Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch - Alexander Solschenizyn - E-Book + Hörbuch
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Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch E-Book

Alexander Solschenizyn

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Beschreibung

Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denissowitsch ist zweifellos das aufsehenerregendste Buch, das nach dem Krieg in der Sowjetumion veröffentlicht wurde. Heute ist dieses Buch aus den Buchhandlungen in der Sowjetunion wieder verschwunden, für das sich Chruschtschow auf dem 22. Parteitag mt den Worten einsetzte: "Es ist unsere Pflicht, derartige Angelegenheiten, die mit dem Mißbrauch der Macht zusammenhängen, sorgfältig und allseitig zu klären.Solange wir arbeiten. können, müssen wir vieles klarstellen und der Partei und dem Volk die Wahrheit sagen..." Solschenizyn hat das gequälte Gewissen jener zahllosen Russen erleichtert, die solange in vollem Wissen um die Schande in Stummheit leben mußten. Das Buch ist keineswegs eine sensationell aufgemachte Aneinanderreihung grausamer Enthüllungen und der im Titel genannte "Tag" unterscheidet sich kaum von den mehr als dreitausend anderen Tagen der Gefangenschaft Denissowitschs. Es werden weder Folterungen beschrieben, noch wird offen gegen das Unrecht protestiert, aber der stumme Protest, der die Erzählung bestimmt, wirkt gerade durch die eindringliche,detaillierte Schilderung des monotonen Lagerlebens um so stärker. Es ist unumgänglich für jeden, der sich ein Bild von den Entwicklungen jener Zeit in der Sowjetliteratur machen will, das hier neuaufgelegte erste Buch von Solschenizyn zu lesen.

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Seitenzahl: 225

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Alexander Solschenizyn

Ein Tag im Leben des

Iwan Denissowitsch

Erzählung

Herbig

Deutsch von Wilhelm Löser, Theodor Friedrich, Ingeborg Hanelt und Eva-Maria Kunde

Besuchen Sie uns im Internet unter

www.herbig-verlag.de

© für die Originalausgabe: 1969 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für das ebook: 2015 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7766-8247-2

Statt eines Vorworts

Der Solschenizyns Erzählung zugrunde liegende, aus dem Leben gegriffene Stoff ist in der Sowjetliteratur ungewohnt. In ihm spiegeln sich jene schmerzhaften Erscheinungen in unserer Entwicklung, die mit der von der Partei schonungslos bloßgelegten und verurteilten Periode des Personenkults in Zusammenhang stehen, die uns, obwohl uns nur eine kurze Zeit von ihr trennt, als ferne Vergangenheit erscheint. Für die Gegenwart jedoch ist diese Vergangenheit – wie sie auch gewesen sein mag – niemals gleichgültig. Die Gewähr für einen vollständigen und endgültigen Bruch mit all jenem in der Vergangenheit, was sie verdüstert hat, liegt darin, daß wir ihre Folgen bis zum letzten ergründen. Eben davon sprach N. S. Chruschtschow in seinem für uns alle denkwürdigen Schlußwort auf dem 22. Parteitag: »Es ist unsere Pflicht, derartige Angelegenheiten, die mit dem Mißbrauch der Macht zusammenhängen, sorgfältig und allseitig zu klären. Die Zeit wird kommen, da auch wir sterben, denn wir alle sind sterblich. Aber solange wir arbeiten, können und müssen wir vieles klarstellen und der Partei und dem Volk die Wahrheit sagen … Dies muß getan werden, damit sich derartige Erscheinungen niemals mehr wiederholen.«

»Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« ist nicht nur ein Dokument im Sinne von Memoiren, hier liegen nicht nur Aufzeichnungen vor oder Erinnerungen an persönliche Erlebnisse des Autors, obwohl nur das persönlich Erlebte dieser Erzählung eine derartige Glaubwürdigkeit und Echtheit verleihen konnte. Es ist auch ein Kunstwerk, und gerade kraft der künstlerischen Beleuchtung dieses aus dem Leben gegriffenen Stoffes ist es ein Dokument von besonderem Wert, ein Dokument für eine Kunst, die man auf Grund dieses »spezifischen Materials« bisher kaum für möglich hielt.

Der Leser wird in der Erzählung Solschenizyns keine alles umfassende Darstellung jener historischen Periode finden, die insbesondere durch die bitteren Erfahrungen des Jahres 1937 fixiert wird. Der Inhalt beschränkt sich naturgemäß auf die Zeit, den Handlungsort und den Gesichtskreis des Haupthelden der Erzählung. Aber ein Tag im Leben des Lagersträflings Iwan Denissowitsch Schuchow wächst unter der Feder Solschenizyns, der erstmals literarisch hervortritt, zu einem Bild, das mit einer ungewöhnlichen Lebendigkeit und Glaubwürdigkeit der menschlichen Charaktere gemalt ist. Hierin liegt vor allem die Stärke des Werkes, das einen selten nachhaltigen Eindruck hinterläßt. Viele der hier in der tragischen Rolle von »Sträflingen« gezeichneten Menschen kann sich der Leser auch in einem anderen Milieu vorstellen: an der Front oder auf den Baustellen der Nachkriegsjahre. Es sind die gleichen Menschen, die kraft der Umstände in besondere, extreme Bedingungen harter physischer und moralischer Prüfungen hineingestellt wurden.

Diese Erzählung enthält keine vorsätzliche Verdichtung der furchtbaren Fakten von Grausamkeit und Willkür, die eine Folge der Verletzung der sowjetischen Gesetzlichkeit waren. Der Autor wählte einen der gewöhnlichsten Tage des Lagerlebens vom Wecken bis zum Zapfenstreich zum Thema. Gleichwohl muß dieser eine »gewöhnliche« Tag im Herzen des Lesers Bitterkeit und Schmerz über das Schicksal von Menschen auslösen, die in der Erzählung als lebendig und nahe vor ihm stehen. Der zweifellose Erfolg des Künstlers aber ist darin zu sehen, daß diese Bitternis und dieser Schmerz nichts mit dem Gefühl eines hoffnungslosen Geknechtetseins gemein haben. Im Gegenteil, dieses Werk, das durch eine derart ungewöhnliche, ungeschminkte und schwierige Wahrheit beeindruckt, befreit gleichsam die Seele von der Unaussprechlichkeit dessen, was gesagt werden muß, und festigt gleichzeitig in ihr den Mut und edle Gefühle.

Diese harte Erzählung ist ein weiteres Beispiel dafür, daß es keine Sphären oder Erscheinungen der Wirklichkeit gibt, die in unserer heutigen Zeit aus dem Schaffensbereich des sowjetischen Künstlers ausgeklammert oder einer wahrheitsgetreuen Darstellung nicht zugänglich wären. Alles hängt davon ab, über welche Möglichkeiten der Künstler selber verfügt.

Und diese Erzählung läßt noch eine weitere einfache und lehrreiche Schlußfolgerung zu: Ein wirklich wesentlicher Inhalt, die Glaubwürdigkeit einer großen Lebenswahrheit, die tiefe Menschlichkeit beim Herangehen an die Darstellung selbst der schwierigsten Themen muß auch eine entsprechende Form hervorbringen. Sie ist hier gerade in ihrer Alltagsdiktion und äußeren Schlichtheit prägnant und eigenständig. Sie kümmert sich am allerwenigsten um sich selber und ist deshalb voll inneren Wertes und innerer Kraft.

Ich möchte mit meiner Begeisterung für dieses dem Umfang nach kleine Werk dem Urteil des Lesers nicht vorgreifen, obwohl es für mich außer Zweifel steht, daß es einem neuen, eigenwilligen und durchaus reifen Meister Eingang in unsere Literatur verschafft.

Möglicherweise wird die – im übrigen durchaus maßvolle und zweckentsprechende – Benutzung gewisser Wörter und Redensarten jenes Milieus, in dem der Held seinen Arbeitstag verbringt, bei einem besonders anspruchsvollen Geschmack Einwände hervorrufen. Im ganzen aber gehört »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« zu jenen literarischen Werken, denen wir nach der Lektüre von ganzem Herzen wünschen, daß unser Gefühl der Anerkennung auch von anderen Lesern geteilt wird.

Alexander Twardowskij

Chefredakteur der Zeitschrift ›Nowyj mir‹

Um fünf Uhr morgens erscholl wie immer der Weckruf: Ein Schlag mit dem Hammer auf eine Eisenschiene an der Stabsbaracke. Schwach drang der unterbrochene Ton durch die zwei Finger dick gefrorenen Scheiben und verstummte bald wieder; es war kalt und dem Posten verging die Lust am langen Schlagen.

Der Ton war verklungen, und hinter dem Fenster war alles so wie in der Nacht, als Schuchow die Stubenlatrine aufsuchte, duster und finster. Nur der trübe Schein von drei gelben Lampen drang durch das Fenster, zwei in der Außenzone und eine im Lager selber.

Aus irgendeinem Grunde kam niemand, um die Baracke aufzuschließen, und man hörte auch nicht, daß sich der Barackendienst der Latrine bemächtigte, um sie an den Stangen hinauszutragen.

Schuchow hatte das Wecken noch nie verschlafen; er erhob sich immer pünktlich. Bis zum Ausrücken verblieben anderthalb dienstfreie Stunden, die einem ganz allein gehörten, und wer das Lagerleben kennt, nutzt jede Gelegenheit, um etwas nebenbei zu verdienen: Man kann diesem oder jenem mit einem Stoffetzen einen Flicken auf die Fäustlinge nähen; einem wohlhabenden Brigadeangehörigen die trockenen Filzstiefel direkt vor die Pritsche reichen, damit dieser nicht barfuß herumlaufen und seine Stiefel aus dem Haufen heraussuchen muß; oder die Magazine abklappern und sehen, ob man nicht jemandem einen Gefallen tun, den Boden fegen oder irgend etwas bringen kann; oder von den Holztischen in der Eßbaracke die Blechschüsseln, übereinander getürmt, in den Spülraum tragen, in der Hoffnung, daß dabei etwas abfällt. Leider drängeln sich zu viele dazu, man kann sich ihrer kaum erwehren; und vor allem, wenn man in einem Blechnapf noch ein winziges Restchen findet, dann ist es mit der Beherrschung vorbei, man beginnt ihn auszulecken. Schuchow hatten sich die Worte des ersten Brigadiers Kusjomin, eines ausgekochten Lagerhasen, ins Gedächtnis gegraben, der 1943 schon zwölf Jahre auf dem Buckel hatte und dem von der Front eingetroffenen Nachschub am Lagerfeuer in einer kahlgeschlagenen Waldschneise einmal gesagt hatte:

»Hier, Jungs, gilt das Gesetz der Taiga. Aber auch hier leben Menschen. Vor die Hunde gehen im Lager die, die Schüsseln auslecken, auf das Krankenrevier spekulieren oder denunzieren.«

Was das Denunzieren betrifft, so hatte er natürlich übertrieben. Die verstehen es schon, sich zu schonen, nur erkaufen sie sich diese Schonung mit dem Blut anderer. Noch jedesmal war Schuchow beim Wecken aufgestanden, aber heute stand er nicht auf. Schon seit gestern fühlte er sich nicht wohl, fröstelte ihn, taten ihm die Knochen weh. Auch nachts war ihm nicht richtig warm geworden. Im Traum schien es ihm, als ob er sehr krank geworden sei, dann wieder, daß es etwas nachlasse. Er wollte und wollte nicht, daß der Morgen anbreche.

Aber auch dieser Morgen brach an.

Ja, und wo soll man sich hier auch wärmen. Das Fenster völlig zugefroren, und an den Wänden längs der Deckenfuge um die ganze Baracke – ein Riesenbau! – ein weißer Streifen. Rauhreif.

Schuchow stand nicht auf. Er lag auf der oberen Pritsche, Decke und Wattejacke über die Ohren gezogen, beide Füße im umgekrempelten Ärmel der Weste. Er sah nichts, nahm aber an den Geräuschen alles wahr, was in der Baracke und in seiner Ecke geschah. Da schleppte der Barackendienst, schweren Schrittes den Gang entlangstampfend, eine der achteimerigen Latrinen hinaus. Da denkt man, das ist was für einen Invaliden, leichte Arbeit, aber dann trag mal so ein Ding raus, ohne was zu verschütten! Da knallte man bei der 75. Brigade einen Packen Filzstiefel aus dem Trockenraum auf den Fußboden. Und dann dasselbe auch bei ihnen (auch sie waren heute mit dem Trocknen der Filzstiefel an der Reihe gewesen). Der Brigadier und sein Gehilfe ziehen schweigend die Stiefel an; ihre Pritsche knarrt. Gleich wird der Hilfsbrigadier zum Brotempfang und der Brigadier zur Stabsbaracke zum Einsatzstab gehen.

Aber nicht nur zu den Einsatzleitern, wie er es jeden Tag tut. Schuchow erinnert sich: Heute entscheidet sich das Schicksal. Man will ihre 104. Brigade vom Bau der Werkstätten auf ein neues Objekt, die »Sozgorod« (Sozialistische Kolonie) abschieben. Und »Sozgorod« ist ein kahles Feld mit lauter Schneewehen, und was dort zuerst getan werden muß, ist Löcher schaufeln, Pfosten aufstellen und Stacheldraht mit eigenen Händen spannen – damit keiner türmt. Dann erst bauen.

Dort, das steht fest, wird man sich einen Monat nirgends aufwärmen können: nicht eine einzige Hundehütte. Auch ein Lagerfeuer wird es nicht geben – womit heizen? Schufte bis zum Umfallen – die einzige Rettung!

Der Brigadier macht sich Sorgen. Und er geht los, um die Sache zu deichseln. Irgendeine andere, weniger gewiefte Brigade statt meiner dorthin bugsieren. Klar, mit leeren Händen ist nichts zu machen. Dem obersten Einsatzleiter ein halbes Kilo Speck zustecken. Womöglich auch ein Kilo.

Versuchen kostet nichts; ob man nicht im Revier blau machen, sich für einen Tag von der Arbeit befreien lassen sollte? Am ganzen Körper tut’s einfach weh.

Und noch eins. Wer von den Aufsehern hat heute Dienst?

Dienst hat – fiel ihm ein – Poltora Iwan, ein hagerer, hoch aufgeschossener Sergeant, schwarzäugig. Sieht man ihn zum erstenmal, kriegt man einen Schreck, hat man ihn aber kennengelernt – war er von allen Posten der zugänglichste. Locht einen nicht ein, schleppt einen nicht zum Politoffizier. Also kann man noch ein wenig liegen, bis Baracke 9 in die Eßbaracke rübergeht.

Die Pritsche wackelte und schaukelte. Zwei standen gleichzeitig auf; oben Schuchows Bettnachbar, der Baptist Aljoscha, unten Bujnowskij, ehemaliger Kapitän. Der Barackendienst, zwei alte Männer, die die Latrine hinausgetragen hatten, stritt sich, wer an der Reihe sei, heißes Wasser zu holen. Sie zankten sich hartnäckig wie Weiber. Der Elektroschweißer von der 20. Brigade brüllte los: »He! Ihr Nachtwächter!« und schleuderte einen Filzstiefel auf sie. »Bring euch zur Ruhe!«

Der Stiefel knallte dumpf an den Pfosten. Sie verstummten.

Bei der Nachbarbrigade brummelte der Hilfsbrigadier: »Wasilj Fjodorytsch! Bei der Verpflegungsausgabe haben mich die Lumpen betrogen; es waren immer vier 900-Gramm-Portionen und jetzt nur drei. Wem soll ich was abziehen?«

Er sprach leise, aber natürlich hatte schon die ganze Brigade die Ohren gespitzt und hielt den Atem an. Irgend jemand wird man abends ein Stückchen abschneiden. Und Schuchow blieb auf den hartgelegenen Sägespänen seiner Matratze liegen. Wenn sich wenigstens eins durchsetzen würde, wenn er entweder Schüttelfrost bekäme oder das Reißen aufhören würde. Aber so – weder dies noch das.

Während der Baptist Gebete murmelte, kehrte Bujnowskij von draußen zurück und sagte vor sich hin, aber irgendwie hämisch:

»Haltet euch fest, rote Matrosen! 30 Grad genau!«

Und Schuchow beschloß, das Revier aufzusuchen.

Im gleichen Augenblick aber zerrte eine mächtige Hand Weste und Wattejacke von seinem Körper. Schuchow schob die Wattejacke vom Gesicht und richtete sich auf. Unter ihm stand, mit dem Kopf bis an die oberste Pritschenkante reichend, der hagere Tatarin.

Er hatte offenbar außer der Reihe Dienst und schlich herum.

»S-Achthundertvierundfünfzig«, las Tatarin vom weißen Flicken auf dem Rücken der schwarzen Wattejacke ab. »Drei Tage Bau mit Arbeit!«

Und kaum war seine auffallend gepreßte Stimme ertönt, als es in der ganzen Baracke, in der nicht alle Lampen brannten und auf 50 verwanzten Viererpritschen 200 Menschen schliefen, sofort zu rumoren begann und alle jene, die noch nicht aufgestanden waren, sich hastig ankleideten.

»Wofür, Bürger Vorgesetzter?« fragte Schuchow und legte in seine Stimme mehr Kläglichkeit als er empfand. Mit Ausrücken zur Arbeit bedeutet nur halben Karzer, man bekommt was Warmes, und zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Voller Bau aber heißt: ohne Arbeit.

»Zum Wecken nicht aufgestanden! Los, zur Lagerleitung«, erläuterte Tatarin lässig, weil ihm wie Schuchow und auch allen anderen klar war, wofür es Bau gegeben hatte.

Im bartlosen, verwelkten Gesicht Tatarins zeigte sich keine Regung. Er wandte sich ab, ein zweites Karnickel suchend, aber bereits alle – die im Halbdunkel, die unter der Funzel, die auf der ersten und der zweiten Etage der Pritschen – stopften ihre Beine in die schwarzen Wattehosen mit den Nummern am linken Oberschenkel oder machten sich, wenn sie bereits angezogen waren, schleunigst aus dem Staube und eilten zum Ausgang, um Tatarin im Hof zu erwarten.

Hätte man Schuchow Karzer für etwas anderes gegeben, wo er es verdient hätte, wäre es nicht so ärgerlich gewesen. Ärgerlich war es eben deshalb, weil er immer als einer der ersten aufgestanden war. Tatarin zu bitten und anzuflehen, hatte keinen Zweck, das wußte er. Schuchow fuhr der Ordnung halber damit fort, Tatarin anzuflehen, zog aber gleichzeitig die Wattehosen an (oberhalb des linken Knies war auf ihnen ebenfalls ein abgewetzter, verschmutzter Flicken genäht und auf ihm mit schwarzer, bereits abbröckelnder Farbe die Nummer S-854 aufgemalt), zog die Weste über (auf ihr waren zwei Nummern – auf der Brust und auf dem Rücken eine), suchte aus dem Haufen auf dem Boden seine Filzstiefel heraus, setzte die Mütze auf (mit eben dem gleichen Flicken mit Nummer vorn) und folgte Tatarin.

Die ganze 104. Brigade sah, wie man Schuchow abführte, aber niemand sagte ein Wort; doch witzlos, was sollte man auch sagen? Der Brigadier hätte sich ein wenig einsetzen können, aber er war schon weg. Auch Schuchow sagte zu niemandem ein Wort, um Tatarin nur nicht zu reizen. Sie werden ihm schon das Frühstück aufheben, darauf kommen sie von selber.

So gingen sie zu zweit hinaus.

Der Frost und der Nebel verschlugen einem den Atem. Von den fernen Wachtürmen strahlten zwei große Scheinwerfer und kreuzten sich über der Lagerzone. Die Lampen in der Außenzone und innerhalb des Lagers brannten. Man hatte deren so viele aufgestellt, daß sie die Sterne völlig überstrahlten.

Die Sträflinge gingen hastig ihren Geschäften nach; unter ihren Filzstiefeln knirschte der Schnee; einer auf den Abort, der andere zum Magazin, dieser zur Paketausgabe, jener, um Graupen bei der Privatküche abzuliefern. Alle hatten ihre Köpfe eingezogen, hielten die Wattejacken an sich gepreßt, und alle froren nicht so sehr vor Kälte als beim Gedanken, den ganzen Tag in dieser Kälte verbringen zu müssen. Tatarin indes, in seinem alten Mantel mit den blauen abgegriffenen Schnüren, marschierte gemessenen Schrittes, und die Kälte machte ihm anscheinend nichts aus.

Sie zogen an dem hohen Bretterverschlag rund um das Lagergefängnis, einen Steinbau, vorüber, am Stacheldraht, der die Lagerbäckerei vor den Strafgefangenen schützte, und an der Stabsbaracke vorbei, wo an einem Pfosten, an einen dicken Draht festgebunden, die völlig mit Rauhreif beschlagene Schiene hing; vorbei an einem weiteren Pfosten, an dem, geschützt, damit es nicht zu niedrig anzeigt, das völlig mit Reif bedeckte Thermometer hing. Schuchow schielte hoffnungsvoll auf das milchigweiße Röhrchen: Würde es 41 Grad anzeigen, dürfte man sie nicht zur Arbeit hinausjagen. Nur bewegte es sich heute nicht um die Welt auf 40 zu.

Sie betraten die Stabsbaracke und gingen sofort in die Unterkunft der Aufseher. Was Schuchow schon unterwegs geschwant hatte, bestätigte sich dort. Er bekam gar keinen Karzer, sondern der Fußboden in der Aufseher-Unterkunft war einfach nicht geschrubbt. Nun erklärte Tatarin, er verzeihe Schuchow, und befahl ihm, den Boden zu wischen.

Den Boden in der Aufseher-Unterkunft zu schrubben, oblag einem speziellen Sträfling, der nicht zur Arbeit auszurücken brauchte; es war die eigentliche Aufgabe des Putzers für die Stabsbaracke. Aber er hatte sich in der Stabsbaracke eingelebt, hatte Zugang zu den Räumen des Majors, des Politoffiziers, des Aushorchers, bediente sie, hörte mitunter Dinge, die nicht einmal den Aufsehern zu Ohren kamen, und war seit einiger Zeit der Meinung, den Fußboden für einfache Aufseher zu schrubben, sei gewissermaßen unter seiner Würde. Die Aufseher hatten ihn das eine und das andere Mal gerufen, den Braten dann schließlich gerochen und begannen, für die Böden die »Arbeiter« einzuspannen.

In der Aufseherbude glühte der Ofen. Zwei Aufseher, die sich bis auf ihre schmutzigen Überhemden ausgezogen hatten, spielten Dame, während der dritte, so wie er war, im Pelz mit Gürtel und Filzstiefeln auf der schmalen Bank schlief. In der Ecke stand ein Eimer mit Putzlumpen.

Schuchow freute sich und sagte zu Tatarin, weil er ihm verziehen hatte:

»Danke, Bürger Vorgesetzter. Jetzt werde ich niemals mehr zu lange liegen bleiben.«

Hier herrschte ein einfaches Gesetz: Fertig? Ab! Jetzt, da man Schuchow Arbeit zugewiesen hatte, schienen auch seine Schmerzen aufzuhören. Er schnappte sich den Eimer und machte sich ohne Handschuhe (die hatte er in der Eile unter dem Kopfkissen liegengelassen) zum Brunnen auf.

Die Brigadiere, die zum Einsatzstab gegangen waren, drängelten sich um den Pfosten, und einer, ein jüngerer, ehemaliger Held der Sowjetunion, hangelte am Pfosten hoch und rieb am Thermometer. Von unten riet man ihm: »Daneben atmen, sonst steigt es!«

Steigt oder nicht … Doch zwecklos! Tjurin, Schuchows Brigadier, war nicht unter ihnen. Schuchow hatte den Eimer neben sich gestellt, die Hände in die Ärmel gesteckt, und schaute neugierig zu.

Da tönte es heiser vom Pfosten herab:

»Siebenundzwanzigeinhalb. Scheibenkleister!«

Der Sicherheit halber schaute er noch einmal hin und sprang dann auf den Boden zurück.

»Geht doch nicht richtig! Lügt immer«, sagte irgend jemand.

»Werden sich hüten, im Lager ein richtiges aufzuhängen.« Die Brigadiere machten sich davon, und Schuchow eilte zum Brunnen. Die Ohren unter den herabgezogenen, aber nicht festgebundenen Ohrenklappen begannen im Frost zu zwicken.

Den Brunnenschacht bedeckte eine dicke Eisschicht, so daß der Eimer kaum durch das Loch ging. Der Strick war steifgefroren.

Ohne die Hände zu spüren, begab sich Schuchow mit dem dampfenden Eimer zur Aufseherbaracke zurück und steckte die Hände in das Brunnenwasser. Es wärmte. Tatarin war nicht da, dafür drängelten sich die drei Aufseher zusammen. Sie hatten mit dem Damespiel und Schlafen aufgehört und stritten miteinander, wieviel Hirse man ihnen im Januar geben werde (in der Siedlung stand es schlecht mit Lebensmitteln, und man verkaufte den Aufsehern, selbst wenn sie keine Marken mehr hatten, das eine oder andere billiger als den anderen).

»Tür zu, Mistvieh, es zieht!« ließ sich einer von ihnen ablenken.

Es taugte zu nichts, sich schon morgens die Stiefel naß zu machen. Und andere konnte man nicht anziehen, selbst wenn man in die Baracke lief. In bezug auf das Schuhwerk hatte Schuchow in den acht Jahren verschiedene Anordnungen erlebt. Es war vorgekommen, daß sie überhaupt den ganzen Winter ohne Filzstiefel herumliefen; es war vorgekommen, daß man diese Schuhe nicht zu Gesicht bekam, sondern nur noch Bastschuhe oder solche, die aus Autoreifen geschustert waren. Jetzt hatte sich mit dem Schuhwerk jedoch alles gleichsam eingerenkt.

Im Oktober hatte Schuchow ein Paar robuste, kräftige Schuhe empfangen, in denen noch Platz für zwei Fußlappen war (er hatte sie deshalb empfangen, weil er sich in der Kammer hinter den Hilfsbrigadier geklemmt hatte). Eine Woche lang war er in ihnen wie ein Geburtstagskind herumstolziert und hatte mit den neuen Absätzen fortwährend den Boden gehämmert. Und im Dezember waren die Filzstiefel gerade zur rechten Zeit gekommen; ein behagliches Leben, man brauchte nicht zu sterben. Dann hatte irgend so ein Teufel von der Buchhaltung dem Lagerführer eingeflüstert: Sollen ihre Filzstiefel haben, aber die Schuhe abgeben. Es gehöre sich nicht, daß ein Sträfling zwei Paar auf einmal besitze. Und Schuchow mußte nun wählen, entweder den ganzen Winter in Schuhen oder in Filzstiefeln herumzulaufen; lauf damit auch bei Tauwetter herum, die Schuhe aber liefere ab. Hatte sie geschont, mit Solidol geschmeidig gehalten, die nagelneuen Schühchen, ach! In den ganzen acht Jahren hatte es ihm um nichts so leid getan wie um diese Schuhe. Da hat man sie auf irgendeinen Haufen geworfen; im Frühjahr werden sie nicht mehr dir gehören. Sogleich kam Schuchow ein Gedanke. Er schlüpfte aus seinen Filzstiefeln, stellte sie in die Ecke und warf die Fußlappen hinterher (der Löffel klapperte am Boden; wie schnell er sich auch für den Karzer fertiggemacht hatte, den Löffel hatte er nicht vergessen), schlurfte barfuß umher, das Wasser mit dem Aufwischer verteilend, ohne mit Wasser zu sparen, von dem auch die Filzstiefel der Aufseher etwas abbekamen.

»Vorsichtiger, Dreckskerl du!« entrüstete sich einer von ihnen, seine Füße zum Stuhl hochziehend.

»Reis? Reis geht doch nach einer anderen Norm! Vergleich sie nicht mit Reis!«

»Wieviel Wasser nimmst du denn, Holzkopf! Wer wischt denn so den Boden?«

»Bürger Vorgesetzter! Anders ist er nicht zu wischen. Der Dreck da hat sich zu sehr eingefressen …«

»Hast du wenigstens einmal zugeschaut, wie deine Alte den Boden schrubbte, Ferkel?«

Schuchow richtete sich auf, in der Hand den tropfenden Lappen. Er grinste gutmütig und zeigte seine Zahnlücken, die ihm 1943 in Ust-Ishma der Skorbut geschlagen hatte, als es mit ihm sehr schlimm stand. So schlimm, daß ihn die Ruhr völlig ausgemergelt hatte und der entkräftete Magen einfach nichts mehr annehmen wollte. Jetzt war von dieser Zeit nur noch ein Kneifen übriggeblieben.

»Von der Frau, Bürger Vorgesetzter, hat man mich seit 1941 getrennt. Keine Ahnung, was mit ihr los ist.«

»So scheuern sie … Nichts können und wollen sie schaffen, die Lumpen. Sind das Brot nicht wert, das man ihnen gibt. Man sollte sie mit Sch … füttern.«

»Ja, und wozu zum Teufel auch, ihn jeden Tag wischen? Die Nässe verschwindet nicht. Du, hör mal zu, Achthundertvierundfünfzig! Wisch nur leicht drüber, daß es etwas naß ist, und troll dich.«

»Reis! Vergleiche Hirse nicht mit Reis!«

Schuchow kam flott zurecht.

Arbeit und Arbeit – das ist zweierlei. Das ist wie oben und unten bei einem Stock: Wenn du für vernünftige Menschen arbeitest, dann mach vernünftige Arbeit, tust du sie für einen Dummkopf, dann tu bloß so.

Anders wären sie alle längst verreckt, das ist klar. Schuchow wischte den Fußboden so, daß keine trockene Stelle übrigblieb, warf den unausgewrungenen Putzlappen hinter den Ofen, schlüpfte bei der Schwelle in seine Filzstiefel, kippte das Wasser auf den Gehsteig für die Lagerleitung, schlug einen Haken und eilte, an der Sauna und an der dunklen, ausgekühlten Klubbaracke vorbei, zur Eßbaracke.

Er mußte es noch zum Revier schaffen, wieder tat ihm alles weh. Und außerdem mußte man sich noch hüten, einem Aufseher in die Finger zu geraten. Es war nämlich ein strenger Befehl des Lagerkommandanten ergangen, einzelne, zurückgebliebene Sträflinge aufzugreifen und in den Karzer zu sperren.

Vor der Eßbaracke – welch wunderbarer Zufall – drängelte sich heute die Masse nicht, gab es keine Schlangen. Hinein! Drinnen ein Dampf wie in der Sauna; von der Tür her die Frostschwaden und der Dampf von der Suppe. Die Brigaden saßen an den Tischen oder drängten sich in den Gängen, warteten, bis Plätze frei wurden. Sich schreiend durch die Massen zwängend, trugen zwei bis drei Mann von jeder Brigade auf Holztabletts Schüsseln mit Suppe und Brei und suchten auf den Tischen einen Platz für sie. Aber er hört trotzdem nicht, der Holzklotz, das Trampeltier, nun hat er auch noch ans Tablett gestoßen. Schwapp, schwapp! Mit der freien Hand ihm eine ins Genick, eins druff! Richtig! Steh nicht im Wege, glotz nicht, wo was auszulecken ist.

Dort, hinter dem Tisch, den Löffel noch nicht in die Schüssel getaucht, bekreuzigt sich ein junger Bursche. Ein Westukrainer also und Neuling obendrein.

Während die Russen sogar vergessen haben, mit welcher Hand man sich bekreuzigt.

Es ist kalt beim Sitzen in der Eßbaracke, man ißt großenteils mit der Mütze auf dem Kopf, aber ohne Eile, fischt unter den Rotkrautblättern die zerkochten, ausgelaugten kleinen Fischbrocken hervor und spuckt die Gräten auf den Tisch. Hat sich auf dem Tisch ein Berg davon angesammelt, fegt einer, bevor die neue Brigade kommt, sie mit der Hand runter und dort werden sie knirschend zertreten. Die Gräten direkt auf den Boden zu spucken, gilt als unfein.

Mitten durch die Baracke zogen sich in zwei Reihen Pfosten, Tragbalken oder so was – genau konnte man es nicht sagen –, und an einem dieser Pfosten saß Schuchows Brigadekumpel Fetjukow und bewachte dessen Frühstück. Er war einer der letzten Brigadeangehörigen, stand noch unter Schuchow. Von außen glich sich die ganze Brigade in den gleichen schwarzen Wattejacken und den gleichen Nummern, aber von innen betrachtet war sie sehr ungleich. Es gibt Abstufungen, Bujnowskij wird nicht mit den Schüsseln anderer warten, und auch Schuchow übernimmt nicht jede Arbeit; es gibt niedriger Stehende.

Fetjukow bemerkte Schuchow und seufzte, seinen Platz räumend. »Alles schon kalt geworden. Ich wollte schon für dich essen, dachte, du bist eingelocht.«

Er wartete nicht, da er wußte, daß ihm Schuchow nichts übriglassen, beide Schüsseln bis auf den letzten Rest verputzen würde.

Schuchow zog den Löffel aus dem Stiefel. Dieser Löffel war ihm teuer, er hatte ihn überall im Norden begleitet, er hatte ihn im Sand aus Aluminiumdraht selber gegossen, und auf ihm stand mit einem Nagel eingehämmert »Ust-Ishma, 1944«.

Dann nahm Schuchow die Mütze vom geschorenen Kopf. Wie kalt es auch war, aber er konnte es einfach nicht über sich bringen, mit Mütze zu essen. Er rührte in der abgestandenen Suppe herum und versicherte sich schnell, was er in der Schüssel abbekommen hatte. Mittelmäßig. Man hatte nicht vom Rand des Kessels, aber auch nicht vom Grund geschöpft. Von Fetjukow war anzunehmen, daß er, während er die Schüssel bewachte, eine Kartoffel aus ihr herausgefischt hatte.

Die einzige Freude an der Suppe ist, daß sie heiß ist, für Schuchow aber war sie nun völlig kalt geworden. Trotzdem begann er, sie ebenso langsam, bedächtig zu löffeln.

Mag auch die Bude abbrennen – kein Grund zur Eile. Den Schlaf ausgenommen, lebt der Lagerinsasse ausschließlich für sich nur morgens zehn Minuten beim Frühstück, beim Mittagessen fünf und beim Abendbrot fünf.

Die Suppe war jeden Tag die gleiche; es hing davon ab, was für Gemüse man für den Winter einlagerte. Im vergangenen Jahr hatte man ausschließlich eingesalzene Mohrrüben eingelagert, und so bestand denn auch die Suppe von September bis Juni aus nichts als Mohrrüben. Und in diesem Jahr Rotkraut. Die fetteste Zeit für den Lagerhäftling ist der Juni; dann ist alles Gemüse verbraucht, und man ersetzt es durch Graupen. Die magerste Zeit ist der Juli. Dann kommen zerhackte Brennnesseln in den Kessel.

Von den kleinen Fischen fielen immer mehr Gräten an; das Fleisch war von den Knochen abgekocht, zerfallen und hielt sich nur am Kopf und Schwanz. Schuchow ließ an dem bröckelnden Fischskelett nicht eine einzige Schuppe, kein einziges Krümelchen, kaute das Skelett mit den Zähnen, saugte es aus und spuckte es auf den Tisch. Bei jedem beliebigen Fisch aß er alles, Kiemen wie Schwanz, auch die Augen aß er, wenn er sie am Stück vor den Löffel bekam, schwammen sie jedoch herausgekocht und einzeln in der Schüssel – große Fischaugen – aß er sie nicht. Man lachte ihn deshalb aus.

Heute hatte Schuchow sparsam gelebt. Da er nicht zur Baracke zurückgegangen war, um seine Ration zu holen, aß er nun ohne Brot. Das Brot wird man hernach allein verdrücken können – sättigt besser.