Ein perfektes Verbrechen - Ernst Broers - E-Book

Ein perfektes Verbrechen E-Book

Ernst Broers

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Beschreibung

Der Autor Ernst Broers wirft mit seiner Kurzprosa einen ebenso unbestechlichen wie humorvollen Blick auf den Alltag seiner Protagonisten. Meist stehen Arbeiter, kleine und große Gauner, Frauen, die sich zu helfen wissen, im Zentrum seines Interesses. Seinen Alltagshelden passiert eigentlich "nichts Besonderes" - so auch der Titel einer der Kurzgeschichten, aber diesem Unspektakulären begegnet Ernst Broers mit sehr viel Einfühlungsvermögen und Verständnis. Niemals verurteilt er seine Protagonisten für ihr Unvermögen oder ihr Scheitern, sondern beschreibt die treibende Kraft hinter ihren Handlungen mit lakonischem Mitgefühl. In insgesamt 14 Kurzgeschichten und einer längeren Erzählung zeigt Ernst Broers seinen Lesern, wie spannend, unvorhersehbar und unterhaltsam der Alltag seiner Helden wirklich ist.

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Seitenzahl: 240

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ähnliche


Inhalt

Überraschender Besuch

Notwehr mit Todesfolge?

Die falsche Adresse

Gerechtigkeit?

Ein falsches Spiel

Ein freundlicher Herr

Einträgliche Geschäfte

Franz Poggenpohl

Je später der Abend

Schaschlik

Sackgasse

Begegnung nach zwölf Jahren

Zwei arme Teufel haben den Herrn der Hölle verärgert

Zwei arme Teufel in Schweden

Ein perfektes Verbrechen

Kapitel 1 Nichts Besonderes

Kapitel 2 Lehrstellensuche

Kapitel 3 Schlosserlehre

Kapitel 4 Noch eine Lehre

Kapitel 5 Eine ganz andere Lehre

Kapitel 6 Willi in Afrika

Kapitel 7 Ein peinliches Versehen

Kapitel 8 Mal wieder in Deutschland

Kapitel 9 Arbeitslos

Kapitel 10 Die Reise nach Ungarn

Kapitel 11 Unfälle

Kapitel 12 Glück gehabt

Kapitel 13 Ein erstaunliches Erlebnis

Kapitel 14 Elvira bekommt einen Vollzeitjob

Kapitel 15 Rollender Schwachsinn

Kapitel 16 Elvira und Ingrid

Kapitel 17 Eine Panne

Kapitel 18 Ein Hundeleben

Kapitel 19 Gehirnwäsche

Kapitel 20 Ein langweiliger Tag

Überraschender Besuch

Therese Bremer konnte nicht einschlafen. Wie so oft in letzter Zeit lag sie wach und grübelte über vergangene Zeiten nach und darüber, was die Zukunft wohl bringen würde. Sie dachte an die Zeit, als sie Wilhelm kennenlernte. Wie jung und verliebt sie damals waren. Eine wunderschöne Erinnerung. Sie dachte daran, wie sie zusammen die Tischlerei aufgebaut hatten. Wilhelm hatte die handwerklichen Arbeiten gemacht, sie hatte Kunden geworben und betreut, sie hatte die Rechnungen und Mahnungen, die Steuererklärungen und was sonst noch in einem Handwerksbetrieb an Schreibkram anfällt gemacht. Es war zwar eine harte und entbehrungsreiche Zeit, aber das Gefühl, es aus eigener Kraft zu schaffen, machte sie beide glücklich und stark, festigte ihre Ehe so, dass niemand und nichts sie hätte auseinanderbringen können. Das hatte nur der Tod geschafft.

Als ihre Existenzgrundlage sicher war, konnten sie auch an Kinder denken, aber das hatte ihnen das Schicksal versagt. Warum nur? Warum?

Wilhelm hatte für das Alter gut vorgesorgt, hatte auch als selbstständiger Meister regelmäßig die Beiträge für die Rentenversicherung eingezahlt, und als er sich zur Ruhe setzen wollte, ermunterte er rechtzeitig Richard, einen seiner Gesellen, die Meisterprüfung abzulegen. Nach bestandener Prüfung überschrieb er Richard Werkstatt und Haus für eine gute Leibrente und lebenslanges Wohnrecht für sich und seine Frau.

Richard war glücklich: Ohne Eigenkapital konnte er sich selbstständig machen, konnte eine gut eingeführte Werkstatt übernehmen und die monatliche Leibrente warf die Werkstatt allemal ab. Es war für beide ein gutes Geschäft.

Nein, Geldsorgen hatte Therese nicht, aber die Einsamkeit machte ihr zu schaffen. Seit vor zehn Jahren Wilhelm an einer Blutvergiftung gestorben war, lebte sie allein. In der Woche war ja wenigstens am Tage Leben in der Werkstatt, aber nachts?

Bis vor einem halben Jahr konnte sie den Leuten in der Werkstatt zum Frühstück Kaffee bringen und mit Richard oder auch mit den Gesellen ein paar Worte wechseln, aber nachdem Richard dann den schweren Unfall gehabt und sein Sohn Walter das Kommando übernommen hatte, war alles anders geworden.

Walter war das Gegenteil von seinem Vater und von Wilhelm, er war Therese unsympathisch. Sie wusste nicht warum, aber ihr Gefühl hatte sie noch nie getrogen, und so ging sie ihm aus dem Weg.

Dann wusste sie es: Ein alter Geselle, der schon unter Wilhelm in der Werkstatt gearbeitet hatte und von allen nur »Krischan« gerufen wurde, hatte ihr vor Kurzem zugeflüstert, dass der Junior darauf aus war, die Leibrente zu sparen.

Er hatte zufällig ein Gespräch mitgehört. Walter hatte unter anderem zu dem Vorarbeiter gesagt: »Die alte Krähe kann noch 20 Jahre leben und wir sollen dafür arbeiten. Das sehe ich nicht ein! Das Geld kann ich auch brauchen! Die muss weg!«

Krischan hatte seiner alten Chefin nicht alles gesagt, um sie nicht zu sehr zu erschrecken, aber doch so viel, dass sie vorsichtig sein würde. Er hoffte es wenigstens.

Das alles ging Therese immer und immer wieder durch den Kopf. Schließlich wurde es ihr zu dumm und sie dachte: »Ich werde mir einen Beruhigungstee kochen und dann werde ich wohl endlich einschlafen!«

Sie stand auf, ging in die Küche und setzte einen Topf mit Wasser auf den Elektroherd.

Als das Wasser gerade kochte, hörte Therese ein Geräusch, als splitterte Glas. Sie dachte: »Da stimmt etwas nicht! Da hat jemand eine Scheibe eingeschlagen. Ich bin zwar alt, aber noch kann ich mich auf meine Sinne verlassen. Wenn es ein Einbrecher ist, dann wird ihn meine Anwesenheit stören und er wird lieber verschwinden, wenn ich mich hier, fern von ihm, bemerkbar mache. Wenn Krischan aber recht hat und der Junior mich aus dem Weg räumen will, dann wäre es gut, wenn ich den Angreifer herlocke. Hier habe ich eine Waffe, die, überraschend eingesetzt, den stärksten Mann besiegen kann!«

Therese begann erst leise, dann immer lauter ein Kinderlied zu singen. Dabei stellte sie den dreistufigen Tritt vor die Waschmaschine neben der Tür und stieg hinauf. Hier oben, gleich neben der Tür, würde sie ein Angreifer nicht vermuten, da konnte sie ihn überraschen. Den Topf mit heißem Wasser nahm sie mit. Dann stieß mit dem Fuß einen leeren Topf um, der mit Gepolter zu Boden fiel. Sie hörte auf zu singen und fluchte wie ein Kutscherknecht. Nach wenigen Augenblicken ging die Tür leise auf. Eine Mütze schob sich in die Küche.

Ein Schlag von Thereses linker Hand wirbelte die Mütze zur Decke. Wie erwartet hob der Mann den Kopf und eine Pistole. Therese hatte aber schon begonnen, das heiße Wasser auf ihn zu gießen. Der Schließreflex der Augen des Fremden setzte erst ein, als das heiße Wasser sein Gesicht traf – zu spät für die Augen.

Das laute Poltern der Pistole, die zu Boden fiel, als der Angreifer seine Hände schützend über die Augen schlug, ging in dem noch lauteren Geschrei unter.

Therese stieg so schnell sie konnte von ihrem »Hochsitz« und nahm die Pistole auf. Sie konnte ja nicht wissen, ob der Mann allein gekommen war. Wie gut, dass Wilhelm ihr den Gebrauch einer solchen Waffe gezeigt hatte. Sie fühlte. Das Ding war ja entsichert! Da brauchte sie sich also keine Vorwürfe zu machen. Wer mit einer entsicherten Waffe in einem fremden Haus herumstöbert, der hatte bestimmt nichts Gutes im Sinn!

»Otto, was ist? Warum schreist du so?«, hörte Therese eine ihr bekannte Stimme rufen. Das war doch Walters, des Juniors Stimme! Da tauchte auch schon sein Gesicht auf. Therese schoss sofort. Der erste Schuss traf den ersten Angreifer, der ohnehin kampfunfähig war. Pech gehabt! Er zuckte zusammen und gab den zweiten Angreifer frei. Der zweite Schuss traf diesen, verursachte aber nicht nur, wie der erste, eine Fleischwunde. Therese ging zum Telefon und rief die Polizei.

Notwehr mit Todesfolge?

So sah es die Polizei nicht und nahm Therese mit.

Der Staatsanwalt betrachtete es als Mord, schwere Körperverletzung und illegalen Waffenbesitz.

»Dass der erste Eindringling die Waffe mitgebracht habe, ist eine Schutzbehauptung. Auf der Waffe waren nur Fingerabdrücke der Beklagten klar erkennbar und ein paar verwischte Spuren, die nicht verwertbar sind. Ferner hatte die Beklagte auf den ersten Eindringling geschossen, obwohl sie diesen bereits mit heißem Wasser die Augen verbrüht und ihn so blind und kampfunfähig gemacht hatte. Des Weiteren hatte die Angeklagte auf den unbewaffneten Sohn des Hausbesitzers geschossen, der zufällig vorbeigekommen war und, durch das Geschrei des Geblendeten aufmerksam geworden, der Beklagten zur Hilfe kommen wollte.«

Ja, so konnte man das Geschehen nachträglich auch darstellen.

Thereses Verteidiger fragte: »Aus welchem Grund soll sich die Beklagte mit einer Pistole bewaffnen, wenn sie sich in der Küche einen Tee bereiten will? Und wenn die Beklagte eine Pistole zur Hand gehabt hätte, warum hat sie sich dann mit heißem Wasser verteidigt? Es war doch für die alte Frau sehr umständlich, erst auf die Waschmaschine zu klettern und dann ein Mittel anzuwenden, dessen Nutzen nicht so sicher war wie die Benutzung einer Schusswaffe. Die Handlung ist doch durch nichts widerlegt. Dass die Beklagte als Letzte die Pistole in der Hand hatte, ist ebenfalls unbestritten. Dass dadurch andere Fingerabdrücke verwischt wurden, ist selbstverständlich. Ich habe inzwischen veranlasst, was der Herr Staatsanwalt versäumt hat: Ich habe das Magazin auf Fingerabdrücke untersuchen lassen. Auf dem Magazin waren nur Fingerabdrücke des ersten Angreifers. Wie sollen die dorthin gekommen sein, wenn es die Pistole der Angeklagten war? Und warum sollte die Beklagte nicht die Pistole des Angreifers aufheben, solange er mit seiner Verbrühung beschäftigt ist? Damit der Angreifer eventuell eine zweite Chance hat, seinen Auftrag auszuführen? Wie stark die Wirkung des heißen Wassers war, konnte die Beklagte doch nicht erkennen. Bitte, meine Herren, beantworten Sie meine Fragen.«

Darauf wussten weder der Staatsanwalt noch der Rechtsanwalt des Erblindeten eine stichhaltige Antwort.

Der Verteidiger sprach weiter: »Falls den Herren der Wortlaut des Notwehr-Paragrafen entfallen ist, hier, bitte: Notwehr ist Abwehr eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffes auf Leib und Leben, Ehre oder Eigentum eigener oder fremder Person mit der geringsten zur Abwehr notwendigen Waffe. Dabei ist es nicht notwendig, dass es sich tatsächlich um einen Angriff handelt, entscheidend ist, dass jeder normale Mensch sich nach dem ersten Augenschein angegriffen fühlen würde. Wenn eine fremde Person sich gewaltsam Zugang zu Ihrer Wohnung verschafft und mit einer entsicherten Pistole in der Hand in Ihrem Haus herumschleicht, würden Sie dann ausschließen, dass der zweite Eindringling auch bewaffnet ist? Wohl kaum! Da konnte die alte, schwache Frau kein Risiko eingehen! Deshalb schoss die Beklagte sofort, als die zweite Person auftauchte. Da sie keine Übung im Umgang mit Waffen hat, ging der erste Schuss sozusagen fehl und traf den bereits kampfunfähigen ersten Angreifer. Aber erst dadurch wurde der zweite Angreifer so weit frei, dass die im Schießen ungeübte Beklagte überhaupt eine Chance hatte, den zweiten Angreifer zu treffen. Dass sie mit diesem Schuss ein Leben auslöschte, war reiner Zufall. Oder haben Sie Beweise dafür, dass die Beklagte jemals das Schießen mit einer Pistole geübt hat?«

Auch dagegen konnten weder der Staatsanwalt noch der Anwalt des Nebenklägers etwas einwenden.

Und so sah es auch das Gericht: »Die Beklagte ist eine alte, gebrechliche Frau, die keine Chance hätte, sich gegen zwei kräftige Männer zu verteidigen. Das Wissen darum, dass der Getötete eventuell die Leibrente sparen wollte, das Eindringen in ihre Wohnung, die entsicherte Pistole, das Erscheinen einer zweiten Person, der Person, die ihr eventuell etwas Böses wollte, das alles legt die Anwendung des Notwehr-Paragrafen nahe. Die Beklagte ist freizusprechen.«

Meister Richard war von seinem Sohn sehr enttäuscht. Jetzt musste er sehen, wie er seinen Betrieb wieder selbst leitete oder einen Meister fand.

Dem jetzt blinden Gesellen trauerte er nicht nach, den hatte sein Sohn aus Freundschaft eingestellt, er hätte ihn nie genommen.

Aber Meister Richard wusste ja jetzt, warum sein Sohn ihn eingestellt hatte. Und Therese hatte noch zwei Gründe mehr zu grübeln. Walter war doch noch so jung gewesen. Und der Blinde.

Aber warum gönnten sie ihr nicht ein ruhiges Alter?

Die falsche Adresse

Auweia! Das war noch einmal gut gegangen – dank der Hilfe der Polizei!

Alfred hatte die Besitzerin einer noblen Villa am Borstler Jäger an der Tür überrumpelt und bei seinem Suchen nach Beute unbemerkt einen stillen Alarm ausgelöst. Als aber ein Polizeifahrzeug mit Blaulicht und lautem Tatütata angerast kam und mit quietschenden Reifen vor dem Haus hielt, verließ er es durch ein Fenster an der Rückseite, während die Polizisten durch die offene Vordertür ins Haus stürmten. Alfred war durch den Garten gelaufen und im anschließenden Wäldchen verschwunden. Ohne ein Riesenaufgebot und Hunde würden sie ihn dort nicht finden, und bis die Polizei das organisiert hatte, verging genug Zeit, um endgültig unterzutauchen. Er würde seine Spur für die Hunde unbrauchbar machen und der einsetzende Regen würde ihm sicher dabei helfen.

Alfred tastete sich durch dichtes Gestrüpp, das ihm die Hände und das Gesicht zerkratzte, stieß hier und da an einen Baum und konnte nur an den Geräuschen der Straße einen Eindruck von der Richtung erahnen, in der er sich bewegte.

Plötzlich war das Gestrüpp zu Ende, das Rascheln unter seinen Füßen wurde zum Knirschen. Alfred sah nach oben. Schwach, gerade noch wahrnehmbar, zeichnete sich ein hellerer Streifen zwischen den Baumwipfeln ab. Er hatte also einen Weg erreicht. Endlich war die Schinderei vorbei! Schnell, aber leise ging er diesen Weg entlang, weg von der Gefahr.

Der Regen wurde stärker, die Geräusche der Straße waren nicht mehr zu hören und Alfred konnte sich nur noch an dem fast unsichtbaren Streifen Himmel über dem Weg orientieren.

Dann war das Wäldchen zu Ende und er stand auf einer unbeleuchteten Asphaltstraße. Das Gurgeln des Wassers beim Einlauf in einen Siel sagte ihm, dass er nur eine Strecke im fließenden Wasser entlanggehen müsse, um seine Spur für jeden Hund zu löschen.

Alfred war ein Stück im überfluteten Rinnstein gewandert, als er in der Ferne einen Lichtschein sah. Der Lichtschein wurde heller. Ein Auto! Vielleicht sogar ein Polizeifahrzeug? Egal. Alfred hastete über die Straße, über den Gehsteig, stieg über einen Zaun und verschwand gerade noch rechtzeitig hinter einem Busch, bevor das Auto mit seinen Scheinwerfern alles in gleißendes Licht tauchte. Es war ein Polizeifahrzeug.

Inzwischen hatten sie sicher auch die Frau gefunden, aber die konnte keine Personenbeschreibung mehr geben. Ein gewissenloser Mörder war er zwar nicht, aber warum hatte sie sich ihm auch in den Weg gestellt? Da er Handschuhe getragen hatte, würde es dem Gericht schwerfallen, ihm die Tat nachzuweisen – wenn man ihn nicht in den mit Blut verschmutzten Kleidern fassen würde.

Alfred war durchnässt bis auf die Haut und jetzt, wo er still hinter dem Busch hockte, wurde ihm kalt. Im Licht der Scheinwerfer hatte er erkannt, dass er sich in einem Kleingartengebiet befand. In einer der Lauben würde er sicher etwas Trockenes, Warmes zum Anziehen und vielleicht auch etwas Essbares finden, denn jetzt bekam er auch noch Hunger. Da es mitten in der Woche war, würde er wohl kaum einen Menschen antreffen.

Vorsichtig öffnete Alfred ein Fenster der nächstgelegenen Gartenlaube, stieg ein und bewegte sich leise über den Teppich. Er fühlte sich in Sicherheit, aber vielleicht war doch jemand im Haus, und den musste er ja nicht unbedingt wecken.

Alfred stutzte: War da nicht eben ein Geräusch gewesen, ein leises Tappen? Er lauschte, doch er hörte nichts. Na, dann hatte er sich wohl getäuscht.

Noch ein paar tastende Schritte – sehen konnte er in der Finsternis nichts – da war es wieder, dieses leise Tappen! Dann hörte er es deutlich grollen, wie fernes Gewitter, aber der Ursprung des Geräusches schien nahe zu sein. Wieder leises Tappen und das Grollen kam aus einer anderen Richtung.

Alfred wurde es unheimlich und er wandte sich zum Gehen, aber da war das Grollen direkt vor ihm, und laut. Erschrocken blieb er stehen und plötzlich verdunkelte ein Schatten den matten Schimmer des Fensters. Etwas Schweres legte sich auf seine Schultern, er spürte einen warmen Atem und eine raue Zunge wischte ein paarmal über sein Gesicht. »Mein Gott«, dachte Alfred, »das muss ja ein riesiger Köter sein.«

Die Last wich von seinen Schultern, und als er das leise Aufsetzen der Pfoten hörte, stellte er sich bequemer hin. Sofort hörte er wieder das Grollen, aber hinter sich! Noch so ein Riesenviech!

Herr und Frau Jordan kehrten müde, aber in froher Stimmung heim. Der Regen war vorüber, im Osten zeigte sich ein rosiger Schein. War das eine Feier gewesen bei Siegmunds! Wie gut, dass man Urlaub hatte und das einmal so richtig genießen konnte!

Herr Jordan schloss die Tür auf und ließ seine Frau eintreten. Seltsam, Max und Moritz, die beiden schwarzen Deutschen Doggen, die doch sonst immer ihre Besitzer freudig begrüßten, kamen nicht. Die hatten doch wohl nicht auch gefeiert? Herr Jordan machte Licht im Flur. Nichts. Kein Hund.

Frau Jordan ging in das Wohnzimmer und machte dort Licht. Sie stand einen Augenblick verblüfft und starrte auf das seltsame Bild, das sich ihr bot. Dann konnte sie sich nicht mehr halten vor Lachen. Ihr Mann eilte herbei und prustete sofort los. Es war auch zu komisch, was die beiden zu sehen bekamen. Da stand mitten im Zimmer in einem großen Wasserfleck ein nasser, fremder Mann bleich und zitternd zwischen Max und Moritz. Die sahen ihren Herrn und seine Frau erwartungsvoll an und klopften mit ihren langen Schwänzen den Teppich.

Alfred war weniger zum Lachen zumute. Wie viele Stunden hatte er regungslos gestanden? Er war so müde, er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, aber der Gedanke an die beiden Hunde hatte seine letzten Reserven mobilisiert, hatte ihn aufrecht gehalten. Ja, auch in dem hartgesottensten Verbrecher regen sich Gefühle bei der Überlegung: Was werden die Hunde mit dir machen, wenn du umfällst? Wärst du vielleicht gerade die richtige Frühstückportion für sie? Wie würden die Besitzer reagieren? Immerhin sparten sie das Futter, und wer würde ihn in diesem Haus suchen?

Alfred wollte es nicht ausprobieren, er wartete lieber aufrecht und geradezu sehnsuchtsvoll auf die Polizei. Gefängnis, das wusste er aus langer Erfahrung, war nicht angenehm, aber bestimmt angenehmer, als von diesen Hunden zum Frühstück gefressen werden!

Gerechtigkeit?

Oskar war nicht einfach »Herr Schulz«. Er war Staatsanwalt, und so wollte er auch angesprochen werden! Er war als unbarmherzig bekannt, und war ein Richter ihm zu milde, dann konnte der sicher sein, dass der Prozess in die nächste Instanz ging. Oskar verlangte immer die Höchststrafe. So wie in diesem Prozess.

Wegen Hunger ein Brötchen gestohlen? Mundraub? Lächerlich! In Deutschland brauchte man kein Brötchen zu stehlen, es gab genug zu kaufen, um satt zu werden. Und das war auch kein einfacher Diebstahl. Der Täter hatte das Brötchen der Verkäuferin mit brutaler Gewalt aus der Hand gerissen und sie dabei weggeschubst. Das war Raub! Vier Kundinnen hatten diesen Gewalttäter festgehalten, bis die Polizei kam. Was heißt hier: Der Täter steht zum ersten Mal vor Gericht? Bisher hatte man ihn nur nicht erwischt! Und damit es nicht zur Gewohnheit wurde, musste so eine brutale Tat hart bestraft werden!

Oskar Scholz war in seinem Element! Was waren das auch für hirnlose Gestalten, die da vor Gericht standen? Menschen haben doch einen Titel!

Freunde hatten ihm seine Arroganz und Menschenverachtung nicht eingebracht – und seine Unbarmherzigkeit schon gar nicht. Selbst Sybille, seine Frau, fragte sich in letzter Zeit so manches Mal, an was für ein Ungeheuer sie da geraten war. Früher war ihr das wohl nicht so bewusst geworden. Sie stammten beide aus »besseren Kreisen«, und da sah man schon etwas auf das einfache Volk herab. Als sie jung und verliebt war, schwebte sie im siebten Himmel, da übersah und überhörte man manches. Und vielleicht war Oskar damals auch noch nicht ganz so streng gewesen.

Anderntags war alles vergessen. Der Urlaub in der Hütte in den Alpen lag vor ihnen! Vier Wochen keine Akten, keine Gerichtsverhandlung, kein Telefon, keine gesellschaftlichen Verpflichtungen. Vier Wochen nur leben!

Der Wagen war gepackt, Oskar saß am Steuer, Sibylle neben ihm. (Eine Frau konnte man doch nicht ans Steuer eines Autos lassen. Die hatte doch schon genug technische Probleme mit dem Kinderwagen. So sah es jedenfalls Oskar. Dass Sibylle vor der Hochzeit einige Jahre ihren eigenen Wagen – unfallfrei – gefahren hatte, war Oskar entfallen.)

Am Abend war man an der Grenze zu Österreich. Dort gab es keine Schwierigkeiten, die kamen 50 Kilometer später.

Frank Wesemeier, Heinz Müller und Klaus Mackenroth hatten zwar herausgefunden, wann und wohin der strenge Herr Staatsanwalt in Urlaub fahren würde, nur wo genau die Almhütte stand, das konnten sie nicht herausbekommen und deshalb hatten sie den Mercedes nicht aus den Augen gelassen, seit er in Hamburg auf die Straße gefahren war. Nein, Oskars Freunde waren die drei gewiss nicht. Es hatte auch nichts mit seiner Sicherheit zu tun, sie wollten nur sicher sein, dass sie die richtige Almhütte fanden, und Oskar!

Jetzt waren sie am Ziel, da war die Hütte.

Oskar und Sibylle stiegen aus, sahen ins Tal hinab. Traumhaft schön war dieser Ausblick. Die um die Kirche gescharten Häuser dort unten wirkten wie Kinderspielzeug, die Almwiesen mit den Kühen darauf, am Gegenhang der dunkle Tannenwald und darüber die steilen Felsen, von der untergehenden Sonne rot beleuchtet.

Oskar schloss die Tür auf und sie traten ein.

Ein Weilchen später traten Frank und Klaus ein, vermummt und jeder mit einer Pistole in der Hand: »Hände hoch und ganz friedlich. Hier oben hört niemand euren Hilferuf, und wenn jemand im Tal einen Schuss hört, dann denkt er höchstens an einen Wilderer.«

Schnell war Sibylle in einer Kammer eingesperrt, Oskar gefesselt und mit verbundenen Augen in seinem eigenen Wagen verstaut. Frank ging wieder zurück ins Haus, während der Wagen mit Oskar davonfuhr.

Er ließ Sibylle frei und sagte: »Entschuldigen Sie, junge Frau, aber Sie brauchen sich keine Sorgen um sich und Ihren Mann zu machen, wir jedenfalls tun ihm nichts. Und Ihnen tu ich schon gar nichts. Sie haben ja niemandem etwas getan. Ihr Mann kommt übermorgen frei, dann ist sein Stoppelbart lang genug. Eine Woche später können Sie sich um ihn kümmern. Und bis dahin sollten Sie die schöne Natur genießen. Ihr Mann wird nur als Bettler verkleidet und ohne Papiere in Wien ausgesetzt. Er soll einmal die Freuden und Leiden der Obdachlosen so recht von Herzen genießen. Ich lasse Sie jetzt allein. Aber versuchen Sie bitte nicht, die Alm zu verlassen, ich möchte Ihnen nicht wehtun und selbst auch keine Schwierigkeiten haben. Sie verstehen?!«

Zunächst traute Sibylle dem Frieden nicht, aber je länger sie über die Worte des Fremden nachdachte, desto deutlicher wurde ihr die Absicht der Männer. Oskar sollte nur einmal am eigenen Leib erfahren, was er mit seiner Unbarmherzigkeit anrichtete. Hungrig, unrasiert, in schmutzigen Kleidern und ohne Papiere in einer fremden Stadt, da würde er das Leben einmal aus der Sicht seiner Klienten, der Angeklagten, kennenlernen. Das verstand sie. Und sie dachte: »Dann man viel Spaß, Oskar. Ob du danach noch so hartherzig bist?«

Oskar kam in einen engen Raum mit der Ausstattung einer Gefängniszelle. Als Nachtmahl bekam er drei Scheiben trockenes Brot und einen Becher klares Quellwasser. Das war auch am nächsten Morgen sein Frühstück, zu Mittag bekam er eine wässerige, geschmacksneutrale Gemüsesuppe. Schauderhaft!

Am Abend und am nächsten Morgen gab es noch ein paar Scheiben trockenes Brot und einen Becher Wasser. Kein guter Service.

Am darauffolgenden Morgen erwachte Oskar sehr früh frierend unter einer Brücke. Wie er dort hingekommen war? Oskar wusste es nicht, man hatte ihm offenbar einen Schlaftrunk verabreicht. Sein Magen schmerzte. Es war ein Gefühl, das er noch nicht kannte: Hunger. Sein Kopf schmerzte auch, aber es konnte nicht daran liegen, dass er sich selbst nicht erkannte, als er an sich heruntersah. Was war das für schmutziges Zeug, was er da trug?

Mühsam erhob er sich mit klammen Gliedern und quälte sich zu der belebten Straße über der Brücke.

Endlich hatte er ein Haus erreicht. Als er am Fenster vorbeikam, erschrak er: Da spiegelte sich so eine verwahrloste Gestalt mit Stoppelbart, wie er sie gerade an seinem letzten Arbeitstag angeklagt hatte. Ob die Leute ihn telefonieren lassen würden?

Er klopfte trotz dieser Zweifel an der Tür und wurde genauso unwirsch abgewiesen, wie er es befürchtet hatte. Aber er war doch Staatsanwalt! Ja, das war er, nur, so erkannte ihn niemand als solchen und er wurde seinem Aussehen entsprechend behandelt.

Er schleppte sich mit seinen immer noch klammen Gliedern weiter. Die Menschen, denen er begegnete, machten einen Bogen um ihn. Als er an einen Platz kam, auf dem noch ein paar ihm gleich gekleidete Personen herumstanden, wurde er von diesen begrüßt.

Oskar beschlich ein seltsames Gefühl: Die ordentlichen Bürger wichen ihm aus und die, die er als Abschaum der Menschheit betrachtete, grüßten ihn freundlich.

Aber dazu gehörte er doch nicht! Auch wenn man ihn so verkleidet hatte, er war doch Staatsanwalt Schulz! Und als solcher würde er sich auch bei der hiesigen Polizei vorstellen.

Das hätte er lieber nicht in seiner gewohnten Art tun sollen! In Wien liebt man den preußischen Kommandoton nicht sonderlich und von einem dreckigen, unrasierten Schnorrer schon gar nicht.

Der »Kieberer«, bei dem Oskar sich als »Staatsanwalt Schulz aus Deutschland« vorgestellt hatte, sagte nur: »Und ich bin der Kaiser von China. Gebt ihm mal ’ne Zelle, damit er seinen Rausch ausschlafen kann und wir nicht schuld sind, wenn ihm was passiert.«

Über den Wunsch, dass sie doch bitte in Deutschland bei seiner Dienststelle anrufen möchten, lachte die ganze Mannschaft.

Ja, das war genau die Art und Weise, wie Oskar mit so einem »hirnlosen Strauchdieb« umgesprungen wäre, und als er sich wehren wollte, wurden die Polizisten unsanft: Arm auf den Rücken und weit nach vorn gebeugt in die Zelle, plumps, da lag er. Tür zu.

Am Nachmittag wurde Oskar entlassen. Die Zelle wurde für eine wichtigere Person gebraucht, und er hatte begriffen, dass er mit seinem Dickkopf nicht durch die Wand kam, wenn diese Wand auch nur aus Vorurteilen und Vorschriften bestand. Er würde betteln müssen, um Geld zu bekommen, damit er nach Deutschland telefonieren könnte. Ein bettelnder Staatsanwalt. Bei dem Gedanken sträubten sich Oskar die Haare.

Aber zunächst einmal war ihm schlecht vor Hunger. Er ging in eine Bäckerei, fragte nach einem alten Rundstück und war schneller wieder draußen, als er hereingekommen war, und jetzt war auch noch seine Hose zerrissen. Er stellte sich an die Straße und hielt die Hand auf, einen Hut hatte er ja nicht. Die Menschen hasteten vorbei, gaben einem Schnorrer nichts. Oskar ging weiter. So langsam verzweifelte er.

Er kam an einen Markt, der gerade geräumt wurde, und erwischte ein paar angestoßene Äpfel. So etwas hatte er früher wegschmeißen lassen, jetzt verschlang er die Äpfel gierig.

Ein Marktbeschicker sah, dass Oskar wirklich ausgehungert war. »He, du da mit den gammeligen Äpfeln, komm mal her, fass mit an und dreh den Wagen mit um. Und dann nimm hier die Brötchen. Morgen kann ich die sowieso nicht mehr verkaufen.«

Oskar half, nahm die Tüte mit Brötchen und bedankte sich. Am Rande des Marktes war ein Hydrant, dessen Schlauchanschluss nicht ganz dicht war. Oskar fing das Wasser mit den hohlen Händen auf und trank. Jetzt rutschten die trockenen Brötchen besser und der unerträgliche Durst verging. Geld zum Telefonieren hatte er immer noch nicht und in Hamburg war längst Dienstschluss.

Oskar ging den Weg zurück. Dort waren noch immer die Bettler. Er ging auf sie zu und fragte, wo sie übernachten würden. Sie sagten es ihm aber auch, dass dort für ihn kein Platz mehr sei, und er solle es doch in der Tiefgarage des Kaufhauses versuchen, dort sei es wenigstens trocken und nicht windig.

Oskar schlief schlecht auf dem harten Beton. Er war ja so etwas nicht gewohnt.

Wieder stand er hungrig und bettelnd am Straßenrand. Nachmittags fing es an zu regnen, aber er hatte genug Geld zusammen. Als er in einer Telefonzelle gerade das Geld eingeworfen hatte und auf die Verbindung wartete, zog ihn ein grobschlächtiger Mann wieder hinaus und beschimpfte ihn, er solle sich woanders unterstellen, dieses sei eine Telefonzelle und keine Obdachlosenunterkunft.

Das Geld war weg, der Markt wurde an diesem Tag nicht beschickt, der Magen knurrte, die Beine schmerzten. Verzweifelt verkroch sich Oskar wieder in der geschützten Tiefgarage. Erst konnte er vor Hunger nicht einschlafen und dann verschlief er am nächsten Morgen.

Oskar wurde mit einem Fußtritt unsanft geweckt. Was heißt geweckt? Er bewegte sich zwar, aber so wach, dass er denken und verständlich reden konnte, wurde er nicht. Als er lallte, dass er Staatsanwalt sei, glaubte jemand, er sei betrunken. Ein anderer roch seinen Atem und meinte: »Nein, betrunken ist der nicht, der hat nur ’nen kleinen Napoleonkomplex. Der gehört in die Klapsmühle!«

Als Oskar »Klapsmühle« hörte, bäumte er sich heftig dagegen auf. Aber gerade das bestärkte die Meinung, dass er dort hingehörte.

Die Ambulanz kam, Oskar wehrte sich und kam in die Zwangsjacke.

Die Woche war herum, und als Sibylle morgens aus dem Fenster sah, stand der Mercedes vor der Hütte. Das sollte sicher bedeuten, dass sie sich um Oskar kümmern dürfe.

Ihr war ziemlich mulmig bei dem Gedanken, sich an das Steuer von Oskars Heiligtum zu setzen. Und es war immerhin fast zehn Jahre her, dass sie hatte fahren dürfen. Aber was half es? Wie sollte sie von hier fort und nach Wien kommen? Sie überlegte. Die ersten Kilometer brauchte sie doch nur auf den Weg zu achten, ein anderes Fahrzeug würde ihr kaum begegnen und die anschließende Chaussee war auch verkehrsarm. Aber dann? Ach was, dann war sie schon wieder sicherer. Also los, Oskar brauchte sie!

Sibylle kam heil in Wien an, fand eine Polizeiwache, schilderte den Vorfall und zeigte Oskars Papiere, die im Wagen gelegen hatten. Sie erreichte, dass man zunächst einmal per Telefon im Polizeiapparat nach einem Hinweis auf Oskar suchte. Die Wache, bei der Oskar eingesperrt gewesen war, meldete sich, konnte aber nichts über seinen weiteren Verbleib sagen.

Wenn er nicht noch einmal bei der Polizei aufgetaucht war, war ihm vielleicht irgendetwas passiert. Man forschte bei den Krankentransporten nach und richtig, dort konnte sich eine Besatzung an einen armen Irren erinnern, der immer etwas von »Staatsanwalt Schulz aus Hamburg« gefaselt hatte. Ja, der sei in der Anstalt abgeliefert worden.