme mehr, aber es gibt ...“
„ES REICHT JETZT!“ Marko springt auf. „Wie könnt ihr hier so seelenruhig sitzen und euch das anhören?“
Marko guckt jeden Einzelnen der noch verbliebenen Altvorstandsmitglieder an, doch niemand hält seinem Blick stand. Nichts als verschämt gesenkte Augen. Dann wendet er sich an die Neuen.
„Ihr habt unmenschliche Verbrechen begangen und jetzt wollt ihr ein Gewaltregime installieren! Sagt es wie es ist!“
Die neuen Vorstandsmitglieder fixieren ihn mit giftigen Blicken, was Marko nur noch weiter anstachelt.
„Alle werden es erfahren! Sie werden wissen, was ihr getan habt!“
Dann ist es wieder still. Der Parteivorstand schweigt, niemand sagt etwas. Es wurde bereits alles gesagt. Nach einer gefühlten Ewigkeit, als Marko merkt, dass er keine Reaktion mehr zu erwarten hat, stürmt er aus dem Raum.
Die kurze Strecke den Flur entlang bis in sein Büro legt er noch immer blind vor Wut zurück, ohne die vielen Menschen wahrzunehmen, die ihn mehr oder weniger auffällig hinterher starren. Obwohl es fast schon Nacht ist, sind die meisten Büros in diesem Stock noch besetzt mit hochrangigen Beamten und deren Mitarbeiterstab. Auch die Mitarbeiter der Vorstandsmitglieder selbst sind noch da und warten das Ende der Sitzung ab.
Mit voller Wucht knallt Marko seine Bürotür hinter sich zu. Als er sich in seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen lässt, atmet er erstmal tief durch. Noch immer zittert er am ganzen Körper. Der letzte Wortwechsel brennt sich in sein Gehirn ein, er geht die Szene im Kopf durch, immer und immer wieder.
Alle werden es erfahren! Was habe ich getan? ... Und was werden die jetzt tun?
Marko versucht sich zu beruhigen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Er sackt gerade in seinem Bürostuhl zusammen, als es an der Tür klopft und sein Sekretär eintritt. Anders als sonst, schüchtern, fast schon scheu, beginnt er mit leiser Stimme zu reden.
„Kann ich Ihnen bei irgendetwas helfen, Herr Friedrich? Gibt es neue Anweisungen?“
„Nein, es gibt nichts Neues.“
Marko erwidert es mit einer noch immer etwas zittrigen Stimme. Er schaut an seinem besorgt drein guckenden Assistenten vorbei in die anderen Büros. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass er nicht unbeobachtet ist. Die inneren Bürowände auf dieser Etage sind gläsern, nur mit dünnen Holzrahmen eingefasst. Die Architektur des Gebäudes sollte die Offenheit der Partei widerspiegeln. Aber was gesagt und geredet wird, hört man nicht, da waren die Planer und Erbauer gründlich. Die Mitarbeiter in den Nachbarbüros, die auf Anweisungen des neu gebildeten Vorstands warten, gucken noch immer verstohlen zu Marko rüber, als könnten sie durch bloßes Ansehen erraten, was vor wenigen Augenblicken bei der Sitzung vorgefallen war.
Warum gucken die alle so ... so neugierig? Oder gucken sie mitleidig?
Er springt wieder hoch von seinem Stuhl.
„Ich muss hier raus!“
Er redet vor sich hin, ohne jemand Besonderen zu meinen, schnappt sich seine Schlüssel vom Schreibtisch und drängt sich an seinem verwunderten Sekretär, der noch immer in der Tür steht und auf eine klare Anweisung oder zumindest auf eine Antwort wartet, vorbei. Den Blick stur geradeaus gerichtet, läuft Marko zum Aufzug. Erst in der Einsamkeit der Kabine fühlt er sich wieder sicher.
Im Gegensatz zur obersten, sind die unteren Etagen menschenleer. Mit schnellen Schritten geht er durch stille Korridore, vorbei an dunklen Büros und Besprechungsräumen und guckt dabei ständig über seine Schulter. Durch einen Seiteneingang erreicht er den Parkplatz, steigt in sein Auto und lehnt sich zurück. Zum Losfahren fühlt er sich noch nicht bereit.
Sein Blick schweift über die Glasfassade des Hochhauses, welches jahrelang sein Arbeitsplatz war und jetzt trotzdem fremd und abweisend wirkt. Rund um das Gebäude hängen seit einer Woche an unzählige Masten die neuen Flaggen der Partei. Drei auseinanderstrebende schwarze Pfeile, eingerahmt von einem weißen Kreis und das Ganze auf scharlachrotem Untergrund. Schon bei Tageslicht wirken sie bedrückend auf Marko, aber jetzt, jeweils von einem Scheinwerfer angeleuchtet, haben sie eine geradezu beängstigende Wirkung auf ihn.
Soweit sollte es nie kommen.
Die Etage, aus der Marko gerade kam, ist als einzige hell erleuchtet. An den Fenstern sind schemenhaft Personen zu erkennen und das jetzt unerträgliche Gefühl beobachtet zu werden, wird wieder wach. Er steckt den Schlüssel ins Zündschloss und möchte gerade den Wagen starten, als etwas Markos Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Aus derselben Tür, aus der auch er gerade kam, hastet ein breit gebauter Mann um die 50. Marko erkennt seinen Vorstandskollegen und mittlerweile langjährigen Freund Hubert Osterloh auch von weitem. Auch er war oben anwesend und nahm das Gesagte einfach so hin. Kurz überlegt Marko, ob er einfach losfahren soll oder ob er sich in seinem Auto wegducken kann. Aber sein Kollege hat ihn schon im Halbdunkel erfasst. Also bleibt Marko sitzen, versucht die Schaulustigen oben auszublenden, fährt die Seitenscheiben runter und erwartet ihn mit betont grimmiger Miene, um seine Unsicherheit und Nervosität zu überspielen. Schnaufend kommt der untersetzte Mann bei Markos Auto an.
„Marko!“
„Hubert!“
„Fahr jetzt nicht einfach weg! Komm wieder hoch, rede mit denen.“
„Worüber soll ich noch reden? Ich habe alles gesagt.“
Hubert Osterloh stützt sich auf der Autotür ab und kommt Marko unangenehm nah. Mit gedämpfter Stimme redet er auf ihn ein.
„Mach nichts Dummes. Du weißt, was sonst passiert. Du weißt es besser als jeder andere.“
Marko weiß es tatsächlich besser als jeder andere und deshalb macht es ihm eine Todesangst. Im Gesicht von Hubert Osterloh meint Marko echte Besorgnis zu erkennen, also lässt er die grimmige Fassade gegenüber seinem Freund – vielleicht ist er der letzte, den er noch hat – fallen.
„Was soll ich deiner Meinung nach denn tun? Jetzt habe ich es gesagt, jetzt muss ich da durch.“
„Komm wieder hoch, entschuldige dich. Du verlierst vielleicht deine Stellung, aber du behältst dein Leben.“
Marko guckt die NWP-Parteizentrale hoch, zu der beleuchteten Etage ganz oben. Bedächtig schüttelt er den Kopf und sieht seinem alten Freund, mit dem er schon einige Krisen durchgemacht hat, in die Augen.
„Ich kann nicht zurück. Ich lasse mir was einfallen.“
Mit diesen Worten fährt er die Scheibe wieder hoch, lässt den Motor an und setzt zurück.
„Dieses Mal bringt dein Starrsinn dich ins Grab!“
Marko versteht jedes Wort, obwohl er schon in Richtung Straße unterwegs ist. Der Wachposten an der Parkplatzausfahrt öffnet ihm die Schranken. Überall um das Gebäude stehen Soldaten und beobachten die Umgebung. Als vor mehreren Wochen die Großproteste anfingen, wurde die NWP-Parteizentrale zum sichersten Gebäude der Bundesrepublik. Auf dem Höhepunkt der Proteste hatte man befürchtet, das Gebäude könnte von den Demonstranten überrannt werden, aber jetzt ist hier niemand mehr. Nur schwer bewaffnetes Militär in einer sonst menschenleeren Stadt.
Alle Straßen sind jetzt leergefegt, kein Auto ist unterwegs und niemand traut sich vor die Tür. Überall nur dunkle Häuserfassaden, die alles Leben dahinter verbergen. Auf dem Weg nach Hause fährt Marko durch Straßen, die noch vor wenigen Tagen voll wütender Protestler waren.
Auf dem Höhepunkt der Unruhen hatten die Demonstranten das öffentliche Leben in allen deutschen Großstädten komplett lahmgelegt. Mit jedem Tag, an dem die NWP an der Macht blieb, waren die Masse der Demonstranten größer und die Stimmen lauter geworden, die den sofortigen Rücktritt forderten. Nach über einer Woche anhaltender Proteste hatte jeder mit dem unvermeidlichen Aus für die Regierung gerechnet, aber es war anders gekommen.
Langsam wird Marko wieder ruhiger. Sein Wagen und seine tägliche Fahrt zur Arbeit waren das Einzige, was sich in den letzten Wochen nicht verändert hatte. Er kommt runter, fasst wieder klare Gedanken und fängt an zu grübeln.
Wieso habe ich das nur gesagt? Ich hätte einfach die Klappe halten sollen. Ich hatte doch einen verdammten Plan!
In einem kurzen Wutanfall zerrt Marko wie verrückt an seinem Lenkrad und schnauft dabei wütend durch den Mund. Im nächsten Moment sitzt er wieder still.
Und jetzt bin ich in Gefahr ... in großer Gefahr. Ich habe gesehen, wozu sie fähig sind. Ich muss etwas tun, schnell, sonst verschwinde ich auch einfach, so wie all die anderen. Und was wird dann aus meiner Familie?
Sein Herzschlag beschleunigt sich, ein Schauer läuft ihm über den Rücken.
Ich muss sie rausschaffen aus Berlin, am besten ganz raus aus Deutschland. Aber eins nach dem anderen, erstmal raus aus der Stadt. In ein abgelegenes Nest. Von da aus kann ich meinen Plan ausführen.
Das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben, war noch nie in seinem Leben so präsent wie jetzt, unruhig rutscht er in seinem Autositz hin und her.
Ich habe ja gesagt, alle werden es erfahren, und genauso wird es auch passieren.
In seiner Wohnung liegt alles bereit und niemand ahnt, dass Marko schon alles durchdacht hat.
Wenn ich jetzt schnell bin, kommen wir heil aus der Sache raus.
Nach einer zehnminütigen Fahrt durch das menschenleere Berlin ist Marko schon fast Zuhause. Trotz seiner Aufregung fährt er langsam, da er weiß, dass die Soldaten, die überall Checkpoints eingerichtet haben, jeden Verdächtigen gleich aus dem Verkehr ziehen.
Als sie die Macht an sich gerissen haben, habe ich nur zugeschaut, aber jetzt muss ich was tun. Wir müssen nur raus aus der Stadt, bevor sie reagieren können.
Noch während der Fahrt legt er sich seinen Fluchtplan zurecht. Zuhause angekommen, parkt er auf dem nächstbesten Parkplatz und läuft ins Haus. Mit dem Aufzug fährt er in den obersten Stock, zu seiner großzügig ausgestatten, parteifinanzierten Wohnung.
Oben angekommen öffnet er langsam die Wohnungstür und guckt in die dunkle Öffnung. Ein Gedanke schießt ihm unweigerlich durch den Kopf.
Sie könnten schon hier sein.
Langsam und möglichst lautlos tastet er von draußen nach dem Lichtschalter in der Wohnung. Mit einem leisen Klicken geht das Licht im Flur an. Drinnen ist nichts Ungewöhnliches zu sehen, mit geballten Fäusten wagt er sich langsam vor. Aus dem Wohnzimmer hört er Leute reden, merkt aber sofort, dass es nur der Fernseher ist. Heike liegt auf dem Sofa. Seelenruhig vor dem Fernseher schlafend, wie sie es jeden Abend tut. Seine Fäuste lösen sich und er atmet aus.
Es ist niemand hier, ich habe noch Zeit.
Er beugt sich zu seiner Frau herunter und berührt sie über der Decke am Arm.
„Heike... Du musst aufstehen.“
Langsam öffnet sie die Augen.
„Bist du wach?“
Sie setzt sich langsam auf und sieht ihn desorientiert an.
„Wie spät ist es?“
„Es ist noch früh, aber wir müssen von hier verschwinden.“ „Was? Wo willst du noch hin?“
„Ich habe etwas Dummes getan, wir müssen raus aus Berlin.“
Blitzartig ist sie hellwach.
„Was ist passiert? Hast du Ärger mit der Partei?“
Sie hat sofort erraten, worum es gehen musste. In den letzten Wochen war Heike die einzige Person, der Marko sich anvertraute.
„Ich habe ihnen gesagt, dass ich auspacken werde.“
Ihre Augen weiten sich und mit einem halb erstickten, hellen Schrei springt sie vom Sofa auf.
„Wieso hast du das getan?“
„Es ist aus mir rausgeplatzt!“
Er sagt es viel zu laut, merkt aber sofort, dass er sich im Ton vergriffen hat.
„Wieso gerade jetzt?“
Heike ist den Tränen nahe und umfasst mit einer Hand ihren runden Babybauch, der sich schon länger nicht mehr verbergen lässt. Sechs Wochen gab ihr die Hebamme beim letzten Besuch noch.
„Und was ist mit Jonas? Er ist doch erst drei, wir können ihn nicht einfach aus dem Bett ziehen und nachts durch die Gegend fahren.“
Tatsächlich hätte es wohl keinen schlechteren Zeitpunkt gegeben. Demütig blickt Marko seine schwangere Frau an.
„Ich kann es nicht mehr ändern. Setz dich wieder, ich weiß schon, wie es jetzt weitergeht.“
Langsam kann er Heike wieder beruhigen und ihr erklären, was er vorhat. Noch während er ihr von seinem Plan erzählt, kullern vereinzelte Tränen Heikes Wange herunter. Sie versteht, dass das Leben, so wie sie es kennt, an diesem Abend vorbei ist. Als Marko seinen Plan gerade soweit erklärt hat, dass Heike weiß, was als nächstes zu tun ist, herrscht für einen Moment Stille.
Dann sagt sie: „Wir werden nie wieder so richtig sicher sein, oder?“
Während Marko noch nach einer beruhigenden Antwort sucht, steht Heike auf und geht in Richtung Schlafzimmer.
„Ich packe das Nötigste zusammen.“
„Ich lasse nicht zu, dass euch etwas passiert!“, ruft er ihr hinterher, aber sie möchte es im Moment gar nicht hören und setzt ihren Weg ohne eine Reaktion fort.
Marko lässt es für den Moment gut sein und macht sich an die Umsetzung seines Plans. Er öffnet die oberste Schublade seines Schreibtischs. Der vollgepackte Ordner liegt noch immer da, wo er ihn gestern hinterlassen hat.
Das ist alles, was nötig ist.
Der dunkle Computerbildschirm vor ihm ruft eine Idee wach, die er schon oft hatte. Einmal im Internet hochgeladen, würden die gesammelten Daten des Ordners viral durchs Netz verteilt werden. Das Problem an der Idee war nur, dass das sein sicheres Todesurteil wäre.
Nein, ich lade die Daten erst hoch, wenn wir an einem sicheren Ort sind. Aber eine digitale Version des Ordners dabeizuhaben kann hilfreich sein, außerdem sind die Akten bereits gescannt und lokal gespeichert.
Beim Archivieren der Daten war Marko wie immer sehr genau. Also startet er den Computer. Aus einer anderen Schublade fischt er einen kleinen USB-Stick und steckt ihn in einen passenden Port. Die ersten Daten liegen schon auf dem Stick, als ihm auffällt, dass etwas anders ist als sonst. Das Symbol für die Internetverbindung ist durchgestrichen. Ein Symbol, das ihn sonst höchstens geärgert hätte, lässt ihn jetzt hektisch um sich blicken, aber niemand ist da. Nur der Rechner ohne Internetzugang summt vor sich hin.
Ein flaues Gefühl steigt in Marko hoch. So schnell hat er die Knüppeltrupps nicht erwartet. Aber das war genau ihre Vorgehensweise. Erst kappen sie deine Verbindung zur Außenwelt, dann stehen sie vor deiner Tür. Marko hat es auf hunderten von Videos gesehen. Die Knüppeltrupps bestanden aus fanatischen Parteianhängern, die fürs Grobe eingesetzt wurden, besonders in den letzten Tagen.
Während der Computer die letzten Daten auf den USB-Stick kopiert, überprüft Marko die Internetverbindung am Router. Auch dort nur ein rotes Licht. Er schnappt sich den Ordner und läuft ins Schlafzimmer. Vor dem großen Kleiderschrank steht Heike und packt stapelweise Wäsche in eine große rote Reisetasche. Die Tasche war noch fast neu, Marko hatte sie vorsorglich vor einigen Wochen gekauft, für genau diesen Fall. Das Gepäck der ganzen Familie findet darin Platz. Sie hat einen festen Boden aus Kunststoff, an einer Seite sind zwei Räder befestigt und an der anderen Seite ein passender Griff zum Ziehen.
Als er hinter Heike im Schlafzimmer auftaucht, dreht sie sich um.
„Wir müssen sofort los!“
Marko zwingt sich ruhig zu bleiben, versucht aber gleichzeitig Heike klar zu machen, dass es keine Zeit zu verlieren gilt. Sie hört auf zu packen und erstarrt. Nur ihr Kopf senkt sich für ein kleines Zeichen der Zustimmung. Marko wird nochmal deutlicher.
„Wir haben keine Zeit mehr, Heike. Hol Jonas aus dem Bett, ich nehme die Reisetasche und hole das Auto. Geh ohne mich nicht vor die Tür!“
Heike fängt an zu schluchzen und nickt erneut.
„Ok.“
Mehr bekommt sie nicht mehr raus und geht ins Kinderzimmer.
Marko nimmt die halb gepackte Reisetasche und bewegt sich zur Wohnungstür, unter seinem Arm noch immer der Ordner. Im Gehen sieht er vom Flur aus, dass der Computer noch an ist und erinnert sich an den USB-Stick, der jetzt mit den wichtigen Daten gefüttert ist. Er dreht schnell um und ist in wenigen Schritten beim Computer, nimmt den Stick und wirft ihn lose in die Reisetasche, zu den gefalteten Kleidungsstücken.
Nun geht er aus der Wohnungstür und weiter die Treppen runter. Die Geduld für den Aufzug kann er jetzt nicht aufbringen. Sein Wohnhaus wirkt genauso ausgestorben wie der Rest der Stadt. Aber Marko weiß, dass fast alle Nachbarn da sind. Tief verkrochen in ihre Wohnungen warten sie auf bessere Zeiten.
„Wenn wir erstmal im Auto sitzen, sind wir sicher.“
Aufgeregt redet er vor sich hin, als er das Erdgeschoss erreicht. Marko reißt die Haustür auf und möchte in die schwarze Nacht hinauslaufen, als er einen schmalen Schatten wahrnimmt, der sich blitzschnell auf ihn zu bewegt und in seinem Bauch einschlägt. Die Tasche fällt zu Boden, Akten fliegen durch die Luft. Ein dumpfer Schmerz erfüllt Marko, er sackt zusammen und ringt nach Luft.
Ich muss aufstehen und mich wehren.
Doch es ist viel zu spät. Der zweite Schlag trifft ihn am rechten Oberarm und wirft ihn zu Boden. Auf den Rücken liegend, sich Arm und Bauch haltend erblickt er seinen Angreifer. Ein großer Mann in dunkler Kleidung und mit vermummtem Gesicht. In der Hand einen Baseballschläger. Hinter ihm heben sich drei weitere dunkle Schatten von der Dunkelheit ab.
„Wir möchten, dass Sie zu Hause bleiben, Herr Friedrich!“
sagt der Mann, der ihn niedergeschlagen hat, in einem lauten und bedrohlichen Tonfall. Einer der anderen Angreifer sammelt die Akten wieder zusammen, während ein weiterer die Reisetasche durchwühlt und dabei ihren Inhalt vor dem Haus verteilt.
Einen Moment oder auch eine Stunde später – Marko hat jedes Zeitgefühl verloren –, kann er sich noch immer kaum rühren. Sie haben den Ordner wieder zusammen und lassen auch die leere Reisetasche links liegen. Heikes Kleider liegen verteilt auf dem Bürgersteig.
Er versucht seine vier Angreifer genauer in der Dunkelheit auszumachen und begreift, dass sie noch lange nicht mit ihm fertig sind. Der Vermummte, der Marko niederstreckte, gibt den Schläger weiter und blättert durch den Ordner. Dann beugt er sich zu Marko runter.
„Das sind ja sehr interessante Akten. Die sollten Sie lieber nicht so offen mit sich herumtragen, Herr Friedrich. Ich werde sie lieber mitnehmen, damit sie nicht verloren gehen.“
Marko versucht etwas zu erwidern, ringt aber noch immer nach Luft. Mehr als ein verzweifeltes Röcheln bringt er nicht hervor. Der Anführer des Knüppeltrupps gibt den anderen ein Zeichen. Der erste Schlag trifft Marko an der Schulter. Er schreit auf. Unter dem dumpfen Schmerz, spürt Marko wie seine Knochen brechen. Wieder und wieder schlagen die Vermummten aus verschiedenen Richtungen auf ihn ein, auf die Brust, auf den Rücken auf den Kopf. Sein ganzer Körper ist eine schmerzende Masse. Todesangst steigt in ihm auf. Seine Schreie ersticken. Marko windet sich vor Schmerzen zu Füßen seiner Angreifer, bis er auch dazu nicht mehr in der Lage ist. Langsam verfliegt der Schmerz und er gleitet über in eine schwarze Leere. Das Letzte, was er hört, ist der entsetzliche Schrei einer Frau. Seiner Frau.
Neustadt, 25. April 2063
Der immer weiter anschwellende Lärm aus der Empfangshalle im Erdgeschoss hat mittlerweile einen Pegel erreicht, den man nicht so einfach ignorieren kann. Als würde ihn der Trubel nichts angehen, sitzt ein Stockwerk weiter oben ein Mann still und allein an seinem Schreibtisch, eingesunken in seinen Bürosessel. Sein Haar ist fast vollständig ergraut und sein Gesicht ist gezeichnet von tiefen Falten. Die Zeit ist nicht spurlos an Marko Friedrich vorbeigegangen, viel zu oft wurde er in den letzten Jahren älter geschätzt, als er wirklich war. Aber hören kann er noch gut. Das Getöse von unten kann er leider nicht mehr überhören. Die ersten Gäste sind schon seit einer ganzen Weile da und warten darauf, vom Mann der Stunde begrüßt zu werden. Marko weiß, dass er sich schon längst in der Empfangshalle hätte blicken lassen müssen.
Heike wird bestimmt auch schon da sein, denkt sich Marko während er sein Sakko zuknöpft. Und Jonas hat sich bestimmt auch schon unter die Leute gemischt. Und Ili, vielleicht ist sie ja auch gekommen.
Marko macht sich bereit. Viel länger kann er wirklich nicht mehr warten. Mit einem prüfenden Blick inspiziert er seinen Anzug und macht sich bereit, zur Quelle des Lärms zu gehen. Als er gerade aufstehen möchte, stürmt eine ältere Frau mit dicken Brillengläsern, grauem Haar und einem grimmigen Gesichtsausdruck ins Büro. Er setzt an, etwas zu sagen, wird aber sofort übertönt.
„Herr Friedrich, wo bleiben Sie so lange? Alles wartet nur auf Sie! Jeder fragt nach Ihnen! Und Sie verstecken sich hier oben.„
„Ich bin schon auf dem Weg, bleiben Sie ruhig.“
Markos Worte bewirken das Gegenteil. Die ältere Frau regt sich nur noch weiter auf, ihr Gesicht rötet sich und sie wird noch lauter.
„Es ist Ihr Jubiläum, Sie hätten schon lange unten sein sollen und die Gäste begrüßen müssen.“
„Ja, ist gut, Elisa. Ich bin doch schon unterwegs.“
Elisa wirkt verblüfft, sie hat eine andere Reaktion erwartet. Mit einem noch immer gereizten aber trotzdem zufriedenen Gesichtsausdruck dreht sie sich um und verlässt das Büro ohne ein weiteres Wort zu sagen. Es war nicht das erste Mal, dass Elisa, eine einfache Verwaltungsangestellte, so mit Marko, dem Obersten seines kleinen Städtchens redete. Sie war schon vor ihm in dieser Behörde tätig und obwohl sie schon fast die 60 erreicht hat, ist er sich sicher, sie würde auch noch hier arbeiten, wenn Marko schon längst wieder weg wäre. Normalerweise konterte Marko in einem nicht weniger harschen Ton, wenn Elisa ihn so anging, doch heute fehlt ihm der nötige Enthusiasmus. Außerdem ist ihm klar, dass sie recht hat. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen Elisas aufbrausender Art ist sie Markos liebste Kollegin hier. Die Arbeit mit ihr ist überhaupt eines der wenigen Dinge, die er an seiner Arbeit mag, seiner Arbeit hier im Exil.
Ein Seufzer kommt ihm über die Lippen und langsam erhebt er sich von seinem Bürosessel. Der Rücken schmerzt ihn beim Aufstehen. Eine alte Verletzung aus den Zeiten, als er noch im NWP-Vorstand tätig war, meldet sich – wie immer, wenn er zu lange in derselben Position verharrt. Ein Schmerz, mit dem er zu leben gelernt hat, jetzt schon seit 20 Jahren.
Die Ärzte stellten damals Dutzende Prellungen, Brüche an Schulter, einigen Rippen und Wirbeln, sowie starke innere Blutungen, wegen denen er operiert werden musste, bei Marko fest. Für einen Moment stand sein Leben auf der Kippe, aber die Ärzte flickten ihn wieder zusammen. Und mit der Zeit verheilten seine Wunden so gut es ging. Seine Haltung wurde gebückter, sein Gang wurde langsamer, die leichten chronischen Schmerzen würden sein Leben lang bleiben, aber er hatte überlebt. Schlimmer als der Schmerz sind die Erinnerungen, die damit einhergehen. Die Todesangst, die vermummten Männer, die immer wieder grundlos und gnadenlos auf ihn einschlagen und der entsetzliche Schrei von Heike. Die Bilder verfolgen ihn und werden ihn, genau wie die Schmerzen, noch weiter verfolgen bis zu seinem Tod, da ist sich Marko sicher. Manche Dinge kann man nicht vergessen oder verdrängen, sie begleiten dich, egal wo du bist.
Er streckt sich, bewegt die alten Knochen und denkt an Heike. Obwohl sie niemand angefasst hat, hatte es sie damals noch härter getroffen.
Ohne weiter zu trödeln, geht Marko raus auf den Flur und zu der großen Treppe, die direkt runter in die Empfangshalle führt. Dort bleibt er stehen, blickt nach unten und stöhnt leise bei dem Anblick, der sich ihm bietet. Als Marko Elisa mit der Organisation der Feier betraute, hatte er sich nur eine kleine Feier mit dem Personal und einigen Bürgermeisterkollegen aus den Nachbarstädten gewünscht. Am liebsten hätte er eigentlich gar nicht gefeiert. Elisa sah das anders, sie hatte wieder mal ihre Kompetenzen überschritten. In der Empfangshalle des Rathauses stehen um die 200 Personen, gut angezogen und fast jeder mit einem Glas Sekt in der Hand. Bürgermeister, Unternehmer und Verbandsvorstände. Viele von Ihnen NWP-Mitglieder oder Anwärter, sogar ein Abgeordneter der Volksversammlung, ein alter Bekannter von Marko, ist unter ihnen. Die Elite der kleinen Region, in der er seine Kleinstadt regieren darf.
Wieso gerade er vom neuen NWP Vorstand höchstpersönlich vor genau 20 Jahren zum Bürgermeister seiner kleinen Heimatstadt gemacht wurde, versteht Marko bis heute nicht ganz. Als er nach vier Wochen endlich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, bekamen er und seine kleine Familie eine einfache Wohnung in Berlin zugeteilt, mit der strikten Anweisung diese nicht zu verlassen. Vor dem Haus stand Tag und Nacht ein Auto, alle 6 Stunden wechselten die Insassen, einmal pro Woche lieferten sie ihnen ein paar Lebensmittel, ansonsten hatten sie Kontakt zu niemandem. Die kleine Familie war in Einzelhaft genommen worden, die hochschwangere Heike hatte in dieser Zeit oft Panikattacken, es grenzte an ein Wunder, dass sie das Baby in dieser Zeit nicht verlor.
Nach zwei Wochen in ihrem kleinen Gefängnis bekamen sie den lang erhofften Zuwachs. In der Wohnung, nur mit einer Hebamme als Unterstützung, kam die kleine Ilona zur Welt. Marko, der sich noch immer von seinen Verletzungen erholte, und Heike kümmerten sich in diesen Wochen jeden Tag so um ihre beiden Kinder, als wäre es der letzte, den sie zusammen hätten.
Nach acht Wochen kam dann endlich die Erlösung durch einen Brief des NWP-Vorstandes. Marko wurde zum Bürgermeister seiner Heimatstadt, dem kleinen Neustadt, ernannt. Noch immer misstrauisch, aber auch unendlich erleichtert darüber, endlich ausziehen zu können, fuhren sie so schnell wie möglich raus aus Berlin. Ihre Wärter ließen sie gewähren, blieben aber die ganze Fahrt über in Sichtweite. In Neustadt angekommen, konnten sie vorerst eine Wohnung beziehen, die die Partei gestellt hatte. Marko stürzte sich nach all den Wochen sofort in die Arbeit. Er konnte es oft nicht glauben, dass er noch lebte.
Mit der Zeit hörten die Schlägertrupps auf sie zu beschatten. Stattdessen kontrollierte der neue NWP-Vorstand Marko auf eine andere Weise. Dafür hatten und haben sie bis heute ihre Informanten. Marko kennt sie alle. Unter ihnen sind Nachbarn, Mitarbeiter im Rathaus und der Polizeichef, allesamt NWP-Anwärter, die heiß darauf sind, zum Mitglied aufzusteigen.
Viele Jahre hatte er darüber nachgedacht, wieso der Vorstand entschieden hatte, ihn wieder mit einem politischen Amt zu betrauen, bekam aber nie eine Antwort. Er vermutete, es lag an der großen Zahl seiner Anhänger innerhalb der Partei. Immerhin war er dabei, als die Partei groß geworden war und er war sehr beliebt. So jemanden konnte man nicht einfach verschwinden lassen, wie einen einfachen Dissidenten. Über Dritte hörte er eine andere Theorie, nach der der NWP-Vorstand Marko als Sündenbock in der Hinterhand behalten wollte, falls die Zukunft sie einholen würde.
So oder so war er nun schon 20 Jahre im Amt, unbehelligt und unbemerkt von der korrupten und dekadenten NWP-Obrigkeit. Aber auch der lokale NWP-Adel, wie Marko sie gerne nennt, steht den hohen Tieren aus Berlin in Sachen Korruption und Vetternwirtschaft in nichts nach. Man muss die richtigen Leute kennen, das galt schon immer, aber unter der neuen Führung wurde es zur notwendigen Bedingung für Wohlstand, Einfluss und ein gutes Leben. Bei dem Gedanken, sich unter diese richtigen Leute zu mischen, steigt Ekel in ihm hoch.
Er sieht sich in der Empfangshalle um. Den ganzen Tag hatte Elisa mit zwei Mitarbeitern dekoriert und vorbereitet, an jeder Wand hängen mindestens zwei überdimensionierte Parteiflaggen, die mittlerweile auch zu Nationalflaggen geworden sind. Die drei dicken schwarzen Pfeile, die aus einem Mittelpunkt auseinanderstreben, verfolgen Marko und das ganze Land nun schon seit über 20 Jahren. So dekorierte Räume sind fast schon Pflicht bei jeder Feier, bei der die NWP mitmischt. Für Marko hat der Anblick nach wie vor etwas Bedrohliches.
Er begibt sich die Treppe runter zu den ihn erwartenden Gästen. Er hat kaum drei Stufen hinter sich gebracht, als eine Stimme aus der Menge raunt „Da ist er ja. Der Mann der Stunde.„
Und schon sind alle Blicke auf ihn gerichtet. Die ersten Gäste fangen an zu applaudieren und der Rest tut es ihnen gleich. Etwa auf der Mitte der Treppe bleibt Marko stehen, setzt ein künstliches Lächeln auf und macht heuchlerisch beschwichtigende Gesten. Am liebsten wäre er im Boden versunken, aber da muss er nun durch. Mit schnellen Schritten nimmt er die letzten Stufen und mischt sich in die noch immer klatschende Menge. Er beginnt damit, Hände zu schütteln und erwidert zu jedem Glückwunsch ein schnelles Dankeschön, gepaart mit einem falschen Lächeln. Ein Mann drängt sich durch die Gäste vor in die erste Reihe. Als Marko ihm die Hand reicht, packt er sie und hält sie fest. Er lässt sich nicht so einfach abspeisen und zwingt Marko so zum Stillstand.
„Herzlichen Glückwunsch zum 20-jährigen Jubiläum, Herr Friedrich.“
Marko ist gezwungen ihn näher zu betrachten, während jemand von der Presse ein Foto schießt. Der Gratulant ist um einiges jünger als er, groß und gut gebaut. Auf dem Kopf kein einziges ungezähmtes Haar, jede Strähne liegt, wo sie liegen soll. Selbstbewusst lächelt er Marko ins Gesicht.
„Herr Abgeordneter Schaute, schön Sie mal wieder hier zu sehen.“
Marko versucht genauso selbstbewusst zu wirken und antwortet mit fester Stimme.
„Ich danke Ihnen für die Einladung!“
Noch immer hält er Markos Hand.
„Ich hoffe, Sie haben den langen Weg aus Berlin nicht nur extra für mich auf sich genommen.“
„Für ein so treues und verdientes Parteimitglied wie Sie, mit einer solchen Karriere, ist mir keine Reise zu lang“, erwidert der Abgeordnete und lässt Marko wieder los.
Jeder in Hörweite erkennt sofort den Seitenhieb, den der Abgeordnete damit verpassen wollte. In Neustadt und Umgebung kennen alle Markos Vergangenheit – oder meinen zumindest, sie zu kennen. Allzu oft wurde er in den letzten Jahren zum Mittelpunkt von Gerüchten und Verschwörungstheorien. Die ganze Wahrheit kennt aber nur Marko selbst. Er schluckt seine Wut über die Anspielung herunter und beschließt, den Abgeordneten loszuwerden.
„Vielen Dank. Ich muss jetzt noch ein paar Hände schütteln, aber wir haben sicher später noch Gelegenheit zu reden“, sagt Marko in der Hoffnung, dass es zu dieser Gelegenheit nicht kommen wird.
Der Abgeordnete nickt ihm noch einmal zu, wendet sich ab und lässt ihn frei. Die Gratulanten, die vorher einen respektvollen Abstand zu den Redenden hielten, stürmen wieder auf Marko ein. Er setzt sein falsches Lächeln wieder auf und kämpft sich weiter durch die Menge.
Der Volksversammlungsabgeordnete Jens Schaute ist Marko nicht unbekannt. Sein Heimatdorf ist nur eine dreißigminütige Fahrt von Neustadt entfernt. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, so wie viele andere in dieser Zeit auch. Sein Ausweg war die NWP. Früh hatte er sich bei der Partei beworben und machte sich schnell einen Namen. Er fiel den Leuten auf, aber nicht, weil er besonders intelligent oder fleißig war. Er fiel auf, weil er die Werte der Partei verkörperte wie kein anderer und bei jeder Gelegenheit davon redete, wie großartig sein Land und seine Partei doch seien.
Der lokale NWP-Parteiverband, in dem auch Marko ist, zeigte sich für solche Inbrunst und Loyalität erkenntlich. Sie zahlten ihm eine Wohnung und sorgten für eine gute Ausbildung, wie sie heute kaum noch jemand erhält. Ein halbes Jahr seiner Ausbildung verbrachte er in Markos Neustädter Rathaus. Marko empfand den jungen Herrn Schaute von Anfang an als unsympathisch und lästig. Für ihn war er nur ein kleiner Fanatiker, der sich gerne reden hörte. Herr Schaute dagegen hatte Marko verehrt. Für ihn war er, als ehemaliges Vorstandsmitglied der NWP aus alten Zeiten, fast schon eine mythische Gestalt. Jahre später sollte sich seine Meinung um 180 Grad drehen, als er von älteren Parteikameraden von Markos Vergangenheit erfuhr.
Herr Schaute stieg schnell auf in der Partei. Er verstand es, sich bei den richtigen Leuten beliebt zu machen und wusste, womit er bei den Parteikameraden Eindruck machen konnte. Mit Anfang 30 wurde er Abgeordneter für seinen Bezirk in der Volksversammlung.
Und jetzt ist er wieder hier in Neustadt, denkt Marko, während er noch immer fleißig Hände schüttelt. Dank Elisa wird er auch noch eine Rede zu meinen Ehren halten.
Der Gedanke zieht Markos Laune noch weiter runter als sie ohnehin schon ist. Am liebsten hätte er sich einfach ins Auto gesetzt und wäre verschwunden.
Nach einer halben Stunde Hände schütteln und seichter Höflichkeiten ist das Ende in Sicht. Im Hintergrund warten die letzten drei Gratulanten geduldig bis alle anderen fertig sind. Als sie schließlich vor Marko stehen, hat dieser das erste Mal an diesem Abend ein natürliches und echtes Lächeln im Gesicht. Vor ihm stehen Heike und seine zwei Kinder Jonas und Ilona.
„Glückwunsch, Marko“, sagt Heike in einem für diese Umgebung zu leisen Ton und umarmt ihn.
Ihr Gesicht spiegelt eine große, kaum übersehbare Anspannung wider. Vor diesem Termin mit den vielen NWP-Mitgliedern fürchtet sie sich schon seit sie das erste Mal davon hörte.
„Danke. Ist alles in Ordnung?“, erkundigt sich Marko und küsst seine Frau auf die Wange.
„Ja, ich komme schon klar.“
Jonas ist der nächste.
„Herzlichen Glückwunsch, Vater!“, sagt er, reicht Marko die Hand und klopft mit der anderen auf seine Schulter.
Der Anblick hätte eher zu zwei Geschäftspartnern als zu Vater und Sohn gepasst. Normalerweise ist Jonas herzlicher, aber als angehender Politiker unter den vielen etablierten Parteimitgliedern versucht er sich kühl und distanziert zu zeigen. Er hat gerade sein Politikstudium beendet – als Bürgermeisterkind natürlich auf Kosten der Partei – und ist nur auf Besuch in Neustadt.
Jonas ähnelt Marko sehr, sowohl äußerlich als auch charakterlich. Er ist energisch und zielstrebig. Seine NWP-Mitgliedschaft ist schon fast in trockenen Tüchern und er hat große Pläne. Genau wie sein Vater damals. Heike und Marko hatten in der Vergangenheit immer wieder versucht, ihn in eine andere Laufbahn zu lenken, erfolglos. Marko befürchtet einen kometenhaften Aufstieg seines Sohnes innerhalb der Partei, ähnlich wie den des Abgeordneten Schaute.
Jonas macht Platz für seine Schwester.
„Glückwunsch, Papa“, sagt sie und umarmt Marko fest.
Er hat sie hier eigentlich nicht erwartet, sie steht kurz vor den Abiturprüfungen und hat momentan eigentlich andere Sorgen. Marko merkt sofort, dass auch Ili, wie jeder sie nennt, sich hier nicht besonders wohl fühlt, was ihn aber nicht wundert. Marko meint die verstohlen Blicke und verschwörerischen Mienen der Leute ringsum beinahe körperlich spüren zu können. Ili ist in Neustadt ebenso bekannt wie ihr Vater. Ihr lebendiges und aufbrausendes Wesen – eine Eigenschaft, die sie von ihrem Vater geerbt hat – gepaart mit einer tiefen Abneigung gegen die NWP, wie sie heute keiner mehr offen zeigt, brachten ihr in der Vergangenheit einige Probleme ein. Ohne ihren Vater, der jederzeit schützend die Hand über sie hielt, wäre sie schon längst in einem der vielen Erziehungsheime gelandet. Ein Umstand, für den Ili viel dankbarer seien sollte, wie Marko findet, aber für den Augenblick ist er froh, dass sie heute hier ist.
„Mit dir habe ich hier gar nicht gerechnet“, sagt Marko mit einem schiefen Lächeln.
„Ich wollte Mama hier nicht allein lassen.“
Elisa gesellt sich zur Familie Friedrich und begrüßt alle herzlich. In den letzten 20 Jahren war sie der ganzen Familie immer eine gute Freundin gewesen.
Heike lässt ihren Blick durch die Menge schweifen, wie immer, wenn so viele NWP-Leute um sie herum sind. Sie sieht sich die Gesichter an und sucht nach alten Bekannten. Was sie Marko und ihr damals angetan haben, konnte auch sie nicht vergessen. Gerade in Momenten wie diesen kommt es ihr vor, als wäre sie wieder auf der Flucht.
Etwa eine Stunde geht das Treiben in der Empfangshalle des Neustädter Rathauses so weiter. Ein extra in der nächsten Großstadt angeheuertes Cateringunternehmen verteilt Champagner und andere alkoholische Getränke. Das Büffet ist gefüllt mit einer riesigen Auswahl extravaganter Gerichte. Von russischem Kaviar, über Meeresfrüchte aus der Südsee, zu den teuersten Steaks, ist alles aufgefahren worden, was für einen Normalbürger unerschwinglich wäre. Die einfachen Rathausangestellten probieren sich quer durchs Büffet als hätten sie tagelang gehungert und staunen über die kunstvoll angerichteten Speisen. Im Hintergrund arbeiten ein Dutzend Köche in einer extra eingerichteten mobilen Küche unaufhörlich, um den Nachschub sicherzustellen. Ein Luxus, der die Stadt mehr kostet, als sie eigentlich übrig hat, aber über die Jahre haben selbst die kleinen NWP-Bürgermeister einen sehr exklusiven Geschmack entwickelt. Schließlich sind sie die reichsten und mächtigsten Männer ihrer Gemeinden und können uneingeschränkt über das Geld ihrer Städte verfügen.
Marko wollte da immer anders sein. Trotzdem muss er sein Gesicht gegenüber den anderen Bürgermeistern mit solchen Traditionen wahren. Eine Kleinigkeit, wie ein missglücktes Catering, genügt, um über Jahre zum Ziel von Hohn und Spott im Kreis der Bürgermeister zu werden.
Elisa kennt alle Geschichten solcher missglückten Veranstaltungen im Umkreis von 100 Kilometern. Überhaupt weiß sie immer bestens über alle Neuigkeiten und Gerüchte Bescheid und teilt ihre Infos auch liebend gern mit ihren Mitmenschen. Im Moment unterhält sie Heike und Ilona mit dem neusten Tratsch aus ihrer Kleinstadt, von der sie immer alles weiß und auch wissen will.
Jonas, der dafür nicht viel übrighat, schließt derweil neue Bekanntschaften mit alteingesessenen Parteimitgliedern und unterhält sich mit dem Abgeordneten Schaute über dessen Lieblingsthema – seinen rasanten Aufstieg innerhalb der Partei. Marko, der das aus dem Augenwinkel mit Sorge beobachtet, diskutiert mit zwei Bürgermeisterkollegen aus den Nachbarstädten über die geplante Reform der Rentenkasse.
Um Punkt 19 Uhr schreitet Elisa schließlich zum Podium. Aus dem großen Lautsprecher dröhnt ihre ohnehin schon laute Stimme noch einmal verstärkt. Augenblicklich verstummen alle Anwesenden, die Sekunden vorher noch wild durcheinander redeten. Elisa beginnt mit einer kurzen Begrüßung an alle Gäste und begrüßt dann die sogenannten Ehrengäste nochmal namentlich. Jeder mit Amt und Würden, auch wenn diese noch so klein sind, wird einzeln mit einem kurzen Applaus bedacht.
Zuletzt ist Marko an der Reihe, Elisa bittet ihn und seine Familie nach vorn zum Podium. Marko hatte sie vorher noch gebeten, so etwas in der Art nicht zu tun, und doch bewegt sich Familie Friedrich nun aus den verschiedenen Ecken der Empfangshalle nach vorne. Nur Ili ist nicht zu sehen. Heike schiebt sich allein durch die Menge, mit einem gezwungenen Lächeln und Schamesröte im Gesicht. Einen Moment später stehen Jonas, Heike und Marko neben Elisa. Wie zur Begutachtung stehen sie in einer Reihe, so dass jeder sie sehen kann. Marko beugt sich möglichst unauffällig zu Heikes Ohr.
„Wo ist Ili?„
Heike dreht sich halb zu ihm um und sagt:
„Sie hat sich das hier erspart, ich glaube sie ist erstmal vor die Tür gegangen.“
Marko kann es ihr nicht verübeln. Wenn er könnte, wäre er jetzt auch woanders. Er hatte nie ein Problem damit, im Rampenlicht zu stehen, ansonsten wäre er wohl auch nie Politiker geworden, aber das hier ist ihm dann doch zu viel. Heike geht es genauso. Auch wenn sie sich alle Mühe gibt, es zu vertuschen, ist es doch für jeden ersichtlich in ihrem Gesicht zu lesen. Nur Jonas sonnt sich geradezu in der Aufmerksamkeit der wichtigen Männer und Frauen.
Heike und Marko drehen sich wieder zu der Menge und Elisa beginnt mit ihrer Rede. Etwa zwanzig Minuten referiert sie, mit vielen lobenden Worten für Marko und die ganze Behörde, über die Leistungen und Errungenschaften, die in Markos Amtszeit vollbracht wurden. Passend dazu läuft eine Präsentation mit Zahlen, Daten und Fakten ab, die an die große, weiße Wand hinter dem Podium projiziert wird. Das Bild ist so zwischen zwei großen Parteiflaggen platziert, dass es wie umrahmt wirkt. Es folgt eine kleine persönliche und humorvolle Geschichte über Markos ersten Arbeitstag in Neustadt und darüber, wie wenig Elisa damals noch von ihm hielt. Sie beendet ihre Rede mit einem erneuten, etwas rührseligen Dankeschön an Marko. Die ganze Empfangshalle applaudiert, auch Marko, der das erste Mal an diesem Abend und überhaupt das erste Mal seit langem herzlich lachen muss.
Die Menge wird langsam wieder leiser und Elisa bittet den nächsten Redner, den Abgeordneten Jens Schaute, zum Podium. Die Menge applaudiert erneut und wenige Sekunden später steht Schaute hinter dem Rednerpult. Er beginnt seine Ansprache und Marko ist sofort klar, dass es eine dieser StandardParteireden wird. Marko hat schon viele solcher Reden gehört und auch selbst gehalten. Der erste Teil besteht immer aus schwärmerischen Worten über die NWP. Wie viel sie erreicht hat, wie erfolgreich das Land jetzt ist und wie schlecht es zuvor unter anderen Parteien geführt wurde. Erst im zweiten Teil geht es um den Geehrten und seinen Anteil daran. So ist es auch jetzt, mit dem kleinen Unterschied, dass der Abgeordnete Schaute noch patriotischer und mitreißender redete als die Redner, denen Marko bisher zuhören durfte.
Fast könnte man ihm glauben, dachte Marko, aber nur fast.
Während der Rede mimt Marko einen zustimmenden, stellenweise auch einen begeisterten Gesichtsausdruck, obwohl er all das schon so oft gehört hat und obwohl er weiß, wie die Wahrheit aussieht. Genau das ist es, was von ihm und auch allen anderen Parteimitgliedern erwartet wird. Alle Gäste blicken auf diese Weise zum Podium. Die wirklich Begeisterten sind von denen, die ihre Begeisterung nur spielen, nicht zu unterscheiden. Jens Schaute beendet den ersten Teil seiner Rede mit lauten und leidenschaftlichen Prahlereien über die NWP-Regierung. Als Antwort erhält er heftigen Applaus und Jubelschreie. Auch Marko applaudiert und grinst so breit wie es ihm nur irgendwie möglich ist.
Der erste Teil ist geschafft. Jetzt nur noch mein Teil und dann bin ich erlöst.
Die Menge ist noch immer am Toben, als der Abgeordnete mit dem zweiten Teil seiner Rede beginnt.
„Vielen Dank, liebe Kameraden, aber kommen wir jetzt zu dem Mann, wegen dem wir heute alle hier sind ...“
Erneut wird ein Bild an die Wand hinter dem Podium projiziert. Ein Startbild erscheint, danach ein komplett schwarzes Hintergrundbild. Die Leute in der Empfangshalle werfen sich fragende Blicke zu. Der Abgeordnete Schaute unterbricht seine Rede, als er bemerkt, dass ihm jemand die Aufmerksamkeit stiehlt. Mit gereiztem Blick dreht er sich zum schwarzen Bild um und sucht dann beim gegenüberliegenden Projektor nach jemand Verantwortlichen, entdeckt dort aber niemanden.
Plötzlich schaltet das Bild um. Zu sehen ist ein aktuelles Gruppenfoto der NWP-Spitze, darunter steht in großen roten Buchstaben geschrieben: „Seit über 20 Jahren diktiert eine korrupte Partei dem ganzen Land seine Befehle!“
Die Leute in der Empfangshalle erstarren. Jeder versucht noch das Gesehene zu deuten, als der Projektor bereits zu einem neuen Bild wechselt. In einer Reihe sind vier Bilder zu sehen. Darunter, wieder in roter Schrift: „Unserem Land ging es noch nie so schlecht wie jetzt!“
Die Bilder zeigen zerfallene Gebäude mit kaputten Fenstern, Fabriken voller Schrottberge, dort wo einmal Maschinen standen, große Mietshäuser in denen anscheinend schon lange niemand mehr wohnt und einen heruntergekommenen Straßenzug, an dem sich Bruchbude an Bruchbude reiht. Davor stehen fast immer Menschen, Erwachsene und Kinder in dreckigen Klamotten und mit ungepflegtem Äußeren. Marko erkennt die Gebäude und Straßen auf Anhieb, die Fotos wurden alle in Neustadt gemacht. Ein neues Bild erscheint. Zusammengestellte Schlagzeilen von einem Dutzend verschiedener Medien, die alle die Regierung in den Himmel loben. In rot ist darunter zu lesen: „Es gibt keine Pressefreiheit und keine Opposition!“
In der Halle bricht sich langsam das Schweigen des Publikums. Elisa versucht den Projektor zu erreichen, kann aber das nächste Bild nicht mehr verhindern. Dieses Mal ist ein Foto einer Schulklasse zu sehen. An der Bildqualität lässt sich erkennen, dass es schon etwas älter ist. Sechs der Kindergesichter sind mit einem dicken schwarzen X markiert.
„Menschen verschwinden und werden nie wiedergesehen!“, ist unter der Schulklasse zu lesen.
Dann ist die Show vorbei. Elisa zieht den Stecker am Projektor. Die Menge überschlägt sich mit empörten Ausrufen, einer lauter und erregter als der andere. Marko lässt sich dazu nicht hinreißen, hört aber Jonas neben sich brüllen.
„Dreiste Lügen sind das!“
Marko dreht sich zu ihm um und merkt, dass Heike nicht mehr neben ihm steht. Besorgt sieht er sich nach ihr um. Aus dem Augenwinkel sieht er eine schlanke Gestalt aus dem Haupteingang flüchten. Einige Sekunden später erblickt er auch Heike beim Haupteingang. Anscheinend eilt sie der ersten Gestalt nach, bleibt aber draußen vor dem Eingang stehen. Marko meint sie etwas rufen zu hören, kann in dem Tumult aber nichts verstehen. Als Heike wieder reinkommt, treffen sich ihre Blicke und Marko versteht sofort, was gerade vor sich ging.
Was Heike ihr hinterherruft, versteht Ili schon gar nicht mehr. Sie blickt kurz hinter sich und sieht ihre Mutter am Eingang des Rathauses stehen, während sie selbst schon den Parkplatz passiert, auf dem die Nobelkarren der NWP-Funktionäre Stoßstange an Stoßstange mit den Schrotthaufen der Angestellten stehen. Als Ili die Hauptstraße überquert hat, sieht sie sich nochmal um. Heike versucht erst gar nicht sie einzuholen. Für den Moment ist Ili ungestraft davongekommen. Dass sie sich ihren Eltern früher oder später stellen muss, ist ihr aber klar.
Egal. Die können mir gar nichts?
Ili ist nun schon 19 und kurz davor von Zuhause auszuziehen, was nur noch keiner weiß. Mit der Gewissheit, keine Konsequenzen fürchten zu müssen, war die Gelegenheit, die sich ihr eben geboten hatte, einfach zu verlockend, um zu widerstehen.
Und es war einfach perfekt.
Ili setzt ihren Weg unbeirrt fort.
Als Heike sie von der Bühne aus entdeckte und ihr misstrauisch hinterher sah, war schon alles auf den Weg gebracht worden. Sie hatte einen Timer auf dem Rechner programmiert, der die Präsentation und den Projektor nach einigen Minuten automatisch startete. Ohne dass sie jemand gesehen hatte und ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen mischte sie sich wie selbstverständlich wieder unter die anderen Gäste.
Als der Projektor während der Rede des Abgeordneten ansprang – der Zeitpunkt hätte nicht besser seien können – stand sie etwas abseits der großen Masse. Außerhalb des Blickfeldes der meisten Leute und weit weg vom Computer und vom Projektor. Während die Menge wie gebannt ihre Präsentation verfolgte, genoss Ili für einen Augenblick ihre dummen schockierten Gesichter, nutzte dann aber die Gelegenheit, ungesehen zu verschwinden. Für den Moment hatte sie niemand im Verdacht und selbst wenn würde es nicht über einen Verdacht hinausgehen ohne irgendwelche Beweise. Nur Heike konnte natürlich eins und eins zusammenzählen und schlich ihr unauffällig hinterher.
Was ihr jetzt aber auch nicht mehr hilft. Sie steht noch immer im Eingangsbereich des Rathauses, während Ili in die nächste Querstraße und damit aus ihrem Blickfeld verschwindet.
Jetzt, wo sie vorerst unbestraft entkommen ist, steigt ein triumphierendes Gefühl in ihr hoch. Sie beginnt zu lächeln wie ein Schulmädchen nach einem gelungenen Streich.
Die Aktion heute war nicht geplant, aber der unbeaufsichtigte Computer war wie eine Einladung. Sie musste nur die kleine Präsentation von ihrem USB-Stick starten, die sie schon vor Wochen für ein Referat in der Schule erstellt hatte. In der Schule konnte sie ihre Präsentation nicht zeigen, der Lehrer kannte sie und hatte alles vorab gesichtet und sie mit einer sechs prämiert und aus dem Verkehr gezogen.
Gut so. Heute hatte ich ein viel größeres und interessierteres Publikum.
Amüsiert über sich selbst wird ihr Lächeln nur noch breiter. Ich hoffe nur, dass Papa wieder aus der Sache rauskommt …
Langsam verschwindet das Lächeln wieder aus ihrem Gesicht, während sie in die Ringstraße einbiegt.
Ich habe es ihm die letzten Jahre nicht einfach gemacht.
Bis vor drei Jahren war Ili wie jedes andere Mädchen in ihrer Klasse, vielleicht etwas aufbrausender und energischer als die meisten anderen, aber ansonsten unauffällig. Das änderte sich jedoch, als im Politikunterricht die Themen Meinungsfreiheit und Menschenrechte behandelt wurden. Da zeigte sich ihre besondere Art, wie es manche Lehrer später beschreiben sollten. So gut wie alle Schüler glaubten ohne Widerspruch den Lehrbüchern, in denen Dinge standen wie „Alle Menschen sind gleich.“ oder „Jeder darf tun und sagen, was er möchte.“ Ili hatte Zweifel und stellte Fragen. Auf einmal sah sie ihr Umfeld in einem anderen Licht. Der Wirtschaft geht es gut wurde in den Nachrichten gesagt, aber wieso gab es dann so viele leere Fabriken und Arbeitslose? Und hatte sie schon jemals etwas Schlechtes über die Regierung gehört?
Tagelang stellte sie Fragen an ihre Mitschüler, an ihre Lehrer und vor allem an ihren Vater. Die Mitschüler waren bis auf wenige Ausnahmen nicht interessiert an ihren Fragen und nahmen den Lehrstoff einfach hin. Die Lehrer verwiesen auf die Lehrbücher und wichen aus. Ihr Vater redete so gut wie gar nicht darüber und blockte ihre Fragen ab. Also suchte sie sich ihre Antworten woanders und fand sie im Internet. In dubiosen Foren, die alle paar Wochen von der Regierung geschlossen wurden und dann mit anderer Webadresse wenige Tage später wieder auftauchten. Ili war klug genug, die wirren Verschwörungstheorien von den Wahrheiten zu unterscheiden. Schnell war sie sich in einem sicher: „In dem Land, in dem ich lebe herrscht keine Meinungsfreiheit und die Menschen werden unterdrückt!“
Sie konnte eine kleine Gruppe von Mitschülern überzeugen und zusammen starteten sie ihren Protest. Sie übermalten die Plakate der NWP und druckten sich eigene Plakate und Flyer, in denen sie die Lügen der NWP enttarnten. Erst verteilten sie ihre Flyer mehr oder weniger getarnt in der Schule und anderen öffentlichen Stellen. So ging es einige Monate, bis Ili und die anderen, die enttäuscht waren von den fehlenden Reaktionen, einen Schritt weiter gingen. An einem belebten Samstag gingen sie in die Neustädter Innenstadt und verteilten ihre Flyer und Plakate in aller Öffentlichkeit. Als wollten sie etwas verkaufen, sprachen sie die Leute direkt an und skandierten Parolen gegen die Regierung. Der Erfolg blieb aber wieder aus, die Menschen wandten sich nervös ab und taten so, als gäbe es Ilis kleine Gruppe gar nicht. Die Polizei beendete den kleinen Tumult nach nur einer Stunde.
Es folgte ein kurzer Aufenthalt in einer Zelle des Polizeireviers und für jeden der Protestierenden eine Anzeige wegen Aufruhrs und Volksverhetzung. Marko musste jeden Einfluss, den er noch in der NWP hatte, geltend machen, um Ili eine Strafe im Erziehungsheim zu ersparen. Letztendlich bekam sie nur ein paar Sozialstunden aufgedrückt und Marko musste eine großzügige Parteispende leisten. Ihre Mittäter, alles Kinder aus der Unterschicht, hatten nicht so viel Glück. Für sie ging es ins gefürchtete Erziehungsheim. Ili konnte nur hoffen, dass es nicht so schlimm war, wie sie in manchen Foren gehört hatte. Eine Nachricht von ihren Freunden aus dem Heim hat sie nie erhalten.
Sie machte allein weiter. Die anderen Mitschüler wollten schon lange nichts mehr von ihr wissen. Mit kleinen getarnten Protestaktionen sabotierte sie immer wieder die NWP-Propaganda in Neustadt. Immer, wenn irgendwo ein Plakat der NWP übergekritzelt wurde, tuschelten die Leute über die rebellische Tochter des Bürgermeisters. Aber mehr als das Gerede der Leute hatte sie nicht zu fürchten. Ili war vorsichtiger geworden nach ihrem kurzen Zellenaufenthalt. Sie wusste ihre Spuren zu vertuschen und die Polizisten würden es nicht wagen, die Tochter des Bürgermeisters, ihres Vorgesetzten, leichtfertig und ohne Beweise zu beschuldigen. Ili verdrängt gerne, dass sie bei ihrem Kampf gegen die NWP, selbst unter dem Schutz des höchsten NWP-Mitglieds in Neustadt steht.
Ohne Papa hätten die korrupten Bullen mich genauso weggesperrt wie die anderen.