Ein Sommer voller Pferdeträume - Kathrin Siegel - E-Book

Ein Sommer voller Pferdeträume E-Book

Kathrin Siegel

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Beschreibung

Tami schwebt auf Wolke sieben – zumindest, bis ihr Kevin auf einmal mit der schönen Loretta flirtet! Das ist doch nicht zu fassen! Tami schießt ihn natürlich sofort in den Wind, auch wenn sie fast verrückt wird vor Liebeskummer. Zum Glück kann sie sich wenigstens bei ihrer geliebten Stute Daisy ausheulen – doch dann verletzt sich Daisy und guter Rat ist teuer. Ziemlich ratlos ist auch Jassi. Zu gerne will sie am Ferienkurs der berühmten Springreiterin Dörte Ahlbeck teilnehmen. Doch dafür müsste sie ganze zwei Wochen mit der Streberin Nina aushalten. Auf keinen Fall würde Jassi das ertragen! Doch dann läuft ihr Ninas attraktiver Bruder über den Weg und die Sache sieht auf einmal gar nicht mehr so schlimm aus … Pferdespaß im Doppelpack! Sommer, Pferde und die erste Liebe für Mädchen ab 10 Jahren. Dieses eBook enthält die beiden Einzelbände "Liebeskummer inklusive!" und "Ferien im Nachbarhaus".

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Inhalt

Cover

Titel

Liebeskummer inklusive!

Italien

Österreich

England

Indien

USA

Türkei

Spanien

China

Russland

Brasilien

Japan

Dänemark

Schottland

Ferien im Nachbarhaus

Ein Star im Reiterhof

Betteln verboten

Wer will mich?

Verliebt? Verliebt!

Hosenwechsel

628 Schritte

Farbe im Gesicht

Wo bleibt Alex?

Grillabend

Mit Alex allein

Glöckchen-Therapie

Hausarrest

Der perfekte Sprung

Weitere Pferde-Bücher

Über die Autorinnen

Weitere Infos

Impressum

Kathrin Siegel

Liebeskummer inklusive!

Italien

In Italien verteilt das Brautpaar nach der Trauung gezuckerte Mandeln an die Gäste. Sie stehen symbolisch für das Süße und das Bittere im Leben!

Der neue Ausfahrer vom Paketdienst ist eindeutig Italiener. Zumindest stelle ich mir Italiener so vor. Groß, kräftig und schlank. Mit bernsteinfarbenen Augen und gebräunter Haut. Eine lässige Sonnenbrille im Haar und ein Silberkettchen im Ausschnitt seines T-Shirts. Ganz anders als der glatzköpfige Herr Baierle von früher. Der neue Fahrer ahnt noch nichts von seinem Glück: Aber wir beide werden uns ziemlich häufig sehen.

Ich stehe in meinem ausgeleierten Nachthemd vor ihm, die Augen verquollen, die Haare ungekämmt. Ich habe schon vor Jahren aufgehört, mich vor den Leuten vom Paketdienst für irgendwas zu schämen. Wirklich, ständig klingelt jemand an unserer Tür – ich mache auf, wie ich gerade bin, und kenne wenig Mitleid.

Trotzdem versuche ich jetzt doch, meine hellbraunen Haare zu bändigen und binde rasch ein Haargummi darum. Bei Herrn Baierle wäre mir das egal. Aber doch nicht bei einem gut aussehenden Italiener!

„Plant deine Mutter etwa einen Anschlag?“, fragt der Neue mit einem Blick auf seine Lieferung und grinst mich aufmunternd an. Er wuchtet fünf riesige Kartons mit der Aufschrift „Konfettibomben“ über unsere Türschwelle und schiebt sie ächzend in den Flur. Ein Karton Silberkonfetti, ein Karton Goldkonfetti. Und dreimal das Ganze in Rosa – das Konfetti natürlich in Herzform. Etwas anderes käme meiner Mutter niemals ins Haus.

Ich unterschreibe für meine Mama den hellblauen Lieferschein. Tamara Fiedler kritzele ich in die Zeile neben dem Datum. Eigentlich werde ich Tami genannt. Aber auf offiziellen Dokumenten benutze ich meinen richtigen Namen.

„Ist deine Mutter so was wie eine Liebesterroristin?“, bohrt der Neue weiter nach und mustert neugierig die Werbeaufkleber auf den Paketen. In jedem Karton stecken zwanzig Konfettibomben der Größe XXL – macht hundertmal orkanartigen Konfettiregen.

Wenn die Bomben jetzt alle auf einmal losgingen, wäre unser kleines Dorf für die nächsten drei Wochen mit Konfettiherzen eingeschneit.

„Meine Mama ist Hochzeitsplanerin …“, erkläre ich dem Lieferanten und gebe ihm den Lieferschein zurück. „Sie kümmert sich um das komplette Fest. Nur Ja sagen müssen die Brautpaare selbst!“

Das mit dem „Ja sagen müssen die Brautpaare selbst!“ stammt nicht von mir, sondern von einer Werbeagentur. Für den dämlichen Spruch musste Mama zweihundert Euro hinlegen. Deshalb benutze ich den Satz, wann immer es geht. Schließlich muss sich die Investition ja auch lohnen.

„Kannst du ein Päckchen für euren Nachbarn entgegennehmen?“, fragt der Neue und drückt mir, ohne eine Antwort abzuwarten, eine schmale Sendung in die Hand. Seit unser Nachbar Hendrik verlassen wurde, bestellt er zweimal die Woche Schokolade bei einer österreichischen Biokonditorei. Dann setzt er sich mit einem Glas Wein auf die Veranda, hört italienische Opern an und mampft die ganzen Pralinen in fünf Minuten.

„Hast du ein Pferd?“, fragt der Lieferant zum Abschied, als er meinen Sattel am Stuhl neben der Tür entdeckt. Ganz schön neugierig, dieser Italiener!

„Ja!“, sage ich. „Meine Daisy. Ein total niedlicher Schimmel. Kennen Sie sich mit Pferden aus?“

Der Lieferant schüttelt den Kopf. „Ihr habt doch gar keinen Stall auf dem Gelände!“, stellt er richtig fest und lässt seinen Blick über den Garten wandern.

„Ich habe Daisy bei meinem besten Freund untergestellt!“, erkläre ich. „Seinen Eltern gehört der Bauernhof gleich am Ende der Straße.“

„Soso, bester Freund!“, sagt der Neue und grinst mich zweideutig an. Dann verschwindet er pfeifend zu seinem Lieferwagen.

Bester Freund … Der Typ kann sich sein breites Grinsen sparen. Jakob und ich kennen uns schließlich seit unserer Geburt und mehr als Freundschaft ist zwischen uns nie gewesen. Jakob ist für mich fast so was wie ein Bruder.

Und in seinen Bruder verknallt man sich doch bitte schön nicht!

Ganz anders sieht es dagegen mit Kevin aus.

Kevin ist mit seiner Mutter und seinem Goldfisch vor einem Monat in die Kleinstadt gezogen, in der auch meine Schule ist. Kevin und seine Mutter haben vorher in Berlin gewohnt und das konnte man direkt an seinem Aussehen erkennen. Blonde Strähnchen im dunkelbraunen Haar, Lederarmband ums Handgelenk und sogar ein richtiges Tattoo unten am Knöchel! Im Sportunterricht konnte man das genau erkennen und alle haben neugierig hingeguckt. Die ersten paar Tage hielt die ganze Klasse Kevin für einen Angeber – denn neben den Strähnchen sah er auch ansonsten wie ein Typ aus der Jeans-Werbung aus!

Aber ganz schnell hat sich gezeigt, dass Kevin ein richtig guter Kumpel ist. Dass er in Wahrheit gar nicht so cool, sondern sogar ziemlich schüchtern ist. Das lässige Outfit ist pure Fassade!

Auf einmal wollten sämtliche Jungs mit Kevin befreundet sein – und wir Mädels waren alle verknallt in den hübschen Berliner. Ehrlich gesagt habe ich mir keine großen Chancen bei Kevin ausgemalt. Was Liebe betrifft, bin ich ziemlich realistisch. Romantik ist eher was für meine Mutter und die wird schließlich dafür bezahlt.

Außerdem: Es gibt in meiner Klasse jede Menge interessantere Mädchen als mich. Bea, die Saxofon spielt und schon mal bei Jugend musiziert gewonnen hat. Silke, die einen mit ihren witzigen Sprüchen immer zum Lachen bringt – oder Loretta, die aussieht wie Selena Gomez, die Freundin von Justin Bieber. Außerdem ist die schöne Loretta so was wie berühmt: Ihr Papa ist ein bekannter Nachrichtensprecher im Fernsehen.

Ich bin leider absoluter Durchschnitt – in jedem Bereich. Mittelgroß, mittellanges Haar und ein winziger mittelbrauner Leberfleck unter der Nase. Dazu kommt, dass ich wenig Zeit für große Gefühle habe. Schließlich muss ich meiner Mutter immer mal wieder in ihrer Hochzeitsagentur helfen. Und dann gibt es da ja noch Daisy, mein kuschelbedürftiges Pferd.

Pferde und Jungs – das geht überhaupt nicht zusammen. Das habe ich zumindest bis vor einer Woche gedacht!

Ich gehe jeden Nachmittag rüber zum Stall, um mich zusammen mit Jakob um die Pferde zu kümmern. Danach stehen Hausaufgaben an und anschließend brauche ich dringend ein bisschen Ruhe. Ich lese gern oder schaue Tierdokumentationen im Fernsehen an. Wo bitte schön ist da noch Platz für die Liebe?!

Aber dann hatten wir vor sieben Tagen in der Schule eine lange Lesenacht. Und Kevin und ich haben bestimmt zwei Stunden nur über Bücher geredet. Zufällig haben wir beide nämlich das gleiche Lieblingsbuch.

Nachts haben wir alle auf Isomatten im Klassenzimmer gepennt und meine lag in unmittelbarer Nähe von Kevin.

Mein Herz ratterte wie eine Eisenbahn und ich konnte keine Sekunde schlafen. Und Kevin ging es ganz genau so wie mir. Die ganze Zeit lag er hellwach da und starrte sehnsüchtig und verträumt zu mir herüber.

Und am nächsten Morgen ist es dann passiert. Wir standen im Fahrradkeller der Schule und haben unsere Räder losgemacht. Kevin hat plötzlich meinen Lenker umfasst, mir verlegen in die Augen geblickt und herumgedruckst, dass er noch nie so ein tolles Mädchen kennengelernt hat wie mich. Und das ganz ohne Saxofon, ohne witzige Sprüche und ohne auszusehen wie Selena Gomez! Da war ich natürlich hin und weg und hab ihn direkt im Fahrradkeller geküsst.

Eigentlich bin ich ja nicht so selbstbewusst. Aber Kevin ist derart zurückhaltend, da hätte das sonst noch Jahre gedauert! Unser erster Kuss war reinste Poesie: leicht und süß wie Himbeerschaum und dabei so feurig wie Chilischokolade.

Seit einer Woche also sind wir ein Paar. Allerdings mehr oder weniger heimlich. Denn mit meiner Mutter habe ich gewettet, dass ich mich bis Zwanzig garantiert nicht verlieben werde. Und wenn ich verliere, schulde ich ihr zwei Wochen Bügeldienst.

Ich hasse Bügeln, vor allem zerknitterte Blusen. Und meine Mutter hat ungefähr achthundert Stück davon.

Habe ich mich eigentlich schon vorgestellt?

Mein Name ist Tamara, genannt Tami, und ich bin vierzehn Jahre alt.

Ich liebe Pferde, die freie Natur und gute Bücher.

Und ich liebe Kevin, meinen heimlichen Schatz. Wenn ich an ihn denke, könnte ich abheben und schweben.

„Tami? Sind die indianischen Liebespfeile endlich gekommen? Oder hat der Paketdienst doch noch die Luftschlangen-Raketen gebracht?“

Meine Mutter tütet im Nebenzimmer Einladungskarten für eine Verlobungsfeier ein und ich stehe immer noch im Nachthemd im Flur herum und träume vor mich hin.

Bomben, Pfeile und Raketen … so eine Hochzeitsvorbereitung klingt wie ein Krieg. Ein Nervenkrieg ist es auf jeden Fall, aber das bekommen nicht die Braut und der Bräutigam mit, sondern nur Papa und ich.

„Die Konfettibomben sind da!“, rufe ich. Es ist schon nach zehn, ich sollte mich endlich mal duschen.

„Ach!“, meine Mutter klingt nicht begeistert. Vielleicht weil im Keller noch fünf Kartons mit Konfettibomben lagern. Außerdem Kisten voller getrockneter Rosenblätter. Servietten in allen Abstufungen von Rot. Herzen aus Ton, aus Pappe, Glas oder Plastik. Das Highlight ist ein künstlicher Schwan. Immer, wenn jemand das Paket „Hochzeit am See“ bestellt, kommt das Ein-Meter-fünfzig-Viech zum Einsatz.

„Ich hole später noch den Blumenschmuck ab. Willst du mich in die Stadt begleiten?“ Meine Mutter übertönt die Musik, die aus der Stereoanlage plärrt. Kuschelrock 1998.

Ich sage doch: Nervenkrieg – mit musikalischen Waffen.

Ein Ausflug in die Stadt ist immer gut, aber ich habe mit Jakob vereinbart, heute Daisy auszureiten. Sie und Feuerblitz stehen seit zwei Tagen nur auf der Koppel. Wenn wir die beiden nicht bald bewegen, fangen sie an zu rosten.

„Geht nicht!“, ich gehe eilig die Treppe nach oben. „Jakob wartet schon auf mich. Wir unternehmen gemeinsam was mit den Pferden.“

Daisy ist ein Bosniake, ein bosnisches Gebirgspferd, und ein richtiges Arbeitstier. Und arbeiten muss sie auch – zwar nicht für mich, aber für meine Mutter. Meine Eltern haben den Schimmel vor etwa zwei Jahren gekauft. Und seitdem können Hochzeitspaare Daisy mieten. Beim Paket „Kerzenschein“ ist eine Abholung der Braut mit dem Einspänner inklusive, und dann ist es Daisy, die die Kutsche zieht.

Dass wir beide Mitarbeiter meiner Mutter sind, verbindet uns natürlich aufs Engste. Ohne die Hochzeitsagentur hätte Mama niemals ein Pferd gekauft – von Pferdehaltung versteht sie nämlich nicht die Bohne. Aber ich habe meine ganze Kindheit drüben auf Jakobs Bauernhof verbracht und seine Eltern sind absolute Pferdefreunde. Sie haben mir alles Wichtige beigebracht und schon mit acht Jahren war ich selbst eine kleine Expertin. Nicht verwunderlich also, dass meine Eltern mir so ein unglaubliches Angebot machten. Sie bezahlten das Pferd und ich sollte mich darum kümmern. Das mache ich seitdem täglich. Könnt ihr euch ausmalen, wie glücklich ich bin? Bis vor zwei Jahren hätte ich niemals gedacht, dass ich irgendwann ein eigenes Pferd besitzen würde!

Als ich auf den Hof gehe, kommt mir Jakob mit der Schubkarre entgegengelaufen. Wie immer trägt er ein Tuch im Haar. Das macht er wegen der Sonne – und ein wenig auch wegen der Mode. Funktioniert aber nicht so ganz. Auch mit Tuch im Haar bleibt Jakob einfach nur Jakob.

„Hi, Tami! Ich habe schon ausgemistet!“, begrüßt er mich. „Wenn du willst, können wir direkt starten.“

Tatsächlich stehen Daisy und Feuerblitz schon vor dem Stall, Daisy scharrt freudig mit den Hufen und Feuerblitz dreht sich wiehernd zu uns um.

Wie immer zaubert mir Daisys Anblick ein Lächeln ins Gesicht. Ich kann es nicht erklären, aber Daisy zu sehen erzeugt bei mir immer ein Gefühl von absoluter Ruhe und tiefer Geborgenheit. Umgekehrt scheint es genauso zu sein, denn Daisy schnaubt zutraulich und schüttelt fröhlich ihre üppige Mähne.

„Na, mein Liebling …“, aus meiner Hosentasche zaubere ich einen Zuckerwürfel hervor. Natürlich ist er herzförmig, schließlich stammt er aus dem Lager meiner Mutter. Zufrieden zermalmt Daisy die süße Überraschung zwischen den Zähnen. Sanft gleitet meine Hand über ihren Kopf. Ihre braunen übergroßen Augen mustern mich freundlich.

Daisy ist mit ihrer breiten Stirn und den großen Nüstern das glatte Gegenteil zu Jakobs elegantem Feuerblitz. Feuerblitz ist ein stolzer Westfale, ein wunderschöner Fuchs mit einer weißen Blesse auf der Stirn. Im Gegensatz zu meiner zähen und geduldigen Daisy strahlt Feuerblitz Sportlichkeit und Ehrgeiz aus. Daisy ist gemütlich, Feuerblitz ein Wildfang. Daisy bringt nichts aus der Ruhe, sie hat Nerven aus Stahl und ist nahezu jeder Situation gewachsen. Feuerblitz ist ein bisschen zu neugierig und regelrecht süchtig nach Abwechslung – mit ihm haben wir schon mehr als nur ein waghalsiges Abenteuer erlebt.

„Du Weltenbummler!“, ich streichle dem leuchtend roten Pferd freundschaftlich die Seite. „Wohin geht es heute? In den Wald oder doch lieber hinüber zum Ausguck?“

„Lass uns zum Ausguck reiten!“, schlägt Jakob vor, der mit seinem Sattel aus der Kammer kommt. „Heute ist der Himmel so klar, da haben wir bestimmt Sicht bis zu den Bergen!“

Für unsere Ausritte suchen wir uns immer schöne Ziele aus. Vorfreudig beginne ich, meine Daisy zu satteln. Ganz behutsam lege ich Decke und Sattel auf und befestige den Gurt an der richtigen Stelle. Die meisten satteln ihr Pferd nämlich zu weit vorn und dann kann es die Schultern nicht frei bewegen. Doch für mich ist es absolut wichtig, dass Daisy sich mit mir wohlfühlt.

Als Jakob und ich zehn Minuten später den sonnigen Weg zum Naturpfad hochreiten, fühle ich mich unsagbar glücklich.

Ich bin vierzehn, ich bin verliebt.

Und ich sitze auf dem Rücken meines eigenen Pferdes!

Österreich

In Österreich muss das Brautpaar nach der kirchlichen Trauung eine erste gemeinsame Aufgabe bewältigen: Zusammen sägen sie einen Baumstamm durch.

Hendrik schiebt mir die Schachtel mit Pralinen über den Tisch. Obwohl ich Süßes mag, nehme ich nichts davon. Schließlich ist es Hendrik, der schrecklichen Liebeskummer hat. Im Gegensatz zu ihm schwebe ich auf Wolke sieben.

Wir hocken auf der Veranda und Hendrik hat den CD-Player ins Freie gestellt. Jetzt kräht ein italienischer Tenor eine Opernarie und ich sehne mich glatt ein bisschen nach der Kuschelrock-CD meiner Mutter.

„Wenn ich früher gewusst hätte, dass Österreicher so herrliche Schokolade machen, hätte ich mir gleich einen österreichischen Mann gesucht!“, seufzt Hendrik und beißt in eine Praline mit Marzipanfüllung. Hendrik wurde nicht von einer Frau verlassen, sondern von einem Mann. Meine Eltern sagen, er ist homosexuell, Jakobs Eltern sagen, er ist schwul. Ich sage gar nichts dazu – Hendrik liebt eben Männer.

Das heißt, momentan steht er eher auf Kriegsfuß mit ihnen. Mit Jan war Hendrik sieben Jahre zusammen. Aber dann hat Jan auf einem Klassentreffen seine Jugendliebe wiedergesehen. Nur eine Woche später hat er seine Koffer gepackt, um Hendrik völlig überraschend zu verlassen. Jetzt wohnt Jan bei diesem anderen Mann und Hendrik verputzt Unmengen an Schokolade. Und ich habe den ersten Beweis, dass dieses alte Sprichwort von meiner Oma über das „verflixte siebte Jahr“ offenbar wirklich stimmt.

Ich überlege, wie das sein wird, wenn Kevin und ich sieben Jahre zusammen sind. Ob wir dann auch eine Krise haben? Die Vorstellung ist irgendwie sonderbar. Denn Kevin und ich verstehen uns einfach prima.

„Wie geht es dir und deinem Schatz überhaupt?“, fragt Hendrik und schnäuzt sich. Hendrik ist der Einzige, der von mir und Kevin weiß. Und natürlich Jakob, aber der weiß eh alles von mir und zählt nicht.

„Kevin muss seiner Mama heute bei irgendwas helfen. Er hat für das ganze Wochenende abgesagt.“ Wie gesagt, Kevin und seine Mama wohnen nicht in unserem kleinen Dorf, sondern in der Kleinstadt vier Kilometer weiter. Mit dem Rad wäre ich in zwanzig Minuten da. Aber wenn Kevin eh keine Zeit für mich hat, kann ich mir die Radtour auch sparen.

Bisher war ich noch nie bei Kevin zu Hause. Logisch, wir gehen ja auch erst eine Woche miteinander. Seine Mama habe ich noch nicht kennengelernt. Und auch nicht seinen Goldfisch Moby.

„Am Montag sehen wir uns zum Glück schon wieder!“, fällt mir ein und ich klaue nun doch eine Praline mit Nougatfüllung. „Und am Freitag fangen die Sommerferien an. Ich glaube, im August werde ich mich jeden Tag mit Kevin treffen!“

Ich habe mir schon ausgemalt, wie Kevin und ich die Ferien zusammen verbringen. Ich habe fest vor, Kevin beizubringen, wie man reitet. Bisher hat er mich nur einmal hier im Dorf besucht. Meine Mama war bei einem Kundengespräch und Papa in seiner Kanzlei in der Stadt. Ich hatte also sturmfrei und konnte Kevin alles in Ruhe zeigen.

Natürlich bin ich mit ihm auch rüber zum Hof von Jakobs Eltern gegangen. Und neben Jakob hat er auch meine Daisy kennengelernt. Kevin fand Jakob auf Anhieb nett – und Daisy total schön und zum Knuddeln. Aber geritten ist Kevin noch nicht – und so habe ich ganz konkrete Pläne für den Sommer. Als Reitlehrerin eigne ich mich ziemlich gut. Hendriks Exfreund Jan habe ich auch alles beigebracht. Und eine Zeit lang ist er dreimal die Woche auf Daisy geritten. Wenn ich geahnt hätte, dass er meinen lieben Hendrik so fies betrügt, hätte ich ihn natürlich niemals auf meiner wunderbaren Daisy reiten lassen!

„Du Glückliche!“, reißt Hendrik mich aus meinen Gedanken und mampft die letzte Schnapspraline auf. Zum Glück ahnt er nicht, dass ich gerade an seinen Exfreund denke. Schleunigst verdränge ich Jan ganz weit hinten in meine Erinnerung.

„Ich glaube, ich werde mich mein ganzes Leben nie mehr verlieben!“, seufzt Hendrik. Dann sieht er mich stirnrunzelnd an. „Sag mal, was ich dich schon länger fragen wollte: Warum hat dein Kevin eigentlich am Schuljahresende die Schule gewechselt? Wegen einem Monat an eine neue Schule … das lohnt doch nicht!“

Da hat Hendrik recht. Also erkläre ich ihm die Sache. In Berlin sind jetzt nämlich bereits die Sommerferien angebrochen. Und Kevin nimmt freiwillig den letzten Monat Schule in Bayern mit – um die Klassenkollegen für das nächste Schuljahr schon mal kennenzulernen. Aber Noten bekommt er nicht, sein Berliner Zeugnis hat er schließlich schon erhalten.

Glück für mich, dass Kevin so fleißig ist! Wäre er nicht bereits im Juli zu uns gestoßen, hätte er doch nie bei der Lesenacht mitgemacht. Ohne die Lesenacht hätte es bestimmt nicht gefunkt zwischen uns. Und ohne diesen Funken wäre ich jetzt immer noch ungeküsst und wüsste nichts von der Liebe.

„Tami!“ Mama steht drüben an unserem Haus in der offenen Terrassentür. Mit einer Plastikrose in der Hand winkt sie herüber. „Hilfst du Papa beim Abendessen kochen? Ich muss wegen der Musik noch zum Organisten. Der Musiker hat tatsächlich die Noten für die Bauchkribbel-Hochzeit verschlampt! Wo bekomme ich jetzt auf die Schnelle die Orgelversion zu Über den Wolken her?“

So geht das bei uns immer. Bei Mama gibt es niemals Feierabend, und Papa und ich kümmern uns um alles, was nicht mit Heiraten zu tun hat. Die „Bauchkribbel-Hochzeit“ ist eines der teuersten Pakete von Mama. Das Jawort wird in einem Fesselballon erteilt, die Trauzeugen tragen Engelsflügel. Am Landeplatz steht ein Organist und klimpert Über den Wolken. Beim Thema Hochzeit ist nichts unmöglich oder peinlich. Diese Lektion habe ich von meiner Mutter gelernt.

Ich umarme Hendrik und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. Jan ist echt ein Idiot! Hendrik ist so lieb und sieht außerdem klasse aus. Wenn ich ein schwuler Mann wäre, würde ich mich bestimmt Hals über Kopf in ihn verlieben.

Am liebsten würde ich für Hendrik einen Märchenprinzen zaubern. Aber tolle Männer fallen eben nicht vom Himmel – und dass mir ausgerechnet Kevin begegnet ist, tja, so was erlebt man vermutlich nicht oft im Leben!

„Bauchkribbel-Hochzeit!“, murmelt Hendrik deprimiert. „Seit Jan weg ist, habe ich die ganze Zeit über Magenkrämpfe.“

Obwohl ich ja mit Mama gewettet habe, dass ich mich niemals verlieben werde, muss ich zugeben, dass meine erste Woche als Freundin von Kevin einfach traumhaft war. Ich hätte nie gedacht, dass Liebe sich so schwebend und glücklich anfühlen würde! Nach unserem Kuss bin ich plötzlich richtig gerne zur Schule gegangen, nur weil ich wusste, dass da auch Kevin ist! Im Unterricht habe ich ihn die ganze Zeit über sehnsüchtig angestarrt, und ständig hat er sich strahlend nach mir umgedreht, als könnte er sein Glück überhaupt nicht fassen. Als er mich zu Hause besucht hat, war ich aufgeregt wie nie in meinem Leben. Und Kevin war echt unglaublich süß. Er hat mir sogar ein kleines Sträußchen Veilchen vom Wochenmarkt mitgebracht. Das ist inzwischen zwar verwelkt, aber das Foto davon ist jetzt das Hintergrundbild auf meinem Handy.

„Kevin? Die Verbindung ist schlecht. Wo steckst du denn gerade?“ Obwohl wir es fest ausgemacht haben, hat Kevin gestern keine SMS mehr geschickt. Jetzt ist Sonntagnachmittag, ich hocke drüben bei Jakob auf dem Zaun an der Weide und sehe zu, wie mein bester Freund auf Feuerblitz eine Runde dreht.

„Tut mir total leid!“, Kevin wirkt ehrlich zerknirscht. „Mama und ich waren gestern bis spät in die Nacht unterwegs und ich habe mein Handy zu Hause vergessen.“

Handy vergessen. Das klingt wie eine Ausrede. Daisy stapft gemütlich auf mich zu. Der Ausflug gestern hat ihr gutgetan und eben waren wir noch mal mit Feuerblitz und Jakob unterwegs.

„Warum hast du mir dann vor dem Schlafengehen nicht wenigstens noch eine kurze SMS geschickt?“, bohre ich weiter. „Dass du mich vermisst! Irgendein Liebesgeständnis!“, scherze ich und muss kichern, aber Kevin schweigt.

„Mama und ich haben bei Bekannten übernachtet!“, behauptet er dann. Was sollen das denn bitte für Bekannte sein? Irgendwie klingt die ganze Geschichte etwas schief – wie eine Notlüge.

„Und heute? Wenn ich jetzt losradle, haben wir noch den ganzen Nachmittag Zeit! Wir könnten uns in der Eisdiele Amor treffen“, schlage ich vor. „Da war ich schon mal mit Jakob. Da gibt es einen ganz tollen Liebeseisbecher, den man nur zu zweit schafft.“

Kevin seufzt. „Tut mir echt leid, Tami. Aber heute geht auch nicht. Ich bin wegen meiner Mutter total verplant. Ehrlich, sie braucht im Moment dringend meine Hilfe.“

Über Mütter braucht Kevin mir nichts zu erzählen. Meine Mama spannt mich schließlich auch ständig ein. Heute Morgen musste ich zwei Stunden lang mit ihr die Hochzeit von Prinz William und Kate auf DVD anschauen – und genau notieren, was der Reihe nach in der Kirche passiert. Mama hat eine ziemlich wohlhabende Kundin in der Stadt, die eine „Königshochzeit“ abhalten will. Mama musste das gleiche Kleid für sie schneidern lassen wie das von Kate. Dabei wiegt die Kundin bestimmt hundertzwanzig Kilo! Aber auch ihr Mann ist ein Schwergewicht – und beide sind außerdem weit über vierzig.

In Wahrheit wird das also keine Königshochzeit, sondern die welterste Doppelwhopper-Trauung.

Hochzeitsfeiern hin oder her – die Zeit für Kevin halte ich mir trotzdem immer frei. Und ich finde es traurig, dass ich nach nur einer Woche schon die zweite Geige in seinem Leben spiele.

„Ich finde das ja auch nicht so toll, Tami. Aber wir sehen uns ja morgen in der Schule!“

Das stimmt, aber lieber wäre mir ein Treffen. Ich muss schon das ganze Wochenende nur an ihn denken! Ohne Kevin kommen mir meine Tage plötzlich ganz grau und traurig vor.

Jakob kommt auf Feuerblitz vom anderen Ende der Weide auf mich zugejagt. Nur noch wenige Meter, dann sind die beiden bei mir. Feuerblitz’ Schweif peitscht durch die Luft, Jakob ist leicht nach vorne gebeugt und dirigiert sein Pferd in meine Richtung. Was Reiten und Pferde betrifft, ist Jakob unschlagbar. Ich kenne niemanden, der so einen guten Draht zu Tieren hat. Jakob macht auf jedem Pferd eine gute Figur – und die Pferde sind ihm manchmal regelrecht verfallen.

Hin und wieder habe ich sogar die Vermutung, dass meine Daisy Jakob heimlich liebt. Von ihm gestriegelt und geritten zu werden, ist für Daisy das größte Vergnügen.

Woher ich das weiß? Ich sehe es ihr an! Mein Pferd kann kaum etwas vor mir verbergen.

„Ich muss aufhören!“, sage ich mit belegter Stimme. „Ich liebe dich auch, Kevin. Aber jetzt muss ich Jakob beim Ausmisten helfen. Wir schieben das heute schon den ganzen Tag vor uns her.“

„Grüße an deinen netten Kumpel!“, sagt Kevin.

„Tschüss, Kevin!“, seufze ich in mein Telefon. Und gerade als ich auflegen will, höre ich im Hintergrund ein glucksendes Mädchenlachen.

Tiere haben Menschen eine Sache voraus. Sie besitzen einen siebten Sinn für Gefühle. Ich kann noch so sehr grinsen, Daisy ahnt immer, wie es mir in Wahrheit geht. Und so ist es auch heute. Jakob und ich haben den Stall ausgekehrt und jetzt stehen wir auf dem Platz und putzen die Pferde.

„Tolles Wetter!“, sage ich. „Genau richtig zum Beginn der Ferien!“ In einer Woche fangen die Sommerferien an. Und dann werden Jakob und ich jeden Tag stundenlang reiten. Zumindest haben wir das letztes Jahr so gemacht. Und es gibt keinen Grund, diese Tradition zu beenden.

Halt, eine Sache ist anders dieses Jahr: Ich habe einen Freund und um den möchte ich mich ebenfalls kümmern. Schon wieder denke ich über Kevin nach. Mein Traum ist natürlich, dass er ein genauso großer Pferdefan wie Jakob wird. Dann könnten wir zu dritt diese Leidenschaft teilen. Auf der anderen Seite kommt Kevin aus der Stadt. Pferde kannte er bisher nur aus dem Zoo. Ja wirklich! In Berlin halten sie Pferde im Zoogehege!

Was Kevin wohl gerade macht? Das glucksende Mädchenlachen kehrt in meine Erinnerung zurück. Das war doch niemals seine Mutter!

Meine Stirn verfinstert sich, und als würde sie es spüren, wendet Daisy sich mir zu. Gutmütig blickt sie mich an und stupst mit den Nüstern gegen meine Schläfe. Hör auf mit den unsinnigen Gedanken!, lese ich in ihren Augen ab. Eifersucht bringt doch nichts. Kevin liebt dich wirklich!

„Daisy ist heute auffällig unruhig!“, stellt Jakob fest, der diesmal leider gar nichts kapiert. Sorgfältig kratzt er Feuerblitz’ Hufe aus. Dann greift er nach der Kardätsche. Feuerblitz’ Fell schimmert seidig im Abendrot.

„Und, mit Kevin alles gut?“, fragt Jakob dann doch noch. Ich nicke halb. Was soll ich schon sagen? Jakob ist nicht Hals über Kopf verknallt wie ich. Wie es ist, ständig an jemanden zu denken, kann er überhaupt nicht erahnen. Kurz überlege ich mir, ihn einzuweihen und zu beichten, dass ich sauer auf Kevin bin. Weil er das ganze Wochenende für seine Mama reserviert und am Samstag vergessen hat, mir eine SMS zu schreiben. Aber dann lasse ich es sein.

„Ich habe dir doch von Sybille aus Hamburg erzählt!“, sagt Jakob stattdessen und wird so rot, dass er beinahe Feuerblitz Konkurrenz machen könnte. Seine Wangen scheinen von innen zu glühen.

Sybille … Klar hat Jakob mir von Sybille erzählt. Er hat sie im Schullandheim kennengelernt, da war er nämlich mit seiner Klasse zu Pfingsten. Jakob hat mit dieser Sybille jeden Tag Tischtennis gespielt und zum Abschied haben sie sich ganz fest umarmt und sich geschworen, sich wiederzusehen. Die beiden haben E-Mail-Adressen getauscht und sich seitdem ziemlich häufig geschrieben.

In den ersten Wochen nach seiner Rückkehr hat Jakob ständig von Sybille erzählt. Sogar, dass sie ihn in den Sommerferien mit ihren Eltern besuchen will – seine Eltern haben nämlich eine Ferienwohnung auf dem Hof, die sie regelmäßig an Touristen vermieten.

Aber seit ein paar Tagen ist es erstaunlich ruhig um sie. Wenn ich darüber nachdenke, hat Jakob schon ganz schön lange nicht mehr von Sybille gesprochen.

Nun bin ich es, die verlegen wird. Eine tolle beste Freundin gebe ich ab! Bestimmt liegt es daran, dass ich seit ein paar Tagen mit Kevin zusammen bin. Seitdem bin ich echt blind für die Verliebtheiten anderer Leute.

Auf der anderen Seite war mir gar nicht klar, dass Jakob echt in diese Sybille verknallt ist. Bislang dachte ich, die beiden wären einfach nur Freunde.

Aber jetzt steht er da, mit hochrotem Kopf. Die Hand mit der Kardätsche hängt hilflos herab. Am liebsten möchte ich ihn umarmen.

„Seit einer Woche meldet sie sich überhaupt nicht mehr bei mir!“, murmelt er verzweifelt. Jetzt stehen ihm doch tatsächlich Tränen in den Augen. „Keine einzige E-Mail. Kein Brief, nicht mal ein Anruf. Dabei hatten wir am Anfang ständig Kontakt. Ich glaube, es wird nichts mit ihrem Besuch in den Ferien hier.“

Etwas verdattert stehe ich neben Daisy. Mein bester Freund hat Liebeskummer. Genau wie Hendrik und genau wie ich. Wobei … Bei genauer Betrachtung muss ich meinen eigenen Liebeskummer schnell korrigieren. Schließlich bin ich nicht verlassen worden wie Hendrik von Jan. Und schließlich ist Kevin auch nicht untergetaucht wie Sybille, die Freundin von Jakob. Er hat nur zwei Tage keine Zeit für mich. Kein Weltuntergang im Vergleich zu den Dramen meiner Freunde!

Jetzt gehe ich doch zu Jakob rüber und nehme ihn in den Arm. „Kopf hoch! Die meldet sich schon wieder. Die wäre doch doof, wenn sie dich nicht besuchen kommt. So einen coolen Typen findet sie in Hamburg garantiert nicht!“

Jakob sieht nicht gerade überzeugt aus. Aber er wirkt schon wieder ein bisschen fröhlicher.

„Vielleicht ist was passiert …“, murmelt er. „Hochwasser in Hamburg? Hast du in den Nachrichten was davon gehört?“

Jetzt muss ich lachen. Jakob ist einfach süß. „Hab einfach ein bisschen Geduld!“, rate ich ihm. „Deine Sybille wird sich schon wieder melden.“

England

In England glauben die Leute, dass es einem Schornsteinfeger Glück bringt, eine aus der Kirche tretende Braut zu küssen!

Englisch bei Herrn Wiedenkamp … Immer wieder eine echte Katastrophe. Mein spaßfreier Lehrer steht an der Tafel und schreibt mit verbissenem Gesicht Vokabeln auf. In seinem letzten Leben war Herr Wiedenkamp garantiert ein General oder Diktator.

„Nur weil die Ferien vor der Tür stehen, ist das kein Grund, den Unterricht jetzt schon schleifen zu lassen!“ raunzt er uns an. „Wer die Vokabeln bis morgen nicht kann, darf sich auf eine Stunde Nachsitzen freuen.“

Nachsitzen ist Herrn Wiedenkamps liebste Bestrafung. Weil er die Hausaufgaben und Prüfungen immer direkt in der Schule korrigiert, ist es ihm ein Genuss, uns nachmittags in sein Klassenzimmer zu bestellen.

Die Klasse ächzt. Die Vokabeln sind wirklich schwierig und heute herrscht draußen tollster Sonnenschein.

Mein Blick wandert in die erste Reihe zu Kevin. Er sitzt zwischen Maik und Stefan und direkt neben Maik hockt Loretta – die, die aussieht wie Selena Gomez. Heute hat sie eine auffällige Schleife im lockigen Haar. Und trägt ein Kleid, als wäre sie nicht im Englischunterricht, sondern auf einer Sommernachtsparty.

Ich beobachte, wie sie etwas auf einen Zettel schreibt. Dann faltet sie ihn zusammen und schiebt ihn über den Tisch. Maik guckt darauf, aber offenbar ist die Post nicht für ihn bestimmt, denn er gibt das Zettelchen weiter an Kevin.

Beinahe setzt mein Herzschlag aus. Was will Loretta denn von meinem Kevin?

Ich kann sehen, wie er die Botschaft öffnet. Dann schaut er nach rechts und schickt ein nettes Lächeln zu Loretta.

„Tamara?“ Herr Wiedenkamp starrt mich feindlich an. Am liebsten würde ich meine Sachen packen und gehen. Loretta flirtet vor aller Augen mit meinem Kevin!

„Ja?“ Meine Stimme zittert ein bisschen. Herr Wiedenkamp hat mich voll erwischt. Keine Ahnung, was die Frage war. Bestimmt geht es darum, irgendein Verb zu konjugieren. Erwartungsvoll blickt Herr Wiedenkamp in meine Richtung.

Meine Augen brennen, eine erschrockene Stille liegt in der Luft. Jemand in der Reihe hinter mir versucht, mir einzusagen.

„Schon wieder geschlafen, Tamara! Ich sehe deine Englischnote bedrohlich wanken!“, blafft Herr Wiedenkamp mich an. Dann notiert er etwas in sein Klassenbuch und die erlösende Schulglocke beendet die Stunde.

Kevin fängt mich nach der Schule ab. In der Pause bin ich ihm aus dem Weg gegangen und habe mich im Mädchenklo versteckt. Echt blöd – aber die Sache mit Loretta hat mich ehrlich geschockt. Ich habe mich eingesperrt und eine Runde geheult. Im Heulen bin ich einsame Spitze.

„He, nimm dir das mit Herrn Wiedenkamp nicht so zu Herzen!“, tröstet Kevin mich, als wäre das der Grund für mein bedrücktes Gesicht und mein plötzliches Verschwinden. „Dann rutscht deine Note eben von einer eins auf eine zwei. Ist doch immer noch ein super Zeugnis, oder?“

Kevin weiß, dass ich Herrn Wiedenkamp hasse. Dass er diese Gemeinheit jetzt so abtut, finde ich ehrlich gesagt blöd. Liegt wahrscheinlich an der tollen Loretta … Loretta, die Kevin plötzlich Zettel schreibt. Als einzige Einserschülerin und Tochter eines bekannten Nachrichtensprechers kann Herr Wiedenkamp sie wie jeder Lehrer an der Schule natürlich super gut leiden.

„Meine Note wankt zwischen einer Drei und einer Vier!“, verbessere ich Kevin. „Aber ehrlich gesagt ist mir das egal. Ich bin sauer wegen des letzten Wochenendes. Ist ja okay, dass du am Samstag und Sonntag deiner Mama hilfst. Aber eine Stunde hättest du doch wenigstens für mich freischaufeln können!“

Keine Ahnung, warum ich nicht einfach die ganze Wahrheit sage. Nämlich, dass ich außerdem schrecklich eifersüchtig auf Loretta bin. Vielleicht stand auf dem Zettel ja etwas ganz Harmloses. Dass der Unterricht langweilig ist – oder dass Loretta sich Hitzefrei wünscht, irgendwas Normales.

„Glaub mir doch, Tami!“, Kevin sieht mich unglücklich an. „Ich hatte ehrlich keine Zeit. Nicht eine Minute.“

Gerade in dem Moment schiebt Loretta ihr neues Fahrrad an uns vorbei. Ihr berühmter Papa erfüllt ihr jeden Wunsch und als Einzige an der Schule hat sie ein E-Bike.

„Tschüss, Kevin!“, sagt sie und zwinkert ihm vertraulich zu. „Und liebe Grüße an deinen Goldfisch Moby!“

Loretta betätigt die auffällige gelbe Klingel an ihrem neuen Rad und schickt ein glucksendes Lachen hinüber zu Kevin. Das Lachen kenne ich irgendwoher …

Loretta steigt auf und radelt pfeifend nach Hause.

Fassungslos starre ich Kevin an. Grüße an einen Goldfisch! Was soll das denn bitte bedeuten? War Loretta etwa bei Kevin zu Hause?

Tatsächlich ist Kevin knallrot geworden. So rot, dass sein Kopf einer Glühbirne gleicht.

Das Lachen. Auf einmal ist mir alles klar! Ich habe Loretta am Telefon gehört. Gestern, im Hintergrund, während meines Gesprächs mit Kevin!

Von wegen Wochenende mit der Mutter! Kevin hat seinen Sonntag ganz klar mit Loretta verbracht.

„War Loretta etwa gestern bei dir?“, frage ich ihn direkt. Um den heißen Brei herumzureden macht keinen Sinn. Trotzdem zittert meine Stimme jetzt.

„Also, ich kann es erklären …“, stammelt Kevin und sieht mich schuldbewusst an. „Loretta und ich, das … Es stimmt, wir haben den Sonntag zusammen verbracht. Aber es ist nicht so, wie es vielleicht aussieht, sondern ganz, ganz anders.“

Mir egal, was für eine Geschichte er mir jetzt erzählen will. Seelenverwandtschaft. Nur beste Kumpel. Nachhilfe in Mathe – bestimmt irgendetwas in dieser Art. Egal, wie er die Sache erklären will, ich glaube ihm nicht. Niemals hätte ich gedacht, dass Kevin mich so hintergehen würde.

In mir fühlt sich alles ganz leer und taub und einsam an. So einsam, als wäre ich der letzte Mensch auf dem ganzen Planeten. Und das, wo lauter Schüler sich an uns vorbeidrängen und ein irrer Geräuschpegel herrscht.

Die Erinnerung an den Vormittag nach der Lesenacht kehrt zurück. Als Kevin und ich dort hinten im Fahrradkeller gestanden haben. Als wir uns geküsst haben, sind Millionen Schmetterlinge in meinem Bauch aus ihren Kokons geschlüpft. Aber jetzt spüre ich nicht ein einziges müdes Flattern.

„Also …“, setzt Kevin noch mal von vorne an. Er holt tief Luft und wirkt auf einmal wieder wahnsinnig sicher. „Es macht keinen Sinn, dich anzulügen. Loretta war auch am Samstag bei mir. Das heißt, eigentlich war ich bei ihr zu Hause. Sie wohnt ja nur eine Straße entfernt, direkt auf der anderen Seite der Kreuzung. Du weißt ja, dass ihr Papa Nachrichtensprecher ist und in einer echt coolen Villa wohnt. Aber das tut eigentlich gar nichts zur Sache. Denn …“

Es wird immer besser. Die zwei haben das komplette Wochenende miteinander verbracht! In der protzigen Villa von Lorettas Papa. Schön und reich – das absolute Gegenteil zu meinem Leben. Außerdem ist es wahrscheinlich einfach praktischer, eine Freundin im gleichen Ort zu haben. In mein Dorf geht nur zweimal am Tag ein Bus. Und wenn man mit dem Fahrrad fährt, muss man ganz schön in die Pedale treten.

Und genau das mache ich jetzt auch. Mitten im Satz wende ich mich von Kevin ab. Ich steige auf mein rostiges altes Herrenrad, das ich von meinem Opa geerbt habe, und fahre ohne mich umzudrehen in Richtung Straße.

„He, Tami!“, ruft Kevin mir verdutzt hinterher. „Lass es mich doch bitte erklären!“

Ich bremse, drehe noch mal um und radle zu ihm zurück. Loretta ist schön, klug, reich und sexy. Was gibt es da noch zu erklären?

„Ist schon okay, Kevin!“, sage ich und versuche, möglichst gelassen zu klingen. In mir drinnen brodelt es. „Für mich ist das völlig in Ordnung, wenn du in Loretta verschossen bist. Wenn ich ehrlich bin, geht es mir da ähnlich. Du weißt doch, dass Jakob mein bester Kumpel ist. Aber seit ich mit dir zusammen bin, merke ich, wie viel er mir in Wahrheit bedeutet. Wenn du dich lieber mit Loretta triffst, verbringe ich meine Zeit eben mit Jakob.“

Keine Ahnung, warum ich so einen Schwachsinn erzähle. Das kommt vermutlich von den vielen Liebesfilmen, die Mama Tag und Nacht schaut. In denen machen Frauen so was, wenn sie wütend sind. Sie versuchen, ihre Partner eifersüchtig zu machen – verabreden sich mit Brüdern von Freundinnen, schicken sich selbst Blumen oder kaufen sich neue Klamotten und sehen dann plötzlich umwerfend aus. Meist klappt das dann auch und am Ende sind alle wieder glücklich. Nur im wahren Leben geht so was schnell mal schief.