Ein Spiegelbild für Franco - Felix Freiherr v. Hubey - E-Book

Ein Spiegelbild für Franco E-Book

Felix Freiherr v. Hubey

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Beschreibung

Helen O´Kelly, 1913 in Kalifornien geboren, übersiedelt 1926 mit ihrer Mutter, zwei Schwestern und zwei Brüdern nach Fribourg in der Schweiz. Reich, gebildet, weltweit vernetzt leben die fünf in der Universitätsstadt. Und Fribourg wird in diesen Jahren zu einem Zufluchtsort des faschistischen Europa. Der Vater zieht durch die Welt und macht sein Vermögen mit der Entwicklung von Kupferminen. Als die Weltwirtschaftskrise auch ihn erreicht, übersiedelte die Mutter mit den Kindern 1936 von der teuren Schweiz in das arme Irland. Die älteste Tochter heiratet einen deutschen Aristokraten – den Bruder von Helens späterem Ehemann - und eine fatale Konkurenz der Schwester beginnt. Helen blieb nur Monate in Irland, wo sie für eine ultrakatholische irische Organisation tätig war, um für diese nach Spanien, in den gerade ausgebrochenen Bürgerkrieg zu gehen.

In Spanien fand man sie an der Seite Francos und ein widersprüchliches, zeitlebens vor der Familie geheim gehaltenes Leben beginnt. Sie macht in Amerika Propaganda für Franco, aber immer widersprüchlicher wird ihr Handeln. Eine Suche nach den Spuren ihres verborgenen Lebens beginnt.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ein Spiegelbild für Franco

Die wahre Geschichte einer jungen Amerikanerin im Spanischen Bürgerkrieg.

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorsatzblatt

 

 

 

 

 

 

Ein Spiegelbild für Franco

 

 

Die wahre Geschichte einer jungen Amerikanerin im Spanischen Bürgerkrieg.

 

 

 

 

Eine Erzählung nach der Wahrheit

 

 

 

von

 

Felix Freiherr v. Hubey

 

 

Kapitel 1

Feuer hat natürlich immer etwas Faszinierendes. Aber bei diesem Feuer war es nicht nur das Feuer an sich - das wir ja nicht einmal mit eigenen Augen gesehen haben - sondern das Drumherum, und wie und wo es entstanden ist. Obwohl ja anfangs die ganze Sache nach einer banalen Eifersuchtsgeschichte in der Familie aussah. Genaugenommen nicht nur anfangs, sondern auch noch als wir schon tiefer in das Leben der Großtante eingestiegen waren.

Eingestiegen hört sich etwas nach Einbrechern an, die ungebeten in ein fremdes Haus kommen. Dabei war die Großtante lange tot und weil sie keine Kinder hatte, lag ihre Geschichte sozusagen herrenlos herum. Trotzdem bewegten wir uns in den Überbleibseln ihres Lebens befangen: nichts anfassen und nur anschauen, was offen zu Tage liegt! Nichts auch nur etwas anheben, um darunter zu schauen, nichts umwerfen oder gar Lärm machen. So bewegt man sich dachten wir, wenn man in ein fremdes Haus einsteigt. Und wir waren eingestiegen. Allerdings mit einer Einladung. So glauben wir zumindest heute. Einer Einladung von ihr. Der Großtante, der Schwester der Großmutter meiner Frau. Einer Einladung von Helen.

Dieses Feuer kam uns immer wieder in Erinnerung und es machte sich der Gedanke breit, so ein Feuer passe doch einfach zu gut zu ihr. Zu Helen, die nach ihrem Tod durch jemanden ein Feuer entfachen lässt. Ausgerechnet durch eine Frau, die sich - bekanntermaßen - niemals etwas von anderen auftragen ließ. Und schon gar nicht von Helen. Obwohl diese Frau nicht nur die Tochter von Helens Schwester war, sondern dank eines unplanmäßigen Erbgangs, nun auch Besitzerin des Hauses war, in dem Helen gelebt hat. Und Helen lässt sie offenbar in dem Glauben, dass man durch ein Feuer die Erinnerung an das Leben eines Menschen auslöschen kann. Denn mit dem Auslöschen hatte es diese Nachfolgerin von Helen. Und das hatte Helen wohl schon gemerkt, obwohl sie es erst nach Helens Tod darin zur vollen Meisterschaft brachte.

Und dann wird doch genau das Gegenteil bewirkt. Das Feuer wird uns zum Leuchtfeuer, zur Fackel der Erinnerung und bringt Licht in die Räume, in welchen wir nichts sahen und in die Räume die wir nicht kannten und sorgt dafür, dass alles offenbar wird. Dass am Ende alles einen Sinn ergibt und nur so hatte verlaufen können, um alle Wege, alle Ziele und Überlegungen von Helen unter einen Hut zu bringen und dass sogar ein gar nicht so kleiner Teil der Weltgeschichte möglicherweise eine andere Richtung genommen hätte, wenn Helen nicht so gehandelt hätte. Nicht so im geheimen gehandelt hätte und so verschwiegen gewesen wäre und noch dazu ein so – jedenfalls über viele Jahre - abenteuerliches Leben gehabt und es auch so gekonnt gelebt hätte.

Dieses Feuer, dass wir anfangs mit Kopfschütteln als eine der vielen, von Herzlosigkeit triefenden Begebenheiten in dieser Familie nicht weiter beachtet hatten, wurde zum hellen Stern der uns den Weg wies, und uns die vielen unerklärlichen Wendungen und rätselhaften Schritte, die das Leben dieser Helen O´Kelly aufwies, finden ließ. Zu einem Zeichen wurde uns dieses Feuer. Es brachte uns auf diesen Weg. Den Weg in das Leben von Helen.

Erst spät trauten wir uns, diesen Gedanken als wahr anzunehmen, der uns anfangs so absurd und okkult vorkam. Den Gedanken, dass das Feuer von Helen nicht nur vorausgesehen und eingeplant war, sondern sogar initiiert worden war. Dass sie sozusagen aus dem Grabe heraus ein Feuer entfacht hat.

Erst spät, Jahre nachdem wir angefangen hatten das Leben von Helen zu suchen und zu verstehen, wurde uns klar, dass es nicht nur einfach zu gut zu ihr passte, ein Feuer für die ihr feindlich gesonnene Nichte und Nachfolgerin in ihrem Haus vorgesehen zu haben - ein Feuer so geschickt als verlockende Option vorgesehen zu haben, dass die Nichte in ihrer Berechenbarkeit nur zuschnappen bräuchte, sicher zuschnappen würde, wie ein Hund, dem der Einbrecher einen Happen hinwirft, um in Ruhe seiner Arbeit nachgehen zu können – sondern auch noch zum Zeichen wird. Jedenfalls dann, wenn dieses Feuer auch eine Aufgabe und eine Wirkung hat. Zumindest für jemanden – wenn es dann noch jemanden gab, der an sie dachte – der einen Hinweis brauchte, um neu auf ihr Leben zu schauen.

Ein Hinweis für uns, meine Frau und mich, auf dieses Leben zu schauen, das schon so kein normales war, das sich aber als noch viel erstaunlicher erweisen sollte. Und in dem es noch Geheimnisse gab, obwohl - und sicher auch gerade weil - es sich auf offener Bühne abspielte. Nichts ist so gut versteckt, wie etwas, dass offen vor einem liegt und von dem man zu wissen glaubt – aber eben nicht weiß - was es ist. Ein Leben mit einer zweiten Schicht. Und von alledem hatten wir keine Ahnung.

Auch wenn – oder gerade weil - wir die Geheimnisse glaubten lüften konnten, beschlich uns immer wieder die Frage, ob diese Geheimnisse tatsächlich aufgeklärt werden sollten, oder ob nur erkannt werden sollte, dass es da Geheimnisse gab. Zumindest bei einem Geheimnis sind wir uns heute sicher, dass Tante Helen - Großtante um genau zu sein aber wir nannten sie immer öfter schlicht Helen, weil sie, je tiefer wir in ihr Leben einstiegen, ja immer jünger wurde, und uns den größten Teil der Zeit eine Helen begegnete, die viel jünger ist, als wir es heute sind – das diese Helen nie und nimmer damit rechnen konnte, dass es jemandem gelingen würde, es zu lüften. Und die Frage, warum sie das Foto und die Dokumente dieses Geheimnisses Zeit ihres Lebens bewahrte, anstatt alles selber zu vernichten, verstärkte unseren Ehrgeiz. Genauso wie die Faszination, die diese Frau und ihre Lebensgeschichte auf uns ausübte. Auch wenn uns dies alles erst spät - sehr viel später - klar wurde, hatten wir ab dem Moment an dem wir von dem Feuer hörten, das sichere Gefühl, dass hier noch etwas zu tun sei.

So richtig eingeladen waren wir natürlich nicht, sonst hätte Helen dies einfach und ausdrücklich getan und uns eingeweiht. Hat sie aber nicht. Hätte sie es gekonnt? Gedurft? Gewollt? Hätte sie jemanden beauftragen sollen? Können? Wollen? Jemanden einladen sollen; zumindest ihm oder ihr einen Faden in die Hand geben sollen, an dem die ganze Geschichte sich auffädeln ließ? Wollte sie sicher sein, dass nur jemand auf ihrer Spur gehen wird, der die erste Prüfung bestand? War das Feuer das Zeichen, dass man deuten können musste, um den Zugang zu der Geschichte zu finden? Dass die Geschichte sich aus dem Feuer erheben musste um neu aufzugehen? Dass das Feuer der Eingang in eine Welt war, die lange zurücklag, aber doch Wirklichkeit war? Wir wollten die Geschichte von Helen - und wir schreiben sie hier als Erzählung nach der Wirklichkeit auf – einfach wissen. Das war es, was wir als Antwort auf das Feuer tun wollten.

Dabei hat Helen über ihre Arbeit in dem ultrareligiösen Netzwerk - das vor allem eine Bastion des Antikommunismus war - und in dem sie in den 1930er Jahren aktiv war, nie zu uns gesprochen. Auch über ihre jahrelange Hilfe für die `weiße´ Seite des Spanischen Bürgerkrieges – wie man die Faschisten Spaniens nannte - sagte sie wenig und allenfalls unpolitisches. Und nur wenn man gezielt fragte, schenkte sie einem ein Wort über die Tatsache, dass sie zehn Jahre in Madrid für den Geheimdienst gearbeitet hat. „… als Journalistin, keine große Sache!“ sagte sie dann. Kein Wort natürlich zu den - so gar nicht zu ihrer Aura einer erzkatholischen Dame passenden Flirts in ihrer Jugend, die - durch herrliche Schwarz-Weiß Fotos, die sie mit dem einen oder anderen sehr vertraut zeigen - gut belegt sind. Einer Reihe von Männern, die sich von dieser zarten Person angezogen zeigten. Eine Reihe bekannter Namen tauchten in Schriftstücken auf, und bei einigen davon glauben wir anfangs an maßlose Übertreibungen.

Warum hat sie uns zu Lebzeiten nicht eingeweiht?

Zu ihren Lebzeiten hatten wie keine Ahnung von den Rätseln, die ihr Leben uns eines Tages aufgeben würde. Wir haben schon vermutet, weil sie wusste, dass wir kein Leben kannten, in dem für Überzeugungen gelitten und gestorben wird. Weil wir kein Leben kennen, in dem es riskant bis tödlich ist, seine Überzeugungen zu ändern? Weil wir die Enkelgeneration waren und sie uns nicht für voll nahm? Wir hätten sie fragen sollen.

Als wir noch nicht so tief in die Geschichte eingedrungen waren, wollten wir uns nur kurz - mehr pflichtgemäß, als in Erwartung wirklich großer Entdeckungen - in ihrer ungeschriebenen Biographie aus Lebensdaten umsehen und sahen uns schon auf dem Rückweg, als wir - natürlich nicht mit leeren Händen, sondern mit der einen oder anderen Anekdote, einigen historischen Daten und Zusammenhängen - immer wieder auf dieses absurde Feuer zurückkamen. Uns wollte nicht in den Kopf, dass da - mir nichts dir nichts – jemand, der zufällig Zugriff auf ihre Sachen hat, hingeht und diese Sachen nicht nur beiseiteschafft oder sonst wie vernichtet, sondern dieses Feuer entfacht. Ausgerechnet ein Feuer.

Dabei war es nur ein kleines, gut beaufsichtigtes Feuer. Ungewöhnlich zwar, aber sicher nichts aufregendes. Aber eben ein Feuer und der vage Gedanke, dass die tote Helen irgendwie dahinter steckte, elektrisierte uns. Wir hatten gar keine Meinung dazu, ob Feuer bei ihr eine Rolle spielte. Nur wer den Aufbau des Kamins in ihrem Hause störte, indem er darin herumstocherte, bekam eine - für sie völlig untypisch - scharfe Rüge: „Lass es leben!“ sagte sie dann. Sie schien einem dann eine andere zu sein. Wir dachten, sie sei wohl erschrocken über ihren eigenen Ton. Und nur in einer einzigen anderen Erwähnung war uns etwas mit Feuer in Erinnerung: Als sie eine alte Mestizin erwähnt, die in ihrer Kindheit im Hause ihrer Eltern arbeitete. Und in dieser Erwähnung spielte Feuer eine Rolle. Das fiel uns aber erst sehr spät wieder ein.

Schon wie schnell wir von diesem Feuer erfuhren war ganz und gar ungewöhnlich. Bestimmt war das bisschen Glut noch nicht zur Asche geworden, da hörten wir schon davon. Und dabei hörten wir nur sehr, sehr selten - und niemals früh - von irgendetwas aus diesem Haus, das wir einmal gut gekannt hatten. Gut kannten und oft besuchten, solange Helen – und ganz früher auch noch ihr Mann, Großonkel Magnus - dort lebte. Nur war an diesem Tag meine Mutter – zufällig auf dem Rückweg von einem ihrer zwei Besuche, die sie jemals in eben diesem Haus absolvierte - bei uns.

Dazu muss ich sagen, dass wir - meine Frau und ich, meine Mutter und Tante Helen und die ganze Verwandtschaft - in einer Parallelwelt leben. Einer sich auflösenden, heute fast assimilierten, aber noch erkennbaren Parallelwelt. Das was einmal der rheinisch-westfälische Adel war, ist auch heute noch – immerhin fast hundert Jahre nach seiner offiziellen Abschaffung - irgendwie nicht ganz weg. Alle, die einen dieser langen Namen tragen sind irgendwie – jedes Mitglied dieser Parallelwelt weiß natürlich exakt bis zur mindestens dritten Generation wie – verwandt. Auch wenn man sich nie zuvor gesehen hat, ist man immer per du und von grenzenloser Vertrautheit. Man kennt die Namen, Verwandtschafts- und Vermögensverhältnisse - wobei letzteres erstaunlich wenig bedeutend ist - und weil es so herrlich einfach ist, wenn alle die gleichen Vorkenntnisse haben und die gleichen Regeln beherzigen, fühlt man sich nur in diesem Kreis pudelwohl. Die Zahl der Familien ist natürlich begrenzt, weil keine neuen hinzukommen und weil auch die Auswahl an – jedenfalls gut gelittenen - Vornamen begrenzt ist, wird immer Vor- und Nachname genannt, aber nie ein Zusatz. Früher hatten alle Schlösser, in denen sie wohnten und die das Lebensgefühl bestimmten. Das mit den Schlössern hat sich weitestgehend erledigt, aber das Lebensgefühl scheint noch - zumindest in der unsrigen Generation – anzuhalten. Heute ist es in Wahrheit, vermutlich mehr Gewohnheit und Bequemlichkeit anstelle von Verwandtschaft und Religion, die alles noch erstaunlich fest miteinander verbindet. Sicher auch ein Stück Verklärung der Vergangenheit und ob dieses Netz im Falle eines Falles tatsächlich trägt, sollte man besser nicht ausprobieren.

Jedenfalls war meine Mutter in Fersenek, jenem Schloss in dem zuvor Helen lebte, eingeladen. Der ganze Besitz war an eine der beiden Nichten von Helen – die andere war meine Schwiegermutter - gegangen, und diese hatte meine - über tausend Ecken mit ihr verwandte - Mutter eingeladen, so dass sie anschließend zum Tee zu uns – beziehungsweise meiner Frau, denn ich war im Büro - kam, und brühwarm von dem Feuer erzählte. Und weil Feuer immer etwas Faszinierendes hat, sprachen die beiden fast ausschließlich darüber und meine Mutter wollte, nachdem sie sich ausgiebig über diese Verbrennung empört hatte, ganz genau hören, wie das mit der Großtante meiner Frau war.

Meine Frau erzählte – noch aus dem oberflächlichen Wissen – von der Familie O´Kelly dass sie in Chile lebte, weil der Vater von Helen Kupfererzminen entwickelte und als er eine riesige erschloss und verkaufte, seine Frau mit den fünf Kindern in die Schweiz ging. Und wie sie dann später nach Irland zogen. Und wie Helen – die Gründe dafür kannten wir noch nicht – plötzlich im spanischen Bürgerkrieg aktiv war und wohl mehrmals von dort aus in die USA reiste. Dass sie dann den Ausbruch des zweiten Weltkrieges bei ihrer Schwester, die einen Deutschen – den Großvater meiner Frau – geheiratet hatte, erlebte, wussten wir da noch nicht. Nur dass sie „die ganzen 40er Jahre für irgendwelche Engländer“ arbeitete, bevor sie den Bruder des Großvaters meiner Frau heiratete - und damit die fatale Konstellation schuf, dass zwei Schwestern mit zwei Brüdern verheiratet waren – das hatten wir schon gehört. Fatal war diese Konstellation aus dem klassischen Grund, dass die Eifersucht der Schwester mit Namen Margaret, Helen das Leben – und uns die Wahrheitsfindung - schwer machte.

Ab Helens Heirat kannte meine Mutter die Geschichte schon wieder, weil sich deren weiteres Leben in dieser gemeinsamen Parallelwelt abspielte. Sie wusste von dem märchenhaften Reichtum der Cock von Cockenthal in Fersenek, von Helens Mann Magnus Cock, dem eleganten Gentleman, der im Bundestag saß, Ehrenkonsul war und alle möglichen Ämter angetragen bekam. Meine Mutter wusste um das Grummeln von Helens Schwester Margaret, die sich - nicht nur weil sie älter, sondern auch weil sie als klüger galt und den eigentlichen Erben geheiratet hatte – übergangen fühlte. Und dies nur, weil ihr Mann fünf Jahre nach der Hochzeit gefallen war und nur zwei Töchter, die eine die ja Helens Haus erbte - und wie wir nun wussten gern Feuer machte - und die andere, die die Mutter meiner Frau ist, hinterließ. Und weil diese Schwester von Helen dem Leben furchtbar gram war und allen Menschen vor Augen führen wollte, wie grausam und ungerecht das Leben war, und gern nachhalf, indem sie selber grausam und ungerecht zu den Menschen war. Selbst zu ihrer jüngeren Tochter, der Mutter meiner Frau, die schon 13 Jahre nach der Geburt meiner Frau starb.

Und natürlich kannte meine Mutter das caritative Werk von Helen. Ein so beachtliches Werk, dass Neider sagten, man brauche schon Diener und Gärtner und keine Kinder um so etwas aufbauen zu können. All dies wusste meine Mutter schon, bevor ihr nach dem Feuer das Leben der Tante Revue präsentiert wurde. Und sie hatte auch von dem Haus, dem angeblich palastartigen Haus von Helen in Andalusien – wir sagten Andalusien und nicht Marbella, weil das viel zu sehr nach Parvenü geklungen hätte – gehört.

Aber schon, dass meine Mutter das Feuer überhaupt mitbekam, war höchst erstaunlich und lag schlicht daran, dass sie sich an diesem einen Tag hatte ausnahmsweise fahren lassen, und somit – ich glaube das erste Mal in ihrem Leben - zu früh ankam. Und sicher auch daran, dass es ein herrlicher Frühsommertag war und der Schlosskomplex wie eine Perle in der grünenden niederrheinischen Landschaft lag, so dass sie sich - nachdem ihr die Haustür geöffnet wurde und man ihr sagte, die neue Baronin sei im Park - trotz ihrer schlechten Hüfte, wegen der sie sich hatte fahren lassen, auf in den Park machte. Dieser prachtvolle Park mit seinen riesigen kurzgeschorenen - von kunstvoll geschnittenen Hecken umstandenen - Rasenflächen, den eingefassten Rosenbeeten und geharkten Kieswegen freute sie und sie ging gerne weiter auf die Suche nach ihrer Gastgeberin. Sie genoss die weiten Räume, die sich durch Mauern, Hecken, Baumpanoramen in der Großzügigkeit des Parks bildeten und sich in dem satten Grün wie frisch geschaffen zeigten. Die aufwendigen Rosengärten mit den Ziselierungen der Buchsbaumornamente und den beiden beflissenen Gärtnern am Horizont kurz vor der Mittagspause. Die Gärtner, in Unruhe und ständig zu einem Heckengang blickend aus dem sie nun auch den Rauch, den sie schon seit einer Weile gerochen hatte, aufsteigen sah. Nicht der angenehm würzige und heimelig duftende Rauch eines Holzfeuers und auch nicht das beißende, aber nur kurz brennende und dann erdige eines Laubfeuers, sondern der unnatürliche Qualm eines Feuers, wie sie es roch, wenn früher die Treckerfahrer auf dem Feld die Kunstdüngersäcke verbrannten. Schon eine ganze Weile hatte sie diesen Geruch in der Nase, ihn aber nicht mit diesem Paradies vor ihren Augen in Verbindung bringen können. Erst als sie den Rauch sah, verlor alles um sie herum seine Vollkommenheit und trotzdem, sei sie einfach dorthin gegangen.

In einem fabelhaften pastellfarbenen Twinset, aber mit einer Art Mistgabel in der Hand, habe sie dort ihre Gastgeberin angetroffen. Sie habe sich sehr gewundert, denn „so jung dass sie sich mit so etwas amüsieren müsse, ist die Gute ja auch nicht mehr – war es nicht der sechzigste, den sie vorletztes Jahren groß gefeiert hat? Der fünfundsechzigste? Na bitte!“

Einmal jede Woche kam die neue Hausherrin in dieses Haus und erledigte Unterschriften und andere Verwaltungsdinge. Und sie lud sich zu diesen Besuchen eben solche Mittagsgäste wie meine Mutter ein. Für diese Woche hatte sie sich wohl das Feuer vorgenommen, denn vor ihr auf dem gepflegten Rasen hatte sie ein Häuflein Papiere, Fotos und die Reste eines kleinen Beistelltisches. Alles in hellen Flammen zwischen zwei sorgfältig geschnittenen Eibenhecken. Meine Mutter - die immer fand, dass unsere Familie an Bedeutung eingebüßt habe, weil im Krieg das Archiv verbrannt war - konnte nicht fassen, dass da etwas verbrannt wurde, was sie mit Freuden dem Archiv zugeführt hätte. Zumal auch in diesem Haus der Krieg gewütet und das Archiv vernichtet hatte.

Warum wohl sollten Schriftstücke und Fotos und auch kleine Möbel der überaus beliebten und in der Umgebung nach wie vor hoch verehrten Helen vernichtet werden? Doch wohl nur weil diese Nachfolgerin und Tochter ihrer Schwester, die - ebenso wie ihre Mutter - in leidvoller Konkurrenz zu Helen stand! Offenbar sollte alles zuverlässig beseitigt werden und so tat die neue Hausfrau dies vorsichtshalber selber, damit auch wirklich alles verschwand und nichts zu Devotionalien werden konnte. Lässt das nicht schon so viel Arg erkennen, dass sich daraus mühelos eine Geschichte von generationsübergreifender Eifersucht stricken lässt? Einer Geschichte, deren letztes Kapitel offenbar durch dieses Feuer geschrieben werden sollte. Eine gute Erklärung, die geradezu dazu einlädt, sich kopfschüttelnd - und etwas angewidert - aber mit zufriedenstellender Erklärung, abzuwenden.

Meiner Mutter, die Hintergründe und Zusammenhänge des Lebens von Helen zu erklären ging soweit leicht von der Hand, wie es zugleich das Leben der Großmutter meiner Frau war. Auch wenn sich später herausstellte, dass nicht alles – im Grunde nur das wenigste – der Wahrheit entsprach. Legenden zu bilden scheute man sich in der Familie O´Kelly nicht.

 

Kapitel 2

Sie waren irischer Abstammung, zogen rund um den Globus, waren aber Amerikaner. Schon diese Tatsache ist in der Familie eine Legende, denn keineswegs war man schon - wie gern erzählt - vor den Sezessionskriegen im Lande. Wie wir bei einem Blick in die Einwandererlisten in New York sahen, waren es die Großeltern von Helen, die aus Irland nach New York gekommen waren. Und sie hatten bereits den in Irland geborenen Vater von Helen dabei. Aber das störte damals die skizzenhafte Darlegung des Lebens, dessen Spuren da ausgelöscht werden sollten, nicht. Keiner von uns wusste, was wir alles nicht wussten.

Die Zeit zwischen 1910 und 1927 in Amerika – Nord- und Süd - verlebte man angeblich gut situiert, aber von Reichtum sprach keiner. Erst später flutet Geld das Leben der O´Kellys, wirbelt alles durcheinander; ermöglichte nicht nur dem Vater neue unternehmerische Abenteuer, sondern spülte auch die Mutter mit den Kindern in die Schweiz. Sie landeten mitten in einem Europa, das es mit dem Faschismus versuchen wollte. Die Mutter allein hatte Fribourg ausgewählt und genau dort ging sie auch hin. Und auch erst ab deren Ankunft in Fribourg lässt sich eine klare Linie nachzeichnen. Auch weil sich unfassbar vieles von allem Späteren auf diesen Ort zurückführen lässt.

Fribourg in der französischen – der katholischen – Schweiz war der Ort, an dem sich die Menschen trafen, die mit Helen ein Leben lang verbunden blieben. Und die ein Teil davon waren und möglich machten dass dieses Leben so verlief. Dass es so von ihr geführt werden konnte.

Wir erinnerten uns erst spät, dass wir von Helen selber ein einziges Detail aus der Zeit vor Fribourg, der Zeit ihrer Kindheit in Südamerika, erzählt bekamen. Es war, als wir zum Ende ihres Lebens bei ihr in Spanien waren, spätnachmittags unter den Arkaden ihres Hauses saßen und sie mich bat, für den Salat, den die Köchin zubereiten sollte, eine Avocado von dem Baum an der provisorischen Einfahrt zu nehmen. Warum sie – in meiner Erinnerung plötzlich - die Avocado in der Hand hatte weiß ich nicht mehr. Ich war wohl zu verblüfft, denn sie fing an zu erzählen. Sie erzählte selten von sich und nie – niemals - ohne gefragt und lange gebeten zu werden.

Sie hielt die Avocado in ihrer Hand, besah sie, drehte sie und sagte, sie glaube sich jetzt, 70 Jahre später zu erinnern, dass es eine Avocado war, die sie für den Salat holte, als sie sie sah und zu ihr lief.

Wir hatten keine Ahnung von wem sie sprach.

Sie sagte etwas davon, dass sie sich nicht kannten, aber beide stehen blieben. Nur den Satz „Wie Sonne und Feuer, wie immer schon zusammengehörend.“ erinnere ich.

Wir hatten diese Geschichte noch nie gehört und noch immer keine Ahnung von wem sie da sprach. Sie schaute die Avocado an – als ob sie die glänzend dunkelgrüne Schale mit ihren gleichmäßigen Narben das erste Mal sah, roch daran - ohne die Nase zu rümpfen - und schloss die Augen, berührte sogar mit der Avocado ihre Wange. Eine solche Berührung hatte sie nicht einmal unseren Kindern, wenn diese ihr als Neugeborene gereicht wurden, geschenkt. Sie legte die Frucht auf den Tisch und der Zauber schien vorbei: „Bring doch bitte noch eine!“

Doch als ich zurückkam, war sie in einem nie dagewesenen Redefluss und ich fing einen vielsagenden Blick meiner Frau auf. Das Spanisch der Mestizin sei ohne viele Worte ausgekommen; es erschuf Gefühle, einige wenige Bilder und verschiedenste Stimmungen. Alles das gab es in Helen´s Welt bis zu diesem Tag nicht. Bei den O´Kellys gab es `steife Unterlippen´, Vernunft, Wissen. Wenn die Mestizin sprach, konnte eine Pause oder ein Raunen, ein Augenaufschlag oder ein tonloses Wort Helen offenbar in rasende Aufregung versetzen oder zutiefst beruhigen; konnte sie auf Reisen und in unbekannte Welten mitnehmen. Mit ihren Händen wirbelte diese Frau in der Luft herum, berührte Helen aber wohl nur selten. Helen war ein Kind und wohnte ihrer Rede bei. Sie folge ihren Worten oft mit geschlossenen Augen und sah doch Bilder von unfassbarem und nie gesehenem.

Die Alte richtete ihre Reden nicht immer und nicht nur an Helen, sondern an andere, andere die sich nicht im Raume befanden. Sie führte Reden über die Helen auch Jahrzehnte später nicht sprechen wollte.

„Wie war ihr Name?“

Helen schaute erschrocken, geradezu angewidert und schüttelte abwehrend den Kopf.

Keine gute Frage, dachte ich und versuchte nicht weiter zu stören. Sie hatte von einer Zeit und einer Person gesprochen von der ich damals noch nicht wusste, dass ich sie eines Tages für wichtig halten würde und über die ich einmal berichten will. Nach einigen Momenten sagte sie dann doch etwas.

„Die Welt ist die gleiche, nur das Stück, das wir sehen nicht.“ Und nach einer weiteren Pause. „Da ist so viel mehr als wir sehen und verstehen. Pah!“ sie blickte an die Decke, wie sie es immer tat, wenn ihre typische und etwas mitleidige Mischung aus Resignation und gütigem - gelegentlich demütigem - Bedauern über die Unzulänglichkeiten – meist in der Form von Ungebildetheit - der Welt zum Ausdruck kam. Dann lächelte sie. „Aber sie war anders. Sie hatte Sonne und Feuer, sie konnte es. Ja, sie konnte es ...“ sie blickte in die Ferne. „... sie ist: verbunden.“ Sie schüttelte den Kopf, blickte vor sich auf die Avocado. Sie wollte nichts mehr sagen. Sie schaute sich um als sehe sie nach jemandem der hinter ihr steht und streckte sich dann. „Mara!“ sagte sie. Und nach eine weiteren Weile: „Sie heißt Mara.“

Die Mutter hatte Chile, den Ehemann und Vater, ihr Haus, die Nachbarn und Freunde, das alte Personal und wohl auch Mara zurückgelassen und war von 1927 bis 1936 in der Schweiz - nie hatten wir uns gefragt warum - aber plötzlich zog die Familie nach Irland. Kaum in Irland heiratete Helens ältere Schwester, die gebildete und präsente 1910 geborene Margaret, den Beau und Erben eines riesigen Grundbesitzes Friedrich Cocke von Cockenthal und zog nach Deutschland. Während die - als leicht kränklich und als weniger belesen geltende - Helen nach Spanien ging. Wie, zu wem, zu welchem Zweck hatten wir nie genau gesagt bekommen. Und uns auch nie besonders gefragt. Das störte in der Erzählung für meine Mutter aber nicht, denn keiner hatte ein großes Rätsel, sondern eine betrübliche - aber letztlich banale – Eifersuchtsgeschichte vor Augen.

Und diese begann ja erst Jahrzehnte später – 1950 - als Helen Magnus Cocke - den Bruder von Friedrich - heiratete. Bei Helens Hochzeit war Margaret schon lange Witwe, denn Friedrich war früh gefallen und hinterließ die besagten zwei Töchter.

Die Tatsache, dass Helen bis zu ihrer Hochzeit in Madrid lebte war bekannt, aber weil nicht darüber gesprochen wurde - wir dachten damals dies sei, um die Eifersucht zwischen den Schwestern nicht noch weiter zu befeuern – wussten wir nichts über diese Zeit. Nach der Hochzeit durfte Helen das im Krieg zerstörte niederrheinische Schloss Fersenek der Familie nach ihren Vorstellungen wieder aufbauen. Und wie schon in der Schweiz und sicher auch in Spanien und Amerika, flogen Helen die Herzen zu. Sie brauchte nur in einen Raum zu kommen, und alle wollten in ihre Nähe. Sie brauchte nicht zu fragen, sie wurde gefragt. Und all dies an der Seite eines brillanten Mannes, der ihr weit mehr Status gab, als ihn Margaret - die in dem westfälischen Schloss mit Namen Ternör fest saß - nun hatte. Jedem der ein Motiv für Eifersucht sucht, läuft da doch das Wasser im Munde zusammen.

Wir glaubten also damals zu wissen, warum die Sachen der Großtante Helen verbrannt wurden. Glücklicherweise wollten wir auch noch wissen, was da verbrannt wurde. Natürlich war uns klar, dass es ihre persönlichen Sachen waren und – so viel Habgier gibt es dann doch in einer reichen Familie – sicher nichts von materiellem Wert. Also vermutlich handgeschriebenes - was sich bestens als Erinnerungs- und Verehrungsgegenstand eignet - und – die Großtante hatte eine Schreibmaschine, die auf ihrem Schreibtisch thronte und auf der sie unglaublich schnell schrieb – Maschinengeschriebenes, bei dem es um den Inhalt hätte gehen können. Dann waren auch sicher Fotos dabei, denn die Großtante fotografierte gern und viel. Ob auch gut, war – natürlich - umstritten.

Eine Szene mit ihrem Fotoapparat, als sie - schon alt und in Spanien lebend – nochmals nach Deutschland kam und bei der von ihr gegründeten caritativen Veranstaltung in ihrem Schloss nicht von allen Besuchern erkannt wurde, kam mir in Erinnerung. Sie mochte es nicht, in ihrem eigenen Haus nicht erkannt zu werden. Natürlich nur, weil sie es als ihre Aufgabe ansah der Familie ein Gesicht und dem Haus eine Hausfrau zu geben. Ohne jeden Zweifel wollte sie also ihren Bekanntheitsgrad aus reinem Pflichtgefühl heben und hatte sich dafür den Moment gewählt, in dem die gut tausend Besucher um den großen Rasen standen und auf den Beginn der Darbietung der holländischen Schützengilde warteten. Als diese, in prächtiger Marschkolonne aus mehr als zehn Dutzend Männer und Frauen und in originalgetreuen Gewändern des dreißigjährigen Krieges aufmarschierten, ging sie in den Garten. Gleich würde der Hauptmann seinen Offizieren befehlen, die Truppen in einem großen `U´ anzutreten zu lassen, die Trommeln und Fanfaren nach vorne beordern und wenn alles so weit ist, dem General - der mit einer federgeschmückten Dame plaudernd dem Zug gefolgt war - melden. Der Moment der Meldung war immer ein feierlicher, in dem die Zuschauer, die den Einmarsch als Signal verstanden sich gute Plätze zu suchen, ruhig wurden. Die Sportschützen waren beauftragt, die Böschungen der tief liegenden Rasenfläche auf der sich das Schauspiel entfalten würde, frei von Zuschauern zu halten, damit alle sehen konnten. Die Trommeln verstummten und der Hauptmann ließ seinen Blick über die angetretenen Truppen schweifen, rief einen Befehl nach rechts, woraufhin zwei Männer andere Plätze einnahmen, drehte sich um und schritt die gut 40 Meter auf seinen General zu, salutierte und meldete ihm etwas das nur Flamen verstehen können. Der General dankte und beauftragte den Hauptmann, die Fahnenschwenker in die Mitte zu stellen und die Fesselung und Entfesselung des heiligen Sebastian darstellen zu lassen. In diesem Moment angespannter Stille, löste sich eine Dame - in einem karierten seidenem Sommerkleid mit Kragen, Manschetten und Gürtel, das etwas so zeitlos Korrektes hatte, dass man es sich auch an der englischen Königin hätte gut vorstellen können - aus der Reihe der Zuschauer, ging – unbehelligt - mit einer Fotokamera in der Hand fast bis zur Mitte in die Rasenfläche hinein und schoss ein, zwei Bilder von den Angetretenen, drehte sich würdevoll um und schritt lächelnd auf die Zuschauer zu. Ihr Rückweg wurde von Geraune begleitet, mit dem die, die sie nicht kannten darauf hingewiesen wurden, dass dies die Baronin – ja tatsächlich die sagenumwobene Baronin - sei. Als sie die Kamera anschießend loswerden wollte und mir in die Hand drückte, stellte ich fest dass kein Film darin war.

Weil sie nicht immer ohne Film fotografierte, gab es Unmengen von Fotos in ihren Schränken. Dazu kamen noch zahllose Fotos, die sie selber zeigten. Mit Päpsten und Bischöfen, Politikern und anderen Größen der Zeit. Und mit einfachen Menschen, die zu ihr aufsahen. Zu der kleinen, zierlichen und immer sehr gepflegten Helen aufsahen. In schwarz-weiß zur jungen Helen, auf Fotos in grellen Rottönen zu einer schon Brille tragenden Helen und auf wenigen Bildern zur alten Helen unter spanischer Sonne.

Diese schrecklich plausible Erklärung, warum das unsägliche Feuer entfacht wurde, schaffte es tatsächlich eine Weile unseren Blick für die Frage nach dem was da genau verbrannt wurde zu verstellen. Doch irgendwann mussten wir uns eingestehen, dass wir selbstgefällig genug gewesen waren und schon im ersten Anlauf an der ersten Hürde gescheitert zu sein. Wir dachten tatsächlich, es sei darum gegangen aus Eifersucht persönliche Dinge zu vernichten, damit diese nicht von einem viel spannenderen und anerkannterem Leben als dem der Schwester und Mutter der heutigen Besitzerin zeugen konnten oder gar die Erinnerung an Helen hätte wachhalten können. Auf einer Seite stimmte es ja fatalerweise auch: die Absicht der einen war es sicher, genau dies zu erreichen. Aber wenn Helen dahinter stecke: was wollte sie damit erreichen? Warum sollte sie selber Hand anlegen – anlegen lassen – an etwas das sie in ihrem Leben geschaffen hatte?

So klug und mutig wir es fanden, die Verwandtschaft so neu und sogar kritisch zu betrachten, so sehr schämten wir uns, in diese erste Falle getappt zu sein. Eine Falle für faule und etwas einfältige Sucher, die nicht merkten, dass diese Variante nur aufging, wenn man es mit der Logik nicht so genau nahm. Aber auch unsere Variante, die damals noch eine wilde These war, strotzte ja auch nicht gerade vor Logik: eine Tante, die das Verhalten ihrer Nachfolgerin so zutreffend antizipierte, dass es exakt so aufging wie sie es geplant hatte. Gewagt.

Nur begann es uns zu dämmern, von was wir alles keine Ahnung hatten. Wenn da etwas war - das beseitigt werden sollte - was mochte es gewesen sein? Eine absurde Suche, bei der wir nicht nur nicht wissen was wir suchen, sondern ob da überhaupt etwas war. Etwas dem Helen eine solche Bedeutung gegeben hatte, dass es wert war, einen solchen Ablauf in Gang zu setzen. Wir wollten es wissen, um uns selber zu beweisen, dass wir die Aufgabe gelöst und Helens Leben verstanden haben. Dass wir ihre Prüfung angenommen und bestanden haben.

Alles was da verbrannt worden ist, hatte irgendwie mit ihrem Schreibtisch zu tun. Ihren Schreibtisch bekam man aber so gut wie nie zu Gesicht. Er war ihr - glaube ich zumindest – auch etwas peinlich, denn das Chaos was auf ihm herrschte passte nicht zu ihr. Solange sie das große Haus Fersenek und gleichzeitig ihr Haus in Spanien bewohnte, hatte sie zwei Schreibtische. Aber nach einigen Jahren blieb sie immer länger in Spanien, und kam nur zu Besuch nach Deutschland. Solange Magnus lebte, pendelten die beiden zwischen den Orten. Wenn man es in den beiden Häusern bis in die Nähe ihres jeweiligen Schreibtisches geschafft hatte, war der Unterschied unverkennbar. Nachdem Magnus gestorben und das Asthma sie ganz in den Süden getrieben hatte, konnte man sich dem Schreibtisch in ihrem Haus am Niederrhein nähern ohne, dass sie davon Notiz nahm. Dem in Spanien solle man ab diesem Zeitpunkt aber besser fern bleiben. Das Zimmer in dem er stand war ihr Privatbereich. Besuchte man sie dort, wurde einem beschieden, sie komme gleich und man solle doch – bitte jetzt sofort! - schon einmal vorgehen. Keinen Schritt weiter!

Überdeutlich wurde es, als Raphael Terniers - mehr oder weniger zufällig und völlig arglos - Fotos von ihrem Schreibtisch machte. Raphael, Altersgenosse, Journalist und aus eine alten Bremer Kaufmannsfamilie - aber im Grunde hochgebildeter und überaus kultivierter Selfmademan - war einer ihrer besten Freunde in Spanien. Sicher hat dazu beigetragen, dass er etwas weiter Richtung Atlantik aus einem historischen Gemäuer ein zauberhaftes Haus gemacht hat. Er nahm – er arbeitete immer an irgendwelchen Buchprojekten - Fotos von ihrem - damals gerade frisch gebaut und bezogenem – spanischen Haus auf, und sie wurde sehr unruhig, als er beiläufig erwähnte, alle Räume, auch ihren kleinen Salon der - kaum mehr als ihren Schreibtisch und ein ominöses Rehabilitationsgerät von Magnus enthielt – abgelichtet zu haben. Und als sich ihre Unruhe nicht legte und er sogar gestand, sich auf einen Stuhl gestellt zu haben und den ihm wie ein Stillleben vorkommenden Schreibtisch von oben aufgenommen zu haben, zeigte sich bei ihr eine Empörung, die schon an Verzweiflung grenzte. Es hatte nicht viel gefehlt und sie hätte den Film herausverlangt. Helen war mit ihrem Schreibtisch sehr eigen. Zu unserer Erleichterung nicht nur wenn wir in der Nähe waren, sondern auch bei einem so vertrauten Freud wie Raphael.

Ihr Schreibtisch war Geheimnisumwittert. Wir waren also nicht gerade voller Hoffnung, als wir uns, zehn Jahre nach ihrem Tod, auf die Suche nach etwas machten, von dem wir nicht wussten was es wohl ist. Nur dass es etwas mit diesem Schreibtisch zu tun hatte. Nach etwas ganz speziellem aber unbekannten und ganz generell nach allem was so an spannendem auf Ihrem Schreibtisch war und sich in ihren Alben, Schachteln oder Ordnern befunden haben mochte. Wir brauchten natürlich nicht zu hoffen, irgendetwas davon am Ende in Händen halten zu können. Was auch immer es war: Es war verbrannt. Und dass schon vor mittlerweile zehn Jahren. Wir suchten auch nicht auf Dachböden und in Kisten, sondern in unseren Erinnerungen und in dem was wir über das Leben von Helen auftreiben konnten. Aus Erinnerungen setzten wir ihr Leben wie ein Puzzle wieder zusammen. Wir würden ja sehen, ob die Teile zusammen passten und weder Lücken noch Teile übrig blieben.

Kapitel 3

Aus der Zeit vor Fribourg war nicht viel bekannt. Die frühesten Nachrichten – zumindest die unbestrittenen - stammen aus der Zeit um 1885. Die Großeltern von Helen waren aus Irland gekommen und hatten schon ein Kind – Helens Vater William - als sie in New York ankamen. Die Version nach welcher die O´Kelly vor der Gründung der Vereinigten Staaten im Land waren, erwies sich schlicht als unwahr. Ich erinnere mich noch gut, als junger Ehemann bei einem unserer Besuche in Fersenek in der Familiengeschichte der O´Kellys herumgestochert - und dabei einen wunden Punkt berührt - zu haben.

Wir waren für ein Abendessen und eine Übernachtung zu Tante Helen und Onkel Magnus gefahren. Eigentlich sollte man sagen, zu der Großmutter meiner Frau, denn diese lebte - nachdem sie von Ternör in Westfalen nach Fersenek gezogen war – damals schon im gleichen Hause. Aber unser Draht zu Tante Helen war besser und außerdem war sie die Hausfrau in Fersenek.

Helen muss damals gut 70 gewesen sein und das Asthma quälte sie. Schon zwei Winter hatte sie wechselnde Häuser von Bekannten in Spanien gemietet, aber von einem eigenen Haus in Spanien war sie noch einige Jahre entfernt. Onkel Magnus war kurz vor seinem Achtzigsten aber immer noch ein brillanter Kopf, groß und elegant und eine absolute Autorität. Ob seine - nun auf einmal unübersehbare - Weltfremdheit folge seines Alters oder seines fortgesetzten Lebens in dieser Parallelwelt sei, habe ich mich damals gefragt. Er konnte allen Ernstes erklären, dass er froh sei, das die Leute ihn nicht mehr erkennen, denn so könne er mit dem Hund - auch an Tagen wie heute, an dem wieder unzählige Besucher von Helen´s Wohltätigkeitsbasar im Garten herumliefen – nach draußen gehen ohne Fragen zum Haus beantworten zu müssen.

„Ich kann in der Masse untertauchen, und brauche keine Hände zu schütteln. Man erkennt mich einfach nicht. Wunderbar!“

Er glaubte dies offenbar wirklich. Dabei brauchte er - mit seinen fast zwei Metern, in einem seiner fabelhaften englischen Anzüge und seinem Steyrer Hut - nur die Klinke der Gartentür in die Hand zu nehmen, und jeder raunte seinem Nachbarn zu, dass dies der Baron sei. Aber diese Überzeugung stand - ebenso wie die abendlichen Cocktail-Rituale in Fersenek - felsenfest. Im Grunde bestand das ganze Leben in Fersenek aus felsenfesten Ritualen. Und meist startete ein Besuch mit dem abendlichen Cocktail. Wenn wir eintrafen, waren meist weder Onkel Magnus noch Tante Helen zu sehen. Magnus machte nach dem Tee einen kleinen Schlummer und stieg danach in die Badewanne. Helen verbrachte die Nachmittage meist an ihrem Schreibtisch in ihrem Salon neben ihrem Schlafzimmer. Vormittags, wenn Magnus um Punkt 10 Uhr hinüber in die Rentei ging, verließ auch sie meist das Haus um die vielen Punkte die sie sich vorgenommen hatte, zu erledigen.

Mir war es sehr recht, weil ich meist direkt aus dem Büro kam und so auch Zeit hatte unter die Dusche zu springen und mich umzuziehen. Kaum waren alle im obligaten Blazer in der Halle, bat Helen den jüngsten Herrn die Cocktails zu mixen.

Sie diktierte, dass ein volles Weinglas Gin pro Person in die vorgekühlte Glaskanne zu geben sei, ein winzigen Spritzer Wermut dazu gehöre – es genüge aber eigentlich schon die Flasche neben die Kanne zu stellen und feste an Wermut zu denken - und das Eis - nicht das Eiswasser, nur das Eis und zwar die ganze riesige Menge! - in die Kanne zu schaufeln sei. Dann mit dem großen Löffel schnell umrühren und sofort in die Gläser füllen. Darauf achten, dass kein Eis mit in die Gläser kommt oder Zeit hat zu schmelzen. Eine Olive in jedes Glas geben. Es schadet nicht, wenn etwas von dem Olivenwasser - ruhig ein kleiner Schwung - mit hineinkommt. Wer einen zweiten Cocktail möchte, solle es bald sagen, damit neues Eis gebracht werden kann. Großmutter Margaret rollte mit den Augen, wegen der exakten Anweisungen ihrer jüngeren Schwester, war aber die erste, die einen zweiten Cocktail orderte. Schnell orderte, denn sobald gemeldet wurde, dass das Essen fertig sei, wurden keine Cocktails mehr verabreicht, sondern es wurde ein Art Prozession arrangiert, die nach der Halle ein Stück den Flur passierte und dann in das Speisezimmer einbog. Dort stand der Diener hinter Helens Stuhl und ein Serviermädchen – das nie Servierte, sondern nur die Speisen aus dem Aufzug holte und auf der Anrichte drapierte - hinter dem von Margaret. Jeder stellte sich dann zwischen Tischkante und Stuhl an dem zugewiesenen Platz und setzte sich sobald Helen das Tischgebet gesprochen hatte. Sie sprach es so getrieben schnell und ebenso nachlässig artikuliert und leise, dass es sich wie für sie allein gesprochen anhörte und machte dabei zu Beginn eine Bewegung als neige sie sich dabei leicht vor, was aber nur so wirkte, denn sie stützte sich dabei zwar leicht mit den Handknöcheln auf den Tisch, aber um dies zu tun brauchte sie sich nicht vor zu neigen; der Tisch war für sie schon fast zu hoch, als dass sie sich hätte darauf nur gebeugt abstützen können. Und sie machte kein Kreuzzeichen. Weder zu Beginn, noch nach Ende ihres Gebetes, während Margaret ein – wohl auch so gemeintes – vorbildliches weit ausholendes und in allem korrekt ausgeführtes Kreuzzeichen machte. Magnus dagegen hob nur seine rechte Hand bis zur Brust und klappte schnell hintereinander drei Mal die Finge der Hand - die er aus dem Handgelenk ebenso schnell nach oben und unten weisen ließ - aus und tupfte dann zum Abschluss kurz auf seine Brustbein. Jeder hatte seine Art gefunden. Als seine Hüfte schlechter wurde, stand der Diener hinter seinem Stuhl und half ihm sich zu setzen.

Die Vorspeise, die auf dem Tisch gewartet hatte wurde, nachdem wir uns erschöpfend damit beschäftigt hatten, von dem Diener in weißer Jacke mit goldenen Schulterstücken abgeräumt. Mir kam es immer vor, als sei die Vorspeise als Zeitvertreib gedacht, denn an meinem Hunger änderte sie nie etwas. Die Rettung war dann das nächste Ritual bei dem sich jeder, nachdem er von Helen in hierarchischer Reihenfolge – nur Magnus ging als letzter - dazu aufgefordert worden war, an dem Buffet genommen hatte, konnte ich endlich die Frage nach den Großeltern O´Kelly stellen. Helen fürchtete zu Recht, dass Margarets – Grannies, wie meine Frau sie nannten – große Stunde nahte, denn Helen hatte kaum Erinnerungen und merkwürdigerweise nur wenige Familiengeschichten von ihrer Mutter erfahren, als diese in Fersenek lebte.

„Die sind früh gestorben. Daddy war noch ein Kind als seine Eltern starben.“ sagte Margaret und zeigte wenig Anstalten etwas hinzuzufügen.

„Wie kann ein Kind in Amerika zu der Zeit - es muss doch irgendwann Ende des 19ten gewesen sein - überleben? Wer hat sich um ihn und seine Geschwister gekümmert?“

„Also meine – unsere - Großeltern sind beide in New York in dieser Grippeepidemie – von der man natürlich noch nicht wusste, dass es eine Grippeepidemie war – Ende 1889 schnell gestorben. Das war nichts Besonderes damals.“ Margaret war lakonisch wie immer.

„Aber um zu überleben - als mehr oder weniger Säuglinge! - und nicht in Armut zu leben und sogar zu studieren. Da muss es doch jemanden gegeben haben?“

„Oh, das hat es auch. Sie haben nach seiner - also meines Großvaters - letzten unverheirateten Schwester in Irland - wahrscheinlich haben sie durch den Brief den Tod auch noch nach Irland geschleppt - geschrieben. Die ist dann gekommen und hat sich um die Kinder gekümmert.“

Das war es. Kein weiteres Wort, nur das Klappern des Bestecks und ein Räuspern von Magnus.

Meine Frau sah in die Runde: „Aber nie habe ich etwas davon gehört, wie heldenhaft da eine Tante gewesen ist. Wer war sie? Was weißt du - wisst ihr - von ihr? Wie hieß sie?“

Helen: „War das nicht Tante Anne?“

Margaret: „Oh Gott, natürlich war es Tante Anne. Wer soll es denn sonst gewesen sein? Sie ist gekommen und hat Daddy und die Tanten, also seine Schwestern, groß gezogen.“

„Aber der Name `Anne´ taucht nirgendwo in der Familie auf? Ihr gehört doch ein Denkmal gesetzt.“

Margaret: „Sicher, das hätte man tun können; aber nicht getan. Warum auch immer.“

Schweigen, Besteckklappern, Räuspern.

„Aber wie hat eine junge Irin, die überraschend und ledig nach Amerika muss, es geschafft, vier Kinder durchzubringen. Und studieren zu lassen? Wie hat sie dieses Wunder hinbekommen?“

Margaret blickte aus dem Fenster und überlegte, ob sie es wagen konnte - Helen war in den letzten Tagen streng - die Vorhänge zuziehen zu lassen, weil das Licht sie blende oder sie zumindest finden durfte, dass es sie blende, also nicht in Ordnung war, wie alles nicht in Ordnung war. Helen blickte zu Magnus.

„Ja, wie schaffte sie das?“ wollte meine Frau wissen.

Magnus: „Sie war ...“ und er sah, wie Helen und Margaret auf ihren Stühlen und in ihren Abendkleidern, dem großen Schmuck und in diesem mehr als herrschaftlichen Speisezimmer mit seinen zarten chinesischen Landschaftsszenen auf der Seidenbespannung und den großen Fenstern in den prachtvollen Garten, ihm angstvolle fast flehentliche Blicke zuwarfen und gleichzeitig mehr und mehr in Deckung gingen, also sich einfach auf ihren Stühlen kleinen machten „... sie war ... Serviermädchen. Sie war Serviermädchen! Später Haushälterin!“

Es war heraus! So absurd es heute erscheint, aber in dieser Generation war ein Serviermädchen in der Verwandtschaft indiskutabel. Man legte größten Wert auf Abstammung von vornehmen - also untätigen - Vorfahren. Zwar fand man als Hunde- und Pferdezüchter, dass besser der Vater als der Großvater der Herausragende gewesen sein sollte, dachte aber in der Familie ganz anders: da war es nur gut, wenn der Herausragende im tiefen Mittelalter gelebt hatte und seitdem möglichst wenig auffälliges geschehen ist. Das Thema Abstammung war in dieser Generation noch ein ganz spezielles. Und so hatte man offenbar lieber keine Familiengeschichte, als eine, in der ein Serviermädchen vorkam. Und wenn dieses tausend Mal die Familie - den eigenen Vater gar - gerettet hat: es gab niemanden in der Familie der ihr zu Ehren den Namen Anne bekommen hat.

Wie man von New York nach San Franzisco kam? Wieso der Vater von Helen und Margaret als Jurist bezeichnet wurde, aber angeblich Kupfermienen suchte, ist trotz der offensichtlichen Widersprüchlichkeit nie ein Thema gewesen und meine Frau hinderte mich –zur dankbaren Erleichterung der Hausleute - mit abruptem Themenwechsel meine inquisitorische Befragung fortzusetzen.

Diese Abendessen in Fersenek verliefen immer so. Der Ablauf des Essens war immer gleich und sobald Interessantes im Gespräch auftauchte, wurde das Thema gewechselt. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass sich beides mit den Jahren etwas änderte. Mit dem Alter wurden alle großzügiger mit Informationen und als alle so alt waren, dass sie es zwar noch zum Buffet geschafft hätten, aber wegen der Stöck und Krücken keinen Teller mehr zurück tragen können, wurde ihnen serviert. Und weil dann mit einer Glocke gerufen wurde, wenn der nächste Gang anstand, war man in dem Raum eine Weile ohne Personal. Und dann wurde schon das ein oder andere Wort gesagt, was man ihnen früher nicht unter Folter hätte entlocken können. Aber allzu viel ist dabei weder über die Familie O´Kelly noch sonst wen herauszubekommen.

Und so haben wir als einziges - und echtes Dokument - aus der Zeit vor Fribourg nur ein kleines Foto gefunden. Natürlich nicht in Händen gehabt, aber davon gehört und es beschrieben bekommen.

Käthe Waal erzählte mir von dem Foto, als ich sie besuchte um mehr über das Leben von Helen zu erfahren. Käthe ist etwa 1960 mit schon 40 Jahren, wie sie sagte „in den Haushalt bei Frau Baronin auf Fersenek eingetreten.“ Sie war Kriegerwitwe, hatte aber gleich nach dem Krieg ein zweites Mal – nun einen sehr viel älteren Mann – geheiratet. Eine Tochter aus dieser Ehe war ihr einziges Kind. Als ich sie Anfang der 80er Jahre das erste Mal sah, schleppten ich mit zig weiteren Freiwilligen Ausrüstung für eine Krankenwallfahrt - die in einem der Keller in Fersenek eingelagert war - in einen Lastwagen. Käthe hielt uns damals die von der Unruhe nicht begeisterte Margaret aus den Füßen.

Lange nachdem sie schon in Rente war, half Käthe Wahl in Fersenek aus, wenn Helen im Lande war. War Helen in Spanien kamen keine Gäste nach Fersenek und der Haushalt lief auf Minimalflamme. Im Zuge der Recherchen für diese Erzählung besuchte ich nochmals die schon in ihren Neunzigern stehende Käthe – da wir beide freiwillige Helfer in dem Team der Krankenwallfahrt waren Duzten wir uns - in ihrem Haus, in einer dieser typischen gesichtslosen Siedlungen aus kleinen Häusern auf kleinen Grundstücken, wie sie nach dem Krieg an den Rändern vieler Orte entstanden waren. Die vielen Blumen und die makellose Sauberkeit zeugten davon, dass sie sich noch gut bewegen konnte. Käthe und ich kannten uns – einer der zahllosen Zufälle – ja schon lange bevor ich meine Frau kennen lernte von eben diesen Krankenwallfahrten. Sie vertraute mir und nur weil ich inzwischen zur Familie gehörte sprach sie mit mir über Dinge die sie während ihres Dienstes in Fersenek erfahren hatte. Sonst hätte sie nicht einen Ton gesagt. So aber kam ich an die Geschichte von diesem Foto mit der kleinen Helen, die – 1920 – skeptisch aber lächeln in die Kamera schaut.

Nein, sie habe leider keine Geschichten über die Jugend von Frau Baronin aufgeschnappt. Nur ein Foto, das von dem sie gerade gesprochen habe, das mit der kleinen Helen habe sie einmal in Händen gehalten. Und zwar als sie nach dem Tod von Helens Mutter - irgendwann um 1960 - half, deren Appartement in Fersenek auszuräumen. Da habe sie ein Foto hinter einer Kommode gefunden. „Frau Gräfin, also die Schwester von Frau Baronin, also die Großmutter von Ihrer Frau, hat es dann genommen.“ Was daraus geworden war, wisse sie nicht.

Sie erinnerte sich, dass auf der Rückseite irgendetwas mit „Helen“, „etcetera“, “D-Day“, „M´s“ und „Semanta 21“ gestanden habe. Wir haben dann so lange herumgerätselt, bis wir beide der Meinung waren, es habe dort „Helen celebrates M's birthday, Semana Santa `21“ gestanden. Das Mädchen habe tatsächlich so ausgesehen, dass es Helen – Frau Baronin – gewesen sein könnte. Sie habe sich gewundert, dass dort „M“ stand, denn die Frau neben der kleinen Helen sah ganz und gar nicht aus wie ihre Mutter oder wie Margaret. Es hätte vielleicht die Freundin von Frau Baronin, Donna Maruja sein können. Aber dazu war die kleine dunkle Frau mit den glänzend schwarzen Haaren auf dem Foto schon viel zu alt. Aber diese Frau habe ernst und direkt in die Kamera gesehen. Heute tut es ihr leid, dass sie das Foto nicht so genau angesehen habe. Sie meinte sich zu erinnern, dass Helen und „M“ vielleicht auf Kinderstühlen gesessen haben. Aber sie wisse sie es einfach nicht mehr. Da war auch eine Puppe, die auf einem Stuhl neben den beiden gesessen habe. Aber sicher sei sie sich nicht.

Die Frauengestalt auf diesem Foto von 1921 konnte nur Mara gewesen sein. Mara und den denkwürdigen Moment als Helen mit einer Avocado in der Hand von ihr sprach, musste ich mir erst in Erinnerung rufen. Es gab diese Mara. Und es gab sie in Südamerika. Und die kleine Helen feierte deren Geburtstag in der Woche zwischen Palmsonntag und Ostersonntag; gab eine Geburtstagsparty für Mara und die Puppe war der Gast.

Es gab wohl schon immer bei den O´Kelly´s eine Mademoiselle und Mara stand offenbar in der Hierarchie des Haushalts so weit unten, dass die Köchin sie schicken konnte, wenn eine Avocado zu holen war. Und für diese unbeachtete Mara – und eben nicht für die feine Mademoiselle - gab Helen eine Geburtstagsparty. War es ein Zeichen von Helens revolutionärem Wesen oder der Liberalität der Eltern? Aber offenbar hatte Mara in der Osterwoche Geburtstag, denn Helens Geburtstag kann es nicht gewesen sein. Sie hatte im Januar Geburtstag. Am 4. Januar 1913 war sie in San Franzisco geboren worden.

Das war das einzig erwähnenswerte - und halbwegs belegte - was wir zu so etwas wie Familienleben aus der Zeit vor Fribourg in Erfahrung brachten. Nur wenig mehr haben wir über die Zeit in Fribourg gefunden. Aber aus dem wenigen, ergibt sich ein für uns beruhigend plausibles und harmloses Bild der Familie. Jedenfalls über die wenigen Jahre in der Schweiz, über die wir etwas mehr erfahren konnten weil diese Zeit und das damalige Leben in Fribourg auch für den Rest der Welt so besonders war. Was zwischen Chile, Amerika und der Ankunft in der Schweiz war, wie die Überfahrt und wie der Abschied – möglicherweise eine Verabredung – mit dem Vater war, wissen wir nicht. Ob sich die Kinder freuten oder murrten? Alles was wir wissen und glauben zu wissen vermischt sich zu einer Geschichte. Einer Geschichte mit einem Anfang auf einem kalten Bahnsteig im Spätherbst des Jahres 1927.

Mutter Bernadette O´Kelly, geborene Fitzgerald, drahtig, nicht groß, aber sich gerade haltend, stand an der Spitze der Gruppe aus ihren fünf Kindern, der Mademoiselle und einer weiteren Frau, von der wir nicht wirklich wissen, die es aber gegeben haben muss, denn in manchen Erzählungen taucht sie auf. Namenlos, aber sicher nicht Mara, denn diese Frau heiratete wenige Jahr später einen Schweizer. Bernadette zeigt auf Bildern aus der Zeit in der Schweiz oft ein Lächeln, hat viele dicke und schon mit 45 graue Haare. Mal ist sie unscheinbar und unter einem Hut versteckt, mal zurecht gemacht und sehr präsentabel. Sie nannten sie Mumita.