Ein Sommer in Prag - Zdena Salivarová - E-Book

Ein Sommer in Prag E-Book

Zdena Salivarová

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Beschreibung

Ein heißer Sommer im Prag der Fünfzigerjahre: Jana Honzlová, eine junge Sängerin in einem Folklore-Ensemble, darf nicht mit auf Tournee gehen, denn seit ihr Vater ins kapitalistische Ausland geflüchtet ist, gilt sie im kommunistischen System als politisch unzuverlässig. Stattdessen soll sie im Betriebsbüro die Stellung halten, wo sie ihr Leid mit der freundlichen Putzfrau teilt und heimlich internen Intrigen nachforscht. Aber auch ihre komplizierte Familiensituation hält die Ich-Erzählerin in Atem, die alles, was ihr widerfährt, mit Unverblümtheit und Straßenwitz schildert. Denn Jana Honzlová ist eine, die nicht so schnell aufgibt und sich ihre Chuzpe bewahrt. Umso erschütternder ist es für sie, als die Verhältnisse am Ende doch mächtiger erscheinen. Salivarová, die viele eigene Erfahrungen in den Roman einfließen ließ, erzählt gewissermaßen die Vorgeschichte des Prager Frühlings; dabei verzichtet sie auf Klischees oder Moralpredigten. Ihr gelingt das authentische Porträt einer vergangenen Zeit, das mit Leichtigkeit und Witz vorgetragen wird, ohne die Tragik und Absurdität auf die leichte Schulter zu nehmen. „Ein Sommer in Prag“ (im Original: „Honzlová“) erschien erstmals 1972 im kanadischen Exil und gehört für viele Kritiker*innen zum Besten, was in der tschechischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde. Nun liegt endlich die deutsche Erstausgabe vor.

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Die Originalausgabe erschien 1972 unter dem Titel „Honzlová. protestsong“ bei Sixty-Eight Publishers in Toronto. Die vorliegende Übersetzung des Romans samt Nachwort folgt der tschechischen Neuausgabe bei Argo nakladatelství (2021).

© Zdena Salivarová – heirs c/o DILIA

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert im Rahmen des Programms „NEUSTART KULTUR“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Der Abdruck des Auszugs aus T. S. Eliots Gedicht „Ash-Wednesday“ aus dem Band „Collected Poems 1909–1962“ erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Faber and Faber Ltd.

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage

Copyright © 2024 der deutschen Ausgabe

by mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werks insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen auch für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen und strafbar.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlagfoto: © Archiv der Josef-Škvorecký-Gesellschaft

Umschlaggestaltung: Stefanie Bader, Leipzig

Lektorat: Sabine Franke, Leipzig

ISBN 978-3-96311-929-3

Für Mama

And pray to God to have mercy upon us

And pray that I may forget

These matters that with myself I too much discuss

Too much explain

Because I do not hope to turn again

Let these words answer

For what is done, not to be done again

May the judgement not be too heavy upon us

aus: T. S. Eliot, „Ash-Wednesday“

Inhaltsverzeichnis

1

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Sich Prag zurückerlaufen

Anmerkung der Übersetzerin

1

Die Zweiundzwanzig fuhr langsam in die Haltestelle ein, und der Schaffner in seinem engen Büdchen neben der Tür verkündete aus einer merkwürdigen Laune heraus die Station.

„Klárov!“, krächzte er, als wollte er die nüchterne Wirklichkeit veralbern, ließ die Ausgangstür auf- und gleich darauf wieder zugehen. Wir waren wirklich in Klárov.

Ich sprang gerade noch rechtzeitig raus, bevor mir der Klapptritt die Fersen einklemmen konnte. Nachdem es mich beinahe lang hingeschlagen hätte, war der Schaffner gleich besserer Stimmung, er lachte und drohte mir schelmisch mit seinem dick geschwollenen Finger, wahrscheinlich ein Frostbeulenrelikt vom Winterdienst in der Ersten Republik.

Auf der Uhr im Park war es schon kurz nach neun, aber ich dachte gar nicht daran, wie sonst loszustürzen, um die verlorenen Minuten aufzuholen, und mir eine glaubwürdige Ausrede fürs Zuspätkommen auszudenken (à la „Es gab eine Kollision, 65 Leicht- und 82 Schwerverletzte“ oder „Ich habe eine blinde Alte ins Taubstummenkino begleitet“ oder „Bei uns ist die Pawlatsche eingestürzt, hat dem Hauswart alle vier Gliedmaßen zertrümmert, und ich musste im Schutt nach seinem linken Arm suchen“). Heute war es wurscht, ob ich eine oder zwanzig Minuten zu spät kam, darum drehte ich noch eine gemütliche Runde durch den Park.

Der Sommer ging auf seinen schwitzigen Höhepunkt zu, die Sonne heizte wie auf Vorrat für den Winter die menschenleeren Straßen auf, und die Rosen in den Beeten lechzten nach Wasser. Der taufrische Morgen war längst verdunstet – falls es überhaupt noch so etwas wie taufrische Morgen gab – und das gräuliche Gras war zu Heu verdorrt. Ich rupfte eine staubige, noch geschlossene Rose aus einem Beet, steckte sie in meine Tasche und schlenderte weiter zum Fluss.

Die Sphinxe, die auf der anderen Moldauseite den Eingang zum Konservatorium bewachten, reckten ihre angeschlagenen Köpfe aus dem Schatten. Sie hatten nicht viel zu bewachen, denn die Schule war geschlossen. Weder Fiedel- noch Trompetentöne noch Klaviertonleitern hoch und runter und gegenläufig drangen heute über den Fluss. Die Konservatoriumsschüler übten ihre Etüden wohl gerade in den diversen Freibädern unserer malerischen Heimat. Ich beugte mich über die Uferbrüstung.

In der Flussbadeanstalt traten einige Sonnenbrandzüchterinnen ihre Schicht an, und im Bootsverleih unter der Brücke setzte man die ersten Kunden aufs Wasser. Ich bekam große Lust, alle Verpflichtungen in den Wind zu schießen, mir ein Bötchen zu mieten, zur Moldaumitte zu rudern und mich von der gelbgrünen Strömung von Brücke zu Brücke treiben zu lassen.

Aber ich machte kehrt, überquerte die Straße und ging im Vollgefühl der Verantwortung zum heruntergekommenen Portal unseres hehren Betriebsgemäuers. Im dunklen Durchgang schlug mir kühler Kellermuff entgegen. Ich stieg die knarrende, abgescheuerte Treppe hoch bis zur Tür mit dem Schild Gesangs- und Tanzensemble Sedmikrása – Geschäftsstelle.

In der Diele hatte ich einen Zusammenstoß mit einem Besen. Als ich auf ihn trat, knallte mir der Stiel gegen die Stirn, prallte ab und hätte fast das Glasfenster der Klosetttür zertrümmert.

„Hoppela“, ertönte es vom Boden. Und: „Ach, du bist’s!“

Ich sah mich im Halbdunkel um. Auf dem Fußboden kniete die Reinemachefrau und schüttelte einen feuchten Lappen aus.

„Oh, Tag, Frau Pelikánová“, sagte ich und sprang über das frisch gescheuerte Stück Boden.

Die Reinemachefrau stellte ein Bein auf und sah erstaunt zu mir hoch.

„Was tust du denn hier? Warum biste nich mit den andern weg?“

Ich zuckte mit den Schultern und hopste über einen weiteren feuchten Abschnitt bis zur Tür des Büros.

„Ich bin halt nicht mit.“

Mit dem dicken Schlüsselbund rasselnd schloss ich eins nach dem anderen die Sicherheitsschlösser auf.

Aber die Putzfrau hielt mich zurück.

„Wie kommt’s? Sie sind doch alle verreist, oder nich?“

„Ja, Frau Pelikánová. Alles, was Arme und Beine hat, ist verreist. Sekretärinnen, Kantinenfrauen, Kaderleiter, nur die Reinemachefrau haben sie hier vergessen. Und mich.“

„Erzähl mir doch keinen Mumpes, sonst kriegste gleich …“, begann Frau Pelikánová und griff schon zum Lappen.

„Nein, wirklich“, sagte ich. „Sie haben mir wieder mal eins auf den Deckel gegeben, damit ich mir auch bloß nichts einbilde. Also werd ich hier einen Monat lang mit Ihnen das Büro hüten.“

„Wieso das denn? Warum hat nich die Fantová eins auf den Deckel gekriegt?“ Sie tauchte ihren Lappen in den Eimer und wrang ihn nachdenklich aus. „Aber du lässt doch deswegen den Kopf nich hängen, oder?“ Sie schob den Eimer ein Stück weiter und fügte drohend hinzu: „Oder doch?“

„Nee.“

„Na siehste.“

„Ich bin aber auch nicht gerade außer mir vor Freude.“

Frau Pelikánová robbte auf den Knien voran und patschte den Lappen auf den Boden.

„Ganz ehrlich, die können dich doch mal …“

„Meine Rede“, sagte ich stilvoll und pfefferte die Tür zu, dass das Haus bebte. Als ich meine Tasche auf den Konferenztisch warf, rollte die gemopste Rose heraus. Ich füllte die scheußliche Bürovase mit Wasser und stellte die welke Blume hinein. Ihr geschlossenes Köpfchen, weiß und verstaubt, neigte sich melancholisch zur Seite. Vielleicht würde sie sich ja noch mal berappeln.

Ich kochte Kaffee, zündete mir eine Zigarette an und ließ mich in den Sessel unseres Direktors fallen. Versank darin wie in einem weich gepolsterten, heimeligen Nest. Der von Sorgen beschwerte Direktorhintern hatte ihn in unzähligen Stunden, Tagen und Jahren des Konferierens, Problemlösens und -anhäufens, Herumlavierens, Intrigierens, Schulens, Beratens und Ränkeschmiedens zu einem runden Plüschbecken ausgesessen.

Im Gebäude herrschte Stille wie in einem Schulhaus am Sonntag. Da waren nur das Scharren des Eimers hinter der Tür und die pfeifenden Bronchien von Frau Pelikánová, die irgendwie immer außer Atem war. Sie schnaufte wie zwei Dampfwalzen, scheuerte offenbar gerade neben der Tür.

Der Direktor hatte mir den Auftrag gegeben, die Post zu erledigen, Anrufe entgegenzunehmen und, wenn ich Zeit und Lust hätte, Noten abzuschreiben. Zeit gab es allemal, nur die Lust wollte sich nicht einstellen. Ich schrieb wahnsinnig ungern Noten ab.

„Und sonst, Jana, mach es dir so gemütlich wie möglich“, hatte er mit einem gewissen Mitgefühl zu mir gesagt. Nachdem er seine Anweisungen losgeworden war, hatte er sich schwerfällig aus seiner Plüschmulde erhoben, mir die Hand gedrückt und mich mit feuchtem Blick angelächelt. Fast wäre ihm noch ein Tränchen entwischt. Sein gerührtes Lächeln war allerdings schnell passé, als die Fantová ins Zimmer stürmte. Seine Rechte, mit der er gerade meine Hand geschüttelt hatte wie einen Cocktailbecher, fuhr blitzschnell über seine nachdenkliche Stirn und rieb sie, als wollte er die äußere Hautschicht wegrubbeln.

Er war mir gegenüber immer freundlich und verständnisvoll – solange niemand anders dabei war. Vor anderen Leuten redete er mich mit „Genossin Honzlová“ an und blickte zur Sicherheit finster drein.

Angeblich hatte er vor Urzeiten einmal in der Laientheatergruppe des Prager Schlachthofs gespielt, bevor er Funktionär und schließlich der neue und bislang neunte Direktor unseres Künstlerkollektivs Sedmikrása wurde. Die theatralische Mimik hatte er immer noch perfekt auf Lager. In der Vitrine befand sich neben den Wettbewerbs-Trophäen unseres Ensembles auch ein Foto aus der Zeit seiner aktiven künstlerischen Tätigkeit, als man noch nicht an Schminke gespart hatte. Dunkle Augenkonturen wie Henny Porten. Bestimmt gefiel er sich immer noch. In den schlimmen Dreißigerjahren waren die Libeňer Miezen mit ihren flotten Baskenmützen wahrscheinlich ganz verrückt nach ihm gewesen. Er hatte eine makellose Vergangenheit, eine saubere Akte. Sein Lebensweg zog sich schnurgerade durch die Historie wie eine frische weiße Linie auf rotem Tennisplatzsand.

Tja. Wenigstens hatten sie mich nicht erst auf dem Bahnhof und mit dem Koffer in der Hand nach Hause geschickt, so wie damals, als es in die Ungarische Volksrepublik ging. Für diese Exkursion hatte ich mich gerüstet wie für eine Weltreise. Mama hatte mir am Abend vor der Abfahrt noch ein neues Kleid fertiggenäht, und am Morgen war ich zwei Stunden zu früh zum Bahnhof geeilt, ganz aus dem Häuschen darüber, dass ich endlich auch mal ins Ausland kam. Kolařík, damaliger Direktor Nummer sechs, lächelte mich schief an, und ich lächelte selig zurück, dabei wusste er längst, dass ich nullkommanirgendwohin reisen würde. Die Mädels klopften mir auf den Rücken und meinten: „Na siehste, Küken, jetzt hast du’s auch noch geschafft“, denn auch sie ahnten nichts davon, dass ich in die Ungarische Volksrepublik höchstens mit dem Finger auf dem Globus fahren würde. Nur die Funktionäre waren informiert, anscheinend schon seit drei Tagen. Aber erst auf dem Bahnhof steckten sie ihre klugen Köpfe zusammen, um zu beraten, was mit mir zu tun sei. Sie zogen sich zum Konferieren extra in einen Waggon zurück, weil sie sich nicht einig wurden, wer mir die freudige Nachricht überbringen sollte. Schließlich kam ihnen Jiřina zuvor, die die hochgeheime Besprechung aus dem Nebenabteil mitangehört hatte und mich darauf vorbereitete. So bewahrte ich die Fassung, als mir die Fantová im Namen des Komitees mit unverhohlener Freude mitteilen kam, dass ich mich auf den Rückmarsch Richtung Karlín machen solle. Wer die Fassung nicht bewahrte, war Jiřina. Sie ging auf die Fantová los und schrie sie an, dass das ’ne Sauerei sei und man so nicht mit Menschen umgeht, und sie beschimpfte sie so doll, dass die Fantová den Kolařík holen ging und dazu brachte, Jiřina an Ort und Stelle einen Verweis mit Verwarnung auszusprechen.

Ich stand mit meinem Koffer unter den Waggonfenstern, die Mädels schauten zu mir runter und sagten ebenfalls, das sei eine Sauerei, aber nur ganz leise. Der Zug fuhr an, ich holte aus meinem Koffer ein Handtuch und winkte ihnen mit einer ironischen Geste hinterher, so als würden meine Tränen bis zum Boden fließen. Es tropfte wirklich ein bisschen, aber erst als der Zug mit meinen Kolleginnen um die Kurve Richtung Osten verschwand.

So kam es, dass ich damals auf Intervention des Ministeriums zwei freie Wochen genoss und das neue Kleid spazieren führte, das Mama mir wohl sonst erst zur nächsten Jahrhundertwende fertiggenäht hätte.

In der Folge ließ man mich, wer weiß durch was für ein komisches Versehen, dann doch einmal ausreisen. Entweder hatten sie da etwas durcheinandergebracht oder jemand Einflussreiches hatte ein gutes Wort für mich eingelegt, vielleicht unser jetziger Direktor, als ihm die Sänger ausfielen und er keinen Ersatz fand. Jedenfalls ging es auf einmal. Und zwar direktemang in den Westen.

Wenn ich nur gewusst hätte, welches Miststück mir nun von Neuem in die Suppe gespuckt hatte.

Andererseits … was hatte ich davon, wenn ich es wusste? Ich konnte dem Aas höchstens die Zunge rausstrecken, denn im Prügeln war ich nicht besonders versiert. Und mit individuellem Terror konnte man heute sowieso nicht mehr viel ausrichten.

Noch vor einem halben Jahr war ich in Hochstimmung gewesen. Da kam ich von meiner ersten – und jetzt offensichtlich auch letzten – Tournee ins kapitalistische Ausland zurück und hatte das Gefühl, dass mir nun keiner mehr was konnte. Man lud mich ins Kulturministerium ein, dankte mir für die würdige Repräsentation unseres Landes und den geleisteten Beitrag zu unserer Kultur, wie der Genosse Stellvertreter Ješátko es so schön formulierte. So als hätte ich mindestens drei Staatspreise verdient. Ich bekam in einem feinen Salon Kaffee serviert, die Genossen werteten die Reise aus und spulten ihre Lobeshymnen ab. Leider nur mündlich. Leider trugen sie es nicht in die dazugehörige Akte ein, und so hatte ich nun keinen einzigen Buchstaben ihres wie Sprudelwasser blubbernden Genossenlobs zum Vorweisen. Und im Gedächtnis hatte das sowieso keiner mehr.

„Jetzt hast du definitiv gewonnen, Jana“, sagte unser Direktor damals und tätschelte mir, patsch patsch, die Schulter. „Jetzt hast du allen bewiesen, dass sie dich falsch eingeschätzt haben.“ Ich fürchtete schon, er würde mich umarmen, aber zum Glück hatte er es nicht mit Vertraulichkeiten.

Und die Fantová schloss sich zögernd an: „Es muss sich gut anfühlen, nicht?, so erfolgreich und … ja fast überzeugend die eigenen Fähigkeiten zu beweisen, und die positive Einstellung!, nach so vielen Jahren des Misstrauens, nicht?“ Und dabei war ihr Blick wie Fredo-Ledo-Eis mit Tollkirsche beträufelt. In Wahrheit wurmte es sie, dass sich ihre Prophezeiung über meine politische Unzuverlässigkeit nicht erfüllt hatte, nachdem sie jahrelang so erfolgreich an meiner Person ihren politischen Weitblick demonstriert hatte. Irgendwie hatte ich ihr die Theorie vermiest, nach der ich mit dem erstbesten lüsternen Millionär in eine der teuren Lasterhöhlen abhauen würde, von denen es im kapitalistischen Westen nur so wimmelte. Es konnte doch nicht sein, dass ein zweifelhafter Mensch über Nacht ein anderer wurde.

Danach gehörte ich wie selbstverständlich dazu, und alle gingen automatisch davon aus, dass ich bei der nächsten Tournee dabei sein würde. Eine ganze Weile lächelte der Direktor mir sogar in Gegenwart der anderen zu.

Erst in letzter Zeit war er etwas abgekühlt.

Verdammt, welches Luder mich wohl diesmal reingeritten hatte?

Die Bürotür öffnete sich einen Spalt, und Frau Pelikánová lugte unter ihrem Kopftuch herein.

„Ich geh dann mal“, verkündete sie. „Jetzt kann ich mir ja drei Wochen lang ’nen schönen Lenz machen.“

„Gut so“, meinte ich, „es gibt ja jetzt auch nichts zu putzen.“

„Ich mach dann rechtzeitig alles sauber, bevor die ganze Bagage zurückkommt. Warum sollte ich hier auch jeden Tag herummuddeln?“

„Ganz genau.“

Frau Pelikánová stand immer noch in der Tür, als könnte sie sich nicht entschließen, nach Hause zu gehen.

„Leg dich bloß nich für die krumm, Mädel. Huste denen was.“

„Tu ich. Ich muss aber hier sein. Wegen der Telefonanrufe.“

Die Reinemachefrau kam ins Zimmer geschlüpft, schloss die Tür und sah sich vorsichtig um, als wollte sie sichergehen, dass wir auch wirklich allein waren. Dann beugte sie sich zu mir und sagte unnötig laut:

„Du, sach mal, ob die Fantová dahintersteckt? Ob die dir das eingebrockt hat?“

Ich seufzte. „Man kann sich die Leute hier nicht aussuchen, Frau Pelikánová.“

Sie beugte sich noch dichter zu mir; ihre Haut war voller kleiner Löchlein, wie eine Orangenschale.

„Bestimmt“, raunte sie wie ein Detektiv. „Ich bin sicher, sie war’s. Weißt du, was die sich letztens bei mir geleistet hat?“

Sie stellte ihre Korbtasche auf dem Boden ab, strich sich mit beiden Händen die Haare aus der Stirn und zog ihr Kopftuch unter dem Kinn fest. Wieder neigte sie sich zu mir. Sie roch nach Kernseife und Desinfektionsmittel.

„Sie hat mich vor den Gewerkschaftsbund bestellt. Damit die da eine Kritik meiner Arbeit vornehmen.“

Sie setzte sich auf den Rand des Konferenztischs und hob die Tasche auf ihren Schoß. Sie hatte sie mit einer Zeitung ausgepolstert, der Lidová demokracie, darauf eine abgeschubberte Geldbörse, ein Schlüsselbund und ein schwarzes Gartöpfchen. Wahrscheinlich wollte sie nach der Arbeit noch Kraut besorgen.

„Und dieser Fajrajzl ist auch ’ne fiese Type. Beide. Das sind ganz üble Personen.“ Sie winkte mit ihrer molligen Hand ab. „Die haben behauptet, ich würde das Parkett im Tanzsaal zu stark polieren und dadurch die Arbeitssicherheit gefährden.“

„Ach nee.“

„Doch!“ Frau Pelikánová klopfte sich auf die Brust wie beim Mea Culpa. „Die gehen so weit und erklären mich noch zur Saboteurin, Jana. Und lassen mich verhaften. Und ich weiß auch, warum.“

„Aber ich bitt Sie. Warum sollten die Sie verhaften lassen?“

„Weil’s ihnen gut in den Kram passen würde. Die Fantová hat da jemanden in ihrer Sippe, für den sie meine Stelle braucht. So sieht’s aus.“

Ich glaubte ihr, auch wenn Frau Pelikánová immer schon Vorbehalte gegen alle Funktionäre gehabt hatte. Sie hatte in ihrem Leben schon mit so vielen Parteigängern zu tun gehabt, dass sie es sich erlauben konnte, über die wenigen erfreulichen Ausnahmen hinwegzusehen.

„Sie wissen ja, die finden immer einen Vorwand“, meinte ich.

„Sag ich ja. Aber ich lass mir das nich gefallen. Vielleicht geh ich zum Zentralkomitee des Gewerkschaftsbunds. Hab ja sowieso nichts zu verlieren.“

„Ganz richtig. Solche Schikanen sollte man sich nicht gefallen lassen.“

„Nich wahr?“ Mit Mühe stand sie auf, und der Schlüssel in ihrer Tasche klimperte gegen das Töpfchen. Es klang feierlich wie ein Abendläuten. „Verflixt, ich muss los und Kohl kaufen“, murmelte sie und kam gleich wieder auf das Thema zurück. „Aber die werden sich auch noch umsehen. Gottes Mühlen …“ Sie zwinkerte mir zu wie dem Mitglied einer konspirativen Gruppe. „… Solche Fantovás und Fajrajzls … du weißt schon … genau wie diese Gestapoleute zum Schluss … die dachten auch den ganzen Krieg über, sie wären unsterblich …“

„Aber …“, begann ich erschrocken. Was war, wenn hier irgendwo ein scharfes Ohr des Staates versteckt war, ein Miniaturmikrofon, das selbst ein Flüstern aus der dreizehnten Kammer einfangen konnte? Frau Pelikánová posaunte hier ihre blutrünstigen Hoffnungen heraus wie eine Marktschreierin auf der Kirmes. Sie ließ mich aber nicht zu Wort kommen, sodass ich mir vor einem unbekannten Zuhörer wenigstens ein Alibi hätte verschaffen können, sondern fasste mich an der Schulter und hob ihre andere Hand wie zum Schwur.

„Das sag ich dir, so wahr der liebe Gott zu mir runterguckt: Ich habe immer zur Arbeiterklasse gehört, und dieses Parteigelumpe, das am liebsten alle Funktionen an sich reißt, nur damit es nich rabotten muss …“ Sie winkte ab. „Ich geh lieber, sonst reg ich mich nur auf.“

Ich war erleichtert, dass sie ihre staatsfeindlichen Umtriebe nicht fortzusetzen gedachte. Sie streichelte mich noch kurz mit ihrer rauen Hand, bevor sie klein und rund auf ihren geschwollenen Füßen aus der Tür schaukelte.

Ich bearbeitete ein paar Bewerbungen zur Aufnahme ins Ensemble, sprich ich schrieb Absagen nach dem Muster, das mir die Sekretärin vorgegeben hatte, heftete die eingegangene Post in einen Ordner und goss die Kakteen des Direktors. Dann fläzte ich mich wieder in seinen Sessel und stellte mir voller Neid vor, was die Gruppe wohl gerade machte.

In meinem Kopf hüpften sie munter durch Helsinki und verbrüderten sich mit den Völkern. Oder sie stürmten die Warenhäuser und marterten sich das Hirn mit der Frage, was sie für ihre mickrige Valuta kaufen sollten, damit sie möglichst viel davon hatten. Auch die Fantová und der Fajrajzl würden schwach werden und vergeblich so tun, als seien sie nicht interessiert. Die übervollen Schaufenster blendeten einfach jeden, selbst einen Marxisten-Leninisten. Hinterher würden sie sich gegenseitig beäugen, wer was angeschafft hatte, und am Ende würde sich eine leise Wut auf diesen Wohlstand in ihr Herz schleichen. Manche würden sich über ihre Lehrer und Ausbilder aufregen, die sie ihr Leben lang beschissen hatten. Aber nach außen hin würden sie sich zusammennehmen, und wenn sie das Glück hatten, irgendwo auf einer Parkbank einen betrunkenen Finnen zu erblicken, würden sie sich beeilen, in Hörweite der omnipräsenten Beobachter lautstark ihren Abscheu über die Glanzfassade der Reklamewelt zu bekunden, hinter der sich das wahre soziale Elend verberge. Ich sah sie alle vor mir wie im Kino. Die professionell aufgekratzte, vor Optimismus strotzende Jugend, wie sie mit den nächstbesten Repräsentanten der unterdrückten Rassen und Völker anbändelte. Die Látalka ließ sich garantiert mit irgendeinem feschen Abgesandten im bunten Gewand ein, der direkt aus dem dunklen Dschungel der erwachenden afrikanischen Republik Dingsda importiert worden war und mindestens einen Nasenring trug, und die Fantová würde überfließen vor Rührung über diese reine und unkonventionelle Verbindung. Die Látalka würde alle fleischlichen Wonnen mit diesem hübschen Körper genießen, den Schwarzen wieder abservieren und ein Lob dafür einkassieren, dass sie sich politisch so perfekt bewährt hatte. Und Růžena Vochlová, unsere ideologische Spitzenreiterin, würde es vielleicht endlich schaffen, ihren schon nicht mehr ganz jungen Schützling Květuše Vidláková mit einem schmucken Komsomolzen oder FDJler zu verkuppeln und sie so wenigstens ins volksdemokratische Ausland zu verheiraten, wenn es schon zu Hause nicht gelang. Miluše Vavroušková wiederum würde mit einem der Häuptlinge der tschechoslowakischen Delegation ins Bett springen und sich dadurch eine noch bessere Position im Betriebsrat sichern, und die arme Zlatka Sladovníková würde gar nicht wissen, wo anfangen, um sich einen Tratschvorrat anzulegen, mit dem sie dann die kommenden Monate der Ödnis ausfüllen würde. Ich drückte ihr die Daumen, dass sie im allgemeinen Liebesringelpiez den Liborek rumkriegte, hinter dem sie schon her war, seit er zum vierten Mal unglücklich verheiratet war. Es war wirklich beinahe so, als wäre ich dabei. So wie beim letzten Jugendfestival in Moskau, wie beim vorletzten Festival in Bukarest, die ich beide bis ins Detail kannte, obwohl ich nicht dort gewesen war, denn nichts blieb lange geheim.

Inzwischen war es so warm, dass ich richtig ins Schwitzen geriet.

Die Sonne schien durch die schmutzigen Scheiben, und Staubflöckchen schwirrten in ihren Strahlen. Ich machte die Fenster weit auf. Mit der warmen Luft drang der feuchte Geruch vom Fluss herein. Es waren jetzt viel mehr Boote darauf unterwegs, aber die Uferstraße war so leblos wie am Morgen. Über die Brücke ratterte eine Straßenbahn, ihr frisch-fröhliches Rot unpassend in dieser staubigen Sommerhitze.

Ich stützte meine Ellbogen auf die Fensterbrüstung und guckte hinaus wie die Frauchen in der Altstadt, die tagelang die verlassenen Straßen anstarrten, aus denen sich ihre ganze Welt zusammensetzte. Meine Welt aber befand sich in diesem Augenblick hoch im Norden, erhellt vom Lichtschein der Polarnächte und der Mitternachtssonne. Das metallene Schränkchen unter dem Fenster kühlte angenehm meine Beine.

Schränkchen?

Eher ein Panzerschrank. Ein dicker, militärgrün angestrichener Safe, der mit einer Registriernummer versehen war, wie sie unterdessen wohl auch die Klosettbrillen erhielten. Seinen Inhalt bewachte ein Vorhängeschloss mit Kombination.

Ich drehte ein bisschen an den Zahlen herum.

Wie lange ich wohl drehen musste, um die richtige Kombination zu erwischen? Das hätte mir irgendein Schlaukopf ausrechnen müssen, in Mathematik war ich eine echte Niete.

An dem Schlüsselbund, den mir der Direktor vertrauensvoll in die Hände gelegt hatte, hing ein kleines Zelluloidschildchen, und darauf stand mit Kopierstift geschrieben – wohl für den Fall, dass der Zuständige sie vergaß – die Nummer KA 9216464.

Kaderakten.

Es gab nichts, worauf ich in diesem Moment neugieriger war.

Ich stellte die Nummer ein, und der Safe lieferte meinen unbefugten Händen die str. vertraul. Personalakten aus. Bei dem Gedanken, dass sie trotz aller Wachsamkeit den Bock zum Gärtner gemacht hatten, wurde mir etwas mulmig. Ich eilte zur Tür und drehte den Schlüssel gleich zweimal um. Wenn mich die Fantová so sähe! Es wäre ein Triumph für sie.

In dem Safe herrschte eine Ordnung wie Kraut und Rüben. Wichtige Dokumente über hundertfünfzig Angestellte lagen wild durcheinander geschichtet, so, wie sie irgendein befugter Schluderer vor der Abreise „aufgeräumt“ hatte. Meine Mappe fand sich unter dem Buchstaben Z, darauf hübsch mit Kalligrafenfeder HONZLOVÁ geschrieben, und direkt darunter ein roter Stempel mit dicken, drei Zentimeter großen Buchstaben über die ganze Breitseite, damit auch wirklich jeder Zweifel ausgeräumt war: REIST NICHT!

Ich begann mit der verbotensten Lektüre meines Lebens, unter dem Fenster auf dem Boden hockend, damit man mich von der anderen Uferseite ja nicht sehen konnte. Ein lehrreicherer Lesestoff hätte mir nicht unterkommen können.

Mein Porträt ließ an den buckligen, schielenden und einbeinigen Zar in der bekannten Anekdote über den neuen Zugang zur Kunst denken. Nur umgekehrt.

Die meisten Beurteilungen erinnerten an Berichte, wie sie in dunkelsten Feudalzeiten die Kreishauptmänner Seiner Kaiserlichen Hoheit erstattet hatten, und überschlugen sich mit Empfehlungen, wie mit mir zu verfahren sei. Die netteren gaben irgendeinem Vorgesetzten den Tipp, mich zur Umerziehung in die Schwerindustrie zu schicken. Keine einzige Beurteilung war vorteilhaft, keine einzige namentlich unterschrieben. Nur in einer wurde meine Intelligenz erwähnt, wenn auch als schädliche Eigenschaft.

Mir war klar, dass hier jemand geduldig daran arbeitete, mir eine verheerende Reputation zu verschaffen. Dummerweise hatte so etwas hier Gewicht. Man konnte das nicht einfach als Geplänkel abtun. Auch schlichter Klatsch erhielt, wenn er einmal den Weg in die Kaderakten gefunden hatte, den Wert eines amtlichen Dokuments. Keiner würde mehr nachprüfen, in welcher Absicht er niedergeschrieben wurde beziehungsweise wer ihn überhaupt in die Welt gesetzt hatte. Solange es nur unserer Sache dient, sind keine Unterschriften erforderlich.

J. Honzlová ist eine leichtfertige, durchtriebene Person, stand dort in bestechender Klarheit. … kennt keine Skrupel … lebt in einem moralischen Sumpf … hat in unserem Kollektiv nichts zu suchen …

Ein anderer Beiträger war zweifellos ein intimer Kenner unserer Familienverhältnisse: Honzlovás Vater ist ein ehemaliger kapitalistischer Ausbeuter der Arbeiterklasse. Die Mutter hat während der Ersten Republik als ‚gnädige Frau‘ ihre Dienstmädchen mit Tritten traktiert. Heute läuft sie durch Karlín und schimpft in aller Öffentlichkeit auf unsere sozialistische, demokratische Ordnung. Unterzeichnet war dieser Beitrag mit Frieden!

Es stimmte, dass unsere Mutter recht häufig und unbedacht den VEB Obst und Gemüse kritisierte, weil es da nie Zwiebeln gab, ich war mir jedoch sicher, dass sie niemals so weit ging, sich in der Öffentlichkeit irgendwie umfassender über unsere sozialistische demokratische Ordnung auszulassen. Solche Äußerungen bewahrte sie sich für zu Hause auf, schließlich hatte sie ihre Lektion gelernt. Was unseren Vater Jerry betraf: Der hatte während der Republik sein Geld mit dem Verkauf von Seife, Präservativen, Wasch- und Reinigungsmitteln in seiner Drogerie in Holešovice verdient, womit er sich nach heutigen Maßstäben unrechtmäßig auf Kosten der Arbeiter bereichert hatte. Er arbeitete ja nicht, verkaufte nur. Und Mutter putzte den Laden. Als sie aber wieder einmal mit dickem Bauch herumlief und sich vor lauter Leibesumfang die Schuhe nicht mehr anziehen konnte, heuerte Vater ein Hausmädchen an. Die verließ uns jedoch gleich am nächsten Tag, weil sie über Nacht von den Bettwanzen zerstochen worden war, die immer von den Maňas zu uns rüberkamen. Mutter brauchte ihr gar keinen Tritt zu verpassen, das Mädchen ging ganz von selbst, und zwar mit ihren Wanzenbissen direkt zum Doktor, woraufhin der Herr Drogist ihr ein Schmerzensgeld zahlen sowie eine Salbe gegen die Stiche mitgeben musste, damit sie ihn nicht in ganz Holešovice schlechtmachte und seine Kundschaft vergraulte. Sie machte ihn trotzdem schlecht, weshalb er seine bourgeoise Extravaganz schon teilweise mit geschäftlichen Verlusten abgebüßt hatte.

Es mag vielleicht merkwürdig klingen, Bettwanzen in einer Drogistenfamilie, aber bekanntlich tragen des Schuhmachers Kinder die schlechtesten Schuhe. Obwohl Mutter regelmäßig mit einer Sprühpumpe nachts auf Jagd ging, zogen die Viecher prozessionsweise zu uns. Offenbar hatten wir das hochwertigste Blut im ganzen Häuserblock.

„Am besten wirkt Petroleum“, meinte Frau Pelikánová einmal zu mir, als wir auf das Thema Wohnkultur zu sprechen kamen. „Das Zeuch auf die Drahtgitter in den Betten geben, und auch gleich auf die Wandbilder. Die Viecher setzen sich nämlich am liebsten in den Rahmen fest.“

„Meine Mutter hat sie manchmal mit dem Besen gejagt. Sie hat einen Lappen drumgewickelt, sie von der Zimmerdecke geangelt und im Waschbecken ersäuft, das war am effektivsten. Das Mittel, das Vater im Laden verkauft hat, hat keine einzige Wanze getötet.“

„Sag ich ja. Das Beste ist Petroleum, mit dem vernichtet man auch die Eier, die das Geziefer in die Ritzen legt. Die kannste nich mit’m Besen erwischen.“

„Aber die Viecher kamen aus der Wohnung der Nachbarn zu uns.“

„Ach, dann waren’s Wanderwanzen? Nee, gegen die kann man nichts ausrichten. Die nisten sich hübsch ein und ziehn erst wieder weiter, wenn ihnen das jeweilige Blut nich mehr schmeckt.“

Es waren aber keine Wanderwanzen. Sie kamen nur auf Besuch zu uns. Mutter verfluchte die Schmuddelbude der Maňas nebenan, als wäre unser Haus Gott weiß was für eine feine Residenz. Die Maňas hatten immerhin ein Bad. Wir konnten von unserem Küchenfenster dort reingucken, das war wie Kino. Sobald es dunkel wurde, knieten mein Bruder und ich uns auf Stühle und spähten rüber, wie die Soldaten mit der Berta, die dort angestellt war, rummachten. Diese Berta sahen wir nie in Kleidern. Es lohnte sich für sie nicht, sich anzuziehen, die Soldaten gaben einander die Klinke in die Hand. Dort drüben hatten die Bettwanzen keine Minute Ruhe, wahrscheinlich kamen sie deshalb zu uns.

Mittlerweile war ich etwas zurückhaltender mit unseren Wanzengeschichten. Ich hatte einmal versucht, sie zum Besten zu geben, auf Tournee in der Garderobe, als gerade der Strom ausgefallen war, aber das kam nicht gut an. Die großen Proletarierinnen unter den Genossen ekelten sich am meisten. Die Vavroušková tat, als müsste sie kotzen, und die Fantová meinte, ich sei widerlich, wodurch mir klar wurde, dass sie vom Proletariertum keinen Schimmer hatten. Die meisten Leute taten allerdings nur so, als hätten sie noch nie in ihrem Leben eine Bettwanze gesehen, was man daran erkannte, dass sie bei ihrer Erwähnung so übertriebene Grimassen zogen. Aber wie konnte jemand, dem noch nie eine Wanze begegnet war, wissen, wie ekelhaft sie ist? Etwa Zlatka Sladovníková. So, wie sie damals in Krumlov reagierte, wo wir in einer schauderhaften Absteige das Zimmer teilten, war sonnenklar, dass es bei ihnen zu Hause nur so von Wanzen wimmelte. Sie kreischte mordsmäßig herum, neiiiin, Mamiii, igiiitt, das stinkt so! Woher konnte sie wissen, dass Wanzen stinken, wo sie doch erst oben an der Zimmerdecke krabbelten und noch nach einer geeigneten Stelle suchten, von der aus sie auf uns runterspringen konnten? Ich wusste sehr gut, dass Wanzen erst stinken, wenn man sie auf dem Kissen zerdrückt.

Ich kehrte wieder in die Gegenwart zurück.

Ein anderer Frieden! schien von der gebildeteren Sorte zu sein. Er schrieb seine Meinung feinsäuberlich wie ein Musterschüler nieder, in schattierten Druckbuchstaben, vielleicht wegen der Lesbarkeit oder für den Fall einer späteren grafologischen Untersuchung.

Ich erachte es als einen schwerwiegenden Fehler unserer Kaderpolitik, dass J. Honzlová überhaupt in unser Kollektiv aufgenommen wurde.

Ich lag sicher nicht falsch, wenn ich aus diesem Satz einen Angriff auf unsere leitende Ideologin Růžena Vochlová heraushörte. Der Betreffende versuchte mit seiner Schönschrift-Denunziation gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Vordergründig ging es um mich, aber letztlich wurde hier die Arbeit der Genossin Vochlová kritisiert. Sie vertrat die Theorie, dass „kein junger Mensch für uns verloren ist“, es galt ihn lediglich nach der Makarenko-Methode umzuerziehen. Vielleicht hatte sie mich ja aufgenommen, um ihre Theorie in der Praxis zu überprüfen. Natürlich hatte ich nicht gerade herausposaunt, dass sich Pavel im Technischen Hilfsbataillon der Armee befand, Ivan im Arbeitslager Jáchymov und mein Vater irgendwo hinterm Atlantischen. In den entsprechenden Formularspalten hatte ich nur wahrheitsgetreu eingetragen: Bruder Pavel im Militärdienst, Ivan Bergarbeiter, Vater außerhalb von Prag. Die Vochlová fand jedoch alles heraus und nahm mich beiseite, um eine Art privates Experiment mit mir durchzuführen. Zuerst belehrte sie mich darüber, dass ich in Personalfragebögen keine Halbwahrheiten anführen dürfe, dann drückte sie mir einen Stoß Bücher in die Arme und schickte mich in die Russischkurse der Volksbildung, damit ich mich der sowjetischen Kultur auch sprachlich annäherte. Ich trug diese Bücher ständig mit mir herum, damit alle sehen konnten, dass ich nicht irgendwelchen Schund las, und ging einmal die Woche brav zum Russischkurs, wo ich tat, als könnte ich kein Kyrillisch lesen, um mich nicht bei den anderen unbeliebt zu machen, die diese Schriftzeichen einfach nicht in ihr Hirn kriegten. Das rettete mich.

Růžena Vochlová war in mehrerlei Hinsicht sonderbar, aber alles in allem eine gute Seele. Sie glaubte aufrichtig an den Menschen. Und das sollte sie später zu spüren bekommen. Aber erst einmal war es mein Glück, dass sie mich nicht sofort wieder rausschmissen.

Sie ist zwar erst neunzehn, bietet aber nicht die geringsten Voraussetzungen zum fachlichen oder politischen Wachstum, fuhr jener gebildete Frieden! fort. Sie geht wichtigtuerisch mit ihrer fragwürdigen Intelligenz hausieren und bildet sich etwas auf ihre Matura ein, wodurch sie unter den Kolleginnen gefährliche Komplexe und verwirrende Gefühle sät. Sie liest schädliche Literatur, die sie im Kollegium verbreitet, indem sie davon erzählt. Es handelt sich vor allem um bürgerlich-dekadente Autoren wie Huxley, Maurois, Camus, Céline, Čapek, Sartre, Černý u. Ä.

In Wahrheit hatte mir die Vochlová den Černý als Ergänzung zu Sartre mitgegeben, denn sie folgte dem Standpunkt, dass man, was man verurteilte, auch gut kennen musste. Ich sollte mir zunächst eine eigene Meinung zur Existenzphilosophie bilden, um sie anschließend mit ihr zu diskutieren. Zu dieser Diskussion kam es aber nicht, weil Fajrajzl mir die Bücher wegnahm, als er belastendes Material gegen die Vochlová sammelte. Aber das alles war schon gar nicht mehr aktuell. Nur, ob das auch meine Beurteiler wussten?

Sie trifft sich oft mit Männern, trinkt Alkohol und raucht. Sie ‚studiert‘ westliche Sprachen auf der Fremdsprachenschule für Arbeitnehmer. Meiner Ansicht nach sollte man einmal das politische Niveau der Verantwortlichen auf dieser Sprachenschule überprüfen, wenn sie solche Elemente zum Studium zulassen. Meiner Meinung nach können Honzlovás Westsprachenkenntnisse unsere Ordnung bedrohen. Jemand von ihrem Charakter erlernt sie nicht ohne eine bestimmte Absicht. Meiner Ansicht nach ist es höchste Zeit, sie aus unserem Kollektiv auszuschließen und stattdessen jemand politisch und menschlich Hochwertigeres aufzunehmen. Auch sollte gründlich geprüft werden, wer dafür verantwortlich ist, dass J. Honzlová überhaupt schon so lange unter uns weilt.

Wer dafür verantwortlich ist? Mein Vater, werter Bořivoj oder werte Alena oder Miluška. Ich hab mich nicht darum gedrängt, auf die Welt zu kommen. Am liebsten würde ich dahin zurückkriechen, wo ich hergekommen bin.

Jemand drückte die Türklinke. Hastig klappte ich die Mappe zu, mein Herz schlug hoch bis in die Rachenmandeln. Dann klopfte es, und durch die Tür dröhnte die vertraute Keuchstimme:

„Janachen, ich bin’s!“

Ich warf die Safeklappe zu und ging schnell aufmachen. Frau Pelikánová streckte mir das Viertel einer Wassermelone entgegen.

„Kraut hatten sie nich, aber gerade brachten sie Melonen, da hab ich dir ein Stück mitgenommen, wo ich schon so lang angestanden hab.“

„Das ist aber nett von Ihnen, Frau Pelikánová, was schulde ich Ihnen?“

„Nix da.“ Sie winkte ab und blieb in der Tür stehen. „Hast ganz recht, dass du dich einschließt.“

„Ich hatte Sorge, dass mich einer klaut“, sagte ich und biss herzhaft in das Stück Melone. Frau Pelikánová lächelte.

„Da gäb’s sicher so manchen Interessenten. Dass du mir nur nich auf irgend’nen zwielichten Kerl reinfällst. Da müsste deine Mama sich den Strick nehmen.“

„Ich weiß. So eine Perle wie mich zu vergeuden …“, meinte ich.

„Wär wirklich schad um dich.“ Sie sah mich nachdenklich an. Irgendwie schien sie keine Lust zu haben zu gehen. Dabei wäre ich gerne zu der Aktenlektüre zurückgekehrt. Kurz überlegte ich, ob ich sie in meine Safe-Erkundung einweihen sollte. Es hätte sie garantiert interessiert. Aber dann ließ ich’s lieber. Solche Dinge konnte man nicht mal seinem Allernächsten erzählen, denn man konnte nie wissen, in welche Situationen er noch geriet. Frau Pelikánová würde mich zwar bestimmt nicht verpfeifen, aber sicher war sicher.

„Was stehen Sie da so in der Tür? Kommen Sie doch rein.“

Darauf hatte sie nur gewartet. Sie schob sich ins Büro und setzte sich erleichtert hin.

„Mädel, mir tut vielleicht der Rücken weh“, seufzte sie. „Bei der Hitze ist nichts mit mir anzufangen. Am liebsten würde ich alles hinschmeißen.“

„Machen Sie sich nichts draus, mir ist auch zu heiß. Da vergeht einem ganz die Lust.“

Frau Pelikánová holte tief Luft, und in ihren Bronchien rasselte es hörbar.

„Kopf hoch. Sei froh, dass du jung und gesund bist. Du wirst wieder bessre Zeiten erleben.“

„Glauben Sie? Das bekomme ich nämlich schon seit meiner Geburt zu hören.“

„Ich weiß“, ächzte sie. „Es ist nich zu fassen. Wer nich bei denen mitmacht, gilt gleich mal als Burschua, selbst wenn man sein Leben lang nur trocken Brot gespachtelt hat.“

„Sie werden von denen auch bourgeois genannt? Da sind wir ja schon zu zweit. Aber was ist mit Šafránek? Dem hat noch keiner vorgeworfen, dass er mal ein Kleriker war.“

„Ich sag’s dir ja. Wer nich die Farbe wechselt und bei denen mitmarschiert, den ziehen sie durch den Dreck.“

„Aber wie können die das tun?“, ereiferte ich mich. „Wer bitte ist denn hier proletarischer als Sie, Frau Pelikánová? Sagen Sie mir, wer?“

Sie lächelte.

„Du bist noch blutjung und suchst überall nach Gerechtigkeit. Aber merk dir, hier auf Erden gibt’s keine Gerechtigkeit. Gerecht ist nur der Herrgott, und von dem werd ich mich nie lossagen, da können sie mir noch so oft einreden, ich wär der Feind. Der Feind wovon denn, bittschön? Sollen sie mich ruhig wieder feuern wie damals beim Heimwerkerbedarf. Da hab ich mich auch nicht kirre machen lassen. Hab denen gesagt, putzen kann ich auch ohne Parteiabzeichen, adee, habe die Ehre. Dafür muss ich doch nich fortschrittlich sein, wie sie’s nennen.“

Sie verstummte, um Atem zu schöpfen. Sie gefiel mir nicht. Ihr Gesicht war ganz rot und dann wieder weiß wie Papier. Mir gefiel nicht, wie sie nach Luft rang.

„Möchten Sie vielleicht ’nen Kaffee?“, fragte ich.

„Bloß keinen Kaffee, Mädel, willst du mich umbringen? Höchstens ’n bisschen Wasser.“

Ich ging zum Hahn.

„Lass erst mal ’n bisschen laufen, sonst ist’s warm wie Pipi.“

„Bitte sehr, die Dame.“ Ich reichte ihr das Glas.

Sie trank in winzigen Schlückchen, so, wie Vögel Wasser nippen. Dann stand sie auf.

„Muss los. Bis ich erst mal zu Haus bin … Und du hock hier auch nicht länger rum. Geh an die frische Luft oder triff dich mit ’nem Jungen, was willste denn den lieben langen Tag hier rumhängen.“

Sobald sie weg war, wandte ich mich wieder dem Safeinhalt zu. Allerdings erfuhr ich nicht viel Neues über meinen Charakter.

… leichtfertig … mokiert sich über alles … benutzt vulgäre Ausdrücke … kommt zu spät zum Jugendbundtreffen … kommt überhaupt nicht zu den Jugendbund-Treffen … erstellt zur Tarnung eine Wandzeitung aus der Tagespresse … verweigert das Bemühen, wenigstens eine Wandzeitung zu erstellen … täuscht eine positive Einstellung vor … gibt sich nicht einmal Mühe, eine positive Einstellung vorzutäuschen … unterhält eine unzulässige Beziehung mit J. M. … hatte ein Verhältnis mit V. J. … versucht ein Verhältnis mit F. G. anzufangen … kritisiert die Verhältnisse … hat kein Verhältnis zur Arbeit … hat ein schlechtes Verhältnis zu Menschen … keine positive Einstellung zu unserer volksdemokratischen Ordnung …, im Innenministerium mussten sie ja völlig meschugge davon werden.

Ich zog ein paar der gemeinsten Verleumdungen heraus und stopfte sie in den Ofen. Aber nicht mal das Feuer wollte das schlucken. Ich verbrauchte eine ganze Schachtel Streichhölzer, immer ging die Flamme gleich aus, und die Papiere qualmten nach drinnen statt nach draußen. Ich pustete so lange in den Ofen, bis die ganze Schweinerei in den Schornstein stieg. Dann ging ich auf die Toilette und übergab mich.

Danach ging’s mir freilich auch nicht besser. Es hieße umsonst die Harte spielen, wenn ich behauptete, dass mir das alles nichts ausmachte. Denn das tat es.

Ich beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen, machte Umwege über die Altstadt, den Palackého náměstí, am Annakloster vorbei bis zum Haštalské náměstí, und hatte heute so gar nichts davon, dass ich durch die Straßen meiner Kindheit ging, wo meine Brüder und ich in langen Ferien herumgerannt waren, wenn Vater sich nicht ein Herz nahm und mit uns einen Ausflug zum Mlýnek machte. Es fiel mir schwer, mich wie sonst an all die lustigen Momente von damals zu erinnern.

Und am Haštalské náměstí holte es mich dann knüppeldick ein.

Warum hatte ich überhaupt diesen Lebensweg eingeschlagen? Hätte ich mich damals mit dem jungen Seiltänzer zusammengetan, hätte ich jetzt meine liebe Ruhe. Drahtseilkünstler bekamen vermutlich keine Kaderbeurteilungen. Aber mit zwölf denkt man eben nicht die Bohne an die Zukunft. Ich wusste nicht mal mehr, ob er gut ausgesehen hatte. Damals war ich à la „wagemutiges sportliches Mädchen, das ganz nach oben kommen möchte“ hinter ihm her die Strickleiter aufs Kirchendach hochgestiegen, denn mich konnte so schnell nichts abschrecken. Dieser Frieden! hatte recht. Ich war immer schon leichtsinnig gewesen. Der Akrobat Tříška nahm mich auf seinen Rücken, balancierte dann mit mir über den Platz, und Mutter unten schnurrte vor Angst zu einer kleinen Schrumpelkruste zusammen. Tříška tat, als würde er fallen, strauchelte, und das Publikum stand in gespannter Erwartung, uns abstürzen zu sehen. Dort oben über der Kirche versuchte er mich zu einer Verabredung zu bewegen. Aber ich war eben erst zwölf. Hinterher war Mutter ganz stolz, und die Nachbarinnen bewunderten mich. An jenem Abend erkannte ich, was es bedeutete, künstlerischen Erfolg zu haben.

Wenn sie mir wegen der Beurteilungen, die ich heute gelesen hatte, die Reise nach Helsinki gestrichen hatten, wie kam es dann, dass ich nach Frankreich mitgedurft hatte? Vielleicht überprüfte mich neuerdings jemand anderes. Ein neuer Mitarbeiter, der keine Ahnung hatte von dem Lob des Kulturministeriums. Offenbar war da etwas durcheinandergeraten. Ganz bestimmt herrschte bei denen ein Durcheinander, sonst hätten sie doch nicht LangfingerŠmejkalová wieder mitreisen lassen.

Allmählich frischte es ein wenig auf. Unterwegs traf ich auf sonnengebräunte Menschen, die vom Schwimmen kamen. Manche waren schon ordentlich geröstet. Eine junge Frau war so rot verbrutzelt, dass sie wie Neon leuchtete.

Es waren Ferien.

Einmal hatte sich Vater auf der Liegewiese ein Nickerchen genehmigt, statt auf uns aufzupassen, und war bis zur Dämmerung auf dem Bauch liegen geblieben, die Fußsohlen hübsch den Sonnenstrahlen ausgesetzt. Und wirklich verbrannte er sich so die Haut, dass er kaum noch gehen konnte. Pavel schabte die Butter von einer Stulle und schmierte ihm damit die Sohlen ein. Allerdings hatte Mutter die Brote gesalzen, und Pavel kassierte ein paar Backpfeifen im Sitzen. Mit Mutter redete Jerry fast zwei Wochen lang nicht. Wir rannten zu Hause zwischen ihnen hin und her, machten den Dolmetscher und nutzten die Gelegenheit, die Eltern gegeneinander auszuspielen. Jerry sagte zum Beispiel „du gehst nirgendwohin“, worauf Mutter „lauf nur“ sagte und uns noch fünfzig Heller draufgab. Allzu spendabel war sie nicht. Vater hätte nie so ein jämmerliches Kleckergeld gegeben; da gab er lieber gar nichts.

Langsam wanderte ich entlang der Poříčí nach Karlín, und ständig fiel mir eine Begebenheit von früher ein, bis irgendwann mein Leben in lauter Fitzelchen vor mir lag und ich plötzlich nicht mehr wusste, was ich damit anfangen sollte. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich meine bourgeoise Jugend nicht zurückhaben wollte.

Und auf einmal war ich in unserer Straße bei der Kaserne. Die Soldaten hatten offenbar Kulturausgang, denn sie lümmelten in den Fenstern und riefen allen Mädchen von neun bis achtunddreißig hinterher. Unter den jungen Hühnern auf dem Trottoir stolzierte natürlich auch unsere Andula herum und riss so ambitionierte Witze, dass mir schon die olympischen Ringe vor Augen standen. Als ich näherkam, färbten sie sich lila. Andula trug mein bestes Kleid, das sie, weil es ihr zu groß war, in der Taille mit einer Schnur zusammengezogen hatte. Und dazu wackelte sie in meinen Hackenschuhen herum wie auf Stelzen. Sie verstand es noch nicht, darin zu gehen, und ihre mageren Stöckerbeine knickten dauernd ein. Zuerst hatte ich den Impuls, sie ihr gleich hier auf der Straße auszuziehen, so wie unsere Jarmila mir einmal das Leibchen und die kurze Turnhose, die ich mir von ihr geborgt hatte, vom Leib gerissen hatte, ohne sich darum zu scheren, dass ich so in aller Öffentlichkeit im Unterhemd dastand. Aber ich hielt mich zurück, sonst hätten die Soldaten nur noch mehr zu gaffen gehabt.

„Wer hat dir erlaubt, mein Kleid zu nehmen?“, flüsterte ich ihr unauffällig ins Ohr. „Und die Schuhe. Du latschst sie mir nur aus!“

„Was denn?“, tat sie begriffsstutzig und grinste verlegen zu den Soldaten rüber. Die beobachteten uns interessiert. Andula schoss die Röte ins Gesicht, wahrscheinlich dämmerte ihr, dass ich sie gleich blamieren würde. Unter ihrer Röte hatte sie ganz braune Haut, und während ich mich noch über sie ärgerte, dachte ich, was für ’ne Hübsche sie ist. Andula hätte sich ganz bestimmt auf die Verabredung mit dem Seiltänzer eingelassen.

„Mach, dass du nach Hause kommst“, zischte ich. „Wir sprechen uns später!“

„Waruuum denn?“, nölte sie. „Ich versteeh dich nicht“, und verzog sich zu ihren Freundinnen, eine wilder angemalt als die andere. „Mama hat’s mir erlaubt, damit du’s weißt!“, schleuderte sie mir aus vermeintlichem Sicherheitsabstand entgegen. Hätte ich richtig Stunk machen wollen, hätte ich bloß einem der Mädels die Stöckel wegzuziehen brauchen, und schon wär’s aus gewesen mit den feinen Damen.

„Wie bitte? Wer’s glaubt!“ Nie und nimmer hatte Mutter ihr das erlaubt. Obwohl … Möglich war’s. Sie erlaubte ihr neuerdings alles, nur damit Ruhe im Karton war.

„Zieh ab nach Hause, sonst komm ich und hol dich mit dem Rohrstock“, sagte ich extra laut, damit die Soldaten es hörten. Die reagierten prompt.

„Ach, kommen Sie, Frolleinchen, das können Sie doch der Andulka nicht antun. Gleich so dolle mit dem Rohrstock. Sie sind aber ein strenges Frollein. Kommense doch mal her, damit ich mir aus der Nähe angucken kann, wie streng Sie sind.“

Ich stellte mich taub. Machte kehrt und hinkte mit stolz erhobenem Kopf zu unserem Haus, denn ich hatte mir eine ordentliche Blase gelaufen.

Schon auf der Treppe konnte ich riechen, dass bei uns wieder die Milch angebrannt war. Die Tür stand offen, Hugo lief auf der Pawlatsche herum und hielt sich die Nase zu. Im schummrigen Licht der Küche kämpfte Mutter mit dem heißen Topf. Sie sah nicht nach rosiger Stimmung aus.

„Andula ist schon wieder bei der Kaserne. In meinem Kleid“, sagte ich anstelle eines Grußes.

Mutter schrubbte die Herdplatte und schwieg. Es schien ihr egal zu sein. Schien sie gar nicht zu jucken, dass ihre vierzehnjährige Tochter bei der Armee herumlungerte.

In letzter Zeit war sie anders als früher. Bei mir hatte sie, selbst als ich schon zwanzig war, noch ein Mordstheater gemacht, wenn ich mal nicht rechtzeitig nach Hause kam. Dann wuselte sie in ihren Pantoffeln ums Haus, ein Lineal im Ärmel des Lodenmantels, und hielt Ausschau, von welcher Seite ich auftauchte. Und vor allem, mit wem. Jede meiner Liebesgeschichten machte sie kaputt. Einmal zog sie Krůno eins mit dem Lineal über, aber der nahm es nicht persönlich. Er war ja auch keine Liebesgeschichte von mir. Statt Reißaus zu nehmen und sich nie mehr blicken zu lassen, sah er Mutter mit seinen himmelblauen Augen an und sagte: „Das machen Sie richtig, gnädige Frau, schade um jeden Schlag, der danebengeht.“ Mutter verharrte einen Moment in kataleptischer Starre, bis sich die gnädige Frau bei ihr gesetzt hatte. Dann kam wieder Leben in sie, sie wankte zurück zum Haus und ließ uns einfach stehen. Aber das war schon lange her. Seitdem hatte sie nach und nach ihre ganze Energie verloren. Nicht mal mehr richtig aufregen konnte sie sich. Irgendwie war es gar nicht mehr lustig mit ihr.

„Dir ist das wohl schnuppe?“, provozierte ich sie, während ich meine wundgescheuerte Ferse unter den Wasserhahn hielt. „Dich kratzt das überhaupt nicht, dass deine Tochter sich zu einem Flittchen entwickelt?“

Immer noch keine Reaktion. Sie schob die Töpfe herum, setzte sich auf die Küchenbank und brachte irgendwann halbherzig heraus:

„Was soll’s, sie hat doch Ferien.“

„Die hat schon das ganze Jahr Ferien. Aber mich hast du vielleicht gegängelt und mir meine Freunde vergrault, damit sie mich nur ja nicht anknabbern.“

„Freunde …“ Sie zog eine Grimasse.

„Du hast sie doch gar nicht gekannt. Wäre Krůno Stančič nicht gewesen, würde ich heute im Sägewerk Bretter hobeln. Trotz Matura.“

Das stimmte wirklich. Wäre Krůnoslav nicht gewesen, wer weiß, was aus mir geworden wäre. Vielleicht hätte ich dann andere Probleme, vermutlich sogar kleinere. Jedenfalls hätte ich dort sicher kein Denunziantengeschreibsel über mich entdeckt. Warum sollte auch jemand einen Schreinerlehrling denunzieren. Obwohl … Es gab überall Leute, die im Privatleben anderer herumschnüffelten. Trotz allem war ich Krůno dankbar, denn im Großen und Ganzen war es eine gute Stelle. Krůno hatte sich damals auch nicht vergraulen lassen, hielt sich nur sicherheitshalber unserer Straße etwas fern. Wir trafen uns ein Stück weiter weg, manchmal nur zu zweit, aber meistens mit der Schulclique.

Es war nämlich so: Einmal hatte Krůno im Slovanský Dům auf dem Klo gesessen und aus Langeweile in den Zeitungsfetzen gelesen, die dort auf dem Boden lagen. Auf einem durchnässten Stück fiel ihm ein Inserat ins Auge, und das trug er dann wie ein Sakrament zu mir, obwohl es nur ein Ausriss aus einer einfachen Klosettzeitung war. Im Grunde spielte Krůno in meinem Leben die Rolle des Schicksals. Ich hatte schon oft darüber nachgedacht, was für ein seltsamer Zufall das gewesen war, dass ihn just, als er am Slovanský Dům vorüberging, das Bedürfnis nach einem großen Geschäft überkam. Warum nicht später, warum nicht früher? Und warum ging er ausgerechnet in diese Kabine, wo das Inserat auf dem Boden lag? Es gab eben doch so etwas wie Schicksal, da war nicht dran zu rütteln.

Krůnoslav war überhaupt ein Unikum. Hatte einen Schopf wie Tomatenpüree und einen noch röteren Bart und spann fortwährend an seiner Theorie weiter, dass er mich heiraten würde. Manchmal versuchte er es als Generalprobe durchzuspielen, aber die Versuche endeten immer so, dass ich überheblich wurde und er mindestens zwei Tage schmollte. Dann „entdeckte“ er irgendein Buch, ohne das ich eindeutig nicht leben könne, brachte es mir und war wieder zwei Wochen lang die Gutmütigkeit in Person. Damals war ich noch Jungfrau. Na ja, mehr oder weniger. Ich hatte mit keinem Jungen schon so richtig was gehabt. Krůno studierte Theologie, wenngleich ihm die glühende Überzeugung zur Priesterschaft fehlte. Man hatte ihn aber auf keiner anderen Hochschule angenommen. Sein toter jugoslawischer Vater machte da irgendwelche Schwierigkeiten, und so beschloss er, erst mal so lange Theologie zu studieren, bis sie ihn in Philosophie aufnahmen. Was sie niemals taten.

Krůno brachte mir also dieses Inserat und meinte: „Jana, das solltest du probieren. Zumindest bis sich klärt, wie es weitergeht. Du singst schon dein ganzes Leben unentgeltlich, dort würden sie dich dafür bezahlen.“

Ich trällerte seit frühester Kindheit bei den Vachulka-Singvögeln, „… wo bist du, mein Stern …“ und solche Sachen, und war ziemlich stolz auf meine Stimme. Ich übte tagelang zu Hause in der Rumpelkammer, Mutter scheuchte mich zwar immer wieder raus an die Luft, aber ich stand am liebsten vor dem Spiegel und stellte mir vor, ich würde im Nationaltheater singen. Lieh mir in der Bibliothek Partituren aus und sang mich durch die meisten Chorstücke. In dem Kämmerchen zwischen all dem Gerümpel klang das fantastisch. Die Nachbarn hassten mich, weil sich mein Konzert durch den Lichtschacht in alle Wohnungen übertrug.

Bald nachdem ich im Sedmikrása aufgenommen worden war, verschwand Krůno wie das Großväterchen in den Drei Wünschen. Soll mir also mal einer sagen, er hätte nicht Schicksal gespielt. Am Ende ging er doch ins Priesterseminar, und es hieß, er sei wirklich Pfarrer geworden.

„Hugo“, rief Mutter. „Geh mal rüber zur Kaserne und sag Andulka, sie soll nach Hause kommen.“

Hugi ging hin und stellte fest, dass die Mädchen nicht mehr da waren. Mutter machte nur eine müde Handbewegung, und ich wurde wütend. Dieser Andula würde ich die Meinung geigen, wenn sie angestöckelt kam.

Aber ich geigte nichts. Sie kam erst gegen Mitternacht nach Hause und schlief dann den ganzen Vormittag über. Mein Kleid lag zerknüllt und mit Weinsprengseln auf dem Stuhl. Na, schönen Dank auch. Ich wollte nicht dabei sein, wenn sie eines Tages geschwängert nach Hause kam. Das wollte ich wirklich nicht erleben. Und mit Mutter zu sprechen war, wie mit einem Schlafwandler zu reden. Ich wollte nicht dabei sein, wenn Ivan aus der Haft kam und hier Sodom und Gomorra vorfand.

Nach Jerrys Verschwinden war Ivan an die Stelle des Familienoberhaupts gerückt. Ein ziemlich weit entferntes Haupt, sodass es letztlich für die Katz war. Pavel wiederum musste beim Technischen Hilfsbataillon schuften, und Jarmila packte ihre Siebensachen und verließ unser trautes Heim. Wenigstens hatten wir so mehr Platz und mussten nicht mehr so viel Geld für Verbandszeug und essigsaure Tonerde ausgeben. Jarmila war nämlich der reinkarnierte Marquis de Sade. Hin und wieder kugelte sie mir mal eben die Schulter aus, wenn sie mir die Hände auf den Rücken gedreht hatte, um mir ins Gesicht zu schlagen. Die Frau beherrschte Griffe wie Frištenský. Einmal hatte sie mir bei einer dieser Streicheleinheiten die Nasenscheidewand gebrochen, worauf ich blutend unter ihr lag. Und da ich nun schon da lag, dachte ich bei mir, am besten rühr ich mich einfach gar nicht mehr, so als wäre es aus mit mir. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. De Sade wandelte sich im Nu zur Büßerin. Jarmila flehte mich auf Knien an, aufzuwachen, sie werde mir das nie wieder antun, die Tränen plätscherten nur so, weshalb ich irgendwann Mitleid bekam und tat, als würde ich wieder zu mir kommen. Aber erst nach einer gewissen Weile. Jarmila machte mir eine Kompresse mit Tonerde, bedeckte mich mit Küssen und ging schnell einen Becher Eis für mich besorgen. Dann kam Mutter nach Hause, kriegte einen Heidenschreck, und ich erklärte ihr, ich wär beim Seilhüpfen aufs Gesicht gefallen. Das war Jarmilas Bedingung für den Eisbecher gewesen. Der Arzt war ziemlich erstaunt, wie man sich beim Seilspringen so zurichten kann, aber ich verriet Jarmila mit keiner Silbe. Mit ein paar Freundlichkeiten konnte mich jeder kaufen.

Aber zu der Zeit waren wir noch alle zusammen, und Familienoberhaupt war einzig und allein Vater.

Nun war gewissermaßen ich an der Reihe. Im Grunde sollte ich als Nachfolgerin walten, wo Ivan doch im Bau saß, Pavel beim Bataillon malochte, Jarmila sich selbst genügte und Vater endgültig abgeschrieben war.

Da ich aber bei jedem Versuch auf den Widerstand der Königinmutter stieß, beschloss ich, mich nicht mehr weiter drum zu scheren. Sollte Andula doch auf sich selbst achtgeben. Ich würde mich an Hugi halten, nur mit ihm konnte man anständig reden.

Unsere Familienangelegenheiten hingen mir sowieso schon bis über die Ohren zum Hals heraus. Wie groß war da erst meine Freude, als ich hatte lesen müssen, dass unsere Mutter nach Dienstmädchen trat und Vater sich untätig auf Kosten des arbeitenden Volks bereichert hatte.

2

Am nächsten Tag las ich zur Sicherheit auch noch die Gutachten über bestimmte Leute, die mich interessierten. Wer menschlich auch nur ein bisschen was taugte, hatte ebenfalls so ein paar anonyme Liebesbekundungen in den Akten. Die Šmejkalová hingegen, Weltmeisterin in der Langfingerdisziplin, wurde bis auf unerhebliche kleine Mängel völlig rosarot geschildert. Jung, vielversprechend, politisch zuverlässig … Dabei machte jeder, der sie nur von fern erblickte, schnell Inventur in seiner Brieftasche. Klar, dass sie wieder hatte reisen dürfen. Solche Charakterinvaliden bekamen immer den Weg geebnet. Das war überall so. Vielleicht würde es auch noch beim Jüngsten Gericht so sein.

Oder war ich es, die irgendwie verkehrt war? Wahrscheinlich war ich verkehrt. Vermutlich hatte ich irgendeine Abart von Morbus Menière, die mich unfähig machte, das rechte Maß der Dinge zu sehen. Ich sah die richtigen Dinge verquer. Und offenbar war alles anders, und zwar komplett anders, als ich es wahrnahm.

Das Auftauchen von Frau Pelikánová riss mich aus meinen philosophischen Betrachtungen.

„Was machen Sie denn hier?“, fragte ich. „Sie haben doch gestern gesagt, Sie wollten alles sausenlassen.“

„Da kannste Gift drauf nehmen. Ich putz nur ein bisschen die Fenster. Die sind ganz schön eingesaut.“

Sie nahm den Putzeimer, stieg damit auf den Safe und rubbelte wie eine Stachanowsche Rekordarbeiterin. Morgens hatte sie eine Energie wie drei Dieselloks. So akrobatisch, wie sie sich im Fenster verrenkte, bekam ich Angst, sie könnte unten auf der Straße landen. Das wäre furchtbar. Sowieso hätte ich sie jetzt lieber woanders gesehen, denn nun war der restliche Vormittag für meine Erkundungen verloren. Während sie arbeitete, sang sie vor sich hin, sogar ziemlich rein und tonsicher, als hätte sie irgendwo in der Provinz eine Ausbildung genossen.