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Audrey Taylor hatte nicht vor, je wieder auf die Outer Banks zurückzukehren. Die Insel war das Paradies auf Erden, aber auch der Ort, der ihre Familie zerstört hat. Nach dem plötzlichen Tod ihres Onkels hilft sie ihrer Schwester beim Ausräumen seines Hauses und macht dabei eine ungewöhnliche Entdeckung.
Owen Taylor, ein exzentrischer Schatzsucher, hatte sein Leben der Suche nach dem legendären Schatz des berüchtigten Piraten Blackbeard gewidmet. Doch trotz seiner Bemühungen blieb der Schatz unentdeckt. Als jedoch immer mehr mysteriöse Hinweise auftauchen, kommen Audrey Zweifel, ob nicht mehr hinter der Sache steckt.
Audrey begibt sich auf Spurensuche und erhält unerwartete Unterstützung. Dass es sich dabei ausgerechnet um ihren Ex-Freund und große Liebe, Logan Finlay, handelt, bringt ihre Gefühle ordentlich durcheinander.
Der stürmische Sommer stellt Audrey vor Herausforderungen, und sie erkennt, dass es noch Dinge gibt, die es wert sind, gerettet zu werden. Doch ist sie bereit, sich dafür ihrer größten Angst zu stellen?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhalt
Audrey Taylor hatte nicht vor, je wieder auf die Outer Banks zurückzukehren. Die Insel war das Paradies auf Erden, aber auch der Ort, der ihre Familie zerstört hat. Nach dem plötzlichen Tod ihres Onkels hilft sie ihrer Schwester beim Ausräumen seines Hauses und macht dabei eine ungewöhnliche Entdeckung.
Owen Taylor, ein exzentrischer Schatzsucher, hatte sein Leben der Suche nach dem legendären Schatz des berüchtigten Piraten Blackbeard gewidmet. Doch trotz seiner Bemühungen blieb der Schatz unentdeckt. Als jedoch immer mehr mysteriöse Hinweise auftauchen, kommen Audrey Zweifel, ob nicht doch mehr hinter der Sache steckt.
Audrey begibt sich auf Spurensuche und erhält unerwartete Unterstützung. Dass es sich dabei ausgerechnet um ihren Ex-Freund und große Liebe, Logan Finlay, handelt, bringt ihre Gefühle ordentlich durcheinander. Der stürmische Sommer stellt Audrey vor Herausforderungen, und sie erkennt, dass es noch Dinge gibt, die es wert sind, gerettet zu werden. Doch ist sie bereit, sich dafür ihrer größten Angst zu stellen?
Copyright © 2024 Luise Klein
Coverdesign: Christin Giessel, Giessel Design,
www.giessel-design.de
Korrektorat: SW Korrekturen e.U.
Luise Klein
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf ohne Zustimmung der Autorin nicht wiedergegeben, kopiert, nachgedruckt oder anderweitig verwendet werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Danke
Über die Autorin
Weitere Bücher der Autorin
Für alle, die auf der Suche nach einer Insel sind.
Und für meine Mutter, die ihre Insel bereits gefunden hat.
Diese Geschichte ist für euch!
Kapitel 1
Durch das halb geöffnete Autofenster drang die heiße Sommerluft zu mir herein. Vermutlich war es eine schlechte Idee, damit die Klimaanlage zu verärgern, die bereits seit Stunden versuchte, die Innentemperatur des Autos auf ein erträgliches Maß zu kühlen. Ich sollte dankbar sein, dass ich mich nicht zu Tode geschwitzt hatte, aber ich konnte dem Drang nicht widerstehen, das Fenster zu öffnen. Auf keinen Fall wollte ich den Moment verpassen, wenn ich endlich nah genug am Wasser war, um die salzige Meeresluft zu riechen.
Wie viel Zeit war vergangen, seit ich zuletzt am Meer gewesen war? Ich wusste es nicht, hatte es verdrängt oder wollte es schlichtweg nicht wahrhaben. Das Meer und ich führten eine schwierige Beziehung, die mit sehr viel Liebe, aber auch jeder Menge Frustration und Ängsten verbunden war. In meiner kleinen Wohnung in Washington D.C. fiel es mir leicht zu vergessen, dass außerhalb von Virginia eine ganz andere Welt existierte. Eine Welt, die von den Gezeiten des Meeres und dem erbarmungslosen Wind bestimmt wurde. Von wundervollen, endlosen Sommertagen und der zerstörerischen Kraft der Winterstürme.
Es gab nichts Vergleichbares. Keinen anderen Ort, der mich jemals so fasziniert hatte, weswegen es umso schwerer gewesen war, die Insel aus meinem Bewusstsein zu verbannen.
Jede gefahrene Meile brachte mich näher an mein Ziel, und bei dem Gedanken verkrampften sich meine Hände am Lenkrad. Eigentlich hatte ich mir das Wochenende ganz anders vorgestellt. Statt im Auto zu sitzen und die stundenlange Fahrt nach North Carolina auf mich zu nehmen, hatte ich ausschlafen und anschließend ausgiebig frühstücken wollen. Die Arbeitswoche war hart gewesen, und die freien Sonntage waren die einzige Möglichkeit, an denen ich mich wirklich entspannen konnte. Ich brauchte diese Zeit für mich, und normalerweise ließ ich es nicht zu, dass mir dabei etwas in die Quere kam.
Doch dann war alles anders gekommen. Als Holly mich vor zwei Wochen spätabends angerufen hatte, war mir sofort bewusst gewesen, dass etwas passiert war. Ich hatte es an dem leichten Zittern in ihrer Stimme gehört. An der Art, wie sie kurz Luft holte, bevor sie sich wieder im Griff hatte und weitersprechen konnte. Meine ruhige und verlässliche große Schwester, die mir schließlich mit tränenerstickter Stimme erzählt hatte, was vorgefallen war.
Holly war sechs Jahre älter als ich und lebte noch immer auf der Insel, von der ich mit Anfang zwanzig geflohen war, um mir ein neues Leben aufzubauen, weil ich das alte nicht mehr ertragen hatte. Sie bat mich äußerst selten um einen Gefallen, doch dieses Mal hatte sie es getan. Auch wenn ich alles andere lieber getan hätte, als auf die Insel zurückzukommen, hatte ich keine Sekunde gezögert. Holly brauchte meine Hilfe, und ich würde sie niemals im Stich lassen. Nicht einmal dann, wenn es bedeutete, dass ich auf die Outer Banks zurückkehren musste.
Zurück an den Ort, der meine Familie zerstört hatte.
Das Wasser glitzerte im Licht der Nachmittagssonne, als ich auf die Wright Memorial Bridge fuhr. Für einige Minuten befand ich mich direkt über dem Wasser, das wie ein glitzernder Teppich zwischen dem Festland und der Inselkette lag. Die Autos drängten sich in einer langen Schlange, und der Verkehr bewegte sich nur schleppend vorwärts. Bei der sommerlichen Hitze wollte jeder raus aus der Stadt und den Tag am Meer verbringen. Ich konnte es den Leuten nicht verübeln, auch wenn sich in mir eine leichte Frustration breitmachte. Ich hatte nichts gegen die Sommergäste, die ihren Urlaub auf der Insel genießen wollten. Sie brachten dringend benötigtes Geld, von dem die Einheimischen lebten.
Es war eine Zweckgemeinschaft, die gut funktionierte. Trotzdem war ich immer erleichtert gewesen, wenn die Gäste im Herbst wieder verschwanden, um sich vor dem rauen Wetter und den Winterstürmen in Sicherheit zu bringen. Die Stille der Nebensaison hatte ihren eigenen Reiz – eine Rückkehr zur Normalität, die ruhiger war und Zeit zum Nachdenken verschaffte.
Die Outer Banks schafften es, mit ihrer Schönheit zu blenden und den Besuchern einen perfekten Sommer zu schenken. Die Touristen verliebten sich in das warme Wetter und die sorglosen Strandtage am Meer. Das Wasser zeigte sich von seiner besten Seite, nur gelegentlich erinnerten hohe Wellen und starke Strömungen daran, wie unberechenbar diese Naturgewalt wirklich war. Nach ihrer Rückkehr in den Alltag schwärmten sie von ihren Erlebnissen und verloren sich in Tagträumen, ein Ferienhaus auf der Insel zu besitzen. Sie beneideten die Einheimischen, die dort das ganze Jahr leben und die endlosen Sommertage häufiger genießen konnten.
Doch sie hatten keine Ahnung, wie es wirklich war. Die Einsamkeit des Winters, die Herausforderung, in einer kleinen Gemeinschaft zu leben, wo jeder jeden kannte – das waren Dinge, die sie nicht sahen. Die Insel war mehr als nur ein malerisches Urlaubsparadies. Sie war auch ein Ort der Erinnerungen und der Verluste. Und davon hatte ich bereits einige erlebt.
Je näher ich der Spitze der Insel kam, desto weniger Fahrzeuge begegneten mir. Die Straße war von hohen Sanddünen gesäumt und der heiße Asphalt zog sich schnurgerade durch die Landschaft. An der schmalsten Stelle war die Insel nur 200 Meter breit und verdeutlichte, wie zerbrechlich das Stück Land war, das tapfer die Stellung vor dem Festland hielt und schutzlos der unberechenbaren Kraft des Atlantiks ausgeliefert war. Die Outer Banks waren ein außergewöhnlicher Ort, der viele Menschen in seinen Bann zog. Doch wie besonders die Insel war, hatte ich erst verstanden, als ich sie verlassen hatte.
Mehr als zehn Jahre waren seitdem vergangen. Die Insel hatte sich nicht verändert, aber ich war ein anderer Mensch geworden. Ich spürte ein seltsames Ziehen im Bauch. Äußerlich war ich vermutlich kaum wiederzuerkennen. Mein glattes Haar und die makellosen Fingernägel in zartem Rosé sorgten für eine tadellose Hülle, doch tief in mir drin schlummerte noch immer das Mädchen, das in den Salzwiesen aufgewachsen war, mit schmutzigen Fingernägeln, gebräunter Haut und zerzausten Haaren. Ich vermisste diesen Teil von mir und fürchtete, dass ich ihn unwiderruflich verloren hatte.
Seufzend griff ich nach einem Schokoriegel, den ich für Notfälle immer dabeihatte. Mit den Zähnen öffnete ich die Verpackung und biss in die durchweichte Konsistenz. Der süße Geschmack von Schokolade beruhigte augenblicklich meine angespannten Nerven. Ich bemühte mich, den Mietwagen nicht vollzukrümeln, während die Reifen im gleichmäßigen Rhythmus der Straße folgten.
»Audrey, da bist du endlich.« Holly stand in der geöffneten Haustür und winkte mir aufgeregt zu. Ich hatte gerade erst den Wagen in der Einfahrt geparkt, doch sie hatte meine Ankunft sofort bemerkt. Meine große Schwester war vermutlich die Einzige, die nachvollziehen konnte, wie viel Überwindung es mich gekostet hatte, nach Hause zu kommen.
Prüfend schaute sie mich an, bevor sie mich in eine feste Umarmung zog. Ich drückte mein Gesicht in ihre langen Haare und atmete den vertrauten Duft nach Sonne und Pfirsichshampoo ein. Es war viel zu lange her, seit ich Holly zuletzt gesehen hatte. Durch unseren Altersunterschied von sechs Jahren hatten wir als Kinder kein besonders enges Verhältnis zueinander gehabt, aber sie hatte immer auf mich aufgepasst und darauf geachtet, dass ich keinen Ärger von unseren Eltern bekam. Und das war keine leichte Aufgabe gewesen.
Holly löste sich von mir und trat einen Schritt zurück, um mich aufmerksam zu mustern. Für einen Moment fragte ich mich, ob sie mich noch erkannte, wenn sie mich ansah. War ein Teil meines alten Ichs noch vorhanden, oder hatte ich alle Spuren davon restlos beseitigt? Ich wusste, wie sehr ich mich in den letzten Jahren verändert hatte. Auch wenn es eine bewusste Entscheidung gewesen war, hoffte ich, dass Holly in der Lage war, hinter diese Fassade zu blicken. Dass sie ihre kleine Schwester noch immer erkannte.
Meine ärmellose Bluse und die knöchellange Hose aus leichtem Leinenstoff waren ein starker Kontrast zu Hollys verblichenem T-Shirt und den abgeschnittenen Jeansshorts. Ihre Haut war von der Sonne gebräunt, und sie lief barfuß. Ich fühlte mich plötzlich seltsam deplatziert in meinem städtischen Sommer-Outfit, das mir sonst immer ein gutes Gefühl gab und das ich vor allem dann trug, wenn ich mich besonders selbstbewusst fühlen wollte. Doch es passte einfach nicht an diesen Ort. Plötzlich war ich selbst zu einer dieser Touristinnen geworden, die ich früher belächelt hatte.
Doch Holly sagte nichts und zog mich stattdessen ins Haus. Im Flur war es nur mäßig kühler, doch zumindest konnten mich hier die gnadenlosen Sonnenstrahlen nicht erreichen. Ich betrachtete die nachlässig hingeworfenen Kinderschuhe auf dem Fußboden. In der Ecke stapelten sich die Sachen für einen Ausflug an den Strand. Bei jedem Schritt knirschten Sandkörner unter meinen Sandalen. Unwillkürlich musste ich lächeln und an meinen kleinen Neffen Brady denken. Ich war mir sicher, dass er für dieses Chaos verantwortlich war.
»Wie war die Fahrt?«, fragte Holly aus der Küche. Sie war bereits dabei, mir ein Glas gekühlten Eistee einzuschenken.
Ich löste mich von dem Anblick der Kinderschuhe und folgte ihr in die Küche. Dankbar nahm ich das Glas entgegen und trank gierig einen großen Schluck. Ich fühlte mich völlig ausgetrocknet. »Ganz okay. Es sind viele Touristen unterwegs«, entgegnete ich abgelenkt. »Wo ist denn Brady?« Ich hatte damit gerechnet, dass mein Neffe jeden Moment um die Ecke stürmen würde, doch das Haus wirkte viel zu ruhig für die Anwesenheit eines Fünfjährigen.
»Er ist bei seinem Dad. Trent wohnt diesen Sommer für einige Wochen im Ferienhaus seiner Eltern und wollte Zeit mit Brady verbringen. Das macht er ohnehin viel zu selten. Wahrscheinlich ist es gar nicht schlecht, wenn wir erst mal ein wenig Zeit ohne den kleinen Wirbelwind haben. Er war jedoch ganz begeistert, als ich ihm erzählt habe, dass seine Tante uns besuchen kommen wird. Er möchte unbedingt mit dir an den Strand, damit er dir sein neues Board zeigen kann.« Holly schenkte sich ebenfalls ein Glas ein. »Und für mich ist es gut, dass ich dich als Ablenkung habe. Ohne Brady ist das Haus so leer, und ich muss mich erst wieder daran gewöhnen.«
»Schade, ich hatte mich schon auf ihn gefreut.« Die Enttäuschung traf mich ganz unvermittelt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es mir so wichtig sein würde, Brady sofort zu sehen. Doch bei all den Dingen, mit denen ich mich in den nächsten Tagen auseinandersetzen musste, wäre seine Anwesenheit eine willkommene Abwechslung gewesen.
»Du wirst noch genug Möglichkeiten haben, Zeit mit ihm zu verbringen. Immerhin wirst du dieses Mal länger bleiben. Vermutlich wird dir der Lärm ohnehin schnell zu viel werden. Brady ist so anstrengend, wie es nur ein Fünfjähriger sein kann.« Holly lächelte liebevoll. »Du warst in seinem Alter ähnlich wild und ungestüm, daran kann ich mich noch gut erinnern.«
Ich verzog das Gesicht und stellte das leere Glas auf die Ablage. Ich war erst vor wenigen Minuten angekommen und noch nicht bereit, über Kindheitserinnerungen zu sprechen. »Wie war die Beerdigung?«, fragte ich stattdessen.
Augenblicklich verdüsterte sich Hollys Gesicht, und zum ersten Mal fielen mir die dunklen Schatten unter ihren Augen auf. Ich hatte keine Ahnung, ob es an den aktuellen Geschehnissen lag oder ob es die Konsequenzen im Leben einer alleinerziehenden Mutter waren, die ständig damit zu kämpfen hatte, sich und ihren Sohn finanziell durchzubringen. »Es waren überraschend viele Leute da. Ich hatte befürchtet, dass niemand kommen würde. Die meisten waren vermutlich froh, dass Owen ihnen jetzt keinen Ärger mehr machen kann.« Ihre Augen glänzten feucht. »Es hat mich gerührt, dass trotzdem einige gekommen sind, um sich von ihm zu verabschieden.«
»Oder sie wollten sich vergewissern, dass er tatsächlich gestorben ist und es sich nicht um einen schlechten Scherz handelt.«
»Audrey.« Meine Schwester blickte mich vorwurfsvoll an.
»Ach, komm schon. Du weißt, dass ich recht habe.«
»Er hat viele Fehler in seinem Leben gemacht, aber er war ein guter Mensch.«
Ich schnaubte entrüstet. »Das ist noch sehr freundlich formuliert. Du hast hoffentlich nicht vergessen, dass er unsere Familie finanziell ruiniert hat?«
»Wie könnte ich das je vergessen? Es ist der Grund, weshalb Brady keine Großeltern mehr in der Nähe hat, die sich regelmäßig um ihn kümmern können. Wenn es nach Dad geht, werden sie nie wieder einen Fuß auf die Insel setzen. Sie haben hier alles verloren.«
»Weshalb auch niemand verstehen kann, warum du als Einzige geblieben bist«, sagte ich sanft.
»Weil das hier«, sie deutete um sich, »mein Zuhause ist. Es ist viel passiert, aber das liegt alles in der Vergangenheit. Wenn die Stürme es nicht schaffen, mich von der Insel zu vertreiben, dann wird es auch nicht unserer Familientragödie gelingen.« Holly verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr haltet mich alle für verrückt, weil ich geblieben bin. Dabei seid ihr diejenigen, die abgehauen sind und euch in die Illusion von einem neuen Leben geflüchtet habt.«
»Das ist nicht fair«, entgegnete ich leise. »Mum und Dad gefällt es in Georgia. Sie haben dort auch Familie und sogar wieder ein eigenes Haus. Das wäre hier niemals möglich gewesen.«
»Ich weiß.« Holly seufzte. »Es freut mich auch für sie, aber wie kann ich glücklich darüber sein, dass sie ihren Enkel nicht aufwachsen sehen und mich zurückgelassen haben?«
Jetzt war ich diejenige, die eilig auf sie zutrat, um sie in die Arme zu schließen. Ich hatte mich viel zu selten gefragt, wie es für Holly gewesen sein musste, als wir alle gegangen waren. Sie war schon immer die Starke und Unerschütterliche gewesen. Sie hatte niemanden von uns gebraucht. Doch wenn ich ehrlich war, hatte damals vermutlich nur jeder an sich selbst gedacht. Außer Holly.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich in ihr Haar. Ich wusste nicht, ob sie mich tatsächlich verstanden hat, doch Holly rieb mir aufmunternd über den Rücken.
»Wir hätten nicht ausgerechnet mit dem schwierigsten Thema anfangen sollen.« Ich trat zurück, und sie lächelte mich an. »Es war eine harte Woche, und ich bin noch immer aufgewühlt.« Holly wischte sich hastig eine Träne von der Wange. »Aber ich freue mich sehr, dass du jetzt da bist. Ich kann deine Hilfe gut gebrauchen.«
»Ich werde dir bei allem helfen, so gut ich kann«, versicherte ich nachdrücklich. In diesem Moment hätte ich ihr alles versprochen, wenn sie nur aufhören würde zu weinen.
Holly putzte sich mit einem Taschentuch die Nase und hatte plötzlich einen verschmitzten Ausdruck in den Augen. »Logan Finlay war übrigens auch auf der Beerdigung. Ich hatte den Eindruck, dass er dich gesucht hat.«
»Das hat er nicht«, erwiderte ich sofort. Mein Pulsschlag beschleunigte sich rasant. Das war bei dem Gedanken an ihn schon immer so gewesen, doch ich hatte gedacht, dass ich nach all den Jahren endlich darüber hinweg sein würde. Offenbar hatte ich mich in diesem Punkt geirrt.
Kapitel 2
Meinen Koffer hatte ich im Wohnzimmer abgestellt, wo ich die nächsten Tage auf der Couch übernachten würde. Holly hatte mir, selbstlos wie sie war, sofort ihr eigenes Schlafzimmer angeboten, aber das kam nicht infrage. Sie konnte erholsamen Schlaf definitiv dringender gebrauchen, und die große Couch mit den tiefen Kissen wirkte eigentlich ganz bequem.
Holly hatte mich für einen Moment allein gelassen, damit ich in Ruhe ankommen konnte. Nachdem ich mich etwas frisch gemacht hatte, blickte ich mich neugierig um. Ich wollte mehr über Hollys Leben erfahren und endlich all die kleinen Details aus ihrem Alltag mitbekommen, für die in unseren Telefonaten sonst kein Platz war. Es fiel mir noch schwer, zu begreifen, dass wir plötzlich wieder zusammen in einem Haus waren. Das war etwas ganz anderes, als sich über FaceTime zu sehen. Nie ganz getrennt, aber dennoch mit einer gewissen Distanz, die nicht nur an der räumlichen Entfernung lag.
Wir hatten uns verändert, waren unabhängig voneinander erwachsen geworden und begegneten uns jetzt mit völlig unterschiedlichen Leben, die nicht mehr zueinanderzupassen schienen. Ich hatte immer Angst davor gehabt, dass wir uns irgendwann ganz verlieren würden, doch bisher war das zum Glück nicht geschehen.
Ich betrat die großzügige Küche, die sich direkt neben dem Wohnzimmer befand. Dieser Raum wurde von Holly und Brady eindeutig am meisten genutzt. Die Küche vermittelte eine behagliche und leicht chaotische Atmosphäre. Auf der Arbeitsfläche lagen Brotkrümel, und in der Spüle standen benutzte Gläser und ein bunter Trinkbecher, der offenbar Brady gehörte.
Die willkürliche Ansammlung gebrauchter Möbel hatte Holly mit viel Geschick zusammengestellt. Mit bunten Farben und persönlichen Gegenständen war es ihr gelungen, die Küche liebevoll einzurichten. Doch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Möbelstücke ihre besten Tage bereits hinter sich hatten. Vermutlich war bei Hollys Einzug das Geld mal wieder knapp gewesen, weshalb sie bei der Auswahl nicht wählerisch hatte sein können. Meine Schwester war kreativ und machte stets das Beste aus jeder Situation, doch ich spürte, wie sich ein dumpfes Gefühl in meinem Magen ausbreitete.
In unseren Gesprächen hatte sie es geschafft, mich davon zu überzeugen, dass es Brady und ihr gut ging und dass es ihnen an nichts fehlte. Ich hatte geahnt, dass sie die Wahrheit beschönigte, damit ich mir keine Sorgen machte, doch zum ersten Mal bekam ich den Hauch einer Ahnung, dass die vergangenen Jahre härter gewesen sein mussten, als ich gedacht hatte.
Vor sechs Jahren hatte Holly sich in einen Touristen verliebt. Trents Eltern besaßen ein Ferienhaus auf den Outer Banks und verbrachten jeden Sommer dort. Wir hatten nur wenige Regeln, die wir wirklich ernst nahmen, aber es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass man sich auf keinen Fall mit den Touristen einlassen sollte. Harmlose Urlaubsflirts endeten oft mit gebrochenen Herzen und sorgten nur für zusätzlichen Ärger.
Es hätte vermutlich niemanden überrascht, wenn ich diese Regel ignoriert hätte, doch es war Holly gewesen, die dem Charme des gut aussehenden und reichen Trent verfallen war. Wie er das geschafft hatte, war für mich bis heute unbegreiflich. Ich war ihm nur wenige Male begegnet, hielt ihn aber für einen arroganten Idioten. Meine Schwester hatte definitiv etwas Besseres verdient.
Was als stürmische Sommerromanze begonnen hatte, wurde schnell ernst, als Holly ungeplant schwanger wurde. Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, freute sie sich und war überzeugt, dass sie eine gemeinsame Lösung finden würden. Doch Trent hatte getan, was alle befürchtet hatten: Er hatte still und heimlich seine Koffer gepackt und die Insel verlassen. Er war von den Outer Banks, vor Holly und vor der Verantwortung für sein ungeborenes Kind geflohen.
Vielleicht wären die Leute gnädiger mit Holly gewesen, wenn unsere Familie in der Vergangenheit ihr Ansehen nicht bereits gründlich ruiniert hätte. So etwas passierte nun mal, wenn man sich mit einem Mann einließ, der von außerhalb kam und schnell wieder verschwinden würde.
Trent hatte den Kontakt abgebrochen und Holly jegliche finanzielle Unterstützung verweigert. Zusätzlich war Holly dem Getratsche der Leute ausgesetzt gewesen, die alle eine Meinung zu der hässlichen Trennung hatten und der alleinerziehenden Mutter keinerlei Hilfe anboten. Holly war eine von ihnen gewesen, aber sie hatte die Regeln gebrochen, und dafür wurde sie viel zu hart bestraft.
Doch sie hatte nicht aufgegeben und schließlich das Angebot ihres Chefs Michael angenommen, der ihr die Hälfte seines Hauses zur Verfügung gestellt hatte. Er hatte seine Sachen aus dem Erdgeschoss geräumt und war innerhalb weniger Tage in den ersten Stock gezogen. Das Haus war für ihn allein ohnehin zu groß gewesen, sodass diese Lösung für beide ihre Vorteile hatte. Seit er das für meine Schwester getan hatte, war ich zu Michaels größtem Fan geworden. Ich würde ihm für seine Hilfe immer dankbar sein und wünschte, ich könnte irgendetwas tun, um einen Teil dieser Schuld begleichen zu können.
Ich hatte mich in D.C. unglaublich weit weg und hilflos gefühlt, während Holly gezwungen gewesen war, mit der Situation allein klarzukommen. Unsere Eltern waren bereits weggezogen, sodass nur noch unser Onkel übrig geblieben war. Owen war in seinem Leben vieles gewesen, aber sicherlich keine Hilfe. Auch in diesem Fall hatte er sie im Stich gelassen, doch ich hatte von ihm auch nichts anderes erwartet.
Nachdem ich die selbst gemalten Bilder am Kühlschrank inspiziert hatte, schlenderte ich zurück ins Wohnzimmer. Das vollgestopfte Bücherregal hatte mich schon vorhin magisch angezogen, und jetzt hielt mich nichts mehr davon ab, es eingehend zu betrachten. Unsere Eltern hatten Wert darauf gelegt, dass wir immer genügend Bücher zum Lesen hatten, und Holly hatte über die Jahre eine beträchtliche Sammlung zusammengestellt.
Es war eine Leidenschaft, die wir alle in der Familie teilten, sodass stets ausreichend Lesestoff vorhanden gewesen war. In meiner kleinen Wohnung hatte ich leider kaum Platz dafür, sodass mich der Anblick des vollen Regals besonders glücklich machte. Ich zog ein paar Bücher hervor und betrachtete die bunten Cover der Liebesromane. Viele hatte ich selbst gelesen, aber es gab auch einige neue Titel, die ich noch nicht kannte.
»Die hat Michael mir geschenkt«, sagte Holly verlegen, die gerade den Raum betreten hatte. »Er weiß, wie gerne ich lese und dass ich es mir nicht leisten kann, die Neuerscheinungen selbst zu kaufen. Es ist unglaublich, wie teuer Bücher mittlerweile geworden sind.«
»Das ist wirklich nett von ihm.« Ich drehte mich um, damit ich sie ansehen konnte. »Er war immer gut zu dir und Brady. Im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten.«
»So schlimm ist es nicht«, beschwichtigte sie sofort. »Inzwischen haben sie sich wieder beruhigt und mögen Brady sehr gerne. Sie hatten gar keine Wahl, als seinem Kleinkind-Charme zu verfallen. Wir kommen gut zurecht, und die Leute können von mir aus denken, was sie wollen. Das tun sie sowieso, ob es mir gefällt oder nicht.«
»Aber du hast nichts falsch gemacht.« Frustriert stellte ich das Buch zurück ins Regal. Wenn das wahre Leben doch auch so laufen würde wie in diesen Geschichten, dann wüsste ich, dass es für Holly ein Happy End geben würde. Denn das wünschte ich ihr mehr als alles andere. Ich hatte Ungerechtigkeiten noch nie ausstehen können, und schon gar nicht, wenn es Menschen betraf, die mir wichtig waren.
»Audrey, das ist meine Sache. Versprich mir, dass du dich nicht einmischen wirst. Ich kann gerade wirklich keinen zusätzlichen Ärger gebrauchen. Ich weiß, du meinst es nur gut, aber das ist nicht die richtige Art und Weise, um damit umzugehen. Überlass das besser mir.«
Ich verdrehte die Augen und vermied es, darauf zu antworten. Auf keinen Fall würde ich ihr etwas versprechen, was ich nicht einhalten konnte. Andererseits hatte ich mir vorgenommen, mich möglichst unauffällig zu verhalten und den meisten Leuten aus dem Weg zu gehen. Von daher war es vielleicht doch nicht so unwahrscheinlich, dass Holly ihren Wunsch erfüllt bekam.
»Ich werde dir keinen Ärger machen. Deshalb bin ich nicht gekommen«, versicherte ich schließlich trotzdem. Holly hatte mich nicht aus den Augen gelassen, während sie auf meine Zustimmung gewartet hatte. »Ich möchte helfen und dir das Leben nicht noch schwerer machen. Obwohl du dir vorstellen kannst, dass ich einigen Leuten ganz gerne mal die Meinung sagen würde.«
»Und ob ich das kann.« Holly lächelte. »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Es fühlt sich seltsam an, seit Owen gestorben ist. Er war ein komischer Kauz, aber ich vermisse ihn. Seit seinem Tod sind Brady und ich die Einzigen, die auf dieser Insel von unserer Familie noch geblieben sind.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich hoffe, dass du dieses Mal länger bleiben kannst.«
Ich nickte. »Es war gut, dass ich mir meinen Urlaub aufgespart habe. Ich werde so lange bleiben, wie es nötig ist.«
»Schön, dann werde ich uns jetzt erst mal was zum Essen machen. Du bist bestimmt hungrig. Was hältst du von einem Sandwich?«
Ich hörte, wie Holly in der Küche den Kühlschrank öffnete und die Lebensmittel herausnahm. Eine Schublade wurde geräuschvoll zugeschlagen, und die Zutaten landeten auf der schmalen Küchenplatte. Meine Schwester konnte ihre mütterlichen Instinkte nicht unterdrücken und war glücklich damit, mich zu umsorgen. Ich ließ es in diesem Moment gerne geschehen, würde aber darauf achten, dass sie nicht das Gefühl hatte, sich ständig um mich kümmern zu müssen.
Ich liebte meine Schwester, aber der Altersunterschied hatte es uns manchmal schwer gemacht, die andere wirklich zu verstehen. In den letzten Jahren war es besser geworden, doch in manchen Situationen fühlte es sich so an, als würden wir beide eine Sprache sprechen, die die andere Person nicht verstand. Das konnte frustrierend sein, aber wir waren beide bemüht, daran zu arbeiten, und hatten bereits einige Fortschritte gemacht.
Egal, wie schwierig es auch manchmal war – für Holly würde ich durchs Feuer gehen, und das wusste sie. Denn sie würde für mich dasselbe tun.
Neben all den bunten Liebesromanen gab es ein Regalbrett, das seltsam deplatziert wirkte. Die Bücher sahen alt und abgegriffen aus. Mich beschlich ein ungutes Gefühl, als ich eines davon hervorzog. Mit einem Teller voller Sandwiches kam Holly ins Wohnzimmer. Sie stellte das Essen auf den Tisch und ließ sich anschließend auf die weiche Couch sinken. In einer fließenden Bewegung zog sie die Beine unter ihren Körper und lehnte sich an die Kissen. Erwartungsvoll schaute sie mich an.
Ich hielt noch immer das Buch in der Hand und drehte es so, dass Holly den Titel lesen konnte. Skeptisch hob ich eine Augenbraue, um mein Unverständnis auszudrücken. Holly verdrehte die Augen und hatte offenbar keine Lust, ausgerechnet dieses Thema zu besprechen.
Doch ich ließ sie nicht so einfach davonkommen. »Ich wusste gar nicht, dass du plötzlich ein Interesse an der Schifffahrt des 16. Jahrhunderts entwickelt hast. Wenn du jetzt auch noch diesem Fluch verfallen bist, dann weiß ich wirklich nicht mehr weiter. Ich dachte, diese verdammte Schatzsuche hätte bereits genug Schaden in unserer Familie angerichtet.«
»Du weißt genau, dass das nicht der Fall ist. Das ist ein Buch aus Owens Sammlung. Er hat mich vor einigen Monaten gebeten, einen Teil seiner Bücher für ihn aufzubewahren. Ich vermute, dass er keinen Platz mehr in seinem Haus hatte. Es ist ohnehin unglaublich, wie viel Zeug er dort untergebracht hat.«
Doch ich hatte ihr kaum zugehört. Zu überrascht war ich gewesen, überhaupt etwas zu dieser Thematik bei Holly zu entdecken. Der Einfluss, den Owen auf sie gehabt hatte, war vielleicht doch größer gewesen, als ich vermutet hatte. Wie viel Zeit hatten sie in den letzten Jahren miteinander verbracht? Welche Gefallen hatte sie ihm noch alle getan? Bei all seinen Schwächen gehörte Owens Fähigkeit, andere zu begeistern und von seinen Ideen zu überzeugen, nicht dazu. Doch ich wusste aus eigener Erfahrung, welche fatalen Konsequenzen seine Ideen für die Menschen um ihn herum haben konnten. Ich hoffte, dass Holly vorsichtig gewesen war.
Für einen kurzen Moment hatte ich bereits das Schlimmste befürchtet. Kopfschüttelnd stellte ich das Buch zurück an seinen Platz ins Regal. »Warst du schon dort? In seinem Haus auf Ocracoke?«, fügte ich hinzu, aber meine Schwester wusste auch so, wovon ich sprach.
Sie nickte langsam. »Ich habe nach Dokumenten gesucht und gehofft, dass er Anweisungen für seine Beerdigung hinterlassen hat. Owen hatte vermutlich geglaubt, dass er 100 Jahre alt wird, oder er hat sich einfach nicht für solche Dinge interessiert. Jedenfalls habe ich nichts in diese Richtung gefunden. Ich habe den Anwalt kontaktiert, bei dem er sein Testament hinterlegt hat, aber dort hatte er ebenfalls keine Wünsche für eine Beerdigung geäußert. Ich hoffe, dass Owen damit einverstanden gewesen wäre, dass er auf Ocracoke beerdigt worden ist. Er hat sich diesen Ort vor Jahren ausgesucht, um dort zu leben, und schien mit seiner Entscheidung glücklich gewesen zu sein. Ich fand es richtig, ihn dort zu lassen.«
Ich hatte mich in den Sessel gegenüber von ihr fallen lassen und blickte sie nachdenklich an. »Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass er sich irgendwelche Gedanken über seinen Tod gemacht hat. Du kanntest ihn am besten, und ich bin mir sicher, dass er mit dieser Lösung zufrieden gewesen wäre. Wenn er spezielle Wünsche gehabt hätte, hätte er sich vorher darum kümmern müssen.« Müde rieb ich mir über die Stirn. »Ich kann es allerdings noch immer nicht fassen, dass er uns beide als seine Erben benannt hat. Nicht, dass es sonderlich viel zu erben gäbe, aber ich hatte seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm. Findest du es nicht seltsam, dass er dich nicht als Alleinerbin ausgewählt hat?«
Holly zuckte mit den Schultern. »Nein, eigentlich nicht. Er war kein einfacher Mensch, doch er hat versucht, uns fair zu behandeln und niemanden zu bevorzugen. Wir sind ihm beide wichtig gewesen. Vielleicht wollte er damit auch ein Zeichen setzen und gutmachen, was damals geschehen ist.«
»Als ob das irgendetwas ändern würde.« Ich schnaubte frustriert. »Ich habe kein Interesse daran, etwas von ihm zu bekommen. Du bist diejenige, die sich seit Jahren um ihn gekümmert hat. Es ist nur fair, dass du das Wenige, das er hinterlassen hat, bekommst. Ich hoffe allerdings, dass er keine Schulden gemacht hat, von denen wir nichts wissen.«
»Das können wir auch noch später klären, wenn wir uns einen Überblick verschafft haben, was sich alles in seinem Haus befindet. Mein erster Eindruck war leider nicht positiv. Die Räume sind mit allem möglichen Zeug vollgestopft. Ich kann es mir allerdings nicht leisten, weiterhin die Miete zu zahlen, weshalb wir es schnellstmöglich ausräumen müssen. Die Eigentümer sind sehr freundlich und haben Verständnis für die Situation. Sie werden versuchen, das Haus neu zu vermieten, aber vorher müssen wir es ausräumen. In diesem Zustand kann man es niemandem zumuten. Deshalb bin ich froh, dass du gekommen bist, um mir dabei zu helfen. Ich befürchte, dass Owen ein ziemliches Chaos hinterlassen hat. Er war noch nie besonders ordentlich und hat gerne alle möglichen Sachen aufgehoben.«
»Er hatte definitiv ein Talent dafür, andere hinter sich aufräumen zu lassen.«
»Jetzt klingst du schon wie Dad.« Holly seufzte. »Ich habe nicht vergessen, was er getan hat, Audrey. Aber er ist tot, und wir werden ihn nie wiedersehen. Wir sind alles, was noch geblieben ist. Egal, was in der Vergangenheit vorgefallen ist – wir sind seine Familie, und wir werden uns um seine Angelegenheiten kümmern. Was auch immer er aufbewahrt hatte, hat vermutlich keinen finanziellen Wert, aber für ihn wird es wertvoll gewesen sein. Das sollten wir respektieren.«
»Du warst schon immer die Nettere von uns beiden. Ich hätte ihn einfach sich selbst überlassen«, murmelte ich.
»Nein, das hättest du nicht. Du bist verletzt und verärgert, und du hast auch allen Grund dazu. Trotzdem bist du hier und bereit zu helfen. Egal, was du sagst, ich weiß, dass dir Owen nicht vollkommen gleichgültig gewesen ist.«
»Ich bin nur deinetwegen zurückgekommen und werde versuchen, dir so gut es geht zu helfen. Aber mit unserem Onkel hatte ich seit dem Unfall keinen Kontakt mehr. Für mich ist er ein Fremder, der damals unser Leben zerstört hat. Es fällt mir schwer, ihm nach all dem noch einen Gefallen zu tun.«
»Dann mach es mir zuliebe. Ich schaffe es nicht, mich um alles allein zu kümmern, und für dich ist es wichtig, dass du die Möglichkeit bekommst, Abschied zu nehmen. Ich verstehe, warum du die Beerdigung verpasst hast, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er gestorben ist und du dich damit auseinandersetzen musst.«
Ich wusste, dass sie recht hatte, und das ärgerte mich umso mehr. Doch es gab etwas anderes, das mir gerade mehr Kopfzerbrechen bereitete. »Wie hast du es eigentlich geschafft, das Geld für die Beerdigung aufzubringen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Owen irgendwelche Ersparnisse hatte, die man dafür verwenden konnte.« Angespannt strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich hätte ihn ja einfach in irgendeinem Loch verbuddelt, statt ihm ein Begräbnis zu finanzieren, aber du warst der Meinung, dass ihm eine ordentliche Beerdigung zusteht. Deshalb habe ich mich bei der Entscheidung rausgehalten.«
»Es wäre höchst illegal gewesen, ihn zu vergraben, Audrey.« Holly verdrehte die Augen.
Ich ignorierte ihren Einwand. »Ich habe etwas Geld gespart, das ich dir geben kann, um zumindest einen Teil der Kosten zu bezahlen. Ich bezweifle allerdings, dass es für die ganze Summe reichen wird.«
»Das ist nicht nötig«, entgegnete Holly leise. Plötzlich wirkte sie wieder ernst. »Es wurde bereits alles bezahlt. Ich musste keinen Penny zusteuern. Das hätte ich auch gar nicht gekonnt. Wenn er nicht angeboten hätte, alles zu bezahlen, hätten wir Owen tatsächlich illegal vergraben müssen.«
»Jemand hat seine Beerdigung bezahlt?«, fragte ich fassungslos. »Wer war es, Holly?«
»Es war Logan.«
Kapitel 3
Es war spät am Nachmittag, als ich es schließlich nicht mehr im Haus aushielt. Ich wusste, dass ich mich nicht ewig dort verstecken konnte. Irgendwann musste der Zeitpunkt kommen, an dem ich mich mit der Tatsache auseinandersetzte, dass ich tatsächlich wieder auf den Outer Banks war. Doch selbst in Hollys Wohnung war es mir schwergefallen, meine Umgebung zu ignorieren. Ich konnte nicht einmal genau sagen, woran es lag, aber alles weckte Erinnerungen. Die Gerüche, das Licht, die Hitze – alles erinnerte mich an mein früheres Leben.
Vor allem der Sand, der sogar in Hollys Wohnung zu finden war, schien mich zu verfolgen. In D.C. gab es dieses Problem nicht. Doch hier war er einfach überall. Im Fußraum des Autos, in der Handtasche, den Schuhen und der Kleidung. Er war immer vorhanden und gehörte zum Leben auf der Insel dazu.
Es war, als würde mich das Meer daran erinnern wollen, dass es nicht weit entfernt war. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass mich ein paar Sandkörner derart aus der Fassung bringen würden. Doch ich hatte geahnt, dass mein Aufenthalt hier alles andere als leicht werden würde. Das war ein Ausflug in die Vergangenheit selten, und meine Kindheit war nicht unbedingt langweilig gewesen. Es gab vieles, womit ich mich lange nicht mehr beschäftigt hatte, allerdings würde es mir an diesem Ort nicht gelingen, mich vor den Erinnerungen zu verschließen.
Der dunkle Lack des Mietwagens glänzte in der Sonne, als ich über die Einfahrt von Hollys Haus lief. Bei dem Anblick wusste ich sofort, dass ich mir die Finger verbrennen würde, sobald ich das Lenkrad berührte. Die Hitze hatte sich im Inneren des Wagens gesammelt, und ich öffnete die Fahrertür in der Hoffnung, dass sich dadurch ein Teil der warmen Luft verflüchtigen würde.
Früher wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, das Auto zu benutzen. Die meisten Orte hatte ich mit dem Fahrrad erreichen können, und selbst als ich alt genug gewesen war, um einen Führerschein zu besitzen, hatte das Geld nicht für ein eigenes Auto gereicht. Doch das war nicht schlimm gewesen. Mein Fahrrad hatte mir alle Freiheiten ermöglicht, die ich damals gebraucht hatte. Außerdem hatte mein Ex-Freund einen alten Pick-up besessen, mit dem wir über die ganze Insel gefahren waren. Er hatte sein Surfboard auf der Ladefläche verstaut, und wir waren stundenlang am Strand gewesen. Während Logan nicht genug davon bekam, den Wellen hinterherzujagen, hatte ich am Strand gelegen und in einem Buch gelesen.
Ich hatte noch heute den Geruch nach Sonnencreme und Salzwasser in der Nase. Es waren unbeschwerte Sommer gewesen, deren Erinnerung sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt hatte. Der abenteuerlustige Junge, in den ich mich rettungslos verliebt hatte, verfolgte mich bis heute, und die Gefühle, die ich für ihn empfunden hatte, brachten auch jetzt noch jeden Versuch, eine ernsthafte Beziehung mit einem anderen Mann zu führen, zum Scheitern. Ich wusste, dass es stimmte, auch wenn ich es hartnäckig zu leugnen versuchte.
Ich schaute mich in der ruhigen Wohngegend um. Es war kaum jemand auf der Straße unterwegs, da die meisten Touristen sich um diese Zeit wahrscheinlich noch am Strand befanden. Vermutlich hatten sie einen perfekten Sommertag erlebt. Sie hatten das Gefühl genossen, die Sonne auf ihrem Körper zu spüren und die Wärme zu genießen, bevor die Hitze unerträglich wurde und nur noch das Meer in der Lage war, ihnen Abkühlung zu bieten. Es gehörte zum Urlaubserlebnis dazu, sich die bleiche Haut zu verbrennen und abends die geröteten Stellen zu versorgen in der Hoffnung, dass sie sich bis zur Abreise in eine schöne Bräune verwandelt hatten. Beinahe wie ein weiteres Souvenir, das sie ihren Freunden und Nachbarn zu Hause präsentieren konnten – ein Beweis, dass sie dort gewesen waren. Auf einer Insel, auf der die Sonne erbarmungslos vom Himmel brannte und es zu wenig schattige Plätze gab, um sich vor ihr zu verstecken.
Die Einheimischen dagegen waren damit beschäftigt, Geld zu verdienen, und würden erst in einigen Stunden müde und erschöpft in ihre Häuser zurückkehren. Die Gesichter eingefroren vom Dauerlächeln, das sie den Touristen den ganzen Tag präsentiert hatten. Die alles dafür taten, damit die Gäste ihre perfekte Illusion vom paradiesischen Leben auf den Outer Banks behalten konnten.
Niemand wollte sehen, wie viel Anstrengungen es kostete, den Naturgewalten zu trotzen. Wie viel manche Menschen bereits verloren hatten und trotzdem nicht aufgaben, um hier leben zu können. Für ein paar Tage oder Wochen konnte dieses Leben abenteuerlich und aufregend sein. Doch es war etwas vollkommen anderes, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und gleichzeitig zu hoffen, dass der nächste Sturm gnädig sein und das eigene Haus verschonen würde. Dass man nicht wieder von vorn anfangen musste, nachdem man alles verloren hatte.
Trotz all der Gefahren hatte ich mir nie vorstellen können, jemals woanders zu leben. Dieser Ort war einzigartig, und ich hatte alles gehabt, um glücklich zu sein. Die ganze Insel war der Abenteuerspielplatz meiner Kindheit gewesen, und wenn ich nach Hause kam, wartete dort meine Familie auf mich. Doch das alles hatte ich verloren, als mein Onkel uns für seine verfluchte Schatzsuche geopfert hatte.
Ich hatte Glück und fand einen freien Parkplatz direkt am Strand. Es war spät geworden, und die meisten Leute waren dabei, ihre Sachen zu packen und in ihre Unterkünfte zurückzukehren. Ich hatte mich erst wenige Schritte vom Auto entfernt, als ich plötzlich hörte, wie jemand meinen Namen rief.
»Audrey«, ertönte eine männliche Stimme in einer Lautstärke, dass sich gleich mehrere Köpfe nach ihm umdrehten.
Ich spürte, wie sich meine Lippen automatisch zu einem Lächeln verzogen. Überrascht drehte ich mich um und entdeckte Elliott, der über die Straße lief und gerade noch rechtzeitig einem Auto auswich. Der Fahrer winkte aufgebracht, doch zum Glück fuhr auf den Seitenstraßen ohnehin niemand besonders schnell. Elliott hob die Hand, um sich zu entschuldigen, und wischte sich mit einer ungeduldigen Bewegung eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine braunen Locken hatten schon immer einen eigenwilligen Charakter gehabt, weshalb mir diese Geste vertraut war. Es gab also doch noch Dinge, die sich nicht verändert hatten.
»Wenn Holly mich nicht vorgewarnt hätte, dass du zu Besuch kommen wirst, hätte ich bei deinem Anblick vermutlich an eine Halluzination geglaubt.« Elliott zog mich ungelenk in seine langen Arme und klopfte mir etwas verlegen auf den Rücken. »Du bist älter geworden«, stellte er fest und betrachtete mich prüfend. »Sind das Falten um deine Augen?«
»Ach du meine Güte, ich hoffe sehr, dass du nicht jeder Frau auf diese Art Komplimente machst. Ich muss dir leider sagen, dass du nicht besonders gut darin bist.«
»Es war nur eine Beobachtung«, entgegnete er grinsend. »Komplimente hebe ich mir für ganz bestimmte Gelegenheiten auf. Es würde die Menschen nur verwirren, wenn man ständig nett zu ihnen ist.«
»Mit dieser Einstellung würdest du gut nach D.C. passen.« Ich betrachtete ihn ebenfalls aufmerksam und versuchte herauszufinden, wie er sich seit unserer letzten Begegnung verändert hatte. Elliott war früher mein bester Freund gewesen, mit dem ich meine Kindheit verbracht und alle Geheimnisse geteilt hatte. Ich hatte mir insgeheim gewünscht, dass er mein Bruder wäre, doch auch so war er immer an meiner Seite gewesen.
Elliott verzog das Gesicht. »Versuchst du etwa, mich in die Großstadt zu locken? Keine Chance. Sich jeden Tag mit fremden Menschen in die Metro zu quetschen und auf das hier zu verzichten?« Er blickte Richtung Strand und schüttelte vehement den Kopf. »Auf gar keinen Fall.«
»Keine Sorge, ich möchte niemanden dazu überreden, meinem schlechten Beispiel zu folgen. Obwohl die Stadt ebenfalls ihre Vorzüge hat.«
Skeptisch hob er die Augenbrauen.
»Von den Sehenswürdigkeiten und Museen mal abgesehen, gibt es viele Parks und tolle Seen in der Umgebung.«
Elliott wiegte den Kopf, als würde er angestrengt darüber nachdenken. »Nein, das überzeugt mich nicht.«
»Du hast dich wirklich kein bisschen verändert.