Ein Sommer in Berlin - Beate Vera - E-Book

Ein Sommer in Berlin E-Book

Beate Vera

4,8

Beschreibung

Caterina „Trine“ Hecht ist verzweifelt: Kurz nach ihrem vierzigsten Geburtstag verlässt sie ihr Mann wegen seiner Marketingchefin, verkauft das mondäne Eigenheim in Kleinmachnow und reicht die Scheidung ein. Die Hausfrau und Mutter erwacht erst aus ihrer Schockstarre, als ihr Mann auch noch droht, das Sorgerecht für die drei gemeinsamen Kinder einzuklagen. Erbost beschließt sie, ihr Leben umzukrempeln und es von nun an selbst in die Hand zu nehmen. Die Berlinerin muss viele Schwierigkeiten meistern, bis sie sich den langersehnten Traum erfüllen kann, ein französisches Buchbistro in Zehlendorf zu eröffnen. Unterdessen sorgen die Wiederbegegnung mit einer alten Liebe sowie ein ereignisreiches Klassentreffen für eine emotionale Achterbahnfahrt … Nach ihren vielgelobten „Provinzkrimis aus Berlin“ erzählt Beate Vera auf leichte und lockere Art, mit viel Ironie und Einfühlungsvermögen die Geschichte einer Frau, die sich selbst zu vertrauen lernt und ganz nebenbei das Glück findet.

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Beate Vera

Ein Sommer in Berlin

Roman

Jaron Verlag

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitate

Ein französisches Sprichwort besagt: Die Liebe besteht...

An jenem Tag, der meinem Leben eine unerwartete...

Mit der neuen Wohnung hatten wir unglaublichen...

Ein kurzer Schultag. Mathe und Chemie waren bei...

Caterina Thomas.«...

Der Brief! Beinahe hätte ich ihn erfolgreich verdrängt....

Es war nach Mitternacht, und ich fand keine Ruhe. An...

La Mer …«, dudelte es laut aus Paps’ alter Stereoanlage....

Die Kinder waren gut in den brandenburgischen...

Am Sonnabend ging ich früh einkaufen und verbrach-...

Wie jeden Morgen wachte ich auch am Sonntag um...

Hanno stellte unmittelbar nach diesem Vorfall sämt-...

Astrid sah am Abend trotz eines langen Arbeitstags in...

Frau Hecht, so geht das nicht!«...

Grundschulsommerfest mit grantigen Lehrern, die...

Lass mich nicht so lang allein;) Wann sehen wir uns...

Chris Gruber hatte sich tatsächlich von einer kleinen...

Die Antwort an Quinn würde warten müssen. Mi-...

Am darauffolgenden Vormittag wurde ich gegen elf...

Eine Hitzewelle rollte in den folgenden Tagen über...

Das Wochenende. 35 Grad am Samstag, für die Nacht...

Ich hatte den Sonntag über sehr viel nachzudenken....

Voller Tatendrang startete ich am Montag in die neue...

Am Ende dieses Tages saßen die Kinder und ich beim...

Am darauffolgenden Freitagmorgen löste ich das Ver-...

Um kurz nach sechs Uhr stand Franziska vor mir....

Die Kinder waren unterwegs. Helene war mit Jake am...

Als hätte er einen siebenten Sinn, schickte mir Mi-...

Sie müssen sich das so vorstellen: Ein Sommerabend,...

Wie geht es ihm?«...

Nachdem Astrid und ihre Kinder sich verabschiedet...

Die folgenden Tage vergingen wie im Flug. Ich hatte...

Vor dem Haus stand ein sehr großer, sehr gut aus-...

Der Gerichtstermin fand in der dritten Augustwoche...

Richterin Happrecht erteilte Stefan Starke das Wort....

Auf dem Flur waren die Absätze von Pumps zu hören....

Als die Vorspeisen auf dem Tisch standen, tauchte...

Nachdem ich an dem Abend, an dem unser aller Le-...

Ich muss Sie enttäuschen! Wie unglaublich großartig,...

Das Gericht hatte schnell entschieden angesichts der...

Ebenfalls im Jaron Verlag erschienen

Originalausgabe

1. Auflage 2015

© 2015 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin.

Foto: © plainpicture/​Ingrid Michel

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-95552-216-2

Für all die tollen Frauen,

deren Träume platzten

und die etwas Besseres daraus gemacht haben,

und für Jutta L., die weiß, warum

Carpe diem!

Denken Sie nur an all diese Frauen auf der Titanic,

die, als der Dessertwagen vor ihnen stand,

abgewunken haben.

Erma Bombeck

Man kann lieben, ohne glücklich zu sein,

und man kann glücklich sein, ohne zu lieben.

Aber lieben und dabei glücklich sein,

das wäre ein Wunder.

Honoré de Balzac

Ein französisches Sprichwort besagt: Die Liebe besteht aus Dummheiten und Vernunft. Nach dieser Maxime war ich bis dato eine mächtig dusselige Kuh.

»Bis dato« umfasste in erster Linie die vergangenen fünfzehn Jahre, die ich mit Hanno verbracht habe. Hanno Hecht war groß, gut aussehend, hatte stets ein gewinnendes Lächeln aufgesetzt und immer einen guten Spruch auf den Lippen. Hanno war zwölf Jahre älter als ich. Er hatte früh »mit Literatur Karriere gemacht«, wie er seinen Lebensweg beschrieb – gefragt oder ungefragt. Während seines Germanistikstudiums in den frühen achtziger Jahren hatte Hanno mit dem Verfassen von Arztromanen begonnen. Die waren so gut gelaufen, dass er damit seinen Lebensunterhalt hatte bestreiten wollen. Hanno wechselte dann zu BWL und machte 1986 seinen Abschluss mit summa cum laude. Direkt im Anschluss daran gründete er mit einem Startkapital, das er seinen Eltern verdankte, einen eigenen Verlag, die Mediola Verlags GmbH. Anfang der Neunziger konzipierte er eine überaus erfolgreiche Heftreihe mit dem Titel Der Vollmondrächer – Geschichten um einen Mann Ende vierzig, der sich des Nachts in einen Werwolf verwandelt und Verbrechen und Unrecht bekämpft. Die Serie um den äußerlich unscheinbaren Buchhalter, der im Mondschein zum jugendlich-virilen Kämpfer für Gerechtigkeit wird und dabei sämtliche Frauenherzen erobert, brach alle deutschen Verkaufsrekorde und wurde auch international erfolgreich. Hannos Eltern bekamen ihr Darlehen mit einer ordentlichen Rendite zurück. Noch rund 25 Jahre später war die Mediola unangefochtener Marktführer im Segment Romanheft.

Hanno Hecht haute mich buchstäblich um, als wir uns das erste Mal begegneten. Ich wollte mich gerade in der Schöneberger Buchhandlung, in der ich damals arbeitete, vor dem Regal Fremdsprachliche Titel nach dem Band La Poursuite du bonheur bücken, einem frühen Werk von Michel Houellebecq, als Hanno fast in mich hineinlief. Im Fallen riss ich das installationsartige Buchdisplay von Günter Grass’ neuem Bestseller Mein Jahrhundert um und fand mich, hingestreckt wie ein hilfloser Käfer, in einem Stapel Bücher wieder. Hanno lachte lauthals, bevor er mir betont galant wieder aufhalf. »Aber, aber, meine Liebe, ich habe wohl einen umwerfenden Effekt auf Sie …«

Als er mich anstrahlte, war es schon um mich geschehen – viele Jahre lang glaubte ich fortan an die Liebe auf den ersten Blick. Dass selbiger damals stark getrübt war, war mir leider nicht klar. Mal Hand aufs eigene Herz: Haben Sie etwa noch nie Ihr Lenor-Gewissen ignoriert? Hanno lud mich am selben Abend zum Essen ein und erzählte mir alles von sich. Seine Selbstsicherheit, seine gewandten Umgangsformen, sein teurer Maßanzug und seine Erfolgsgeschichte beeindruckten mich sehr.

Ich war 25 und hatte bis zu jenem Zeitpunkt drei Liebhaber gehabt. Christoph war der erste. Ich war furchtbar jung und furchtbar verliebt. Er trat nach dem Abitur ein Studium in Göttingen an und erledigte diese große Liebe furchtbar schnell. Während meiner Ausbildung zur Buchhändlerin verliebte ich mich dann in Rainer. Rainer war sehr rücksichtsvoll – so rücksichtsvoll, dass es sechs Monate dauerte, bis ich herausfand, dass er auch Verhältnisse mit der Schwester eines Ausbildungskollegen und deren bester Freundin hatte. Kein Wunder, dass ich ihn eher selten zu Gesicht bekommen hatte.

Die folgenden zwei Jahre lang konzentrierte ich mich auf meine Ausbildung und machte einen sehr ordentlichen Abschluss. Es folgten ein Jahr im Ausland und der Beginn eines Studiums der französischen Sprache. Im Laufe des zweiten Semesters änderte ich meine Meinung und trat kurz darauf den Job in Quinns Buchhandlung an. Mein Chef und ich wurden kaum acht Wochen, nachdem er mich eingestellt hatte, ein Paar.

Quinn, eigentlich Quintus Hartmann, als fünftes und letztes Kind seiner promovierten Eltern an einem 5. Mai geboren, war ein echter Bücherwurm. Wir hatten ein paar schöne Jahre, in denen wir viele schöne Bücher lasen, viele schöne Dinge unternahmen und viele schöne Orte sahen. Dann wollte ich mehr. Ich wollte einen Ehemann. Ich wollte Kinder. Quinn wollte das nicht, und die Beziehung fand ein Ende. Unser Arbeitsverhältnis blieb davon nicht unberührt, und ich hatte mich schon eine ganze Weile nach einer neuen Stelle umgesehen, als ich im Grass’schen Jahrhundert landete.

Was soll ich sagen? An dem Abend, als Hanno mich zum Essen ausführte, gingen wir ohne große Umschweife miteinander ins Bett. Hanno war ein versierter Liebhaber, der alles unter Kontrolle hatte. Das genügte mir. Lodernde Leidenschaft, da war ich mir sicher, wurde überbewertet. Ich hängte meinen Job in Quinns Laden an den Nagel. Hanno und ich waren sechs Monate später verheiratet, und es folgten viele Jahre, in denen ich mich glücklich wähnte. 2001 bekamen wir Helene, knapp drei Jahre danach kam Vincent, und weitere drei Jahre später brachte ich Daniel auf die Welt. Wir hatten ein großes Haus in Kleinmachnow, in dem wir regelmäßig unsere Nachbarn, Freunde und Hannos Geschäftspartner bewirteten. Meine Tage waren damit ausgefüllt, drei Kinder und den Haushalt zu organisieren, mich um den Garten zu kümmern, Abendessen mit Gästen auszurichten und unsere Urlaube vorzubereiten. Ich stand jeden Morgen um fünf Uhr dreißig auf – Frühstücksbrote für Kita und Schule schmierten sich nicht alleine. Die Vormittage verbrachte ich mit Hausarbeit sowie Einkauf und Planung der Abendessen. Dann holte ich die Kinder ab, fuhr sie zu Sport, Musik und Freunden oder sorgte für ein vernünftiges Rahmenprogramm bei uns daheim für die Zeit bis zum Abend. Wenn die Kinder abends im Bett lagen und kein Dinner anstand, nähte ich kaputte Kinderkleidung, backte Kuchen, Muffins oder Kekse, bereitete das Mittagessen für den nächsten Tag vor und kümmerte mich um die Bügelwäsche. Um Mitternacht, meist sogar weitaus später, fiel ich regelmäßig erschöpft ins Bett.

Sporadisch kehrte unsere Nachbarin Franziska auf einen Kaffee oder ein Glas Sekt ein, wenn sie am frühen Nachmittag aus dem Büro kam. Sie wohnte drei Häuser weiter und hatte einen Sohn, der drei Jahre älter als Helene war und eine internationale Ganztagskita und später die Ganztagsschule besuchte, der sie angegliedert war. Franziska war ständig im Stress. Ein Halbtagsjob, das Haus, Kosmetik und vier Sportkurse in der Woche nahmen ihre ganze Zeit in Anspruch. Ich beneidete sie gelegentlich um ihre Putzfrau, teilte aber Hannos Meinung, dass das nicht nötig sei bei uns, da ich ja zu Hause war.

Hanno entsprach derweil dem klassischen Vaterbild des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Leben seiner Kinder kannte er nur vom Rande her. Abends zog er sich, wenn wir keine Gäste hatten, oft in sein Arbeitszimmer zurück, und an den Wochenenden brauchte er seine Ruhe, wenn er nicht geschäftlich auf dem Golfplatz zu tun hatte. Außerdem arbeitete er an seinem Romandebüt. Der König des Kitschromans versuchte sich an echter Literatur. Rund fünf Jahre lang. Dass er nicht nur an seinem Roman arbeitete, sondern sich auch in einschlägigen Online-Kontaktforen tummelte, wenn er in seinem Arbeitszimmer verschwunden war, erfuhr ich erst viel später.

Ich hatte nichts Falsches an meinem Leben gesehen. Die Kinder waren bestens versorgt. Sie besuchten erstklassige Schulen, wir hatten ein wunderschönes Zuhause, und ich würde meine Zille-Hüften auch bald wieder unter Kontrolle bekommen, da war ich mir ganz sicher. Dass Hanno und ich nach den drei Kindern kein aufregendes Liebesleben mehr führten, schien mir wenig problematisch. Ich war eben meist zu müde, und Hanno war zu selten daheim. Es ging uns doch gut.

Dusselige Kuh! Sagte ich ja bereits.

An jenem Tag, der meinem Leben eine unerwartete Wendung gab, stand ich mit einem weiteren Schreiben von Hannos Anwalt in der Hand vor meinem Schlafzimmerspiegel, der einmal unser Schlafzimmerspiegel gewesen war. Was ich sah, war das fleischgewordene Versagen. Viel Versagen und viel Fleisch.

Der Mai neigte sich dem Ende zu und hatte seinem Ruf als Wonnemonat alle Ehre gemacht. Berlin war in sattem Grün erstrahlt, die Temperaturen hatten sich auf rund 25 Grad eingependelt, und die Aussichten standen auf heiter bis sonnig. Mir war jedoch nicht nach Sommer zumute, während ich zurückblickte, denn die vergangenen neun Monate waren trostlos und düster gewesen.

Hanno war neun Monate zuvor, im September, am Wochenende nach meinem vierzigsten Geburtstag, ausgezogen und hatte den Teppich unter meinen Füßen gleich mitgenommen. Ich hatte Dana Sroka, seine neue Marketingchefin, kennengelernt. Wie alle neuen Mitglieder seiner Führungsriege hatte er sie zum Abendessen zu uns nach Hause eingeladen. Wir verbrachten einen angeregten Abend miteinander. Dana lobte mein Essen überschwenglich und verglich es mit dem ihrer Kindheit. Ihre Eltern kamen aus Krakau und führten ein Restaurant in Charlottenburg. Ich fühlte mich geschmeichelt und fand sie sehr sympathisch. Sie bewunderte unseren Garten und die wunderschönen Rosenbeete, während sie sich ihr Chasuble aus Rohseide um die Schultern legte, weil es ein wenig zu kühl war abends. Sie war stilvoll, eloquent und begleitete ihre Ausführungen mit temperamentvollen Handbewegungen. Sie war eine wahre Augenweide.

Die polnische Sexbombe spannte mir keine drei Monate später meinen Mann aus. Getrieben hatten sie es miteinander vermutlich bereits am Nachmittag jenes Tages, an dem sie uns abends besuchte. Auf dem Mahagoni-Schreibtisch in Hannos Büro.

Hanno zog zu ihr. Während ich die Kinder in die Schule brachte, packte er die nötigsten Sachen zusammen. Meine Tränen ignorierte er bei seinem Abschied gekonnt. Im Flur drehte er sich noch einmal um und sagte beinahe beleidigt: »Trine, schau dich doch mal an! Du passt einfach nicht mehr zu mir. Du hattest doch nach Daniels Geburt genug Zeit, dich wieder auf Vordermann zu bringen. Ich werde auch nicht jünger und muss einfach mal an mich denken. Ich brauche eine junge, dynamische Partnerin an meiner Seite. Es kann dich doch wirklich nicht überraschen, dass mir Dana mehr zu bieten hat!« Die Tür bereits in der Hand, fügte er noch hinzu: »Ich lasse meine restlichen Sachen morgen abholen. Dann hast du genug Zeit, sie zusammenzupacken.«

Die Haustür fiel mit dem lautesten Geräusch von Einsamkeit ins Schloss, das man sich vorstellen kann.

Der Tag, an dem meine Welt zusammenbrach, war ein wunderbarer Spätsommertag. Die Luft war warm, die Vögel zwitscherten, und die Sonne strahlte vom Himmel. Es war ein Vormittag, der zu einem späten oder zweiten Frühstück auf der Terrasse einlud, ein Morgen wie in der perfekten Reklamewelt. Nur ich passte nicht hinein: Ich fror erbärmlich und klapperte mit den Zähnen, während ich versuchte, meinem Entsetzen über das, was gerade geschehen war, Einhalt zu gebieten. Nachdem Hanno fort war, lief ich ins Bad, um mich zu übergeben. Noch zwei Stunden später kauerte ich als Häufchen Elend zwischen Toilette und Badewanne. Ich weiß nicht mehr, wie ich es schaffte, die Kinder von ihren Schulen abzuholen, ihnen Mittagessen zu machen und sie dann zu ihren Nachmittagsaktivitäten zu bringen. Helene, meine Große, schaute mich zwar ein paar Male neugierig von der Seite an, stellte aber keine Fragen.

Sie nehmen sicher an, ich hätte Hannos Anzüge zerschnitten oder wenigstens aus dem Fenster in den Vorgarten geworfen. Da muss ich Sie enttäuschen. Ich verpackte seine Kleidung ganz ordentlich in unserem mehrteiligen Burberry-Kofferset.

Am frühen Abend klingelte es an der Tür. Ich hatte gehofft, es wäre Franziska, meine Nachbarin, der ich in meiner Verzweiflung mehrere SMS geschickt hatte, doch statt ihrer schaute mich Hannos Fahrer voller Mitgefühl an. Er überreichte mir den ersten Brief seines Chefs und griff sich Hannos Koffer, die bereits im Flur auf ihn warteten. Dann lud er sie in den Kofferraum, nickte mir kurz zu und setzte schließlich rückwärts aus der Einfahrt hinaus. Den Kindern sagte ich nichts an jenem Tag. Helene nahm die beiden umgefallenen Flaschen Rotwein vor dem Sofa am nächsten Morgen genauso wortlos zur Kenntnis wie meine rotgeweinten Augen.

In jenem ersten Schreiben ließ Hanno durch seinen Anwalt, Herrn Doktor Eberhard Wittig, ankündigen, sich kulant zeigen zu wollen, so ich vernünftig sei. »Wittig – wie witzig, nur ohne Z, dafür mit einem zweiten T«, so stellte der sich stets vor. Ich möge bitte die Sache den Kindern erklären, ohne ihren Vater in einem schlechten Licht dastehen zu lassen, las ich. Schließlich trüge ich ja die Hauptschuld am Scheitern unserer Ehe. Er erwarte die drei an jedem zweiten Wochenende in Frau Srokas Stadtwohnung in Mitte, zum ersten Mal am nächsten Wochenende. Frau Sroka freue sich schon darauf, mit den Kindern tolle Sachen zu unternehmen. Das Haus ließe er schnellstmöglich verkaufen, auf dem aktuellen Immobilienmarkt stelle das sicher kein Problem dar. Ich bekäme eine Summe zur Überbrückung. Er nähme an, dass drei Monate ausreichend für mich seien, einen Umzug zu organisieren und mir eine Arbeit zu suchen. Der Unterhalt, den er für die Kinder zu zahlen bereit sei, läge über dem Betrag, zu dem er verpflichtet sei – ein weiteres Zeichen seines Entgegenkommens. Doktor Wittig wünschte mir viel Glück auf meinem weiteren Weg und wies auf seine Kontaktdaten hin, da ich ab sofort über ihn mit Hanno zu kommunizieren hätte. Mein zukünftiger Exgatte hatte an alles gedacht.

Jenem ersten Schreiben waren weitere gefolgt, in beinahe monatlichem Rhythmus. Es ging immer um die Besuche der Kinder. Zunächst wollte er sie schon ab Donnerstag bis einschließlich Sonntag bei sich haben. Ich widersprach. Nach drei Monaten kürzte er dann den Unterhalt ganz erheblich. Ich fragte nach dem Grund. Wittig offenbarte mir daraufhin, dass sämtliche Gewinne der letzten beiden Geschäftsjahre sowie nahezu auch alle privaten Rücklagen des Herrn Hecht in die Firma geflossen seien – wegen dringend notwendiger Umstrukturierungsmaßnahmen und eines Firmenumzugs. Herr Hecht selbst bezöge nur noch ein eher bescheidenes Gehalt und sei somit nicht in der Lage, mehr zu zahlen. Hanno ließ regelmäßig die Frage stellen, wann ich endlich wieder in Lohn und Brot stünde, lieferte genaue monatliche Auflistungen von den Ausgaben, die er an »seinen« Wochenenden für die Kinder getätigt habe, und erwähnte eine Vielzahl anderer Belastungen, denen er ausgesetzt sei.

Mein Geld war knapp geworden. Die Kinder mussten auf ihre Hobbys verzichten, da Hanno sich weigerte, die Kosten dafür weiter zu tragen. Im vorletzten Schreiben hatte Doktor Wittig (wie witzig, nur ohne Witz, fand ich mittlerweile) bemängelt, Herr Hecht und Frau Sroka hätten die Kinder wieder einmal neu einkleiden müssen, da deren Kleidung verschmutzt gewesen sei, und überdies hätte Herr Hecht beim Abholen warten müssen. Daniel hatte an jenem Freitag darauf bestanden, sein Lieblingssweatshirt anzuziehen, das ich nur heimlich waschen durfte, wozu ich einige Wochen nicht gekommen war. Das sah man dem guten Stück an. Doch Daniel war nicht davon abzubringen, nur in diesem Pullover zu seinem Vater zu gehen. Und da Hanno bereits unten hupte und Siebenjährige doch ohnehin nur nach Keksen und Liebe rochen, auch wenn sie noch so lange in derselben Kleidung steckten, hatte ich Daniel seinen Willen gelassen, einen Pullover zum Wechseln in die Tasche gesteckt und die Kinder hinunter zu ihrem Vater geschickt.

Ich stand nun also mit dem aktuellen Schreiben von Hannos Anwalt vor dem Spiegel in meinem Schlafzimmer. Was dachte Hanno sich nur dabei, seinen Anwalt derartige Briefe aufsetzen zu lassen? Ich verstand sein Verhalten nicht nur mir, sondern vor allem auch den Kindern gegenüber von Woche zu Woche weniger. Er führte einen bestens organisierten Kleinkrieg gegen mich, und ich hatte nichts, um mich dagegen zur Wehr zu setzen. Ich kam mir vor wie eine Maus, die mit gebrochenen Hinterbeinen darauf wartete, dass die Katze sie endlich verschlänge. Die aber schubste das lustig zappelnde Ding nur weiter hin und her.

Seit seinem ersten Schreiben waren neun Monate vergangen. Neun dunkle, kalte, hässliche Monate, in denen ich meinen Kindern wieder und wieder erklären musste, warum ihr Vater nicht nur unser Zuhause verlassen hatte, sondern dieses Zuhause auch verkauft hatte und wir umziehen mussten. Neun schlaflose, durchweinte und verzweifelte Monate, in denen ich zu viel trank und große Angst vor der Zukunft hatte. Neun Monate, in denen ich funktionierte, damit die Geschehnisse – Trennung, Umzug, neue Schulen, Mama am Rande eines Nervenzusammenbruchs – für die Kinder möglichst wenig belastend wurden.

Den Weihnachtsabend hatte ich alleine verbringen müssen. Hanno hatte darauf bestanden, dass die Kinder das Weihnachtsfest mit ihm und Dana in Berlin-Mitte feierten. Franziska hatte ihre und die Eltern ihres Mannes bei sich und bedauerte, mich nicht dazubitten zu können, und meine Eltern waren ebenfalls furchtbar enttäuscht, den Heiligen Abend ohne ihre Enkel verbringen zu müssen, und hatten sich von Freunden in ein Restaurant einladen lassen. Ich hätte davor nicht für möglich gehalten, dass man jemanden so vermissen konnte, dass es körperlich schmerzte. Um vier öffnete ich eine Flasche Rotwein. Als Hanno die Kinder zurückbrachte, war die dritte zur Hälfte leer – und ich betrunken. Anders hätte ich diesen Tag nicht überstanden.

Die Kinder hatten eigentlich bei ihrem Vater übernachten sollen, aber die drei hatten abends um halb neun so lange Terror gemacht, bis er nachgegeben und sie nach Hause gefahren hatte. Hannos Blick hatte Bände gesprochen, als er mich im Türrahmen unserer neuen Wohnung stehen sah.

Hannos Anwalt listete in dem zweiseitigen Brief, den ich in meiner zitternden Hand hielt, speziell diesen Vorfall als deutlichen Beweis für meine Unfähigkeit auf, Herrn Hechts Kindern ein stabiles und liebevolles Umfeld zu gewährleisten. Frau Sroka hingegen habe ein neues Haus in Köpenick gekauft, in welches sie mit Herrn Hecht und dessen Kindern einzuziehen gedenke. Es verfüge über einen weitläufigen Garten und drei große Kinderzimmer, die auf ihre neuen Bewohner warteten. Genau wie Wanja, der Golden Retriever, den Frau Sroka aus pädagogischen Gründen angeschafft habe. In der Nähe läge eine wunderbare internationale Ganztagsschule, die alle drei Kinder besuchen könnten und ein phantastisches Angebot an Arbeitsgemeinschaften und weiteren Freizeitangeboten für die Schüler böte. Ich dürfe die Kinder jedes zweite Wochenende und jeweils die Hälfte der Ferienzeiten sehen, so ich dieses Angebot akzeptiere. Überdies schlug Herr Doktor Wittig vor, das offizielle Trennungsdatum einvernehmlich um vier Monate rückzuverlegen, so dass er die Scheidung unmittelbar einreichen könne. Es sei mir sicherlich ebenfalls daran gelegen, möglichst schnell klare Verhältnisse zu schaffen. Für den Fall, dass ich seinen Wünschen nicht entspräche, behielte Herr Hecht sich vor, das Jugendamt einzuschalten und das alleinige Sorgerecht einzuklagen.

Damit war Hanno zu weit gegangen! Ich ließ die Hand, in der ich das Schreiben hielt, sinken und blickte ganz genau in den Spiegel. Ich sah eine mittelgroße Frau mit großen blaugrauen Augen, unter denen dunkle Schatten lagen, einer klassischen Nase über einem vollen Mund, blassen und aufgesprungenen Lippen, fahler Haut und strähnigen Haaren, einem vollen Busen über einem erkennbaren Bauch und üppigen Hüften sowie kräftigen Schenkeln, die die weite graue Jogginghose nicht verbergen konnte, sondern eher noch betonte. Das vor fünfzehn Jahren aufgenommene Foto, das ich im Spiegel an der Wand hinter mir sehen konnte, zeigte eine völlig andere Person. Die schlanke, sportliche Frau dort strahlte, sie sah ausgesprochen glücklich aus. Ihr aschblondes Haar leuchtete, sie war leicht gebräunt und trug ein knielanges Sommerkleid, das ihr ausgesprochen gut stand. Wie hatte ich es nur so weit kommen lassen können?

Ich zerknüllte das Papier in meiner Hand, sah meinem Spiegelbild tief in die Augen und fasste einen Entschluss: Hanno Hecht würde sich meine Kinder nicht schnappen!

Mit der neuen Wohnung hatten wir unglaublichen Dusel. Unser Vermieter, Herr Meyerbeck, hatte sich schon lange nicht mehr um seine Immobilie gekümmert. Heiner Meyerbeck war ein älterer Herr, der sich für das von seinen Schwiegereltern geerbte Haus nicht mehr interessierte, seit seine Frau Magda zwei Jahre zuvor verstorben war. Der Makler, der dort seine Geschäftsräume gehabt hatte, hatte vor kurzem gekündigt, weil er sich vergrößern wollte. Seitdem stand das Gebäude leer. Aufgrund der Lage hätte Herr Meyerbeck sehr viel Geld für das Haus bekommen können, doch es zu verkaufen interessierte ihn nicht. Herr Meyerbeck war ein sehr guter Freund meines Vaters und der Nachbar meiner Eltern. Er hatte einen äußerst eigenwilligen Bluthund namens Hugo, einen ehemaligen Zollhund, dem er zu einem verdient gemütlichen Ruhestand verholfen hatte. Er war selbst pensionierter Zollbeamter und fand, man müsse zusammenhalten. Paps hatte Herrn Meyerbeck um Hilfe gebeten, und der hatte nichts dagegen, dass wir die Wohnung im obersten Stock bezogen, wenn wir ein Auge auf die leerstehenden Ladenräume darunter hätten. Das Haus war denkmalgeschützt, die Wohnung war renovierungsbedürftig und lag an der vielbefahrenen Potsdamer Straße, deren Verlängerung über Zehlendorf und Nikolassee bis nach Wannsee führte – und die Miete, die Herr Meyerbeck für die Fünfzimmerwohnung haben wollte, war lachhaft.

Glück hatten wir auch mit den Nachbarn. Im Nebenhaus wohnte Familie Alvarez Garcia, die Kinder freundeten sich schon kurz nach unserem Einzug an. Astrid Alvarez hatte ihren Mädchennamen Marotzke abgelegt und den wohlklingenden Nachnamen ihres Mannes angenommen. Sie war Kinderärztin und arbeitete in Teilzeit in einer Praxis, die in unmittelbarer Nachbarschaft lag. Astrid war im Kiez bekannt wie ein bunter Hund, obwohl die Familie erst seit drei Jahren hier wohnte. Astrids Mann hatte aus beruflichen Gründen von Barcelona nach Berlin wechseln müssen.

Am Tag unseres Einzugs kam sie am frühen Abend mit einer Paellapfanne von enormer Größe, einer Flasche Rotwein, zwei Gläsern und ihren Kindern vorbei, um uns willkommen zu heißen. »Hallo! Wir wohnen nebenan, ich bin Astrid, das hier sind Marisol, Jake und Pilar, meine Kinder. Wir haben Sie einziehen sehen und dachten uns, Sie haben sicher nichts Vernünftiges im Kühlschrank an so einem Tag und noch viel zu tun. Da haben wir kurzerhand eine Paella gemacht. Ich hoffe, Sie mögen Paella!« Sie wandte sich an die Kinder. »Und wer seid ihr?«

Die drei stellten sich vor, und ich nahm dieser wunderbaren Frau die Pfanne ab. Das Reisgericht roch phantastisch. »Das ist furchtbar nett von Ihnen. Aber kommen Sie doch erst einmal herein! Helene, kannst du dich mit den Jungs ums Tischdecken kümmern, bitte?«

Die sechs Kinder trabten an den Esstisch im Wohnzimmer und verteilten Teller, Gläser und Besteck. Ich zog in der Küche den Korken. Hätte ich noch in Kleinmachnow unter Hannos Fittichen gestanden, hätte ich ihren Besuch übergriffig finden müssen. An jenem Abend war ich einfach nur froh über die freundliche Geste und die Ablenkung, denn nicht nur die Wohnung, sondern auch wir vier befanden uns in einem desolaten Zustand. Franziska hatte keine Zeit gehabt, uns unter die Arme zu greifen. »Beruflich zu viel zu tun, und am Abend die Doppelstunde Mental Balance«, hatte sie mir am Telefon erklärt.

Mit Astrid wehte ein frischer Wind in unser neues Leben. Sie hatte zahlreiche Bekannte, die sie, ohne zu zögern, abrief, um mir ein wenig Hilfe beim Renovieren zukommen zu lassen. Jake unterstützte mich beim Zusammenbauen einiger Möbelstücke, zur Verzückung von Helene, die auf einmal ein Interesse am Möbelbau entwickelte, das man ihr vorher nicht zugetraut hätte.

In den kurz darauf beginnenden Herbstferien schickte ich die Kinder für zwei Wochen ins Bauernhof-Ferienlager nach Brandenburg. Hanno weilte mit seiner Dana in der Finca von deren Eltern auf Mallorca. Ich nutzte die Zeit und renovierte unser neues Heim in einem wahnwitzigen Tempo. Das Ergebnis war zufriedenstellend. Nach fünfzehn Jahren Übung im Umsetzen der neuesten Deko-Trends verfügte ich über nicht zu missachtende Fähigkeiten auf dem Gebiet der Inneneinrichtung.

Die Kinder wechselten nach den Herbstferien die Schulen. Sie gewöhnten sich bemerkenswert rasch an ihr neues Umfeld und schlossen neue Freundschaften. Ich beneidete sie darum. Mir fehlte unser großer Garten mit meinen über Jahre gehegten Rosensträuchern und der großen Haselnuss hinten am Zaun ebenso wie das gelegentliche Plauschen über den Gartenzaun mit vorbeischlendernden Nachbarn.

Daniel machte mir Sorgen. Seit sein Vater uns alle entwurzelt hatte, schlief er nicht mehr alleine. Ich genoss es zwar, den Zwerg in meinen Armen zu haben, während wir in meinem Bett lagen und ich ihm eine Gutenachtgeschichte vorlas, doch es wurde Zeit, ihn wieder an sein eigenes Zimmer zu gewöhnen. Bald.

Franziska meldete sich weiterhin kaum bei mir. Dauerstress im Job, so lautete die Antwort auf meine SMS, und ich war doppelt froh über die neue Freundschaft, die sich mit Astrid anbahnte. Während ich renovierte, half Astrid, wo sie nur konnte: Sie versorgte mich mit einer warmen Mahlzeit am Tag, wusch Wäsche für mich, bis unsere eigene Maschine installiert war, und zeigte sich am Ende meiner Hauruck-Aktion voll ehrlicher Bewunderung für meine Leistung. Ich hatte sie sofort gemocht und empfand es als Glück, sie kennengelernt zu haben. Astrid versuchte stets, mich auf bessere Gedanken zu bringen. Ihr Mann Diego war viel im Ausland unterwegs, vorrangig in spanischsprachigen Ländern. Er war Ingenieur und verantwortete die Installation modernster Turbinentechnik für ein börsennotiertes Unternehmen mit Sitz in Berlin. Bislang kannte ich ihn nur aus den Erzählungen seiner Familie, die ihn liebevoll »El Cid« nannte, wobei Astrid regelmäßig ihre gelungene Charlton-Heston-Imitation zum Besten gab. Das Paar in dem Film El Cid mit der unglaublichen Sophia Loren habe sich ähnlich selten gesehen, erklärte sie. Astrids Kinder Pilar und Jake waren maßgeblich verantwortlich für alles, was Helene derzeit »übelst krass« oder »übelst scheiße« fand. Astrid und ich waren bei unserem zweiten Treffen bereits zum Du übergegangen, und sie versuchte unermüdlich, mir den Rücken zu stärken und mir Mut zu machen.

Ein kurzer Schultag. Mathe und Chemie waren bei Helene ausgefallen. Meine Tochter machte das besonders fröhlich, da sie mit beiden Fächern auf dem Kriegsfuß stand. Bei strahlendem Sonnenschein und karibikblauem Himmel war es auch recht viel verlangt, sich für lineare Gleichungssysteme sowie Stoffe und ihre Eigenschaften zu interessieren, wenn die nicht aus einem Klamottenladen kamen.

Helene sah mich verwundert an, als sie am späten Vormittag von der Schule nach Hause kam. Ich stand in der Küche, Placebo dröhnte durch die Wohnung, die ältere CD, die mit den Coversongs. Astrid hatte sie mir gebrannt, nachdem sie mitbekommen hatte, wie viele Alben dieser Band ich verpasst hatte. Natürlich war bei uns in Kleinmachnow nur Klassik und Jazz in gedämpfter Lautstärke gespielt worden. Hanno besaß schließlich einen gehobenen Geschmack, dem ich mich über die Jahre angepasst hatte. Bei diesem Gedanken musste ich unwillkürlich den Kopf schütteln. Ich hatte so gerne Musik gehört. Das war auch das Erste gewesen, was ich direkt nach unserem Umzug wieder getan hatte. Ich hatte meine alten CDs aus den Kartons geholt und Paps’ alte Revox-Anlage, die er seit den frühen Achtzigern besessen und nun uns überlassen hatte, auf ihre Leistung getestet. Beim Auspacken und Einräumen während des Umzugs und der Renovierung der neuen Wohnung hatten mir die alten Scheiben Trost gespendet. Astrid hatte laut gelacht, als sie meine kleine Sammlung gesehen und vor allem festgestellt hatte, wo diese zeitlich aufhörte. Sofort hatte sie beschlossen, meine mangelhaften Kenntnisse moderner Rock- und Pop-Geschichte aufzufrischen. Seitdem bekam ich regelmäßig gebrannte CDs oder MP3-Dateien von ihr mit allem, was ich ihrer und Pilars Meinung nach kennen müsste. Ich hatte keinen Mann mehr, der mir meinen Geschmack madig machte. Ich musste auf niemanden mehr Rücksicht nehmen, denn wir hatten in der Potsdamer Straße keine Nachbarn, die laute Musik hätte stören können. Das Küchenfenster stand offen und ließ die Geräusche des bunten Treibens auf der Potsdamer herein. Leider auch den Autolärm – aber meine Musik war lauter.

»Was ist denn hier los?«, fragte meine große Tochter mich also verwundert, als sie die Küche betrat. Ich drehte die Lautstärke herunter und lehnte das Fenster an.

»Was soll los sein, mein Schatz? Ich koche und höre Musik. Das habe ich früher immer so gemacht.«

Nun gut, »früher«, das war lange her. Das war, bevor sie auf die Welt gekommen war. Aber es war nicht gelogen. In den Zeiten v. H., vor Hanno, lief, wann immer ich kochte, putzte oder aufräumte und wann immer mir danach war, laute Musik. Quinn hatte das nie gestört. Wie kam ich denn plötzlich auf den?

»Du hörst Placebo, Mama!« Es klang wie ein Vorwurf.

»Ja, und? Darf man das in meinem Alter nicht? Ich hab schon Placebo gehört, da warst du noch Quark im Schaufenster, mein Schatz.«

»Die sind voll cool! Jakes Schwester steht total auf die, sie hat uns das letzte Album vorgespielt, das mit diesem voll tollen Song über all diese virtuellen Facebook-Freunde und wie doof das eigentlich alles ist …«

Astrids älterer Sohn Thiago, den alle Jake nannten – Thiago war die spanische Form von Jakob –, ging ebenfalls auf Helenes neue Schule und war seit dem Jahreswechsel ihr erster Freund. Ich mochte Jake und konnte gut verstehen, dass sich Helene in ihn verguckt hatte. Er sah toll aus mit seinen schwarzen lockigen Haaren und den schönen, dunklen Knopfaugen. Jake war fünfzehn und spielte Handball im Verein. Als Linkshänder und auffällig effektiver Spieler war er vor den Weihnachtsferien von den Reinickendorfer Füchsen gesichtet worden. Seit der Rückrunde gehörte er der ersten C-Jugend-Mannschaft der Füchse an. Er trainierte dreimal in der Woche im Norden Berlins. Helene begleitete ihn an den Wochenenden zu jedem Ligaspiel, seit sie ein Paar geworden waren, und kannte sich bereits recht gut aus im Regelwerk und den Spielsystemen. An den Abenden, an denen Jake Training hatte, lag sie schmachtend auf ihrem Bett und chattete endlos mit ihrer besten Freundin Lavinia.

Jakes zwei Jahre ältere Schwester, Pilar, befand sich im zweiten Kurshalbjahr der Oberstufe und würde im nächsten Jahr ihr Abitur machen. Die kleine Schwester der beiden, Marisol, ging in dieselbe Grundschulklasse wie Daniel. Ich war sehr froh über diese Verbindungen mit den Alvarez Garcias.

Wo meine zahlreichen anderen Freunde waren, fragen Sie? Diese Frage hatte ich mir auch mehrmals in den vergangenen Monaten gestellt, und ich hatte mir eingestehen müssen, dass ich meine alten Freunde im Laufe der Jahre mit Hanno immer mehr vernachlässigt hatte, bis die Kontakte schließlich eingeschlafen waren. Hanno fand die meisten von ihnen ohnehin keinen passenden Umgang für mich, sie seien zu jung und zu unreif. Und ich hatte doch schließlich ohnehin genug zu tun: die Kinder, das Haus, der Garten, Hannos Termine. Das alles hatte mir kaum Zeit gelassen, mal mit Freunden auszugehen oder Sport zu treiben.

Als Kind und als Jugendliche hatte ich in jeder freien Minute auf Roll- oder Schlittschuhen gestanden, und bevor die Kinder kamen, war ich eine passionierte Läuferin gewesen. Ich hatte auf die Halbmarathonstrecke hin trainiert, als ich zum ersten Mal schwanger wurde. Hanno hatte mir damals nahegelegt, keinen Sport mehr zu treiben. Ich sollte lieber nichts riskieren, fand er, und ich tat ihm den Gefallen. Er war ja so besorgt um mich, das fand ich süß. Und nach Helenes Geburt befand er, Joggen oder Inlinern mit Kinderwagen passte nicht zu uns. Also zog ich nach jeder Entbindung mit dem robusten Kinderwagenmodell einer Edelmarke gemessenen Schrittes meine Bahnen durch Kleinmachnow, Hanno zuliebe und des lieben Friedens wegen. Einzig Franziska Becker schaute bei mir vorbei – zumindest immer dann, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte oder etwas in ihrer Küche fehlte.

»Mama, seit wann hörst du denn so übelst krasse Musik?«, hakte Helene nach.

Ich legte das Küchenmesser beiseite und blickte meine große Tochter an. Sie war nur noch ein paar Zentimeter kleiner als ich, hatte dunkelblonde lange Haare, strahlend blaue Augen, eine hübsche Stupsnase und einen geschwungenen Mund, der seit einiger Zeit viel zu selten lächelte. Pubertät war ein hässlicher Job, und wenn man vom Vater hängengelassen wurde, war er besonders hässlich. Nicht zum ersten Mal dankte ich meinen Eltern innerlich für die Dominanz ihrer Gene, die dafür gesorgt hatten, dass meine Kinder ihrem Vater nur wenig ähnelten. Helene würde ihre Zahnspange zwar noch ein Jahr tragen müssen, aber selbst mit dem Metallgebiss war sie ein hübsches Mädchen. Sie war im Laufe der letzten Monate stark gewachsen, und ihre Züge hatten jene Kindlichkeit verloren, die ich ihr im vergangenen Sommer noch hatte ansehen können. Sie war, vermutlich auch durch die Ereignisse im Herbst und Winter, zu einer jungen Frau herangereift. Mir schwante, dass ich ein gewisses Thema nicht mehr lange vor mir herschieben konnte. Zunächst galt es aber, mir ein paar Pluspunkte in Sachen Musikgeschmack zu verschaffen.

»Lelli, ich habe früher ganz viel krasse Musik gehört.« Den Spitznamen hatte sie von ihrem Bruder bekommen. Vincent hatte seine große Schwester so genannt, als er noch nicht richtig sprechen konnte. »Du hast dir wohl nie die Mühe gemacht, mal meine CDs durchzusehen, was?« Jetzt galt es, meinen größten Trumpf auszuspielen. »Ich habe sogar 1998 einen der ersten Coldplay-Auftritte gesehen, in Camden, als die noch niemand kannte. Das war gigantisch!« Das ganze Wochenende mit Quinn in London war gigantisch gewesen, wenn ich so darüber nachdachte.

Helene klappte die Kinnlade herunter. Coldplay war ihre absolute Lieblingsband. Dann schloss sie ihren Mund wieder, sagte noch einmal »Krass!« und stellte sich neben mich an die Arbeitsplatte. Es war schon lange nicht mehr vorgekommen, dass Helene mir freiwillig im Haushalt half. Sie nahm das Küchenmesser und schnitt die Möhren in Halbkreise. Das Telefon klingelte. Ich fand das Mobilteil unter der Zeitung und ging damit in den Flur.