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Eine Auszeit vom Alltag, das ist es, was Amy Byler, alleinerziehende Mutter, sich am sehnlichsten wünscht. Als plötzlich der reuige Ex-Mann vor der Tür steht und ihr anbietet, sich den Sommer über um die Kinder zu kümmern, nimmt sie gerne an und zieht nach New York. Endlich hat sie Gelegenheit, all das zu tun, was sie immer hat aufschieben müssen ... sogar auf eine Liebelei mit dem charmanten Bibliothekar Daniel lässt sie sich ein. Doch als der Herbst kommt, muss sie sich fragen: Kann man das, was man hat, lieben und trotzdem mehr wollen?
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Seitenzahl: 524
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Brief von Cori
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
Danksagung
Über das Buch
Eine Auszeit vom Alltag, das ist es, was Amy Byler, alleinerziehende Mutter, sich am sehnlichsten wünscht. Als plötzlich der reuige Ex-Mann vor der Tür steht und ihr anbietet, sich den Sommer über um die Kinder zu kümmern, nimmt sie gerne an und zieht nach New York. Endlich hat sie Gelegenheit, all das zu tun, was sie immer hat aufschieben müssen … sogar auf eine Liebelei mit dem charmanten Bibliothekar Patrick lässt sie sich ein. Doch als der Herbst kommt, muss sie sich fragen: Kann man das, was man hat, lieben und trotzdem mehr wollen?
Über die Autorin
Bevor Kelly Harms sich entschloss, selber Bücher zu schreiben, war sie Lektorin und Literaturagentin in New York und arbeitete mit zahlreichen und sehr unterschiedlichen Bestsellerautoren zusammen. Heute lebt sie mit ihrem cleveren Sohn Griffin, dem charmanten Iren Chris und dem besten aller Hunde in Madison, Wisconsin.
Kelly Harms
Ein Sommer nur für mich
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Kranefeld
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:Copyright © 2019 by Kelly HarmsTitel der amerikanischen Originalausgabe: »The Overdue Life of Amy Byler«Originalverlag: Lake Union Publishing, Seattle
This edition is made possible under a license arrangement originating with Amazon Publishing, www.apub.com, in collaboration with Agence Hoffman.
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, KölnTitelillustration: © shutterstock.com: Ardea-studio | MarishUmschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.deeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-1008-4
luebbe.delesejury.de
Für alle alleinerziehenden Mütter
Liebe Mom,
die Sache ist die … Ich weiß jetzt schon, dass du wieder ein Riesending daraus machen wirst, weil du eben meine Mom bist und ein bisschen speziell und einfach nicht anders kannst. Wahrscheinlich machst du gleich ein Facebook-Meme draus und stickst es auf Kissen oder irgend so was Bescheuertes. Aber was ich eigentlich sagen wollte: Du hattest recht.
Nicht was das Lesen angeht. Lesen ist … etwas, das ich mache, um dir einen Gefallen zu tun und weil ich aufs College will. Immerhin waren die Bücher, die du mir empfohlen hast, neunzig Prozent weniger langweilig als die Bücher, die ich für die Schule lesen muss. Aber eben immer noch langweilig. Wusstest du, dass die Hälfte der Bücher, die du ausgesucht hast, verfilmt wurden? Vermutlich weil Filme einfach besser sind und Leute beim Lesen immer denken: »Oh Mann, als Film könnte das richtig gut sein.«
Aber egal. Du hattest recht mit Dad.
Klar, ich wollte, dass du glücklich bist, aber deshalb musstest du ja nicht ausgerechnet in dieser einen Sache recht behalten. Ich hätte es besser gefunden, wenn alles mehr schwarz-weiß gewesen wäre, denn seien wir ehrlich, wäre Dad einfach ein schrecklicher Mensch, ließe sich viel einfacher erklären, was mit unserer Familie passiert ist. Er ist aber kein schrecklicher Mensch, wie ich mittlerweile weiß, sondern einfach bloß ziemlich schwierig. Selbst jetzt, nach den letzten drei Monaten, wüsste ich nicht, wo ich anfangen sollte, wenn jemand mich fragen würde, wie es so weit hat kommen können mit uns. Wahrscheinlich würde ich irgendwas in der Art sagen wie »Äh … keine Ahnung?«.
Und dass ich jetzt hier im Krankenhaus liege, Mom, also was soll ich sagen …
Mir ist schon ZIEMLICH GENAU klar, wie ich hier gelandet bin. Eine dumme Entscheidung nach der anderen, und jetzt liege ich von piependen Apparaten umgeben in diesem Zimmer und habe Schläuche in den Armen und in der Nase. Müsste ich alles noch mal machen, würde ich mich definitiv anders entscheiden.
Das nennt man Reue, oder? Genau das, was du Joe und mir ersparen wolltest, als Dad im Frühjahr aus dem Nichts aufgetaucht ist und du uns gebeten hast, ihm wenigstens eine Chance zu geben. Hier liege ich jetzt also und bereue bitterlich, denn wer weiß, ob ICH jemals eine Chance bekomme, alles wieder in Ordnung zu bringen. Wenigstens weiß ich jetzt, wie Dad sich fühlt, und ganz ehrlich, das wünscht man niemandem.
Und egal, was du jetzt mit ihm vorhast, Mom, das geht schon in Ordnung. Es ist deine Entscheidung. Ich weiß, was ich will, und Joe macht sowieso sein eigenes Ding. Aber wir wünschen uns beide, dass du wenigstens einmal eine Entscheidung triffst, mit der du glücklich wirst.
Das wollte ich eigentlich nur gesagt haben. Und jetzt bist dann du dran, schätze ich.
Alles Liebe,
deine Lieblingstochter (Cori)
Drei Monate zuvor
Bei manchen Menschen rechnet man überhaupt nicht damit, ihnen in einer Kleinstadt in Pennsylvania zu begegnen. Manchen dagegen läuft man ständig über den Weg. Meine beste Freundin Lena beispielsweise sehe ich fast täglich. Sie unterrichtet an derselben Schule wie ich, und selbst wenn wir einander aus dem Weg gehen wollten, würden unsere Wege sich zwangsläufig kreuzen: auf dem Schulflur oder im Lehrerzimmer oder eben auf dem Parkplatz, wo wir selbst Ende April noch die Autoscheiben freikratzen müssen.
Oder Trinity, die beste Freundin meiner Tochter. Ein Tag ohne Trinity scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Trinity in der Schule, Trinity bei uns zu Hause, Trinity, die schon mit ihrem Auto bereitsteht, um meine Tochter vom Schwimmtraining abzuholen und dann mit ihr in die Stadt zu fahren und Jungs zu gucken.
Oder meine Dentalhygienikerin. Ich sehe sie jeden Samstag auf dem Markt, wo sie mit den Frauen ihrer Kirchengruppe handgeschöpfte Seifen und Kerzen verkauft. Wenn ich mal nicht an ihrem Stand vorbeischaue, bekomme ich umgehend Post von ihr, und weil ich weiß, wie geizig sie ist, muss ihr das wirklich ein Anliegen sein. Liebe Amy, schreibt sie dann, ich mache mir Sorgen um dich und hoffe, dir und den Kindern geht es gut. In Gottes Liebe, Miriam.
Und natürlich die Leute, mit denen man erst gar nicht rechnet. Jamie aus Outlander zum Beispiel. Nach dem kann ich mir noch so sehr die Augen ausgucken, der lässt sich partout nicht blicken, weder auf dem Markt noch in der Schule noch bei den Kreativwettbewerben meines Sohnes.
Oder Oprah Winfrey. Mit Oprah würde ich mich gern mal über Bücher unterhalten, das stelle ich mir sehr nett vor.
Oder meinen Mann.
Nur dass genau der doch jetzt vor mir steht. Der Mann, mit dem ich seit achtzehn Jahren verheiratet bin und den ich zuletzt vor drei Jahren gesehen habe, als meine Tochter zwölf war und mein Sohn gerade noch acht, und er sich zwei von mir gebügelte Hemden und zwei von mir gekaufte Krawatten, seine Laufschuhe, Sportklamotten, Rasierzeug sowie sechs verschiedene angstlösende Medikamente in sein Handgepäck packte und zu einer Geschäftsreise nach Hongkong aufbrach, von der er nie zurückgekehrt ist.
Bis jetzt.
Denn er ist es, definitiv. Auch nach drei Jahren würde ich ihn überall erkennen, selbst wenn er wie jetzt vor dem Pflasterregal in unserer Drogerie steht. Er schaut zu mir herüber und ringt sich ein Lächeln ab. Mir ist sofort klar, was er hier will, und mir hat seit Jahren vor genau diesem Moment gegraut.
Dabei war es bloß eine Frage der Zeit.
Er will sein altes Leben zurück.
Wie jede erwachsene, mit beiden Beinen im Leben stehende Frau es in Anbetracht der Situation machen würde, ziehe ich erst mal den Kopf ein und verstecke mich hinter den Wattestäbchen.
Ein zweckloses Manöver. John ist vielleicht fünf Meter von mir entfernt und hat mich längst gesehen. Er hat ja extra dieses verlegene Lächeln für mich aufgesetzt, an das ich mich noch bestens erinnere. Es wird stets von einem entschuldigenden Schulterzucken begleitet und soll so viel heißen wie »Tut mir leid, dass ich vergessen habe, auf dem Heimweg noch Milch zu besorgen, aber es war ein langer Tag, und ich bin müde, und können die Kinder morgen nicht einfach trockenes Müsli zum Frühstück essen?« Meine Schüler haben eine ähnliche Variante, bei ihnen ist es das »Kann ich auch für meine Mühe eine Eins haben?«-Lächeln.
Das Problem ist, dass John nicht einfach vergessen hat, auf dem Nachhauseweg Milch zu besorgen, sondern gar nicht erst nach Hause gekommen ist. Drei Jahre hat er sich nicht blicken lassen, hat sich nicht um seine Kinder gekümmert, keine Rechnungen bezahlt, hat vergessen, dass er eine Frau hat, für die er da sein sollte. Und da kann man schon eine andere Miene erwarten, finde ich. Eine Miene zum Beispiel, die ein gewisses Schuldbewusstsein ausdrückt. Oder die Ahnung, dass deine Ex gleich mit einem stumpfen Gegenstand auf dich eindreschen wird.
Aus meiner geduckten Haltung am Ende des Erste-Hilfe- Regals schaute ich mich nach stumpfen Gegenständen um.
Alles, was ich sehe, sind neonpinke Hula-Hoop-Reifen. Es dürfte schwer sein, einen Mann mit einem rosa glitzernden Plastikreif k. o. zu schlagen, doch allein die Vorstellung erfüllt mich mit süßer Genugtuung.
»Amy?«, höre ich John fragen. »Amy, bist du das?«
Er weiß, dass ich es bin. Ich weiß, dass er es ist. Ich würde ihn überall erkennen. Im ersten Jahr nach seinem Verschwinden habe ich ihn dauernd irgendwo gesehen. Manchmal, wenn ich in der Stadt unterwegs war, meinte ich ihn in einem vorbeifahrenden Auto zu erspähen. Und jedes Mal machte mein Herz einen Satz, nur um im nächsten Moment in sich zusammenzufallen, wenn ich merkte, dass es mal wieder falscher Alarm war. Einmal, wenige Wochen, nachdem er uns verlassen hatte, sah ich einen Mann, der aus der Ferne wie John wirkte, in einem Mietwagen in unsere Straße einbiegen. Plötzlich war ich von einer solchen Gewissheit erfüllt, dass mir das Blut heiß in den Ohren rauschte und ich mich fühlte wie, keine Ahnung, wie jemand, der in einer einsamen Schlucht feststeckt, ohne Wasser und Verpflegung, und plötzlich kommt jemand und lässt eine Strickleiter herab. Ich fuhr rechts ran und wartete ab, ob der Wagen vor unserem Haus halten würde, aber er fuhr einfach weiter. Ich schaute ihm im Rückspiegel hinterher und brauchte bestimmt zwanzig Minuten, um mich davon zu erholen.
Aber das jetzt ist etwas anderes. Das ist keine Übung. Diesmal ist es wirklich John. Er ist wieder da, und lieber würde ich verhungern und verdursten, als nach dem rettenden Seil zu greifen.
»John«, sage ich mit gespielter Verwunderung und richte mich langsam auf. Dann gehe ich um die Ecke in seinen Gang, zu den Kühlpacks und Mullbinden und Wundsalben. Alles da, um ihn zu verarzten, nachdem ich ihm mit Plastikspielzeug und Vorratspackungen Vitamin D eins übergezogen habe.
»Ich glaub’s ja nicht, dass ich dich hier treffe«, sagt er, und da weiß ich auch nicht mehr, was ich sagen soll. Er glaubt es nicht, mich hier zu treffen? Hier in dieser Stadt, wo wir fast zwanzig Jahre zusammengelebt haben? Wo unsere Kinder die ersten Worte gesprochen und ihre ersten Schritte gemacht haben und jetzt darauf warten, dass ich nach Hause komme mit – ich muss in den Einkaufskorb schauen, weil ich ganz vergessen habe, was ich eigentlich besorgen wollte – mit Mikrowellenpopcorn, Tampons und Clearasil? »Also, ich dachte natürlich, ich würde bei euch vorbeikommen, und hatte mich schon gefragt, wie du es aufnehmen würdest und wie ich es anstellen sollte, erst unter vier Augen mit dir zu reden, bevor ich dann die Kinder wiedersehe. Aber so ist es ja viel besser, oder was meinst du? Dann rücke ich euch nicht gleich so auf die Pelle.«
Ich starre ihn bloß an und bin sprachlos. Ich könnte schreien. Oder heulen. Was gäbe ich jetzt darum, eine dieser Frauen zu sein, die so eine richtige Szene machen und dem anderen die Fingernägel ins Gesicht krallen können. Aber so bin ich nicht. Außerdem stehen wir ja mitten in der Drogerie, also starre ich einfach bloß.
»Amy?«, fragt er. »Ist alles in Ordnung, Amy?«
»Verschwinde«, höre ich mich sagen. »Ich weiß nicht, was du hier willst, aber wir brauchen dich nicht. Verschwinde einfach wieder, am besten sofort.« Ich setze den Einkaufskorb ab, der plötzlich unerträglich schwer ist, und scheuche ihn mit der Hand weg wie einen Vogel, der sich im Park zu dicht neben mir niedergelassen hat.
»Es tut mir leid«, entgegnet er da. »Ich meine, tut mir leid, aber ich habe nicht vor, so bald wieder zu verschwinden.«
Gehhilfen, schießt es mir durch den Kopf. Verkaufen sie hier nicht auch Gehhilfen? Damit ließe sich einiger Schaden anrichten, vor allem mit den dreibeinigen, die extrastarken Halt bieten.
»Amy?«, kommt es erneut von ihm, und ich frage mich, ob man mir meine Gedanken ansieht. Hat sich ein Lächeln in mein Gesicht geschlichen, ein Grinsen gar? Ich spüre ein Lachen in mir aufsteigen und kann es mir selbst nicht erklären. »Möchtest du dich setzen?«, fragt John nun.
Und dann geht er zu weit. Er tut, was er nicht hätte tun sollen, was in Anbetracht der Umstände eine solche Anmaßung ist, dass es mir fast egal ist, was die Leute denken und ich aus vollem Hals hätte schreien können, nur damit er aufhört.
Er streckt die Hand nach mir aus.
Ich reiße meinen Arm weg. »Oh nein«, protestiere ich, und damit scheint der Bann gebrochen, die Gefahr gebannt, die im Grunde gar keine war – kein Übergriff, kein Grund zu schreien oder sich zu verstecken –, und endlich bin ich wieder klar im Kopf und in der Realität dieses Augenblicks angekommen. Ich atme tief durch. »Ich weiß wirklich nicht, was du hier willst, John. Aber es ist jetzt drei Jahre her, seit du mit mir und den Kindern unter einem Dach gelebt hast, seit wir Tisch und Bett und unseren Alltag geteilt haben, tagein, tagaus. Drei Jahre. Das sind mehr als tausend Tage. Du kannst nicht einfach zurückkommen und so tun, als ob nichts wäre. Kannst nicht hier in meiner Drogerie auftauchen und dich bei den Pflastern und den Mullbinden herumdrücken und, keine Ahnung, einfach nach meinem Arm greifen, als wäre ich alt und gebrechlich. Das kannst du einfach nicht bringen. Nicht nach all den Tagen und Nächten und den unbezahlten Rechnungen und dem Kredit, den wir umschichten mussten, und dann die Besuche beim Zahnarzt! Das kannst du nicht machen. Das geht einfach nicht.«
John ist immer kleiner geworden. Sein betretenes Lächeln ist einem Schmerz gewichen, der dem meinen wohl in nichts nachsteht. Plötzlich wird mir klar, dass auch er in einer tiefen Schlucht steckt. Und dass er glaubt, ich wäre diejenige mit dem Seil.
Er schüttelt den Kopf, und was dann aus seinem Mund kommt, ist genau das, was ich schon vor Jahren von ihm hätte hören wollen, noch bevor er uns verlassen hat und unsere Welt zusammengebrochen ist. Jetzt hingegen klingen die Worte wie Hohn in meinen Ohren.
»Du hast recht«, sagt er. »Es war unverzeihlich, was ich getan habe, und es tut mir leid. Aber ich bin nicht hergekommen, um dich noch einmal zu verletzen, Amy. Ich würde es gern wiedergutmachen, deshalb bin ich hier.«
»Ich wüsste nicht, wie du das anstellen willst.«
»Das überlass einfach mir«, erwidert er, und seine Worte sind so entwaffnend, dass ich wieder mal stumm dastehe. »Ich möchte all das wiedergutmachen, was ich versäumt habe und unseren Kindern ein guter Vater sein.« Er bückt sich nach meinem Einkaufskorb und hebt ihn auf. »Ich werde alles wieder in Ordnung bringen, versprochen.«
»Er will was?«
Meine Tochter Corinne, mein Sohn Joseph und meine beste Freundin Lena sitzen zusammen im Wohnzimmer unseres schönen, alten doppelgeschossigen Hauses, das nur einen kurzen Fußweg von der Country Day School entfernt liegt, an der ich als Schulbibliothekarin arbeite. Wie schöne Dinge es so an sich haben, ist auch das Haus ziemlich anspruchsvoll. Es sorgt beispielsweise dafür, dass mir am Monatsende kein Geld mehr bleibt. Sowie es spitzkriegt, dass ich ein paar Dollar zurückgelegt habe, um mit den Kindern mal eine Woche Urlaub zu machen, geht irgendetwas kaputt. Das Haus scheint unsere Aufmerksamkeit zu brauchen. Vielleicht hat es Angst, verlassen zu werden.
Als John noch bei uns lebte, war das alles kein Problem. Er verfügte über handwerkliches Geschick, hämmerte gern im Haus herum und brachte in Ordnung, was aus dem Lot geraten war, auch wenn er sich dazu erst Heimwerkervideos auf YouTube anschauen musste. Und musste er sich doch einmal geschlagen geben und einen echten Fachmann hinzuziehen, ließ sich die Rechnung von seinem soliden Gehalt als Firmenjurist eines großen Lebensmittelkonzerns ohne Mühe begleichen.
Das Haus hatte schon einhundert Jahre auf dem Buckel, als wir einzogen, und wir wussten natürlich, worauf wir uns einließen. Es war von Anfang an eine Art Liebhaberprojekt, doch das würden wir schon hinbekommen, dachten wir. Erst wurde die Elektrik auf den neuesten Stand gebracht, dann das Mauerwerk trockengelegt, der Keller neu versiegelt, die alte Holzfassade stilgerecht erneuert. Eine Baustelle nach der anderen tat sich auf, aber wir hatten Zeit. Es gab nichts, oder doch fast nichts, was John, der in der tiefsten bäuerlichen Provinz aufgewachsen war, umgeben von Amish-Gemeinden und meilenweit von jedem Baumarkt entfernt, nicht mit seinen beiden Händen hätte wieder hinbekommen können.
Außer, so schien es, sich selbst. Um sein eigenes Leben in Ordnung zu bringen, verfuhr er nach einem Zwei-Stufen-Modell. In Phase eins alle Gefühle für sich behalten, damit niemand merkte, dass etwas nicht stimmte, und in Phase zwei dann Frau und Kinder verlassen.
»Er will …«, druckse ich herum, denn ich werde vor den beiden jetzt garantiert nicht schlecht über ihren Vater reden, nachdem ich ihn und ihre Erinnerungen an ihn drei einsame Jahre lang in Schutz genommen habe. »Er will Zeit mit euch verbringen. Er hat euch immer geliebt und euch sehr vermisst. Es tut ihm leid, dass er nicht mehr für euch da sein konnte.«
Cori gibt eins ihrer undefinierbaren Teenagergeräusche von sich, das je nach Situation so viel bedeutet wie: »Erzähl doch keinen Scheiß/Du hast ja keine Ahnung/Lass mich in Ruhe.« Ein zwischen verächtlichen Lippen hervorgestoßenes Prusten, als würde sie gleichzeitig niesen und gekitzelt werden. Dank zweier langer und schwerer Geburten könnte ich einen solchen Laut gar nicht mehr produzieren, ohne meinen Beckenboden über Gebühr zu strapazieren.
»Hören wir uns doch erst mal an, was er will«, schlage ich vor. »Wir setzen uns zusammen und halten eine Familienkonferenz ab, dann sehen wir weiter.« Und als wäre das nicht schon schlimm genug, erzähle ich ihnen, was John dann vor dem Erste-Hilfe-Regal noch sagte. »Bald sind doch Sommerferien, und er würde gern die erste Ferienwoche mit euch verbringen.«
»Wie bitte?«, sagt Cori. »Nö. Nicht mit mir.«
Ziemlich genau das dachte ich auch, als er mir mit dem Vorschlag kam. Nicht mit mir.
»Ich kann verstehen, wie dir zumute ist«, sage ich und bereue es sofort.
»Du hast ja keine Ahnung, wie mir zumute ist! Oder hat dein Dad sich eine Woche vor deinem zwölften Geburtstag aus dem Staub gemacht? Eben.«
»Ja, du hast recht«, gebe ich zu und flehe um Geduld. »Aber dafür hat mein Mann mich mit zwei wunderbaren, aber bisweilen auch anstrengenden Kindern, einem wunderbaren, doch leider sehr kostspieligen Haus und ohne Job oder Geld sitzen lassen. Glaub mir, ich kann dir das sehr gut nachfühlen.«
Sie verdreht die Augen. »Aber um dich geht es doch gar nicht, Mom. So, wie ich das verstehe, ist er nicht wegen dir zurückgekommen.«
Und da ist sie – die geheime Superkraft pubertierender Töchter. Sie hat es nicht so gemeint, aber ihre Worte treffen einen wunden Punkt. Habe ich nicht genau das gedacht, als ich ihn in jenem ersten Moment meinen Namen rufen hörte? Oder als er mich zum Abschied umarmen wollte und in seinem Blick fast ein stummes Flehen lag?
Wie hätte ich denn nicht annehmen sollen, dass es um mich ginge?
Ich schiebe energisch das Kinn vor. »Wir werden in aller Ruhe darüber reden. Ohne eure Zustimmung passiert gar nichts. Wir setzen uns zusammen, mit eurem Dad, und dann entscheiden wir, wie es weitergeht.«
»Aber ich habe mich schon entschieden!«
Wie die Mutter, so die Tochter. Genau das habe ich auch zu John gesagt, als er um eine Woche mit den Kindern bat. Eine Woche, um drei Jahre wiedergutzumachen? Nein. Da müsse er sich schon was Besseres einfallen lassen.
»Erst die Familienkonferenz, dann wird entschieden«, bleibe ich dabei. »Er ist immerhin euer Vater, und ich fände es gut, wenn ihr das mit ihm persönlich klärt. Vielleicht lernt ihr etwas von ihm. Und wenn es nur ist, sich einem Menschen zu stellen, der einem wehgetan hat.«
»Punkt eins«, meldet sich mein schlauer Sohn zu Wort. »Er kann überhaupt nicht an der Familienkonferenz teilnehmen, weil er ja gar nicht mehr zur Familie gehört.«
Cori nickt nachdrücklich und verschränkt die Arme. »Genau. Er gehört nicht mehr dazu.« Ich muss lachen und erinnere mich daran, wie ich mir früher, als die Kinder noch klein waren und sich ständig in den Haaren lagen, oft nicht anders zu helfen wusste als mit einem »Denkt dran, dass euer Vater in zwei Stunden nach Hause kommt«, und wie dann sofort aller Zwist vergessen war. Anscheinend hat Johns Auftauchen noch immer diese einigende Wirkung auf sie.
»Punkt zwei«, fährt Joe fort. »Ich wüsste nicht, was ich von meinem Dad lernen sollte. Außer vielleicht, wie man einen Nervenzusammenbruch bekommt, seine Familie sitzen lässt, sich nach Hongkong absetzt und sein angekratztes Ego mit jüngeren Frauen aufzupolieren versucht.«
Mir klappt die Kinnlade herunter. Soll ich entsetzt oder dankbar sein, dass Joes Kindertherapeut es geschafft hat, meinen Sohn schon im zarten Alter von zwölf Jahren seine Gefühle so eloquent in Worte fassen zu lassen?
»Dürfte ich auch mal was sagen?«, schaltet sich Lena ein. Wir nicken erleichtert, denn Lena gehört quasi zur Familie, seit sie vor drei Jahren das sinkende Schiff gerettet hat. Eine bessere Freundin hätte ich mir nicht wünschen können, und ich weiß bis heute nicht, wie ich das ohne sie durchgestanden hätte. Lena hat sich um die Kinder gekümmert, mir zu einem Job verholfen, für uns gekocht und tröstend meine Hand gehalten, wenn ich Rotz und Wasser heulte.
Ihre Stimme ist klar und bestimmt. »Lasst uns die Frage einfach mal juristisch betrachten, das ist doch sein Gebiet. Was genau habt ihr gegen euren Vater vorzubringen? Und wenn zahllose Folgen von Good Wife mich eins gelehrt haben, dann dass es gute, triftige Gründe sein müssen, um jeden Kontakt zu ihm abzubrechen.«
Cori, die ein großer Fan von Gerichtsdramen ist, spitzt die Ohren. Joe, der viel von logischem Denken hält, sich aber weder für Fernsehserien noch Dramen im Allgemeinen interessiert, wartet geduldig ab.
»Ist euch dadurch, dass er vor drei Jahren eure Familie verlassen hat, irgendein greifbarer Nachteil entstanden?« Lena schaut Cori und Joe fragend an, ehe sie die Antwort gleich mitliefert. »Objektiv betrachtet, nein. Denn eure Mom hat sich doppelt für euch ins Zeug gelegt. Sie hat quasi über Nacht einen Job als Schulbibliothekarin angetreten, um weiterhin eure nette kleine Privatschule finanzieren zu können. Ihr habt nicht einen einzigen Tag versäumt. Sie hat das Haus refinanziert, damit auch ohne Unterhaltszahlungen von eurem Dad genug Geld für alle eure Wünsche da ist und ihr hier wohnen bleiben könnt. Ihr habt auf nichts verzichten müssen. In Sachen Lebensqualität hat sich durch den Auszug eures Dads nichts Wesentliches für euch verändert.«
Ich schaue sie an und denke, nett gemeint, aber was dieses kleine Plädoyer mehr als deutlich macht, ist doch wohl, dass meine Lebensqualität ganz erheblich gelitten hat. Ich leide hier seit drei Jahren vor mich hin und bade alles aus. Ein Aufklärungsvideo über subakuten chronischen Stress würde im Zeitraffer zeigen, wie ich frühmorgens in einer meiner in drei flotten Farben vorhandenen Stretchhosen mit Gummiband knietief im Schnee stehe und die Einfahrt freischippe, damit meine Kinder pünktlich zu ihren außerschulischen Aktivitäten kommen, wie ich dann zweihundertfünfzig überprivilegierten Kids beizubringen versuche, dass Computernutzung nicht zehn Stunden Pornokonsum bedeutet, und mich abends völlig fertig mit einer Folge Outlander aufs Sofa fallen lasse und viel zu erledigt bin, um überhaupt auf den Gedanken zu kommen, jetzt noch meinen Vibrator hervorzukramen, geschweige denn ihn zu benutzen.
Es wäre ein ziemlich deprimierendes Filmchen.
Aber Lena ist noch nicht fertig. »Moment, werdet ihr sagen, das ist rein materiell und viel zu kurz gedacht, denn was ist mit den seelischen Verletzungen? Mit unserer Wut und unserem Schmerz? Natürlich tat es weh, als er euch verlassen hat. Aber kann man das nicht vielleicht wiedergutmachen? Das dürfte die Frage sein, die er sich stellt. Und die er auch euch stellen wird. Lässt sich die verlorene Zeit mit euch nicht nachholen?«
»Was geht es uns an, was er will?«, entgegnet Cori. »Es sollte doch darum gehen, was wir wollen.«
»Gut«, fährt Lena fort. »Dann überlegen wir mal, was ihr wollt. Was glaubt ihr denn, was sich besser anfühlt – ihm zu verzeihen und ein paar nette Tage mit ihm zu verbringen oder ihm bis ans Ende eures Lebens Vorwürfe zu machen? Oder anders gesagt: Schneidet ihr euch nicht ins eigene Fleisch, wenn ihr ihn bestraft?«
Corinne stöhnt genervt. »Bei dir klingt es so, als wäre es total ungerecht von uns, ihn zu hassen, Lena.«
»Jemanden zu hassen ist sowieso keine Lösung«, bemerke ich automatisch und mehr zu mir selbst. »Wenn ihr mich fragt, hat Lena mal wieder recht.«
Sie hebt die Hände, als wolle sie sagen »Tja, hab ich’s nicht gesagt?«.
»Ich heiße das Verhalten eures Vaters keineswegs gut«, stelle ich klar. »Wenn ich ganz ehrlich sein soll, hat es mich damals zutiefst verletzt, dass er uns einfach so verlassen hat.« Noch ehrlicher wäre es zuzugeben, dass es mich auch keineswegs kaltgelassen hat, ihn einfach so wiederzusehen.
»Ach nee«, sagt Cori.
»Aber so verlockend es ist, ihn die Konsequenzen seines Handelns spüren zu lassen, will ich das eigentlich Wichtige nicht aus den Augen verlieren – und das seid ihr beide. Und mein größter Wunsch ist es, dass ihr glücklich seid. Obwohl«, setze ich nach, »am meisten wünsche ich mir, dass ihr das College, oder zumindest die Schule, ohne Vorstrafen beendet und glücklich seid. Ich glaube, wenn ihr Zeit mit eurem Vater verbringt – und versucht, ihm seine Fehler zu verzeihen –, würde euch das eher glücklicher als unglücklicher machen.«
Glaube ich das wirklich, was ich da sage? Bin ich auf einmal eine Verfechterin selbstloser Vergebung geworden? Könnte ich John verzeihen, was er getan hat, ihn wieder in unser Leben lassen, als wäre nichts geschehen?
Wohl kaum. Aber würde ich es mir nicht wenigstens für die Kinder wünschen?
»Ihr wisst, dass euer Dad uns nicht ohne Grund verlassen hat, auch wenn es sich damals so anfühlte. Er hat uns verlassen, weil er dachte, wir wären ohne ihn besser dran. Er hat uns verlassen, weil er ständig traurig und wütend war und Angst hatte, euch damit zu schaden. Er dachte, wenn er weggeht, würde es ihm irgendwann besser gehen und dann könnte er, wenn er zurückkommt, auch ein besserer Vater sein.« Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie schwer mir diese Worte fallen, wie verletzend sie noch immer sind. Da kann er mir noch so sehr versichern, es habe nichts mit mir zu tun gehabt. Wie sollte es denn nichts mit einem selbst zu tun haben, wenn der Mann, den man liebt, auf größtmöglichen Abstand zu einem gehen muss, um sein Glück zu finden? »Ihr wisst, dass er trotz allem immer an euch gedacht hat. Denkt doch nur an diese lustigen Karten, die er euch geschickt hat …« John hatte sich angewöhnt, den Kindern zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen Grußkarten zu schicken, denen jedes Mal ein viel zu üppig bemessener Scheck beilag: zum Geburtstag, zu Weihnachten, zu Thanksgiving und Ostern, einmal sogar zum Tag der Arbeit, was man wirklich nicht verstehen muss. Ich suche nach den passenden Worten. »Das zeigt, dass er … zwar nicht immer alles richtig gemacht, sich aber doch zumindest bemüht hat.«
Joe hat sein nachdenkliches Gesicht aufgesetzt. Lena und Cori schauen ihn erwartungsvoll an, denn was Joe als Nächstes sagt, dürfte Gewicht haben und für uns alle sprechen. Joe ist der Vernünftigste von uns, für sein Alter vielleicht etwas zu vernünftig. Ich neige dazu, mich aufzuopfern und die Märtyrerin zu spielen, Cori ist unsere Drama Queen, und John hat, wen überrascht es, eigentlich immer zuerst an sich gedacht. Bei Joe haben sich all diese Eigenschaften ins Positive gewendet: Er ist großzügig, einfühlsam, strebsam und dazu noch blitzgescheit. Bisweilen übersteigt er damit meinen Horizont, aber das tut meiner Mutterliebe keinen Abbruch.
»Lena«, sagt er schließlich, und ich weiß, dass jetzt eine Gewissensfrage kommt, denn bevor Lena Lehrerin an der Country Day wurde, war sie Ordensschwester. »Ist Vergebung etwas, das man lernen kann, so wie Schach, oder ist es ein Talent, das einem angeboren ist, so wie musikalisch sein?«
»Beides«, antwortet Lena auf ihre diplomatische Art. »Manche Menschen müssen es lernen, anderen zu verzeihen, und es wird ihnen nie leichtfallen. Wenn sie sich Mühe geben, können sie es darin zur Perfektion bringen, es wird aber immer eine Kopf- und keine Bauchentscheidung für sie sein. Wer sich nicht darum bemüht, wird im Laufe der Zeit immer mehr Kränkungen mit sich herumschleppen – und ich weiß, wovon ich rede, denn ich tue mich selbst schwer damit und muss mich ständig zur Nachsicht disziplinieren.«
Dann nickt sie zu mir herüber. »Anderen Leuten, wie eurer Mutter, wurde das Verzeihen praktisch in die Wiege gelegt. Sie merken es kaum noch, wie oft sie anderen etwas nachsehen. Dadurch werden sie zwar viel öfter ausgenutzt und gekränkt als andere Menschen, empfinden das aber gar nicht so, weil sie vergeben und loslassen können.«
Ich spitze nachdenklich die Lippen und weiß nicht, ob ich Lena darin zustimmen würde, habe aber natürlich nichts dagegen, dass sie mich vor den Kindern in einem besseren Licht erscheinen lässt.
Cori seufzt. »Dann gehöre ich definitiv zur ersten Gruppe, denn ich bin immer noch sauer, dass Trinity sich den Lippenstift in derselben Farbe gekauft hat wie ich. Das sollte mein Alleinstellungsmerkmal werden«, sagt sie, und ich muss mir eine bissige Bemerkung über Trinity verkneifen, die mir von Coris Freundinnen nicht gerade die liebste ist. »Und was Dad sich geleistet hat, ist ja noch mal was ganz anderes. Ich könnte ihm das mindestens noch mal drei Jahre nachtragen. Warum sollte ich nicht stinksauer auf ihn sein, wenn ich doch allen Grund dazu habe?«
»Es steht dir natürlich völlig frei«, sage ich. »Aber ich glaube, du lässt dir dadurch einiges entgehen. Was ist mit dir, Joe?«
»Ich mache, was Cori macht«, entgegnet er auf seine nüchtern bedachte Art. »Wenn sie keine Zeit mit ihm verbringen will, nicht mal eine Woche, dann will ich das auch nicht – nicht mal eine Woche.«
Lena lehnt sich zurück und lächelt. Sie hat schneller begriffen als ich, was hier gespielt wird.
»Oh Mann, meinetwegen«, stöhnt Cori theatralisch. »Blödmann.« Das geht an Joes Adresse. »Dann eben eine Woche. Eine Woche werde ich schon überleben.«
Joe lächelt still in sich hinein, Lena und ich wechseln einen kurzen Blick.
»Also eine Woche am Anfang der Sommerferien«, halte ich fest. »Das klingt doch nach einem Kompromiss, mit dem alle leben können. Und ich bin ja nicht aus der Welt«, verspreche ich. »Wenn irgendetwas sein sollte, stehe ich bereit, um die Scherben zusammenzukehren.«
Wie hätte ich in diesem Moment ahnen können, dass ich vor Ende des Sommers mehr als genug mit mir selbst zu tun haben würde?
Liebe Mom,
mir ist schon klar, dass du dieses sogenannte Lesetagebuch, zu dem du mich verdonnert hast, erst Ende des Sommers zu Gesicht bekommen wirst. Trotzdem würde ich gern ein paar Kritikpunkte anbringen.
Das Schuljahr ist noch nicht mal um, warum muss ich jetzt schon mit meinem Sommerferienleseprojekt anfangen?Warum soll ich überhaupt etwas in den Sommerferien lesen, wenn Sinn und Zweck der Sommerferien doch ist, NICHTS lesen zu müssen?Müssen Kinder, deren Eltern keine Bibliothekare sind, auch solche Projekte machen? Ich meine, ganz ehrlich, denk mal drüber nach. Müssen Kinder von Zahnärzten jeden Sommer dreimal am Tag Zahnseide benutzen? Oder was, wenn du das Pech hast, und deine Eltern sind in der Army? Geht es dann dreimal am Tag auf den Schießstand?Übrigens: Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich für Zahnseide und Schießstand entscheiden.Ein Wort zur Lektüreliste: Du schreibst, ich soll Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone lesen. Na super. Weißt du, was mir das bringt, ein Buch über einen autistischen Jungen zu lesen, der in England lebt und eine zahme Ratte hat? Absolut NICHTS. Damit kann ich mich NULL IDENTIFIZIEREN, MOM.Und wenn ich mir die anderen Titel anschaue, soll ich also was über Leute lesen, die entweder vor hundert Jahren gelebt oder gegen die Nazis gekämpft haben, in einer nicht näher benannten Zukunft leben oder in einem erfundenen Königreich aus einem Disneyfilm.
Mom. Sind dir John Green oder Stephenie Meyer ein Begriff? Sind die Tribute von Panem zu viel verlangt? Geht es bei diesem Projekt vielleicht darum, mich dafür zu bestrafen, das schwarze Schaf in einer Familie superschlauer Leseratten zu sein?
Ich finde das ehrlich gesagt ziemlich unfair. Weil … na, weil es halt einfach nicht fair ist.
Fair wäre, wenn du im Gegenzug einen ganzen Sommer lang mit Trinity am Pool abhängen müsstest.
Alles Liebe,
deine dumme kleine Tochter, Cori
Eine Woche. Am Beginn der Sommerferien. So richtig klar wird mir das erst am nächsten Tag in der Schule. Eine ganze Woche. Keine Kinder, keine Arbeit, kein gar nichts.
In bin gerade in der Schülerbücherei – wo sonst –, als ich zwei Schülerinnen über ihre Ferienpläne und Sommercamps reden höre. Beim Blick in den Kalender stelle ich fest, dass der Sommer keine irgendwie vage Idee ist wie Weltraumtourismus oder Bikini Waxing, sondern in Form der Sommerferien in genau drei Wochen ganz konkret Gestalt annehmen wird. In drei Wochen ist es so weit, und mein Mann, oder vielmehr mein Ex-Mann, nimmt die Kinder. Sie sind dann eine Woche nicht bei mir, ihrer Mutter, die sie besser kennt als irgendjemand sonst. Ich weiß, warum Joe keine Muscheln essen mag und was man tun muss, damit Coris Haare vom Chlor keinen Grünstich bekommen. Als John sich aus dem Staub gemacht hat, waren die beiden wirklich noch Kinder. Jetzt sind sie drei Jahre älter und um einiges komplizierter. Wird er mit zwei Teenagern klarkommen? Schafft er es, auch mal Nein zu sagen, oder wird er ihnen jeden Wunsch erfüllen? Als er sie das letzte Mal gesehen hat, waren beide noch einen Kopf kleiner und vertrauten ihm blind. Wird er sie wieder enttäuschen? Können sie sich überhaupt noch mal auf ihn einlassen? Will ich sie ihm wirklich eine Woche überlassen?
Zum dritten Mal in dieser Woche rufe ich John während meiner Pause aus dem Lehrerzimmer an.
»Hallo Amy«, grüßt er und klingt dabei weder überrascht noch verärgert, eher etwas resigniert.
»Was machst du, wenn Joe von einer Wespe gestochen wird?«, will ich von ihm wissen, ohne mich mit Nettigkeiten aufzuhalten.
Er ist einen Moment still. »Das ist eine Fangfrage«, sagt er dann. »Joe hat keine Wespenstichallergie.«
Ich runzele die Stirn und ärgere mich tatsächlich, dass er das weiß. »Weh tut es trotzdem«, halte ich bockig dagegen.
»Ja«, stimmt John zu, und ich könnte wetten, dass er still in sich hineinseufzt. »Ich mache zuerst einen Wickel mit Backnatron, danach kühle ich mit Eis.«
»Hm, okay.« Ich überlege, womit ich ihn drankriegen kann. Coris Sozialversicherungsnummer? Aber da müsste ich selbst passen. Irgendwas mit vielen Siebenen.
»Es wird schon nichts passieren, Amy. Ich bin für alle Eventualitäten gewappnet.«
»Sie sind stinksauer auf dich.« Ich bin stinksauer, denke ich. »Sie könnten dir das Leben zur Hölle machen.«
»Ich weiß«, sagt John. »Aber ich bin es, der sie gegen mich aufgebracht hat, also sollte ich auch versuchen, die Kluft zwischen uns zu überwinden.«
Ich schüttele den Kopf. »Wenn es dazu nicht schon zu spät ist.«
Wieder ist er einen Moment still. »Lassen wir es auf einen Versuch ankommen«, meint er dann. »Und wer weiß, am Ende profitieren wir alle davon.«
Es läutet. Ich habe immer noch ein ungutes Bauchgefühl, aber ich verabschiede mich hastig und hetze zur nächsten Stunde, wo mir erst mal kalter Schweiß ausbricht, was eine ziemliche Leistung ist in Anbetracht der auf einstellige Temperaturen heruntergekühlten Schulräume. Vielleicht hofft man, die Pheromone der Jugendlichen im Zaum zu halten, wenn man sie schockfrostet. Nachdem ich meine Klasse begrüßt und die Aufgaben an den Computerarbeitsplätzen verteilt habe, mache ich das, was alle Bibliothekarinnen tun, wenn sie die nackte Angst packt: Ich schreibe eine Liste.
Hier eine Auswahl dessen, was meinen Kindern zustoßen könnte, während sie sich in der Obhut ihres unzuverlässigen, verantwortungslosen Vaters befinden:
sie fangen an zu rauchen/trinken/Sex zu haben Cori wird schwanger, Joe bekommt HerpesJohn lässt sich mit ihnen Versöhnungs-Tattoos stechener verliert sie in einer Menschenmenge/sie fallen in ein Zeitloch/sie müssen auf der Straße schlafen, auf Pappkartons, inmitten streunender Katzen, bis ich komme, um sie zu rettenSo furchtbar wahrscheinlich das alles anmutet, bleibt noch ein weiteres Szenario – vielleicht das schlimmste von allen:
Sie haben eine prima Zeit und ich nicht.
Obwohl Lena – die, wie ich betonen möchte, keine Kinder hat und auch keine will – behauptet, das sei eine »tolle Gelegenheit« für mich, habe ich gar kein Interesse daran, so lange von den Kindern getrennt zu sein. Ich will auch nicht eine Woche mit dem Zug durch Europa reisen, selbst wenn ich das Geld dafür zusammenbekäme, oder in irgendwelchen Töpfer- und Aquarellkursen die Künstlerin in mir entdecken. Wie wohl die meisten Mütter bin ich einfach nur müde. Ich könnte drei Tage am Stück schlafen. Aber danach, was mache ich dann? Mich weitere drei Tage nicht vom Sofa bewegen und Serien schauen? Pizza bestellen und Wein aus Tetra Paks trinken? Einmal ohne langen Einkaufszettel ganz gemütlich durch den Supermarkt bummeln?
Ich versuche, mir das Haus ohne die Kinder vorzustellen. Meinen Kalender ohne einen einzigen Termin. Eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Einsamkeit steigt in mir auf. Ich muss an das lange Wochenende letztes Jahr denken, als meine Eltern mit den Kindern zum Sightseeing in Washington waren. Tag eins: Gilmore Girls, zwanzig Maschinen Wäsche, einmal alles gründlich durchputzen, endlich das Ikea-Regal aufbauen, fünf Stunden Bibliothekaren-Podcasts hören und für eine Kollegin Babymützchen stricken. Tag zwei: vor dem Kühlschrank hocken und heulen. Tag drei: ich, wie ich die vier einen Tag früher im Aquarium in Baltimore überrasche. Nicht unbedingt eine Sternstunde meines Lebens.
Ich bin wirklich bei einigen meiner Serien hinterher, denke ich. Die Küche könnte auch mal wieder einen Anstrich vertragen.
Mein Blick wandert über die Jugendlichen in meinem Medienraum. Während sie mit ihren iPads beschäftigt sind, sollte ich mich administrativen Aufgaben widmen. Wahrscheinlich chatten sie die meiste Zeit und tun bloß so, als würden sie an ihren Absolventenprojekten arbeiten, mit denen wir die Abschlussklassen in der langen, zähen Phase vom Frühjahr bis zu den Sommerferien bei Laune zu halten versuchen. Eigentlich ist es so gedacht, dass sie sich wie am College einen Studiengang aussuchen und das Ganze einmal in der Theorie antesten. Mindestens eine Stunde am Tag ist diesem Probestudium gewidmet. Die Kids sollen sich mithilfe von Collegebroschüren Lehrveranstaltungen zusammenstellen, für eine Seminararbeit in ihrem Fach recherchieren, sich einen Praktikumsplatz suchen und in ihrem angestrebten Berufsfeld hospitieren. Am Ende wird eine Gesamtnote vergeben, die sich aus Praktikumsbewertung, Studiendossier und einer Abschlussarbeit von zehn Seiten zusammensetzt, und benotet wird der ganze Spaß von dem Fachbereich, der nicht unter dem eigentlichen Prüfungspensum zusammenbricht, sprich von mir. Von mir, den Sport- und Beratungslehrern, ja sogar von der Schulkrankenschwester. Alle dürfen mal mit anpacken.
Und weil ich so ungern schlechte Noten verteile – am liebsten würde ich allen eine Eins geben, um sie mit gesundem Selbstbewusstsein in die Welt hinauszuschicken –, begebe ich mich nun gemessenen Schritts ans Whiteboard, wo der Countdown gezählt wird. Hinter mir herrscht angespannte Stille, als ich langsam die 15 wegwische und durch eine 14 ersetze. Noch zwei Wochen bis zur Abgabe. Darunter schreibe ich:
Studiendossier?
Abschlussarbeit?
Referenzen?
Dann lasse ich die Liste der Anforderungen und die verbleibenden Tage ihre selbsterklärende Wirkung tun, hole mein Tablet hervor und schreibe erst mal Lena eine Nachricht.
Amy:
Wenn die Kinder nicht da sind, komme ich zu dir.
Lena:
Nein.
Amy:
Doch, wirklich. Ich könnte die Woche bei dir wohnen.
Lena:
Nein.
Amy:
Wir machen es uns gemütlich.
Ich koche für uns, und wir veranstalten ein Daniel-Craig-Festival.
Lena:
Machen wir doch jeden Samstag.
Amy:
Warum mit liebgewonnenen Traditionen brechen?
Lena:
Traurig, wenn dir nichts Besseres einfällt.
Amy:
Ich dachte eigentlich, Nonnen sollten nett sein zu ihren Nächsten.
Lena:
Was du alles so denkst.
Gut, dann verbringe ich die Woche eben nicht mit Lena. Besuche ich mal wieder meine Eltern in Florida. Eine Woche, um unter der brütend heißen Sonne Tampas darüber zu grübeln, wie es sein kann, dass man bei der Geburt vertauscht wurde, seinen Eltern aber dennoch wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Die beiden haben den ganzen Tag Fox News laufen, und das in einer Lautstärke, die allein schon bleibende Schäden der Hirnfunktion verursachen könnte.
Es muss doch etwas geben – außer der Wäsche –, was ich in dieser einen Woche machen könnte. Etwas Schönes, Sinnvolles. Etwas, das ich schon immer machen wollte, wozu ich aber nie gekommen bin. Seit die Kinder da sind, hatte ich keine Woche am Stück mehr frei. Sollten sich da in den letzten fünfzehn Jahren nicht ganz viele unerfüllte Wünsche angesammelt haben? Oder wenn schon keine Wünsche, dann vielleicht Aufgaben, die man vernachlässigt hat. Hm. Wann war eigentlich meine letzte Fortbildung?
Aha! Eine Fortbildung! Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Von den Lehrenden der Country Day wird erwartet, jedes Jahr fleißig Fortbildungspunkte zu sammeln. Ich könnte mir auch mal wieder ein paar Stunden gönnen, mich beispielsweise mit neuen Computerprogrammen vertraut machen oder etwas über effiziente Stundenplangestaltung lernen. Zu Hause könnte ich meine Skills dann einsetzen, um Coris Handynutzung zu überwachen oder Joe automatisierte Erinnerungen schicken, dass er mindestens ein Mal am Tag an die frische Luft gehen soll.
Ich schaue auf der Seite der American Library Association nach Konferenzen und Fortbildungsangeboten. Als die vorbildliche Bibliothekarin, die ich nun mal bin, habe ich die Seite natürlich mit Lesezeichen versehen – grün: Berufliches, blau: Bücher. Nicht zum ersten Mal wünsche ich mir, dass beide Kategorien auf dem Bildschirm zu einem satt leuchtenden Swimmingpool-Türkis ineinander verschwimmen würden.
Während der Veranstaltungskalender lädt, überlege ich, dass ein Kurs in Scranton optimal wäre, da könnte ich morgens hinfahren und abends wieder zurück. Oder gleich ein Online-Workshop. Dann könnte ich zu Hause bleiben und meine Fortbildung im Pyjama machen. Bitte, bitte lass mich einen Online-Kurs finden, den ich noch nicht belegt habe …
New York, NY
1.–4. Juni
Columbia University
Die Schulbibliothek der Zukunft: Lernen Sie neue Ressourcen kennen und machen Sie Ihre Schule fit für die Anforderungen von morgen. Wir wollen gemeinsam Ideen und Methoden entwickeln, um Lehrpläne zeitgemäßer zu gestalten, ohne dabei auf Bewährtes zu verzichten. Was wird für Lernende in fünf oder zehn Jahren mediale Normalität? Wie lassen sich die Möglichkeiten neuer Technologien im Unterricht und in der Leseförderung nutzen?
10 Credit Points – Beiträge werden erbeten
Hm. New York.
Ja! New York. Immer noch nah genug, dass ich schnell nach Hause komme, falls John mit den Kindern nicht klarkommt. Trotzdem genügend Abstand, um schon als Urlaub durchzugehen. Und wann war ich eigentlich zuletzt in New York? Seit ich John kenne auf jeden Fall nicht mehr. Dabei habe ich New York so geliebt! Talia, mit der ich mir auf dem College ein Zimmer geteilt hatte, und ich sind, so oft es nur ging, mit dem Zug nach New York reingefahren, haben auf fremden Sofas und in drittklassigen Hotels übernachtet und einmal, als wir bis vier Uhr morgens Tanzen waren, dank eines leichtgläubigen oder sehr nachsichtigen Nachtportiers auch in den gediegenen Samtsesseln in der Lobby des St. Regis.
Verrückt, was wir alles erlebt haben in New York. Das meiste davon habe ich John nie erzählt, geschweige denn den Kindern. Und so ist New York in den letzten fünfzehn Jahren ziemlich in Vergessenheit geraten. Spätestens seit John und ich beschlossen hatten, eine Familie zu gründen und Corinne dann bald darauf auf dem Weg war. Seit ich Geschmack gefunden habe an meinem Vorstadtleben mit Mann und Kindern, dem großem Haus und meiner schönen Küche. Dass besagter Mann sich dann aus dem Staub machte und drei Jahre keinen Unterhalt zahlte, darauf hätte ich natürlich verzichten können, aber alles in allem war es genau das Leben, das ich mir gewünscht hatte.
Aber so war es nicht immer gewesen.
Es hat eine Zeit gegeben, in der ich anderes im Sinn hatte. Eine wilde, unbeschwerte Zeit. Vor vielen, vielen Jahren, als ich noch eine andere war.
Ich beschließe, Talia eine Nachricht zu schreiben. Wie lange habe ich mich jetzt nicht bei ihr gemeldet? Ein Jahr, nachdem John uns verlassen hatte? Oder nach ihrem letzten Karrieresprung beim Magazin? Auf jeden Fall ist es viel zu lang her. Oder zumindest so lang, dass es mir etwas unangenehm ist, es jetzt zu tun.
Wobei das bei Talia nie ein Problem war. Wenn wir uns sehen, ist es sofort wieder wie in alten Zeiten. Und plötzlich kann ich es kaum noch erwarten, sie wiederzusehen, von ihrem Leben ohne Mann und Kinder zu hören, ihrer tollen Karriere als Moderedakteurin und wie es sich mit einer Garderobe lebt, die nicht beinahe komplett von Target stammt, weil man sowieso schon mal da ist, um Zahnpasta und Slipeinlagen zu kaufen.
Hallo Süße,
ich bin die erste Juniwoche in New York. Wollen wir uns auf einen Kaffee treffen oder was trinken gehen?
Keine Reaktion. Dann drei Pünktchen. Dann wieder nichts. Ich werde nervös. Ist sie doch sauer, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe? Hat sie eigentlich noch meine Nummer?
Ich bin’s, Amy.
Amy Byler
Dann wieder die drei Punkte. Okay. Sie hat die Nachricht also gesehen.
Talia:
Amy …
AMY!
Ich deute es als gutes Zeichen.
Talia:
WO ZUM TEUFEL HAST DU GESTECKT, AMY BYLER?
Ich tippe erleichtert drauflos:
Amy
Viel um die Ohren gehabt, alles etwas anstrengend, tut mir leid, dass ich mich so lange …
Talia:
Du wohnst selbstverständlich bei mir.
Ich lösche, was ich geschrieben habe, und fange noch mal an.
Amy:
Echt?! Hast du denn Platz?
Talia:
Bin in einem Meeting. Melde dich noch mal, wenn du unterwegs bist.
Total überrascht starre ich auf ihre Nachricht. Das ist ja super! Jetzt brauche ich auf der Konferenz nicht mit irgendeiner Wildfremden aus Idaho für zweihundert Dollar die Nacht ein Zimmer zu teilen. Und kann die Fortbildungspauschale der Schule für Essen auf den Kopf hauen. Oder für Drinks. Oder …
Amy:
Toll! Danke!! Ich rufe dich an.
Talia:
Lass mich jetzt in Ruhe arbeiten.
Amy:
Sorry. Freue mich einfach total.
Darauf kommt keine Antwort mehr. Keine Pünktchen, kein Emoji, nichts. Gespräch beendet. Mit vor Aufregung zitternden Händen lege ich das Tablet weg. Sollte es wirklich so einfach sein? Sollte das Leben es gut mit mir meinen? Ein Kurzurlaub in der großen Stadt, um mit Kollegen über Bücher zu reden und meine fabelhafte Freundin aus alten Zeiten wiederzusehen, und das alles im Rahmen meiner finanziellen Möglichkeiten? Während die Kinder bei ihrem ebenso plötzlich wie wundersam wieder aufgetauchten Vater sind? Kann das wirklich wahr sein, oder ist es eine fiese Falle, in die ich da zu tappen drohe?
Mein Tablet blinkt mich an. Ich wecke es wieder auf und sehe, dass eine neue Nachricht gekommen ist – von Talia, ein Link zu Google Maps. Ich klicke ihn an und finde mich in der hippsten Ecke Brooklyns wieder. Da lebt sie also, warum wundert mich das nicht. Überall rote Standort-Marker. Bars, Restaurants, von denen ich in Zeitschriften gelesen habe, kleine, feine Läden, ein Biometzger. Tja, Talia war schon immer die Coolere von uns beiden.
Und noch eine neue Nachricht – wieder Talia, die es schafft, besagte Coolness in drei knappe Worte zu packen:
Yeah, wird super.
Auch wenn das Schicksal mir also ungewohnt gewogen scheint, sähe es mir nicht ähnlich, John nicht noch einmal herbeizuzitieren, um alles für diese eine Woche mit ihm zu klären, was noch ungeklärt ist, zumindest meinem Ermessen nach. Und weil ich so bin, wie ich bin, habe ich natürlich eine Liste zur Hand.
Familienkonferenz, Dienstag, 9. Mai, 17.30 Uhr bis ?
Protokoll der letzten Konferenz: nicht vorhandenLagebesprechung für die erste Juniwoche:Beispiel Tagesplanung und wöchentliche Pflichten Erwartungen an Joes Verhalten Erwartungen an Coris VerhaltenErwartungen an Johns Rolle als Vater Grundsätzliche VereinbarungenTägliche KommunikationszeitenTutorial: Handhabung des EpiPen bei versehentlichem ErdnussverzehrSonstige Themen:Warum hat John Amy verlassen?Warum ist John jetzt auf einmal zurückgekommen?Liebt John Amy noch?Wird Amy jemals wieder Sex haben und wenn ja, wann?Diese Liste ist natürlich nur für mich gedacht.
John kommt fünfzehn Minuten zu früh, worauf ich emotional schlecht vorbereitet bin. Aber jetzt steht er vor der Tür und schaut mich erwartungsvoll an, und ich kann ihm ja schlecht sagen, er soll in einer Viertelstunde noch mal wiederkommen. Ich schaue ihn einen Moment an und denke, wie gut er noch immer aussieht, sicher und selbstbewusst, die breiten Schultern. Plötzlich ist alles wieder da. Johns Faible für Flachwitze, über die beim gemeinsamen Abendessen trotzdem alle lachen mussten. Pokémonspielen in der Nachbarschaft. Football mit den Kindern und Coris helles Jauchzen, wenn er so tat, als sei Joe der Ball. John, wie er mit verstellter Stimme Daffy Duck nachahmt.
»Wo sind die Kinder?«, ist seine erste Frage, keine Spur von Daffy in der Stimme.
»Die müssten in einer halben Stunde da sein«, erkläre ich. »Joe hat heute Debattierclub, und Cori macht ihre Hausaufgaben in der Schule, damit sie nachher zusammen nach Hause laufen können.«
»Ich hatte angenommen, sie wären hier.«
Ich verkneife mir die Bemerkung, dass er sowieso zu früh dran ist. »Die beiden sind recht umtriebig.«
»Das merke ich. Ich habe extra etwas früher Schluss gemacht, weil ich es kaum erwarten konnte, sie zu sehen.«
»Du hast ja auch lange genug damit gewartet«, erwidere ich.
Er sagt nichts, wirkt aber getroffen, und ich versuche, meinen Ärger herunterzuschlucken. Aber ihn hier in unserem Haus zu sehen weckt alte Gefühle, die guten ebenso wie die schlechten, und ich spüre, wie mir das Blut im Kopf rauscht. Ich fühle mich wie ein Stern kurz vorm Verglühen. »Du kannst mir gern helfen«, schlage ich versöhnlich vor. »Der Tisch im Esszimmer ist noch von den Kindern in Beschlag genommen. Der müsste erst abgeräumt werden.«
Wenn sie keine Nachmittagsaktivitäten haben, machen Cori und Joe dort ihre Hausaufgaben. Sie sitzen sich an den Stirnseiten des für sechs Personen ausgelegten Tischs gegenüber, und weil Cori jede Möglichkeit nutzt, sich vor Mathe zu drücken und ihren kleinen Bruder abzulenken, haben wir aus doppelseitig bedruckten Pappaufstellern vom letzten Naturwissenschaftswettbewerb eine provisorische Trennwand gebaut. Ganz oben auf der Sind Kartoffeln Stromleiter?-Seite hat Joe ein Übersichtsblatt aufgehängt mit allen guten Noten, die er im letzten Jahr geschrieben hat, den Colleges, auf die er später gehen möchte, sowie verschiedenen Berufsfeldern, die ihn interessieren. Zur Erinnerung: Der gute Junge ist gerade mal zwölf und macht das freiwillig.
Von Farben als Wärmeleiter auf Coris Seite ist nicht mehr viel zu sehen, weil sie alles mit Fotos von diesem Typen aus Arrow und Benedict Cumberbatch überklebt hat, der bei uns nur The Batch heißt.
Es ist mir eigentlich ganz recht, dass ich von der Küche aus nur Coris Seite sehen kann.
Johns Augenbrauen wandern immer höher, während er diese Versuchsanordnung betrachtet. »Ich will nur hoffen, dass das hier Coris Seite ist«, bemerkt er dann und deutet auf einen muskelbepackten Stephen Amell. Und auch wenn Joe in letzter Zeit erste Anzeichen einer romantischen Schwärmerei für Macy Feathers gezeigt hat, die etwas älter ist als er und ihn regelmäßig beim Schach schlägt, rege ich mich schrecklich über Johns Engstirnigkeit auf.
»Ah, verstehe, du hast Angst, dein Sohn könnte bei mir schwul werden«, sage ich spitz und kann mir die Frage nicht verkneifen: »Und was, wenn er es wäre? Wäre er dann für dich gestorben?«
John wird rot, und da hat er auch allen Grund zu. »Ach Quatsch. Tut mir leid, du hast natürlich recht. Von mir aus kann er sein, was er will. Wahrscheinlich rede ich vor lauter Nervosität einfach dummes Zeug.«
»Kein Wunder«, bemerke ich kühl. »Nach allem, was du dir geleistet hast, wäre ich auch nervös, wenn ich mich den Menschen stellen müsste, die ich vor Jahren im Stich gelassen habe.« Ich deute hinüber zu den Plätzen der Kinder, als würde The Batch mit zur Familie gehören.
John seufzt. Zwar hatte sich unser Verhältnis irgendwann wieder halbwegs normalisiert, aber in den ersten Monaten nach seinem Verschwinden hinterließ ich ziemlich regelmäßig Nachrichten auf seiner Mailbox, in denen ich endlich all die Worte verwenden konnte, die ich aus HBO-Serien aufgeschnappt hatte und den Kindern niemals durchgehen lassen würde. Meine Wut dürfte ihm also nicht ganz neu sein.
»Wie ich sehe, hängst du dich noch immer an alten Zeiten auf«, erwidert er.
»Gar nicht wahr«, verteidige ich mich. »Ich hänge vielleicht an diesem Ort, aber aus gutem Grund. Ich arbeite wieder, ziehe zwei Kinder groß und stecke unheimlich viel zurück, damit sie eine gute Schule besuchen können, vernünftiges Essen auf den Tisch kommt und sie ein Dach über dem Kopf haben. Ich habe gelernt, von einem Lehrerinnengehalt zu leben, einen verstopften Abfluss selbst zu reparieren und Theaterkostüme für die Shakespeare-Schulaufführung aus Resten und Kleiderspenden zu basteln. Ich habe gelernt, ganze Tage nur mit Kaffee, Büronickerchen und den Sonderangeboten von Lean Cuisine durchzustehen. Wenn du wüsstest, was hier alles passiert ist, während du weg warst! Danke der Nachfrage, ich komme bestens klar, immer was zu tun, zack, zack, zack!« Ich hole Luft und setze etwas ruhiger nach: »So viel zu alten Zeiten.«
John trägt jetzt diese missmutige Miene zur Schau, eine Mischung aus schlechtem Gewissen, Gereiztheit und getretenem Hund, die mir zu verstehen geben soll, dass ich nicht noch Öl ins Feuer zu gießen brauche, weil er sich sowieso schon schlecht genug fühlt. Früher genügte das, um mich meine Worte mäßigen zu lassen, jetzt regt es mich nur noch mehr auf. »Was kann ich denn noch tun?«, will er wissen. »Entschuldigt habe ich mich doch bestimmt ein Dutzend Mal.«
Was soll ich darauf antworten? »Die Zeit zurückdrehen und uns hier nicht hängen lassen, während du nach Hongkong verschwindest, wie wär’s damit?« Oder nein, denke ich, noch mal zwei Jahre früher. Und dich dann, wenn es hart auf hart kommt, einfach mal auf meine Seite schlagen.
Er seufzt, als sei ihm schon jetzt alles zu viel. Am Ende ist immer er es, dem Unrecht geschah, und so wird es auch heute laufen, jede Wette.
»Aber jetzt bin ich hier, Amy. Können wir versuchen, das Kriegsbeil zu begraben, bevor die Kinder kommen?«
Ich gehe nicht darauf ein. »Räum bitte den Tisch ab.«
Schweigend befolgt er meine Anweisung, während ich anfange zu kochen. Von außen betrachtet mögen wir wie ein ganz normales Paar wirken, das den täglichen Vorbereitungen fürs Abendessen nachgeht, sich gleich als Familie zu Tisch setzen und vom Tag erzählen wird. Auf einmal fühlt es sich wieder an wie früher, und gerade dieses Vertraute stimmt mich traurig. Denn was uns verloren ging, als John uns verließ, waren diese normalen Momente des Zusammenlebens. Seit drei Jahren rede ich mir ein, dass ich nichts daran vermisse, doch es stimmt nicht.
Ich zerhacke Knoblauch und Basilikum für Pesto. In einer großen Schüssel steht ein frischer Salat bereit, der noch mit Balsamico-Vinaigrette angemacht werden muss. Nichts Aufwendiges, aber doch mehr als unser übliches Montagsessen, das meist aus gebratenem Reis mit Tiefkühlgemüse und aufgewärmten Teigtaschen besteht. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie John den Tisch deckt, ohne zu zögern Geschirr und Besteck aus der Anrichte holt. Er kommt nach drei Jahren zurück und findet alles dort vor, wo er es zurückgelassen hat – mich eingeschlossen.
Warum stelle ich mich in die Küche und versuche ihn mit meiner Kocherei zu beeindrucken?, überlege ich etwas ratlos. Was passiert hier gerade?
Während das Nudelwasser langsam warm wird und das Pesto sich im Mixer dreht, fällt mir die Liste ein und worüber ich mit John reden wollte, bevor die Kinder kommen. Regeln und Grundsätzliches, Grenzen, die auch in der einen Woche mit ihrem Dad gelten. »John«, rufe ich ins Esszimmer. »Vielleicht können wir uns kurz auf die Rahmenbedingungen verständigen?«
Aber John ist nicht mehr im Esszimmer, er ist wie vom Erdboden verschwunden. Ich stelle den Mixer ab und gehe ins Wohnzimmer. Dort sitzt er, auf unserem alten Sofa mit dem grauen Baumwollbezug, und hat den Kopf in die Hände gestützt. Neben ihm das Fotoalbum, das die Kinder mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt haben: »Hör auf, uns Tweens zu nennen«, eine Sammlung von Schnappschüssen, die Cori und Joe im Laufe eines Jahrs zeigen, bei allem, was sie eben so machen: Sport, Debattierclub, Halloween, Sonntagsfrühstück in Wollsocken und Pyjamas.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. In all den Jahren unserer Ehe habe ich John vielleicht drei- oder viermal weinen sehen. Er ist in einer Familie aufgewachsen, in der die Geschlechterrollen noch klar verteilt waren, und hat nie erlebt, dass sein Vater geweint hätte. John hat immerhin bei der Geburt unserer Kinder geweint und auch bei jenem Anruf aus Hongkong, als er mir mitteilte, dass er nicht zurückkommen würde. Dieser Anruf … oh je. Irgendwann heulten wir alle beide, und nichts von dem, was wir sagten, ergab noch irgendeinen Sinn, das meiste war kaum mehr verständlich. »Es tut mir leid«, sagte er nur immer wieder. »Es tut mir so leid, aber ich kann nicht mehr. Ich gehe sonst kaputt.«
Er geht kaputt, hörte ich, und weil unser Verstand sich im Krisenmodus nur das herauspickt, was er verarbeiten kann, dachte ich: Er geht kaputt, er wird sterben. Oh Gott, John stirbt, aber er verlässt mich nicht, ein Glück! Fast dachte ich, er wollte mich verlassen!
Sowie mein Verstand sich nach der ersten Schrecksekunde aus seiner Starre löste, sickerte allmählich die Erkenntnis durch. Von wegen er stirbt. Er verlässt dich, der Scheißkerl. Ich weiß noch, wie ich fragte: »Du gehst kaputt? Mit mir zu leben macht dich kaputt?« Und er hat bestimmt dreimal nachgefragt, weil ich vor lauter Weinen nicht zu verstehen war. Dass er nicht mal mein ersticktes Schluchzen begriff, machte mich noch wütender, und dann ließ ich all meinen Schmerz heraus und hörte gar nicht mehr auf: »Wie kannst du so etwas tun? Wie kannst du etwas so Schreckliches tun … Was bist du für ein Mensch, du bist ein schrecklicher Mensch, ein schrecklicher, schrecklicher Mensch bist du!« Und so weiter, immer wieder, bis er irgendwann auflegte, aber es sollte in den kommenden Monaten mein Mantra werden, mit dem ich meinen Freunden und meinen Eltern ebenso wie den seinen so lang in den Ohren lag, bis niemand es mehr hören konnte. Nur zwei Menschen blieben davon verschont: Cori und Joe.
Ich hole tief Luft und setze mich zu ihm auf die Couch. »John«, sage ich sanft und lege eine Hand auf seinen Rücken. Es geschieht mehr instinktiv als absichtlich, und ich bereue es sofort. »Das bekommen wir schon wieder hin.« Ich meine natürlich seine Beziehung zu den Kindern, aber dann kommt mir, völlig ungebeten, mein Ehering in den Sinn, den ich in die hinterste Ecke der Schmuckschatulle verbannt habe. Ganz trennen mochte ich mich davon nicht, und sei es bloß als Notreserve für schlechte Zeiten, wie ich mir einzureden versuchte. Dabei stand mir doch damals das Wasser bis zum Hals, und ich hätte das Geld gut gebrauchen können.
John schaut mich an. »Drei Jahre. Das ist ein Viertel von Joes Leben.«
Ich nicke. Und weil Schmerz sich auf die Zeit legt, bis sie nur noch schwerfällig vorankommt, fühlt es sich für mich an wie die Hälfte meines Lebens. »Du bist ihr Vater. Du hast sie enttäuscht und im Stich gelassen, aber sie haben nicht grundsätzlich etwas gegen dich. Sie sind wütend und verletzt und werden dir kaum vor Begeisterung um den Hals fallen. Sie werden wissen wollen, was du jetzt hier willst, was du von ihnen willst. Aber im Grunde wünschen sie sich nichts mehr, als dass du diese Chance, die sie dir geben, auch nutzt.« Ich spreche natürlich für die Kinder, nicht für mich. Zumindest glaube ich das.
Er schüttelt resigniert den Kopf, und ich merke, wie mein Zorn wieder hochkocht. Keine Ideen, immer gleich die Flinte ins Korn werfen, das ist so typisch.
»Reiß dich zusammen, John. Wenn es dir nicht ernst damit ist, wenn du dich nicht um sie bemühen willst, dann brauchst du gar nicht länger bleiben. Dann kannst du gleich wieder gehen. Ich werde nicht zulassen, dass du sie noch einmal verletzt.« Und mich gleich mit.