Ein Sommer auf Mermaid Point - Wendy Wax - E-Book

Ein Sommer auf Mermaid Point E-Book

Wendy Wax

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Beschreibung

Der neue Roman von US-Bestsellerautorin Wendy Wax setzt die wunderbare Florida-Beach-Reihe fort. Drei sympathische Frauen, drei Schicksale und eine Villa in den Florida Keys: Der perfekte Sommerschmöker um Familie, Freundschaft, Liebe. Nach der Trennung von ihrem Mann ist Maddie froh über Ablenkung. Zusammen mit ihren Freundinnen Avery und Nikki erhält sie den Auftrag für eine TV-Sendung ein Anwesen im Süden Floridas zu renovieren. Wohin es genau geht, weiß zunächst niemand. Umso überraschter sind die Frauen, als sie von Key Largo aus mit einem Boot zu dem neuen Objekt übersetzen: eine imposante, aber verfallene Villa auf der Privatinsel «Mermaid Point». Der Besitzer entpuppt sich als ein alter Schwarm von Maddie. Und schon bald knistert es zwischen den beiden. Gibt es in der Idylle eine zweite Chance für das Glück?

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Wendy Wax

Ein Sommer auf Mermaid Point

Roman

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Über dieses Buch

Der neue Roman von US-Bestsellerautorin Wendy Wax setzt die wunderbare Florida-Beach-Reihe fort. Drei sympathische Frauen, drei Schicksale und eine Villa in den Florida Keys: Der perfekte Sommerschmöker um Familie, Freundschaft, Liebe.

Nach der Trennung von ihrem Mann ist Maddie froh über Ablenkung. Zusammen mit ihren Freundinnen Avery und Nikki erhält sie den Auftrag, für eine TV-Sendung ein Anwesen im Süden Floridas zu renovieren. Wohin es genau geht, weiß zunächst niemand. Umso überraschter sind die Frauen, als sie von Key Largo aus mit einem Boot zu dem neuen Objekt übersetzen: eine imposante, aber verfallene Villa auf der Privatinsel «Mermaid Point». Der Besitzer entpuppt sich als ein alter Schwarm von Maddie. Und schon bald knistert es zwischen den beiden. Gibt es in der Idylle eine zweite Chance für das Glück?

Über Wendy Wax

Wendy Wax stammt aus Florida und kennt beinahe jeden Strand am Golf vom Mexiko, wo auch die meisten ihrer Romane spielen. Sie hat für Radio und Fernsehen gearbeitet sowie als Produzentin im Filmgeschäft. 2011 wurde in ihrer Heimatstadt der 12. Mai zum «Wendy Wax Day» erklärt. Heute lebt Wendy Wax mit ihrer Familie in Atlanta, Georgia.

Prolog

Es hatte eine Zeit gegeben – ehrlich gesagt waren es viele Zeiten gewesen –, in der William Hightower die Entzugskliniken in einer Limousine verlassen hatte. Einer Limousine, geschickt von seiner Plattenfirma, mit verdunkelten Scheiben, einer voll ausgestatteten Bar und einer willigen Frau mit langen Beinen, großen Brüsten und talentierten Lippen auf dem Rücksitz.

Über seine Entlassungen war jedes Mal lang und breit berichtet worden, Fotografen und Fans hatten im Vorfeld schon gefeiert, und alle drängelten sich vor dem Eingang, um ein Foto zu schießen oder seinen Namen herauszuschreien, während die Limousine an ihnen vorüberschoss.

Noch Wochen nach seiner Entlassung waren Artikel und Berichte erschienen, mit Fotos, die ihn auf der Bühne zeigten vor einem unendlichen, wogenden Meer hingerissener Fans. Fotos von ihm, als der Zopf auf seinem Rücken noch dunkler gewesen war als der Nachthimmel über den Sümpfen Floridas. Als er über die Bühne stolziert war, als wäre sie sein Eigentum. Als wäre er ein echter Seminolen-Kämpfer und nicht der verängstigte Junge aus einem staubigen, namenlosen Kaff, in dessen Venen gerade mal zwei Tropfen Indianerblut auf einen Liter Siedlerblut kamen.

Damals! Als Alkohol und Drogen einfach zu ihm gehörten, als seine Finger noch nicht schwerfällig über die Gitarrensaiten strichen und seine Stimme noch nicht gelitten hatte. Als die Exzesse noch nicht seine Muskeln und Sehnen angenagt hatten wie Termiten einen Holzschuppen. Und der Schmerz über den Verlust seines jüngeren Bruders, der die Band – die passenderweise «Wasted Indian» hieß – im Leichenwagen verlassen hatte, sich noch nicht in sein Gesicht gegraben hatte. Damals hatte ihm die schreiende Menge versichert, am Leben zu sein. Und dazu ausersehen, für immer jung zu bleiben.

Heute war alles anders. Der Wagen, mit dem man ihn aus der Entzugsklinik abholte, war nicht von der Plattenfirma geschickt worden, und es gab weder Drogen noch Alkohol noch eine willig-unwillige Frau im Wagenfond. Dies hier war einfach ein schlammbrauner BMW, gesteuert von seinem wütenden Sohn, den er kaum kannte. Dem einzigen Menschen, der aus dem einstmals riesigen Meer noch übrig war. Dem einzigen, der durch das Blut an ihn gebunden war.

«Danke, dass du mich abholst», sagte Will.

Er vernahm nur ein Grunzen. Mehr als Antwort hatte er vermutlich auch nicht verdient.

«Und dafür, dass du dich um meinen … Aufenthalt hier gekümmert hast.»

Das war seine Art einzugestehen, dass er, William Hightower, der Millionen verdient und Millionen verschleudert hatte, sich den einen Monat im Three Palms Whole Health Center nicht mehr selbst leisten konnte. In einer Einrichtung, in der ein ganzheitlicher Ansatz beim Kampf gegen die Dämonen, die jeder Patient mitbrachte, praktiziert wurde. Er hätte sich das Ganze nicht mal leisten können, wenn er wirklich hierher gewollt hätte.

Heute gab es keine Tore, durch die er hindurchfahren musste. Es gab weder Journalisten noch kreischende Fans. Hinter sich ließ er ein sauberes, modernes Gebäude, das zwischen einem See stand, in dem Will mit einem Kajak gepaddelt war, bis seine Muskeln gebrannt hatten, und einem Pool, in dem er Geist und Körper Zug um Zug betäubt hatte. Aber er verließ diesen Ort deutlich fitter, als er gekommen war. Fitter, als er seit seinem ersten Gig mit siebzehn jemals gewesen war. Eines musste er den Leuten von Three Palms lassen: Sie hatten ihn dazu gezwungen, auch sein Äußeres in Ordnung zu bringen, während sie sein Inneres beackerten.

Als gäbe es dadrinnen überhaupt noch etwas zu beackern.

Das Haar, das ihm einst in einem Zopf über den Rücken fiel, berührte kaum mehr seine Schultern, und das glänzende Schwarz war mit Grau durchsetzt. Sein Gesicht, vernarbt und ramponiert von einundsechzig ausschweifenden Jahren, wurde noch immer von einer Hakennase und hohen Wangenknochen dominiert, die die Kameras einst geliebt hatten. Seine dunklen Augen waren umgeben von einem feinen Netz aus Fältchen, aber sie sahen klarer als jemals zuvor und ermöglichten ihm, die Welt um ihn herum so wahrzunehmen, wie sie wirklich war. Kahl und erbarmungslos.

Schweigend fuhren sie von Cutler Bay, Florida, Richtung Süden. Vorbei an hohen Palmen und Blütenexplosionen in tropischen Farben. Blumen, die an Hauswänden emporrankten und sich um Baumstämme wanden. Das grelle Morgenlicht war unerbittlich und ließ nur wenige Schattendreiecke zu.

In Florida City mündete die Schnellstraße in den U.S. Highway 1 und dann in ein zweispuriges, achtzehn Meilen langes Asphaltband, das die Einheimischen «The Stretch» nannten. An dieser Stelle begann die reale Welt sich aufzulösen, und das Paradies, das vor ihnen lag, lockte mit gekrümmtem Finger. Selbst an den miesesten Tagen sorgte The Stretch für einen gesenkten Puls, einen geringeren Stresslevel und ein verlangsamtes Synapsengewitter in den Hirnen. Trotzdem wanderten Wills Gedanken ziellos umher, während Tommy in gemessenem Tempo und mit unverwandt nach vorn gerichtetem Blick den Wagen steuerte.

Trotz der geöffneten Fenster hing ihr Schweigen heiß und schwer zwischen ihnen, angefüllt mit Dingen, die nie verziehen worden waren und von denen Will inständig hoffte, dass sie nie zur Sprache kommen würden.

Wills Blicke glitten nach draußen. Nur ein Maschendrahtzaun hielt das wuchernde Gestrüpp von der Straße zurück, als sie die Everglades umrundeten und die Grenze zu Monroe County überquerten. Wiederholt warf er seinem Sohn verstohlene Seitenblicke zu. Tom hatte seine Statur und seine Hautfarbe geerbt, und er sah seinem jüngeren Bruder Tommy, nach dem er benannt worden war, so ähnlich, dass es schmerzte, ihn anzusehen. Will dachte an die Mutter des Jungen, die ebenfalls ihrer früheren Lebensweise zum Opfer gefallen war.

So viele Leute waren sinnlos vor die Hunde gegangen.

Als sie über die Jewfish Creek Bridge fuhren, blitzte die Sonne auf dem unglaublich türkisfarbenen Wasser, das die Brücke flankierte, und eine warme Meeresbrise verwirbelte die Luft und zerwühlte Wills Haar. Ab Key Largo begannen Geschäfte für Tauchgeräte, Fischköder und Angelzubehör vorbeizufliegen. Vor einem Einkaufszentrum blieb sein Blick an einem Schild hängen, das «Pilates im Paradies» versprach.

Das Schweigen dehnte sich aus. Wills Augenlider wurden schwer. Er war kurz davor, einzunicken, als Tommy plötzlich sagte: «Ich habe mit der Bank gesprochen. Und dann habe ich einen Makler angerufen, der sich Mermaid Point ansehen wird.»

Wills Augenlider flogen auf. So was passierte, wenn man einem verdammten Verwandten Generalvollmacht erteilte. Für den Notfall. Ohne daran zu denken, dass dieser Verwandte, während man sich selbst gerade in der Entziehungskur eine Abreibung nach der anderen holte, eine Situation einfach zum Notfall erklären konnte.

Will hatte die Insel in Form eines Teetischs in den Achtzigern spontan gekauft, als Key West noch ein Ort gewesen war, an dem man sich verstecken, ausspannen und chillen konnte. Dann begannen die Kreuzfahrtschiffe täglich an- und wieder abzulegen, und die Massen, die sich danach sehnten, wild und exzentrisch zu sein, rammten ihre Fahnen in den Boden und erklärten Key West zur Hauptstadt ihrer Verrücktheit. Jeder, der ihm wichtig gewesen war, flüchtete. Will schaffte es nur neunundsiebzig Meilen den Highway 1 hinauf.

«Ich habe kein Interesse daran, Mermaid Point zu verkaufen», sagte er. Nicht seine Insel. Niemals.

Das Mariner’s Hospital und Mc Donald’s flogen vorüber, als sie durch Tavernier Creek fuhren. Bald würden sie auf Upper Mathcumbe ankommen, der dritten von Islamoradas vier Key-Inseln.

Beinahe zu Hause.

«Selbst wenn du wolltest, könntest du die Insel nicht verkaufen, ohne etwas am Haus und an den Nebengebäuden zu machen», sagte sein Sohn. «Bei dem Zustand, in dem sie sich befinden.»

Jetzt war es an Will zu grunzen. Als er Mermaid Point gekauft hatte, war die Insel nur eines von vielen Domizilen in seinem Besitz gewesen. Heute war sie das Einzige, was ihm noch geblieben war. Und sobald sie dort angekommen waren, wollte er sich nur noch auf eine Liege an den Pool legen und verdammt noch mal abschalten. Was nicht ganz so leicht werden würde ohne einen Drink oder einen Joint in der Hand.

Im Moment versuchte er, nicht daran zu denken, wie er die nächste Woche überleben sollte, ohne sich zu betäuben, ganz zu schweigen vom Rest seines Lebens. Er war sich nicht sicher, ob sein Pool – ja selbst der Atlantik, auf den man von dort aus blickte – groß genug war, um darin so viele Züge schwimmen zu können, wie er benötigte, um sich zu betäuben. Er wusste nicht, ob es auf der ganzen Welt genügend Schwimmzüge gab, um dieses Bedürfnis in den Griff zu bekommen.

«Die Sache ist die», sagte Tom, «wenn man das Haus und die Außenanlagen renovieren würde, wäre das Ganze ein großartiges Feriendomizil für einen Inselurlaub oder ein Firmen-Retreat. Du könntest auch dauerhaft alle Zimmer vermieten – ich meine, du hast immerhin noch einen Namen. Die Leute würden ein Vermögen dafür bezahlen, um in einem Haus zu übernachten, das von William dem Wilden betrieben wird.» Toms Ton klang abfällig. «Und du könntest deinen Lebensunterhalt als genialer Gastgeber eines Rock-’n’-Roll-Bed-and-Breakfast verdienen. Vielleicht sollten wir es auch einfach ‹Das Wilde Haus› nennen.»

«Du machst Witze.» Will schlug einen versöhnlichen Tonfall an. Er war noch nicht einmal zu Hause, er würde sich jetzt nicht aufregen. Hatte er nicht gerade einen Monat damit zugebracht zu lernen, wie man ruhig und kontrolliert blieb? «Außerdem ist es ja auch nicht so, als könnte man einfach so an die Lizenz für ein Bed and Breakfast kommen. Da gibt es eine neue Verfügung, die das verhindert. Und es gibt einen Baustopp für neue Gebäude.»

Tom schüttelte herablassend den Kopf. «Das sind bloß Details und Lokalpolitik. Und ich mache nie Witze übers Geld.» Natürlich tat er das nicht. Der Junge war ein verdammter Investmentbanker und hatte einen Taschenrechner als Hirn. Wenn er nicht so sehr wie ein Hightower aussähe, hätte Will den Vaterschaftstest damals sofort angezweifelt.

«Oder möchtest du lieber auf das Bettsofa in meinem Wohnzimmer umziehen? Oder gleich in ein Altersheim für ehemalige Rockstars?»

Will verschränkte die Arme vor der Brust und warf seinem Sohn einen Blick zu, den er immer mit großem Effekt bei den Leuten von der Plattenfirma eingesetzt hatte, wenn sie ihn wieder einmal in einen geschniegelten Schnulzenbarden verwandeln wollten, wo er doch durch und durch Rocker war. Oder bei Fans, die weder Grenze noch Privatsphäre respektierten.

«Das wird nicht passieren», sagte Will. Wenn er nach all den Jahrzehnten draußen auf der Bühne etwas verdient hatte, dann war das Ungestörtheit. «Es kommt nicht in Frage, dass ich meine Insel oder mein Haus mit Fremden teile.» Er schauderte, wenn er sich naive Paare auf Hochzeitsreise oder, noch schlimmer, Rentner mit traurigen Augen im Schlafzimmer am anderen Ende des Flurs vorstellte.

Man kaufte sich keinen Korallenfelsen im Meer, wenn man Fremde in seiner Nähe haben wollte.

Tom wandte den Kopf und sah seinen Vater an. «Also, es tut mir wirklich leid, aber du hast keine Wahl. Du hast nicht genügend Geld zum Leben, ohne deinen einzig verbliebenen Vermögenswert gewinnbringend einzusetzen. Entweder du verkaufst Mermaid Point mit allen Anlagen darauf, um für den Rest deines Lebens genügsam woanders zu leben. Oder du renovierst und spielst für jeden Zahlungswilligen den Gastgeber – und kannst so wenigstens ein Inseldach über dem Kopf behalten.»

Wills Kehle war so trocken, dass er kaum schlucken konnte. Er hatte keine Ahnung, wie er so obszön viel Geld verdienen und nun so wenig davon übrig haben konnte. Und er hatte auch nie geahnt, dass sein Sohn, der ihn offensichtlich verabscheute, einen solch boshaften Plan hatte aushecken können.

Ein Drink würde die Wogen etwas glätten. Würde ihm wenigstens gestatten, so zu tun, als wäre er kein bankrotter trockener Alkoholiker. Langsam griff er in seine Hosentasche und holte einen Lolli heraus. Er wickelte ihn sorgsam aus und steckte ihn sich in den Mund, als sie am Yachthafen Whale Harbor vorbeifuhren.

Die Bar Lorelei flog zu seiner Rechten vorüber. Bald würden sie Bud N’ Mary’s Marina erblicken, womit er so gut wie daheim wäre. Schweigend lutschte er an seinem Lolli und widerstand in einer lächerlichen Prüfung seiner Willenskraft dem Drang, in den Kaugummi in der Mitte zu beißen.

Danielle, seine liebste Gruppenleiterin in der Klinik, hatte ihm zum Abschied eine große Tüte Lollis geschenkt. Träge fragte er sich, warum eigentlich noch niemand auf die Idee gekommen war, eine Lollisorte mit Whiskey-Geschmack zu erfinden. Mit einem Schuss Jack Daniels in der Mitte. Vielleicht sollte er das tun, um sich wieder zu sanieren: sich alkoholische Lollis ausdenken.

Will schaute aus dem Fenster, um sein Lächeln zu verbergen, und konzentrierte sich auf die harte Süßigkeit in seinem Mund. Mit Whiskey, aber ohne Zucker, damit nicht all die armen Alkoholiker auch noch zu Diabetikern wurden. Er verschränkte erneut die Arme vor der Brust und ließ den Blick über die vertraute Umgebung wandern.

Der Sonnenstand verriet ihm, dass der Sonnenuntergang nur noch wenige Stunden entfernt war. Von Mermaid Point aus sah er die Sonne jeden Morgen über dem Atlantik auf- und abends über dem Golf untergehen. Es waren Anblicke, derer er nicht müde wurde.

Plötzlich musste er daran denken, wie er in früheren Jahren zwischen zwei Auftritten in einer Bar einen Hit auf eine Serviette kritzeln konnte. Damals. Bevor er so alt geworden war wie die verdammten Florida Ridge Hills und bevor er beinahe jeden verloren hatte, der ihm jemals wichtig gewesen war. Und er war sich ziemlich sicher, dass nicht mal mehr eine halbe Melodie in seinen Knochen steckte.

1

Ohne es direkt vorgehabt zu haben, hatte Madeline Singer in letzter Zeit zwei Dinge erreicht, die sie überraschten: den Seniorenrabatt und den Rechtsanspruch, sich mit fremden Männern treffen zu dürfen.

Im Verlauf ihrer siebenundzwanzigjährigen Ehe hatte sie viele Rollen übernommen und war als alles Mögliche bezeichnet worden. Sie hatte als junge Braut begonnen, sich recht bereitwillig in eine Vorstadt-Hausfrau-und-Mutter verwandelt und die Jahre ehrlich genossen, in denen sie sich um ihren Mann und ihre beiden Kinder gekümmert hatte. Vor zwei Jahren war sie für eine Zeit, die so kurz war, dass sie sich nicht sicher war, ob sie überhaupt zählte, eine Mutter geworden, deren Kinder ausgeflogen waren. Sie hatte sich auf eine neue, aufregende Phase in ihrem Leben gefreut. Diese Freude war von der Entdeckung ausgelöscht worden, dass sie Opfer eines Finanzbetrügers geworden war. Eine dunkle Gewitterwolke hatte sie, ihre Familie und ihr Leben für immer verändert. Ihr silberner Streif am Horizont hatte aus unerwarteter innerer Stärke und Zielgerichtetheit bestanden. Inzwischen konnte man sie mit zwei Worten beschreiben, die sie niemals zusammengebracht hätte. Diese Worte lauteten «einundfünfzig» und «alleinstehend».

Was Oxymora anging, war ihres nicht so raffiniert wie «alter Knabe», «virtuelle Realität» oder gar «ein kleines bisschen schwanger». Aber es qualifizierte sie zum Beitritt in die American Association of Retired Persons. Und, wie es schien, auch dazu, mit fremden Männern auszugehen.

Vor allem befeuerte es Maddies wilde Entschlossenheit zu beweisen, dass die Tatsache, dass man alt genug für einen Seniorenrabatt war, nicht bedeutete, dass man nicht noch einmal neu anfangen konnte.

Es war Mai in Atlanta. Die Azaleen schäumten von weißen und rosa Blüten. Madeline betrachtete das «Zu verkaufen»-Schild, das nun in dem weitläufigen Garten aufgestellt war, in dem ihre Kinder einst gespielt hatten. Eine Reihe tieforangefarbener Taglilien zog sich einen sanften Abhang hinunter, um dort auf Massen von lila und roten Tulpen zu treffen, die durch den roten Lehmboden emporgeschossen waren. Die dunkelgrünen Blätter der Magnolienbäume, die sie anlässlich von Kyras und Andrews Geburten gepflanzt hatte, umschlossen weiße, untertassenförmige Blüten.

Madelines pollenbestäubter Kleinbus stand bis zum Bersten voll in der Einfahrt, bereit für die Fahrt hinunter nach Miami, wo sie, Kyra und ihr Enkel Dustin die Nacht verbringen würden. Morgen früh würden sie zusammen mit ihren Partnerinnen Avery Lawford und Deirdre Morgan eine Fahrzeugkolonne bilden und Nicole Grant in den Florida Keys treffen. Dort würden sie für Alles Neu, ihre gemeinsame Reality-Show im Fernsehen, einen weiteren schweißgetränkten Sommer damit verbringen, für ein mysteriöses Individuum dessen mysteriöses Haus zu renovieren.

«Ooo-ma!» Ihr Enkel tauchte, gefolgt von seiner Mutter, aus der geöffneten Garage auf. Der Anderthalbjährige rannte mit ausgestreckten Speckärmchen auf sie zu. Maddie hob ihn hoch und rieb ihre Nase an seiner. Seine goldene Haut war so weich und warm, und seine dunklen Wimpern waren lang genug, um in einem Schmetterlingskuss ihre Wange zu streifen.

«Dustin!» Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und drückte ihn an ihre Brust. Damals, als ihre Tochter Kyra ihren ersten Job beim Film verloren hatte, weil sie mit dem Star des Films geschlafen hatte, hatte Malcolm Dyer mit seinem betrügerischen Schneeballsystem ihre Familie bereits in eine finanzielle Notsituation gebracht. Kyras Schwangerschaft war Maddie vorgekommen wie ein weiteres Hindernis, das überwunden werden musste.

Bis sie zum ersten Mal Dustin im Arm gehalten hatte.

«Ich kann nicht glauben, dass du das Haus verkaufst», sagte Kyra und blickte auf das Schild. Ihr langes dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, in den Armen trug sie ihre Kameraausrüstung. Ein Wickelrucksack hing über eine ihrer schmalen Schultern.

Maddie wappnete sich, Kyras spitze Bemerkungen waren gefürchtet. Nicht nur einmal hatte sie ihre Mutter darauf hingewiesen, dass es nur wenige Frauen in ihrem Alter gäbe, die den Mumm besäßen, die Scheidung einzureichen. Oder auf eine beunruhigende Statistik verwiesen, die besagte, dass ein schockierend hoher Prozentsatz geschiedener Frauen mit ihren Kindern unterhalb der Armutsgrenze lebten. Dabei hatte es ihre gesamte Familie in den letzten beiden Jahren geschafft, sich – wenn auch bedenklich knapp – oberhalb dieser Grenze zu halten. Zu Maddies Erleichterung behielt Kyra diesmal ihre Gedanken für sich.

 

Gestern – es wäre ihr siebenundzwanzigster Hochzeitstag gewesen – hatte sie gepackt und das Haus ausgemistet, damit Kelly Witters, die Freundin ihres Exmannes, es in Szene setzen konnte. Und der Makler damit beginnen konnte, es Interessenten zu zeigen. Ihre Familiengeschichte war entweder in Kisten verpackt oder entsorgt worden.

«Ich weiß, es ist nicht leicht, sich vorzustellen, dass jemand anders hier wohnen wird», gab Maddie zu und strich Kyra über den Arm. «Aber vielleicht zieht eine neue Familie mit kleinen Kindern hier ein, so wie wir damals.»

Wie Trauergäste, die ein geliebtes Familienmitglied noch nicht ganz loslassen können, hielten sie einen Augenblick der Stille ein.

«Ich will mir niemand anderen in unserem Haus vorstellen. Es fällt mir schon schwer genug, nicht an die Leute zu denken, denen jetzt Bella Flora gehört.» Kyras Hände schlossen sich fester um ihre Kamerataschen, als sie das ehemals heruntergekommene Anwesen auf der Landzunge von St. Petersburg in Florida erwähnte, das Madeline, Nicole und Avery neu zum Leben erweckt hatten. «Bist du fertig, Mom?»

Die Antwort lautete Nein, offen gestanden. Obwohl Maddies Bauchgefühl ihr sagte, dass die Scheidung das Richtige und Beste für sie und Steve war, mischte sich Bedauern in ihre Aufregung. Sie freute sich darauf, zum ersten Mal auf die Florida Keys zu fahren, doch sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie als alleinstehende Frau reiste.

Dann riss sie sich los und folgte Kyra zum Bus.

«Ich wünschte, sie würden uns ein bisschen mehr über den Besitzer des Hauses verraten, das wir renovieren sollen. Ich meine, ‹Prominenz› kann alles Mögliche bedeuten», sagte Kyra, während sie die Kamerataschen auf den Rücksitz stapelte. Die erste Staffel von Alles Neu, die in wenigen Wochen ausgestrahlt würde, war in South Beach gedreht worden. Dort hatten sie das Haus eines ehemaligen Varietékünstlers renoviert, der ihrer aller Herzen erobert hatte.

«Na ja, nach allem, was ich so höre, ist Key West Party-Hauptstadt. Wenn es uns dorthin verschlägt, kannst du in den Bars abhängen, Mom. Wir können zusammen was trinken gehen und die Augen nach Typen offen halten.» Kyra hob Dustin hoch und schnallte ihn in seinem Kindersitz fest. «Die Klatschpresse würde sich die Finger lecken. Und ich wette, unsere Einschaltquoten würden durch die Decke gehen. Ich bin überrascht, dass Lisa Hogan das noch nicht arrangiert hat.» Keine von ihnen mochte die Chefin des Senders von Alles Neu, für die lediglich die Quoten zählten. «Wer weiß, vielleicht könntest du dein eigenes Spin-off bekommen à la ‹Silberlöwin auf der Pirsch› oder so.»

Maddie sah ihre Tochter an. Sie schien nicht in der Lage oder nicht willens zu begreifen, dass ihre beiden Eltern nach der Scheidung glücklichere Menschen waren. Oder zumindest weniger unglückliche.

«Also, wenn ich das Spin-off bekomme, lade ich dich zu einem Cameo-Auftritt als missbilligende Tochter der Silberlöwin ein.» Maddie verbiss sich angesichts des Entsetzens in Kyras weit auseinanderstehenden grauen Augen ein Lächeln. «Wir fahren wohl besser mal los. Ich habe Avery gesagt, dass wir zum Abendessen da sind.» Sie setzte sich auf den Fahrersitz des Kleinbusses. Als sie zum vielleicht letzten Mal aus der Einfahrt zurücksetzte, verbot sie sich einen Blick auf das «Zu verkaufen»-Schild und rief sich in Erinnerung, dass es an der Zeit war, aufzuhören, um Entschuldigung zu bitten. Gleichzeitig war das Letzte, woran sie denken wollte, Partys. Oder, Himmel hilf, neue Männer. Ihre Ehe zu beenden bedeutete für sie, aus dem Rest ihres Lebens noch etwas machen zu wollen, und nicht, durch Bars zu tänzeln und Typen aufzureißen.

Einundfünfzigjährige Großmütter gehörten nicht auf den freien Markt.

Avery Lawford unterhielt eine von manchen vielleicht für ungesund gehaltene Beziehung zu Elektrowerkzeug. Sie war damit auf ganz natürliche Weise in Berührung gekommen, als sie in der Kindheit ihren Vater auf dessen Baustellen begleitet hatte – mit einem pinken Schutzhelm auf den wilden blonden Locken und die Vorform eines Werkzeuggürtels eng um die schmalen Mädchenhüften geschlungen.

Bevor ihre Mutter Deirdre Morgan nach Hollywood durchgebrannt war, um als Innendesignerin für Stars zu arbeiten, war Avery mit anderen kleinen Mädchen zum Ballett gegangen oder hatte Steppkurse besucht. Dort hatte sie festgestellt, dass sie weder Rhythmusgefühl besaß noch das geringste Talent, wie eine Gazelle zu springen. Doch zu dem Zeitpunkt, als ihre Mutter sie verließ, wusste Avery bereits, wie man einen Hammer schwingt und wann man in eine Kreissäge ein feines Sägeblatt einlegt oder ein grobes. Das Kreischen einer Kettensäge und nicht Tschaikowskys Schwanensee klang wie Musik in ihren Ohren.

Den Großteil ihrer Pubertät hindurch hatte sie sich versichert, dass ihre Mutter nichts als ein Gefäß gewesen war, das die DNA ihres Vaters ausgetragen hatte. Am Morgen ihres sechzehnten Geburtstags musste sie sich aber eingestehen, dass ihre Körpergröße, die für den Umfang ihrer Brüste keinesfalls groß genug war, ihre blonden Haare, die blauen Augen und die puppenhaften Gesichtszüge unwillkommene Geschenke der abwesenden Deirdre Morgan waren. Und leider führte ihr Äußeres dazu, dass man ihr unweigerlich IQ-Punkte abzog und Fremde nur langsam und in einfachen Worten mit ihr sprachen.

Architektonisch gesprochen war bei Avery die Fassade einer Jahrmarktbude an Frank Lloyd Wright’s Falling Water befestigt. Es war dieses Äußere, welches ihr Diplom in Architektur und all die Jahre der Erfahrung auf den Baustellen ihres Vaters zunichtemachte. Eine äußere Fassade, die zwei Fernsehsender zu dem Versuch bewogen, sie als die Vanna White der Do-it-yourself-Szene zu etablieren.

Avery atmete tief den Geruch des frisch gesägten Holzes ein, schüttelte eine Tonne Sägespane aus ihrem Haar und lächelte. Es war ein berauschender Duft, voller Neuanfang, beinahe himmlisch. Er beschwor ihren Vater herauf und alles, was sie von ihm gelernt hatte. Nichts anderes war dazu in der Lage.

Sie sah sich in dem Raum um, der für Chases Vater gedacht war. Jeff Hardin war gestürzt und hatte sich die Hüfte und den Oberschenkelhals gebrochen, kurz bevor sie und ihre Mutter Deirdre in die Wohnung über der Garage der Hardins gezogen waren. Avery betrachtete die neuen Holzständerwände und den frisch gelegten Holzboden. Die neuen Fenster lehnten an einer Wand und warteten darauf, in die vorgesehenen Öffnungen eingebaut zu werden. Sie fuhr mit der Hand über ein Brett des Bücherregals, das sie vor dem vorderen Fenster gebaut hatte. Alle Räume – das große Schlaf-, das Wohn- und das Badezimmer – würden warm und gemütlich sein. Und barrierefrei.

«Es sieht gut aus.» Chase Hardin, der einst ein aussichtsreicher Kandidat für den Titel des nervigsten Mannes der Welt gewesen war, trat hinter Avery, hakte einen Finger in den Werkzeuggürtel, der auf ihrer Hüfte saß, und zog sie näher zu sich heran.

«Ja. Die Zimmer werden perfekt sein für deinen Dad. Und er kann weiter bei dir und den Jungs leben, hat aber trotzdem seinen eigenen Bereich.» Sie drehte sich in seinen Armen um und sah zu ihm auf. «Ich finde es schrecklich, gehen zu müssen, bevor alles fertig ist.»

«Ich weiß. Aber Dad bedeutet es viel, dass du und ich zusammen an diesem Raum gearbeitet haben.» Chases Vater Jeff Hardin war lange Jahre der Partner von Averys Vater in der Baufirma gewesen, die sie zusammen gegründet hatten und die Chase nun leitete.

Chase vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. «Mmmmm. Was ist das für ein Parfüm?»

Avery schnaubte. «Ich glaube, das ist Trésor de Travail. Oder vielleicht Poison de Kiefern-olz.» Sie bemühte sich um einen französischen Akzent und scheiterte kläglich.

Er fuhr mit den Lippen über ihr Ohr. «Ich mag’s. Wir sollten es vielleicht in Flaschen abfüllen.»

«Super Idee. Bestimmt können wir es im Baumarkt tonnenweise verkaufen.» Sie lachte. «Platziert gleich neben den verschiedenen Rohrreinigern und anderen Putzmitteln.»

«Hey, es gibt viele Männer, die den Duft einer Frau lieben, die sich auf Baustellen auskennt.» Er strich ihr über das andere Ohr. «Natürlich mögen sie es noch lieber, wenn sie weniger Kleider anhat als du in diesem Augenblick.» Seine Hände glitten nach unten und umfassten ihren Hintern. Der bei der Berührung leicht vibrierte.

«Wow», sagte Chase. «Unglaublich, wie du reagierst. Ich fühle mich geschmeichelt.»

«Sehr witzig», sagte Avery und griff bereits in die Tasche ihrer Shorts, in der es tatsächlich vibrierte. «Ich hatte Kyra gebeten, mir Bescheid zu geben, wenn sie in der Nähe sind.»

Sie zog ihr Mobiltelefon heraus und hielt es hoch, um den Bildschirm sehen zu können. Die Nachricht lautete: «Sngl eIch Beiohca.»

Sie sahen einander an. «Ich verstehe nichts. Aber ich weiß, wer mir das geschickt hat.» Madeline Singers Daumen und ihr iPhone passten oft nicht sehr gut zusammen. Maddie behauptete, mit ihrem Smartphone viel glücklicher gewesen zu sein, bevor es so smart geworden war.

Avery spähte erneut auf den Bildschirm, um die Uhrzeit auszumachen. Dann sagte sie: «Ich war so mit dem Regal beschäftigt, dass ich ganz vergessen habe, Pizza zu bestellen.» Sie wischte über ihr T-Shirt, neue Späne rieselten zu Boden. «Ich weiß, dass ich hier irgendwo die Nummer vom Lieferservice gespeichert habe.»

Viele der Mahlzeiten, die sie zusammen mit Chase, seinen beiden Söhnen im Teenageralter und seinem zunehmend gebrechlichen Vater eingenommen hatte, waren geliefert worden. Und nur wenige hatten Besteck erforderlich gemacht. Sie begann durch ihre Kontakte zu scrollen.

«Ich habe ihn unter Kurzwahl», sagte Chase. «Aber Deirdre hat sich schon ums Abendessen gekümmert.»

«Deirdre?», fragte Avery. «Deirdre hat Pizza bestellt?»

Deirdre Morgan war vor beinahe zwei Jahren zurückgekehrt und behauptete seitdem beharrlich, sie wolle nichts lieber als Averys Mutter sein. Aber keine ihrer Bemühungen um eine Mutter-Tochter-Beziehung beinhaltete eine Einschränkung ihrer Ansprüche als Genussmensch.

«Nicht ganz. Ich glaube, die Vorspeise ist eine Art Leberpastete. Und das Hauptgericht heißt Pompano en Papillote.»

Avery stöhnte. «Ich weiß nicht, warum dein Dad ihr diese Schürze und diesen Kochkurs zu Weihnachten schenken musste.»

«Hey, wir leben schon zu lange in einem Männerhaushalt, als dass ich an einem selbstgekochten Essen Nachteile erkennen könnte. Und er war immerhin schlau genug, beides nicht dir zu schenken.» Chase lächelte.

«Ha! Deirdre hat ständig einen neuen Ansatz. In Miami hat sie bei Maddie Nachhilfestunden im Muttersein genommen. Jetzt versucht sie, eine Betty Crocker zu werden. Wenn sie glaubt, sie könnte ihr Wiederauftauchen in meinem Leben zu einer Art Brady-Bunch-Wiedervereinigung machen, dann hat sie sich geschnitten.»

«Du hast ja recht, sie muss vieles wiedergutmachen. Niemand möchte ihr die Mutter-des-Jahres-Medaille umhängen. Aber sie hat sich für dich vor eine Kugel geworfen», sagte Chase.

Letzteres war für Avery immer noch kaum zu glauben. «Also, das Einzige, was ich weiß, ist, dass Maddie und Kyra mit einem Kleinkind seit acht Stunden unterwegs sind. Sie mit pürierten Gänselebern und Fisch in Papiertüten zu empfangen, ist lächerlich.» Damit ließ sie Chase stehen und eilte davon Richtung Küche.

Deirdre war gerade dabei, Kräcker um einen Hügel Pastete herum zu arrangieren. Jeff Hardin saß am Küchentisch und hatte seine Gehhilfe griffbereit. Eine Schüssel mit Nüssen und eine geöffnete Rotweinflasche standen auf dem Tresen.

«Da.» Deirdre schob die Platte mit den Horsd’œuvres zu Jeff hinüber und band sich die Schürze ab. Sie trug einen lavendelblauen Hosenanzug, der so aussah, als sei er eigens gefärbt worden, um zu ihren Augen zu passen. Sie war genauso klein und vollbusig wie Avery, doch der Schnitt ihrer Tunika kaschierte das D-Körbchen darunter. Ein Paar Riemchensandalen sorgten für ein paar zusätzliche Zentimeter an Höhe.

Avery trug eine Jeans-Hotpants, ein abgeschnittenes Alles-Neu-T-Shirt und ein uraltes Paar Turnschuhe. Was unter Beweis stellte, dass der Apfel durchaus weit vom Stamm fallen konnte, wenn er sich nur genug anstrengte.

«Das Abendessen ist fast fertig», sagte Deirdre und musterte ihre Tochter von Kopf bis Fuß. «Aber du hast noch genügend Zeit, um zu duschen und dich umzuziehen.»

Genau das war Averys Plan gewesen, bevor Deirdre es angesprochen hatte. Jetzt sagte sie nur: «Nein, keine Umstände. Danke.»

Chase, der ebenfalls in die Küche gekommen war, griff mit schnaubendem Gelächter in den Kühlschrank und holte ein Bier heraus. «Dad?»

«Da sage ich nicht nein.»

Chase reichte seinem Vater eine Flasche und öffnete sich dann selbst eine. Dann tunkte er einen der Kräcker in die Pastete und warf ihn sich in den Mund. «Mmmm-mmmm.»

Deirdre strahlte ihn an. Avery biss die Zähne zusammen und ging zur Vorratskammer.

«Wo sind die Käseflips?», fragte sie und suchte mit den Augen die Regalbretter ab.

Deirdre hob eine elegant gezupfte Augenbraue. «Ich glaube, wir haben keine mehr.» Sie sagte es in einem bedauernden Tonfall, der ungefähr so echt klang wie Averys französischer Akzent. «Aber wenn du sie auf die Einkaufsliste schreibst, kann ich …»

«Du hast vergessen, sie zu kaufen. Schon wieder.»

«Avery, alles, was mit diesen Käseflips in Berührung kommt, wird orange. Und es ist höchst fraglich, was sie mit deinen inneren Organen anstellen», sagte Deirdre.

«Ich bin sechsunddreißig Jahre alt. Meine inneren Organe gehören mir. Und du bist deutlich zu spät auf den Plan getreten, um meinen Essensgeschmack zu beeinflussen.»

Unwillkürlich rieb sich Deirdre den Arm an der Stelle, wo sie die Kugel getroffen hatte. Avery verdrehte die Augen. «Das macht sie immer, wenn ich es wage, nicht einer Meinung mit ihr zu sein.»

«Also so ungefähr immer», sagte Deirdre.

«Meine Käseflips-Gewohnheiten sind meine eigene Sache», betonte Avery.

«Das stimmt. Aber ich glaube, ‹Gewohnheit› ist hier das entscheidende Wort.» Deirdre streckte das Kinn vor und stützte die geballten Fäuste in die Hüften.

Es war, als blickte man in einen verdammten Spiegel. Ein ersticktes Lachen ertönte, und Avery wandte ihre Aufmerksamkeit Jeff und Chase zu.

«Sorry», sagte Jeff und versuchte vergeblich, sein Grinsen zu unterdrücken. «Ich komme nur einfach nicht darüber hinweg, wie ähnlich ihr euch seht, wenn ihr in Angriffsposition geht.»

«Also, ich finde Orange auf einer Frau irgendwie sexy», sagte Chase. «Noch ein bisschen Sägemehl dazu, und schon …» Es gelang ihm, gleichzeitig mit den Schultern zu zucken und lüstern auszusehen. «… bin ich ein Todeskandidat.»

Jeff lachte schallend los.

«Sehr schön. Lacht nur, so viel ihr wollt.» Avery entschied sich für eine Packung Minibrezeln. Was ein armseliger Ersatz war für die luftige Käsigkeit ihres Lieblingssnacks. Sie knabberte an den kleinen Kringeln, als es an der Tür läutete. «Ich gehe.» Mit großen Schritten lief sie zur Haustür und zog sie auf. Kyra stand mit Dustin auf dem Arm auf der Veranda. Madeline stand neben ihr. Avery fiel bereits Maddie in die Arme, als sie auf dem Gehweg eine Bewegung wahrnahm.

«Hallo, Kyra!» Die Stimme war laut, der Akzent britisch, der Ton übermäßig vertraulich. Die Klatschzeitschriften waren verrückt nach Kyra, seit sie herausgefunden hatten, dass sie mit Daniel Deranians Kind schwanger war. Seit Dustins Geburt war es noch schlimmer geworden.

Der Fotograf war groß und schlaksig. Hinter ihm drängte sich eine ganze Gruppe von Papparazzi. Sie wirkten in der bescheidenen, baumgesäumten Straße völlig fehl am Platz. Wie ein Rudel Wölfe, dachte Avery, das in einem Supermarkt Schafe jagt.

Ein digitaler Blitz leuchtete auf. Avery trat einen Schritt zurück.

«Komm schon, Kyra, Süße!», schmeichelte der Fotograf. «Ein gutes Foto, und schon sind wir verschwunden.»

«Das ist Nigel, und er lügt», flüsterte Kyra. «Letzte Woche in Atlanta war ich in einem Drive-in und habe auf Dustins Kindermenü gewartet, da kam plötzlich seine Stimme aus dem Lautsprecher. Ich habe nur eine Sekunde gezögert, weil man in einem Fastfood-Restaurant nicht furchtbar oft einen englischen Akzent hört, und ich hatte unser Essen schon bezahlt. Da sprang eine ganz Rotte von ihnen aus dem Gebüsch neben dem Fenster.»

Es blitzte schon wieder. Avery zögerte nicht länger. Sie griff nach Kyras freier Hand und zog sie in den Flur. Maddie stolperte hinter ihr her und schloss die Tür.

«Es tut mir so leid», sagte Kyra. «Ich habe keine Ahnung, wo sie herkamen. Auf dem Weg von Atlanta hierher habe ich nicht bemerkt, dass uns jemand gefolgt wäre. Obwohl … auf der Raststätte in der Toilette neben mir war diese wirklich unattraktive Frau, die hatte Schuhe ungefähr in Größe 45 an.» Kyra seufzte. «So schlimm ist es schon geworden. Ich bin darauf reduziert, Füße in Toilettenkabinen zu überprüfen! Aber ich dachte, wir wären sicher. Ich habe nicht mal daran gedacht, mich zu verkleiden. Außerdem ist es ausgeschlossen, eine achtstündige Fahrt in einer Burka anzutreten.» Womit sie auf einen Verkleidungstrick zu Weihnachten anspielte.

Dustin rieb sich verschlafen die Augen. Eine Gesichtshälfte wies Abdrücke eines Cord-bezogenen Autositzes auf, und seine dunklen Locken waren vom Schlaf ganz zerdrückt.

Chase und Deirdre traten in den Flur. Maddie setzte ihre Reisetaschen ab. «Ich muss noch Dustins Sitzerhöhung und das Reisebettchen aus dem Auto holen.» Sie richtete sich wieder auf und wandte sich mit der ganzen Begeisterung eines Strafgefangenen im Angesicht eines Erschießungskommandos Richtung Tür.

«Ich hole die Sachen.» Chase nahm ihr den Autoschlüssel ab und salutierte augenzwinkernd. «Gebt mir Deckung! Wenn ich in fünfzehn Minuten nicht zurück bin, schickt ihr Verstärkung!»

«Wenn ich eine Waffe hätte, würde ich dir liebend gerne Deckung geben», sagte Kyra. «Keine Ahnung, wie ich diese Rotte je wieder loswerde. Ich bete immer, dass eine echte Berühmtheit auftaucht und sie von uns ablenkt.» Sie setzte Dustin in ihre Armbeuge. «Ich meine, wo sind Kim Kardashian und Lindsay Lohan, wenn man sie wirklich braucht?»

2

In der Küche setzte Kyra Dustin auf Jeffs Schoß ab, und der kleine Junge blickte ernst zu ihm auf. Dustin hatte die armenische Haut- und Haarfarbe seines Vaters und auch das gute Aussehen des Filmstars geerbt, aber er besaß eine Ernsthaftigkeit, die ganz die seine war. Chase schaffte es unversehrt von draußen zurück und baute im Gästezimmer das Babybett auf. Dann gesellte er sich zu ihnen an den Esstisch, wo schon Wein ausgeschenkt war und gerade Teller gedeckt wurden.

Deirdre stand neben ihrem Stuhl und saugte das Lob für ihre Gabelmakrelen in sich auf, die feucht und köstlich aus den Papiertüten geschüttelt wurden. Avery mümmelte vorsichtig an ihrer Makrele, auch wenn es ihr widerstrebte zuzugeben, wie lecker sie war. Es war ihr unmöglich, an einem Tisch mit Deirdre zu sitzen und nicht an all die Mahlzeiten zu denken, die sie allein mit ihrem Vater bestritten hatte, nachdem Deirdre sie verlassen hatte. Sie wusste noch genau, wie sorgsam sie es vermieden hatten, Deirdres leeren Stuhl anzusehen, erinnerte sich an die Stille ohne Deirdres Berichte von ihren geschäftigen Tagen, die sie mit der Innenausstattung der Häuser verbracht hatte, die Averys Vater und Jeff Hardin zu jener Zeit bauten. Und wie sehr hatte sie den pikanten Hollywoodklatsch aus den Boulevardzeitschriften vermisst, die Deirdre praktisch inhalierte – was eine Art Vorwarnung gewesen war, die Avery oder ihr Vater nicht als solche erkannt hatten, bis Deirdre ihre Schränke und Kommoden leer räumte, alles in ihr Auto warf und ohne einen Blick zurück aufbrach, um sich von da an um die Inneneinrichtung der Stars zu kümmern.

«Habt ihr eine Ahnung, wem das Haus auf den Florida Keys gehört?», fragte Chase.

«Nein. Und ich kann noch immer nicht glauben, dass sie uns nicht mal die Adresse geben, bis wir vor Ort sind», entgegnete Avery.

«Glaub es besser», sagte Kyra. «Lisa Hogan und ihre Truppe wollen doch bloß, dass sich möglichst viel Angst aufstaut, die die Abläufe spannender macht.»

«Wir haben Glück, dass sie uns wenigstens gesagt haben, dass wir auf den Keys sein werden», sagte Maddie. «Wir sollen uns morgen um vier Uhr nachmittags am Meilenstein 82 einfinden, um die restlichen Anweisungen zu empfangen.»

Sie aßen eine Weile schweigend weiter. Selbst Dustin schien den Fisch köstlich zu finden, denn er aß ihn sowohl mit seinem Plastiklöffel als auch mit den Fingern.

«Wart ihr noch mal in Bella Flora?», fragte Maddie und wandte sich an Avery.

Avery legte die Gabel ab, und alle Augen richteten sich auf sie. Sie hatten sich alle zu einem letzten Weihnachten in Bella Flora eingefunden und damals lediglich gewusst, dass das Haus verkauft war. Am ersten Weihnachtsfeiertag fanden sie dann heraus, dass die geheimnisvollen Käufer Dustins Filmstar-Vater und dessen ebenso berühmte – und sehr verstimmte – Filmstar-Ehefrau Tonja Kay waren.

«Wir sind ein- oder zweimal daran vorbeigefahren, als wir mit dem Boot draußen waren», sagte Avery.

«Wenn Tonja Kay Hand an Bella Flora legt, kann ich nicht mehr für mich garantieren», stellte Kyra in Aussicht. Der Filmstar hatte damit gedroht, das Erdgeschoss dieser Schönheit aus den 1920er Jahren aufzureißen und ein Hallenbad einzubauen. Eine Idee, die damit vergleichbar war, einen McDonald’s im Taj Mahal unterzubringen. Oder die Decke der Sixtinischen Kapelle herauszureißen und durch Spiegel zu ersetzen.

«Sie hat bestimmt nur gescherzt», sagte Madeline, als hätten sie nicht alle reichlich Hinweise darauf, dass Tonja Kay keinerlei Humor besaß.

Kyra schüttelte den Kopf. «Nichts, was diese Frau tut, kann mich überraschen. Sie glaubt, nur weil sie ein Filmstar ist, steht ihr alles zu.»

«Das glauben sicher viele von denen», sagte Maddie. «Aber bestimmt gibt es dadraußen auch weniger anspruchsvolle Promis. Das ist wahrscheinlich wie mit diesen Teenagern, die kleinen alten Damen über die Straße helfen oder ehrenamtlich in Suppenküchen arbeiten. Über die schreibt auch keiner. Vandalismus und schlechtes Benehmen ergeben einfach die besseren Geschichten.»

«Mhm.» Kyra klang skeptisch. Aber sie war ja auch auf Tonja Kays Veranlassung hin von ihrem ersten Filmdreh gefeuert worden. Und Alles Neu wäre beinahe eingestellt worden, als Kyra sich weigerte, Dustin den beiden Filmstars für ihren Deranian-Kay-Kinderzoo zu überlassen.

«Sah alles … ordentlich aus?», fragte Maddie. Auch sie schmerzte der Gedanke an Bella Flora.

«Überall gab es Schilder, auf denen ‹Betreten verboten› stand. Und ich glaube, sie haben sogar ein Sicherheitssystem installiert. Aber man kann so ein großes Gelände nicht schützen, ohne den Ausblick zu verbauen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Tonja Kay vor einen 150-Grad-Blick aufs Meer eine Mauer hochzieht», antwortete Avery. «Übrigens gab es keine Anzeichen, dass jemand eingezogen wäre.»

«Dann haben sie … nichts verändert?», fragte Maddie.

«Nichts, was ich von außen sehen konnte», antwortete Avery.

«Und zwar nicht, weil sie sich etwa nicht bemüht hätte, etwas zu sehen», warf Chase ein. «Im Gegenteil. Sie hat ihr Gesicht dermaßen an die Scheiben gepresst, dass Avery längst in Untersuchungshaft säße, könnte man ihre Nasenabdrücke sicherstellen.»

«Also, wenn sie mehr als eine oder zwei Wandfarben ändert, bekommt sie es mit mir zu tun», sagte Deirdre.

«Vielleicht könnten wir uns ja mal reinschleichen und uns alles anschauen, damit wir Bescheid wissen», schlug Kyra vor.

«Ich weiß, dass du nicht eben vorgeschlagen hast, wir sollten einbrechen», sagte ihre Mutter. «Das Letzte, was wir brauchen, ist, dass uns die Polizei oder Kyras Papparazzi dabei erwischen.»

«Machst du Witze? Lisa Hogan würde bei einem solchen Presserummel ein feuchtes Höschen kriegen», meinte Deirdre.

«Vielleicht kann Nicole ja Joe dazu bringen, uns zu helfen.» Kyra blickte angriffslustig in die Runde.

Nicole Grant war mit Joe Giraldi in Miami geblieben, dem FBI-Agenten, der vor über einem Jahr versucht hatte, sie für seine Suche nach ihrem Bruder zu instrumentalisieren, dem Verbrecher Malcolm Dyer mit seinem Finanzschneeballsystem.

Avery hob den Kopf. «Joe ist ein Profi. Er kommt bestimmt rein und auch wieder raus, ohne Spuren zu hinterlassen. Sie würden nie erfahren, wer es gewesen ist.»

«Ja, ich bin sicher, es gibt eine riesige Auswahl möglicher Verdächtiger», sagte Chase trocken. «Hunderte von Menschen würden in Bella Flora einbrechen, um Vergeltung zu üben.»

«Wir könnten einfach das Wasser aus dem Pool ablassen. Oder Rasierschaum reinkippen», sagte Kyra und wischte Dustin das Gesicht und die Finger ab. «Oder Klopapier und Kondome an die Palme im Hinterhof hängen.» Ihre Augen waren vor Boshaftigkeit ganz groß geworden.

Maddie sah sie an. «Wir haben Bella Flora zu neuem Leben verholfen – und sie uns. Wir werden nicht einmal symbolisch einen Finger krumm machen, um ihr zu schaden. Ich glaube, nicht einmal Tonja Kay ist so engherzig, Schindluder mit ihr zu treiben.»

Avery widersprach nicht. Sie wussten alle, dass für Maddie beinahe jedes Glas noch halbvoll war. Als Deirdre Applaus bekam für das von ihr zubereitete Essen, biss sie die Zähne zusammen, und es gelang ihr, auch dazu zu schweigen. Leicht war es nicht.

Zusammen räumten sie den Tisch ab und kümmerten sich um das Geschirr. Dann verabschiedete sich einer nach dem anderen, um zu packen oder schlafen zu gehen. Ein Blick aus dem Fenster neben der Haustür bestätigte ihnen, dass Nigel und die anderen Fotografen für diesen Abend aufgegeben hatten. Mit etwas Glück würden sie morgen früh genug unterwegs sein, bevor die Meute zurückkehrte.

Chase begleitete Avery nach draußen bis zu der Treppe, die zur Garagenwohnung hinaufführte. Der Nachthimmel war voller Sterne. «Ich werde dich vermissen», sagte er. «Bei Dads Zustand weiß ich nicht, wann ich es schaffen werde, nach Miami zu kommen.»

«Ich weiß.» So war es eben, wenn man sich mit einem alleinerziehenden Vater einließ, der gleichzeitig ein verantwortungsbewusster Sohn war und ein eigenes Unternehmen führte. Sie war von Hochachtung erfüllt, weil er so viele Bälle gleichzeitig in der Luft hielt, musste aber stets befürchten, selbst zu dem einen Ball zu werden, der zu viel war, sobald sie sich aus seinem Einflussbereich entfernte.

«Wir können skypen», sagte Chase. «Und na ja, du weißt, wenn du einen Rat brauchst, kann ich …»

«Ich habe jetzt meine eigene Unternehmerlizenz für Florida», erinnerte sie ihn und versuchte, die Unterhaltung vom Privaten aufs Berufliche zu lenken. «Vielleicht bespreche ich das eine oder andere kurz mit dir. Aber es ist von entscheidender Wichtigkeit, dass der Sender begreift, wer Alles Neu leitet.» Dieses Mal hatte Avery nicht vor, sich unter sackartigen Klamotten zu verstecken. Aber sie würde dem Sender auch keine Gelegenheit geben, sie wie einen Hohlkopf darzustellen.

«Es ist keine Schwäche, eine zweite Meinung einzuholen oder einen Gebäudeplan zu besprechen. Unsere Väter haben das jahrelang getan», entgegnete Chase.

«Das liegt daran, dass keiner von ihnen knapp über 1,50 Meter misst, blond und blauäugig ist oder Körbchen in Größe D trägt. Es gibt eine große Anzahl von Leuten, einschließlich Lisa Hogan, die nur das sehen können.»

«Das sind Idioten», sagte Chase. «Dein Gesicht und dein Körper sind ein Teil von dir. Und ein sehr attraktiver Teil.» Er legte seine Arme um sie, umfasste ihre Pobacken und zog sie an sich. «Es ist schwer, diesen Teil nicht zu bewundern.»

Ein paar Augenblicke lang erlaubte sie sich, sich ihm hinzugeben.

«Woran denkst du?», flüsterte Chase.

«An Deirdre», sagte Avery, obwohl das nur teilweise stimmte.

«Ernsthaft?», fragte er.

«Mhm. Ich denke daran, was sie morgen früh alles versuchen wird, in den Mini Cooper zu stopfen. Und wie sie sich letztes Mal den ganzen Weg nach South Beach darüber beschwert hat, dass der Wind ihr Haar verwuschelte, weil ich das Verdeck unten hatte. Die Fahrt bis zu diesem Meilenstein morgen ist sogar noch deutlich länger.»

«Wenn es das ist, woran du denkst, muss ich mir entschieden mehr Mühe geben.» Er beugte sich herunter und küsste sie mit übertriebener Gründlichkeit und Klangeffekten. «Und woran denkst du jetzt?»

«Ich denke, dass Deirdre vielleicht den Fußraum im Kleinbus vorzieht. Es ist bestimmt noch Platz für sie bei Maddie und Kyra und Dustin.»

Er schüttelte den Kopf. «Aber dann wird sie all die Wärme und den Charme verpassen, mit denen du sie so gern einhüllst.»

«Ein Mädchen darf doch noch Träume haben, oder nicht?»

Chase lachte, dann vergrub er sein Gesicht an ihrem Nacken. Sein Atem war warm auf ihrer Haut. «Natürlich darf sie das», sagte er, und seine Lippen fuhren ihren Hals hinauf. «Solange ich wenigstens in ein paar von ihren Träumen vorkomme.»

Nicole Grants Träume ähnelten in dieser Nacht eher Albträumen. Was erstaunlich war, wenn man bedachte, wie schön der vorangegangene Abend gewesen war. Sie und Joe hatten auf der Terrasse am Pool mit Blick über die Bucht von Biscayne zu Abend gegessen. Die Lichter von South Beach hatten aus der Entfernung herübergeglitzert. Sie hatten sich geliebt, und danach war sie in seinen Armen eingeschlafen, zufrieden damit, dass Joe Giraldi sie nach knapp einem gemeinsamen Jahr immer noch glücklich machen und überraschen konnte.

Keines dieser angenehmen Dinge hatte das auslöschen können, was anscheinend im Bates Motel ihres Unterbewusstseins lauerte. Der Traum dieser Nacht begann, wie so oft, damit, dass sie im Panzer eines Vintage-Valentino-Kleids oder eines Klassikers von Chanel eine Promi-Party betrat. Während sie ein teures Restaurant oder ein Wohnzimmer von der Größe eines Fußballfelds durchschritt, nickte sie hoheitsvoll oder lächelte warmherzig Menschen an, die für die Klatschspalten oder die Seiten von Variety lebten. Mit zusammengezogenen Schulterblättern und hocherhobenem Kopf ging sie in großen Schritten zwischen den mit Schmuck behängten Damen und den Männern in teuren Anzügen hindurch. Dabei ignorierte sie das Rauschen des Blutes in ihren Adern, ihren zu schnellen Herzschlag, das gähnende Loch der Unsicherheit in ihrem Magen. Die Leute zahlten einem kein Vermögen, damit man ihnen einen Partner suchte oder auch nur ein Date arrangierte, wenn man so aussah und sich auch so benahm, als brauchte man Geld.

Jahrelang war sie mit der fiktiven Vergangenheit, die sie sich zurechtgelegt hatte, und ihrer geheimnisvollen Aura gut durchgekommen. Als Gründerin und Besitzerin von Heart Inc. hatte sie Verbindungen zustande gebracht, die dem König fremd finanzierter Unternehmensübernahmen Tränen des Neids in die Augen getrieben hätten. Sie besaß lange Listen mit allen gewünschten Persönlichkeitsattributen inklusive DNA und IQ bis Körbchengröße. Listen, die einem Genetiker mit Nobelpreis Ehre gemacht hätten.

Zu ihren Kunden gehörten griechische Lebensmittel-Tycoons jenseits ihrer Blüte, die nichts als junges festes Fleisch wollten. Großindustrielle, die nach einer klugen, aber nicht zu klugen Blondine, Brünetten oder Rothaarigen suchten, die die fein abgestimmte Mischung von körperlichen Eigenschaften, Wesenszügen und anderen immateriellen Gütern mitbrachten, wie Nicole sie gewissenhaft katalogisiert hatte und zu liefern in der Lage gewesen war.

Damit hatte sie sich einen Namen und ein Vermögen aufgebaut. Beides hatte sie verloren, als das Finanzsystem ihres Bruders krachend in sich zusammenfiel und sie plötzlich von den Gästelisten der Promi-Partys gepflückt wurde wie eine Laus aus dem Pelz eines reinrassigen Pudels.

Der nächtliche Albtraum spiegelte ihr echtes Leben. Die Blicke der Partygäste hatten sich tatsächlich von leutselig zu wissend verwandelt. Ihre Worte klangen zunehmend spitz. Augenbrauen wurden nach oben gezogen, die Augen darunter zusammengekniffen. Und Schultern so kalt wie die Gipfel des Himalayas drehten sich von ihr weg.

Plötzlich stand sie nackt da, das Vintage-Kleid lag zerknittert auf dem Boden. Sie zitterte vor Scham, jeder Zentimeter ihres Selbst war entblößt.

Nicole wachte nackt auf, aber ihr war nicht kalt. Eine sanfte Brise strich über sie. Langsam öffnete sie die Augen und sah, wie die transparenten Schlafzimmervorhänge sich leicht im Wind bauschten wie Segel, die von warmer Luft und Morgensonne gefüllt sind.

Das Aufheulen eines Jetskis und das anhaltende Brummen eines Bootsmotors wurden von einer salzigen Brise hereingetragen. Sie wollte nicht aufstehen. Oder ihre Sachen ins Auto packen, um auf die Keys zu fahren.

Sie hätte tatsächlich für immer hierbleiben können. In Joe Giraldis Bett.

Bei diesem Gedanken flogen ihre Augenlider auf, und ihre Füße berührten den Boden. Sie fand ihren Bademantel, zog ihn an, wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne und achtete darauf, nicht allzu genau in den Spiegel zu sehen. Sie wollte keinen einzigen Funken Bedürftigkeit zurückgeworfen bekommen.

Es ging nicht an, dass sie zu viel Nähe zuließ oder es sich zu gemütlich machte.

Auf der Pool-Terrasse ertönte ein metallisches Schaben. Nikki steckte den Kopf aus dem Fenster.

Special Agent Joe Giraldi saß an dem Tisch, an dem sie gestern zu Abend gegessen hatten. Sein dunkles Haar war noch nass vom Duschen, aber er trug bereits ein frisches weißes Hemd, dessen Ärmel über den gebräunten Unterarmen aufgerollt war. Eine Krawatte, die sie für ihn gekauft hatte, war um seinen Hals geknotet. Eine vom FBI ausgegebene Sonnenbrille bedeckte seine braunen Augen.

Sie sah ihr eigenes Bild im Spiegelglas seiner Brille, als sie auf ihn zuging.

«Guten Morgen.» Er lächelte sie an, während sie sich setzte und ihre nackten Beine unter sich zog. Ohne zu fragen, schenkte er ihr eine Tasse Kaffee ein.

«Ich dachte, du wärst schon weg», sagte sie. Er war Profiler für Finanzvergehen und oft auf Reisen. «Sollte dein Flug nicht früh gehen?»

«Ich nehme einen späteren.»

Sie trank ihren Kaffee und hielt die Augen auf die Bucht gerichtet, während sie seinen durchdringenden Blick hinter der verspiegelten Brille spürte.

«Dachtest du wirklich, ich würde abreisen, ohne mich zu verabschieden?», fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern und nahm einen weiteren Schluck. «Ich hätte Verständnis dafür.»

Er schüttelte den Kopf. «Ich glaube, du verstehst nicht halb so viel, wie du denkst.» Er sagte das ruhig und in einem solch sachlichen Ton, dass es schwerfiel, seine Aussage zu bestreiten.

Sie betrachtete sein Gesicht, das so stark und männlich war wie der Rest von ihm. Der vergangene Herbst und der darauffolgende Winter waren angenehm verschwommen vorübergezogen, durchsetzt mit Einsprengseln unvermeidlicher Realität. Heart Inc. war so gut wie tot, und ihre Wiederbelebungsversuche waren bislang erfolglos verlaufen. Man hatte ihr einen Buchvertrag angeboten, aber sie war sich nicht sicher, ob das angebotene Honorar ausreichen würde, um vor aller Welt einzugestehen, wie unglaublich dumm sie gewesen war und wie gründlich sie von dem Menschen betrogen worden war, den sie mehr geliebt hatte als jeden anderen.

Vor Joe lag der Miami Herald. Er drehte ihn in ihre Richtung, damit sie die Seite sehen konnte, die er sich gerade angeschaut hatte. Auf dem Titelblatt prangte ein großes Foto von Kyra Singer und ihrer Mutter Maddie, Dustin Deranian und Avery Lawford, die in einem Hauseingang standen. Die Textzeile darunter führte aus, dass es sich um das Haus von Chase Hardin handelte. Dustins Gesicht war über die Schulter seiner Mutter hinweg zu sehen. Der Fotograf hatte ein scharfes Foto von Avery Lawford in einem Fetzen von T-Shirt geschossen, das um die Brust spannte. Dazu trug sie abgeschnittene Shorts, die enthüllten, wie kurvig sogar ein paar kurze Beine sein konnten. Der obligatorische Werkzeuggürtel saß tief auf ihrer Hüfte.

Nicole zog die Zeitung näher zu sich heran. «Oh Gott. Deirdre wird Avery wieder mal einen Vortrag halten, weil sie sich in dieser Aufmachung hat erwischen lassen. Und Avery wird stur bleiben, aber trotzdem entsetzt sein.» Nicole selbst verließ selten ohne sorgfältiges Make-up das Haus, es war ihre Version eines Schutzpanzers. Aber kein Mädchen, das bei einer Hausrenovierung in den Tropen Böden polierte und sich totschwitze, war in der Verfassung für eine Nahaufnahme.

«Ihr solltet euch allmählich daran gewöhnen, dass jeder, der neben Kyra und ihrem Sohn steht, Freiwild ist», sagte Joe.

Sie nippte schweigend an ihrem Kaffee. Der Mann verdiente sein Geld damit, Kriminellen die Wahrheit zu entlocken. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass er jeden ihrer Gedanken besser lesen konnte als sie selbst.

«Irgendwelche Nachrichten, mit was für einem Haus oder mit welcher Sorte von Berühmtheit ihr es zu tun bekommt?», fragte er jetzt.

«Nein.» Sie legte die Zeitung beiseite. Eigentlich musste sie sich anziehen und das Auto packen, doch sie blieb sitzen, wo sie war. «Nur die Anweisung, dass wir um vier Uhr nachmittags in den Upper Keys sein müssen und dort kontaktiert werden. Niemand kann sagen, wo wir tatsächlich landen. Oder wie berühmt der Hausbesitzer wirklich ist.»

«Ich könnte vermutlich helfen, das einzukreisen. Eine Liste potenzieller Kandidaten erstellen, weißt du?»

Sie konnte sich gut vorstellen, dass er das bereits getan hatte, doch er hatte gelernt, nichts anzubieten, worum er nicht gebeten worden war. Das war der Teil an der Beziehung mit einem FBI-Agenten, der gleichzeitig gut und schlecht war. Er konnte alles für sie herausfinden – aber er war auch nur sehr schwer zu belügen.

«Danke. Aber ich will dem Sender nicht die Money Shots mit unseren überraschten Gesichtern rauben. Schließlich bezahlen sie uns dafür.»

Ihr Lächeln wirkte verkrampft. Der Himmel wusste, dass sie viel zu schlecht bezahlt wurden angesichts all der Peinlichkeiten, denen sie ausgesetzt waren, und angesichts der Tatsache, dass sie die Stars einer Serie waren, die gegen ihren Willen in eine Reality-Show verwandelt worden war. Keine von ihnen konnte es sich jedoch leisten, dem Sender den Rücken zu drehen. Im Gegenteil, sie mussten alles tun, damit die Serie in eine zweite Staffel ging.

«Ich komme runter, sobald ich kann.» Joe beugte sich vor und küsste sie. «Und ich hoffe, dass du herkommst, wann immer du eine Pause hast.»

«Danke.» Sie standen auf und trugen das Geschirr ins Haus. Nikki begleitete Joe zur Tür, wo er nach seiner Reisetasche griff und sich umdrehte, um sie zum Abschied noch einmal zu küssen.

«Bis bald.» Er betrachtete ihr Gesicht, aber sie hatte keine Ahnung, wonach er suchte und ob er es fand.

Nicole ließ sich Zeit beim Packen, trödelte mit ihrem Mittagessen und lud ihre Sachen dann in den Jaguar, der so ungefähr alles war, was von ihrem früheren Leben übrig war.

Später, als sie aus Giraldis Auffahrt zurücksetzte und in Richtung Highway fuhr, versuchte sie, nicht an all das zu denken, was unausgesprochen geblieben war.

Ihrer Erfahrung nach war es besser, zu wenig zu sagen als zu viel. Und definitiv besser, nichts zu sagen als das Falsche.

3

Sie verließen Tampa praktisch auf Zehenspitzen, bevor die Paparazzi wiederkamen. Dustin, der in der Nacht viel zu oft aufgewacht war, schlief noch halb, als sie ihn in seinen Autositz schnallten, und Kyra wünschte sich, es ihm gleichtun zu können. Maddie kletterte mit einem Styroporbecher voll Kaffee auf den Fahrersitz, nahm einen Schluck und startete den Motor des Kleinbusses. «Und weg sind wir!», sagte sie viel zu fröhlich, als sie sich hinter Averys prallgefülltem Mini Cooper und den beiden hineingezwängten Frauen darin in Bewegung setzte.

Kyra gähnte und lehnte den Kopf an das Seitenfenster, während sie sich durch den morgendlichen Verkehr schlängelten und sich dann nach Osten in Richtung Interstate 95 hielten.

«Was für ein prächtiger Tag!» Jede Äußerung von Maddie war so angefüllt mit guter Laune, dass sie nach einem Ausrufezeichen verlangte. «Ich kann es nicht erwarten, die Keys zu sehen! Die Reiseführer, die ich gekauft habe, liegen alle auf dem Rücksitz, falls du dich dafür interessierst. Ich hielt es für eine gute Idee, mir Wissen über alle Keys anzulesen, damit ich auf die Insel vorbereitet bin, auf der wir dann landen.»

Kyra blinzelte verschlafen. Gähnte. Sie war noch sehr weit davon entfernt, den Tag in Angriff zu nehmen, den ihre Mutter bereits so freudig willkommen hieß. Und das lag nicht nur daran, dass Dustin die Nacht über unruhig gewesen war. Maddies Laune hatte sich mit jeder Meile, die sie zwischen sich und Atlanta gebracht hatte, verbessert. Kyra war schon klar, dass ihr Vater es in großem Stil vermasselt hatte, trotzdem war es verstörend zu sehen, wie sehr die Nähe zu ihrem Vater und dem Leben, das sie gelebt hatten, ihre Mutter niederdrückte. Und wie sehr sie sich auf die Herausforderungen zu freuen schien, die vor ihnen lagen.

Maddie schaltete das Radio an und begann mitzusummen. Bevor Kyra die Augen zufielen, schoss ihr noch der Gedanke durch den Kopf, dass Maddie, falls sich ihre Laune noch weiter verbesserte, bei ihrer Ankunft in Miami über dem Kleinbus schweben würde, anstatt darin zu sitzen.

Als sie Stunden später erwachte, summte ihre Mutter noch immer. Dustin wimmerte im Schlaf. Seine langen Wimpern klimperten, die Augen öffneten sich, und sein Gesicht verzog sich. Er begann zu weinen.

«Ach du Schreck!», sagte Kyra. «Tun dir noch immer die Zähne weh, kleiner Mann?»

Dustin steckte sich den Daumen in den Mund und begann heftig daran zu nuckeln.

«Halt durch, Dustin. Rettung naht.» Sie zog den Rucksack, der als Wickeltasche diente und alles enthielt, was Dustin brauchte, auf ihren Schoß und wühlte darin herum, bis sie den Beißring fand. «Da, schau mal.» Sie reichte ihrem Sohn den Ring und sah zu, wie er ihn sich in den Mund steckte und darauf herumzukauen begann. «Möchtest du ein Buch lesen?» Er nickte eifrig, und sie zog ein Bilderbuch über Boote heraus, welches Chase ihm geschenkt hatte.

«Boog!», sagte Dustin mit dem noppigen Gummiring im Mund.

Als er versorgt war, blickte Kyra sich um. «Wo sind wir?»

«Wir sind auf der Mautstraße nach Süden.» Madeleine lächelte. «Dem Navi zufolge müssen wir nur geradeaus fahren, bis wir auf den Highway 1 kommen. Wusstest du, dass dieser Highway am nördlichen Zipfel von Maine beginnt und bis ganz hinunter zum Monroe County Court House auf Key West führt? Das ist der Meilenstein null. Der südlichste Zipfel des Festlands der Vereinigten Staaten.»

«Cool.» Kyra war sich bewusst, dass sie sich darüber freuen sollte, dass ihre Mutter so glücklich klang. Aber Maddies Zukunftseifer war noch verstörender, als ihren Vater zusammen mit seiner neuen Freundin Kelly zu sehen. Und das war wirklich extrem peinlich gewesen.

«Was ist mit Avery und Deirdre passiert?», fragte sie, als sie den Mini Cooper nirgends erblickte.

«Sie sind vor ein paar Ausfahrten rausgefahren, um zu tanken. Da es ja eine recht einfache Strecke ist, haben wir beschlossen, nicht um jeden Preis Kolonne zu fahren.»

Kyra gähnte. Ihr Magen knurrte. Der Beißring fiel aus Dustins Mund, und er begann zu strampeln. «Können wir bald anhalten? Ich glaube, es wird Zeit für eine neue Windel. Und ich hätte auch nichts gegen was zu essen.»

«Klingt gut», sagte Maddie. «Ich kann auf alle Fälle eine Pause gebrauchen. Und wir sollten vermutlich auch noch mal tanken.»

«Danach fahre ich», bot Kyra an und gähnte, wie sie hoffte, zum letzten Mal. «Ich muss nur erst Benzin und Koffein in meinen eigenen Tank füllen.»

Sobald sie Sitzplätze getauscht hatten, nahm ihre Mutter ihre, wie sich herausstellte, umfassende Sammlung von Reiseführern vom Rücksitz, ordnete sie auf ihrem Schoß und begann in einem erschreckenden Tempo mit Fakten über die Florida Keys um sich zu werfen. Dustin beteiligte sich zu gleichen Teilen an dem Brabbeln und Zeigen, als sie an Homestead vorbeifuhren und die Everglades umrundeten. Sie waren in zähfließenden Verkehr geraten, der nur Zentimeter für Zentimeter nach Süden vorrückte. Aber jedes Detail über die Keys und ihre Geschichte, das ihre Mutter weitergab, war mit so viel Aufregung garniert, dass sie Kyra damit bald auf die Nerven ging.

«Hier steht, dass ‹Keys› von dem spanischen Wort ‹cayos› kommt, das bedeutet so viel wie ‹kleine Inseln›», erklärte Maddie gerade. «Sie bestehen aus Korallen und Kalkgestein, und es gibt zweiundvierzig Brücken, die sie miteinander verbinden. Genau genommen wurde der Overseas Highway auf den Fundamenten von Henry Flaglers Overseas Railroad gebaut. Die Bahn hat die Keys als Erste mit dem Festland der Vereinigten Staaten verbunden.»

Kyra lächelte und nickte. Eine Antwort schien nicht erforderlich.

«Au, sieh mal!» Kaum zwei Minuten später zeigte Maddie auf ein Schild. «Wir haben gerade die Grenze zur Conch Republic überquert. Das ‹ch› spricht man wie ein ‹k›, es klingt also wie ‹Konk›.»

«Kank!», sagte Dustin.

Es folgte die Geschichte, wie die Keys sich im April 1982 von den USA abgespalten hatten, um gegen die Straßensperrungen der U.S. Border Patrol und die Durchsuchung von Fahrzeugen nach Drogen und illegalen Ausländern zu protestieren, die auch den Tourismus beeinträchtigten. «Und dann haben sie den USA