Ein Tag, zwei Leben - Jessica Shirvington - E-Book

Ein Tag, zwei Leben E-Book

Jessica Shirvington

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Beschreibung

Zwei Leben, eine schicksalhafte Liebe – dramatisch, intensiv, atemberaubend

Die 18-jährige Sabine lebt in zwei Parallelwelten – 24 Stunden in der einen und 24 Stunden in der anderen. Es sind zwei Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten: In Roxbury ist sie die Außenseiterin, das Punk- Girl. In Wellesley dagegen die Highschool-Königin mit dem scheinbar perfekten Freund. Ein fataler Irrtum, den Sabine fast mit dem Leben bezahlt. Als sie in Roxbury Ethan kennenlernt und sich in ihn verliebt, scheint sich alles zum Guten zu wenden. Doch ein tragisches Ereignis ändert auf einmal alles …

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Seitenzahl: 405

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DIE AUTORIN

Foto: © privat

Jessica Shirvington hat eine Kaffeeimportfirma gegründet und geleitet und nebenbei zu schreiben begonnen. Sie lebt mit ihrem Mann Matt, einem bekannten australischen Leichtathleten, und ihren zwei Töchtern in Sydney. Neben ihrer Familie widmet sie sich mittlerweile ganz dem Schreiben.

Weitere lieferbare Titel von Jessica Shirvington bei cbt:

Erwacht

Verlockt

Gebannt

Entbrannt

Jessica Shirvington

Aus dem Amerikanischen von Sonja Häußler

cbtist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random HouseDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Februar 2014

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Between the Lives« bei HarperCollinsPublishers, Australia.

© 2013 by Jessica Shirvington

Published by arrangement with Jessica Shirvington

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Aus dem Amerikanischen von Sonja Häußler

Lektorat: Werner Wahls

Umschlaggestaltung: © Geviert Grafik & Typografie, München

Umschlagbild: © Cover photography of top model by Kyle Z. Walker, San Jose, CA, Shutterstock (BestPhotoStudio), Geviertgettyimages (RF/STOCK4B Creative)

jb · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-10732-1V002

www.cbj-verlag.de

Für Haz

Ich bin froh, eine so unglaubliche Freundin zu haben.

VORWORT

Ich bin eine Lügnerin.

Das ist bei mir nicht zwanghaft.

Sondern notwendig.

Ich bin zwei Personen. Keine davon ist besser als die andere, keine Superkräfte, kein geheimnisvolles Schicksal, kein Zwei-Orte-zur-gleichen-Zeit-Mechanismus– aber zwei Personen. Grundverschieden, auch wenn ich eigentlich immer gleich aussehe. Meine körperlichen Merkmale, mein Gedächtnis und mein Name folgen mir. Alles andere– einfach alles– ist seit achtzehn Jahren verschieden. Vierundzwanzig Stunden bin ich das erste Ich. Und innerhalb eines Wimpernschlags werde ich dann für vierundzwanzig Stunden zu meinem zweiten Ich. Jeden Tag, ohne Ausnahme, geht das so weiter…

Ich habe das nie jemandem erzählt. Als ich alt genug war, um dahinterzukommen, dass nicht jeder zwei Leben hat– als ich diesen kleinen Schock erlitten hatte–, wusste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte. Und die Gesellschaft– beide Gesellschaften– wollten es gar nicht wissen.

Als ich ein Kind war, wusste ich nicht, dass ich anders war als alle anderen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es schon immer so war mit diesen zwei Leben, was heißt, dass ich wahrscheinlich zweimal geboren wurde, zweimal ein Baby war. Wenig überraschend, dass ich froh bin, mich nicht mehr daran zu erinnern. Alle vierundzwanzig Stunden den einen Armen entrissen und in den anderen gelandet? Na ja, da spielt es keine Rolle, wie sehr sie dich lieben… Kann man hier wohl von Problemen sprechen?

Übung ist jedoch alles und ich betrachte mich gern als einen Profi. Ich habe die Macken ausgebügelt, die schlimmsten Fallen erkannt und gelernt sie zu vermeiden. Ich komme zurecht. Ich weiß, was für eine Person ich in jedem meiner Leben sein muss, und versuche, mein Gehirn nicht mehr mit den »endlosen Fragen« zu verwirren.

Ich habe zu akzeptieren gelernt, dass ich im einen Leben Erdbeeren mag, während im anderen meine Geschmacksknospen davor zurückschrecken. Ich weiß, dass ich im einen Leben fließend Französisch spreche, aber auch wenn mich die Erinnerung an diese Sprache ins andere Leben begleitet, darf ich das dort nicht tun. Dann gibt es noch einfachere Dinge, die ich mir merken muss, so wie meine fabelhafte kleine Schwester Maddie im einen Leben und meine weniger fabelhaften großen Brüder im anderen.

Vor allem aber versuche ich, nicht darüber nachzudenken. Ich weiß, welches Leben ich bevorzuge. Und jede Nacht, wenn ich mich wie Cinderella von einem Leben ins andere schleiche, stirbt ein sehr kleiner, aber deutlich spürbarer Teil von mir. Das Schlimmste ist, dass sich nichts an meiner Situation je geändert hat. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass meine innere Uhr anders tickt als bei allen anderen. Es gibt kein Schlupfloch.

Zumindest bis jetzt.

1 – Roxbury, Freitag

Ich habe mir heute den Arm gebrochen.

Capri und ich gingen gerade zur U-Bahnstation. Ich kickte eine Coladose vor mir her und verteilte im Vorbeigehen freundliche und vor allem säuerliche Lächeln an die Anzugträger, für die wir ihren Blicken nach schlimmste Hooligans waren. Lustig, wie Klamotten und die großzügige Verwendung von Eyeliner das bewirken können. In meinem anderen Leben würde niemand es wagen, mir derartige Blicke zuzuwerfen. Aber irgendetwas daran verschaffte mir Genugtuung. Mein verwaschener schwarzer Minirock und meine Doc-Martens-Schnürschuhe verhalfen mir zu dem, was ich brauchte.

Meiner Identität.

Capri tänzelte voraus, ihr schwarzes Haar, irgendwas zwischen Dreadlocks und Undefinierbar, hüpfte auf und ab. »Wetten, dass die Jungs schon da sind?«, rief sie über ihre Schulter und fing an zu rennen.

Ich unterdrückte ein Stöhnen, nahm die Coladose auf die Zehenspitzen, kickte sie nach oben und fing sie mit der Hand auf. Dann lief ich ebenfalls los. Oben an der Treppe blieb ich stehen, um die Dose in den Mülleimer zu werfen und dann… und dann blieb ich doch nicht stehen. Ich weiß nicht, ob es sowieso passiert wäre. Aber genau in diesem Moment– einen Fuß in der Luft, bereit, auf die erste der fünfzigundetwas Stufen zu treten– sah ich ihn.

Na ja, ich glaubte zumindest, ihn zu sehen.

Einen kugelbäuchigen Mann mittleren Alters. Gekleidet in einen braungrauen Anzug und mit abgewetzten rotbraunen Schuhen. Er hatte den Ansatz einer Glatze und schwitzte– entweder weil er zu warm angezogen war oder wegen seines Körpergewichts. Er sah anders aus als sonst, aber ich war mir in diesem Moment sicher. Der Typ aus dem Obstladen, flüsterte mein Gehirn.

Es war ein Störfall.

Hin und wieder passierte das und jedes Mal brachte es mich aus dem Konzept.

Mein Fuß fand keinen festen Halt, sondern verfehlte die Stufe und blieb an der Kante hängen. Ich stürzte nach vorne, überschlug mich und machte mich auf dem ganzen Weg nach unten zu einem kompletten Idioten. Buchstäblich Hals über Kopf zeigte ich mindestens ein paar Dutzend Leuten so ziemlich alles, was ich zu bieten hatte.

Als die großartige Freundin, die sie ist, schüttete sich Capri, noch bevor ich zum Halt kam, vor Lachen aus. Kein verschämtes, leises Kichern hinter vorgehaltener Hand, bevor sie sich wieder zusammenriss. Nein, sie hätte sich vor Lachen fast in die Hose gemacht, als sie sich neben mir zu Boden gleiten ließ, während ich damit beschäftigt war, meinen Arm festzuhalten, der sich anfühlte, als könnte er jeden Moment von meiner Schulter abfallen.

Schließlich rappelte ich mich auf, vor allem wegen der Pendler, die grunzende Geräusche von sich gaben, weil sie um uns herumgehen mussten. Capri lachte immer noch; ab und zu hörte sie kurz auf, doch dann rief sie sich offenbar den Moment wieder ins Gedächtnis und lachte sich erneut schlapp.

Himmel. In diesem Moment wünschte ich, ich wäre in meinem anderen Leben. Das war nicht die Art von Ereignis, die in diesem Leben passieren sollte.

»Ich glaube, ich muss in die Notaufnahme«, sagte ich zu Capri, der jetzt erst allmählich klar wurde, dass ich mich wirklich verletzt hatte.

»Oh, Mist. Sorry, Sabine, ich dachte, du wärst okay.«

Ich zuckte mit den Achseln, eine Bewegung, die ich sofort bereute. »Wahrscheinlich nur verstaucht.«

Zum Glück war die Notaufnahme nicht weit entfernt und wir konnten zu Fuß gehen. Bei der Vorstellung, mich mit meinem maroden Arm in eine U-Bahn quetschen zu müssen, grauste es mir regelrecht. Capri schickte Angus, mit dem sie so etwas wie zusammen war, eine SMS, um ihm mitzuteilen, dass wir uns nicht wie sonst nach der Schule auf einen Kaffee treffen würden. Hätte da nicht mein Arm vor Schmerz pulsiert, wäre ich beinahe erleichtert gewesen. Capri und Angus versuchten schon seit einem Monat, mich mit Davis zu verkuppeln. Netter Typ, aber der Funken sprang einfach nicht über.

»Aber lustig war es schon«, beharrte Capri beim Gehen und kicherte immer noch ab und zu, wenn sie sich das Ganze noch mal durch den Kopf gehen ließ. Sie konnte manchmal ein Miststück sein, aber tief in ihrem Inneren war sie in Ordnung. Und sie war in diesem Leben die einzige Freundin, die ich mir hatte erhalten können, vor allem deshalb, weil es ihr nichts ausmachte, dass ich– in ihren Worten– die halbe Zeit irgendwo anders zu sein schien.

Ich warf ihr ein Lächeln zu. »Zum Glück habe ich heiße Unterwäsche an!«

Was natürlich nicht stimmte. Und dank der Tatsache, dass ich meinen Hintern in den Himmel gestreckt hatte, wussten das auch sie und mehr als nur eine Handvoll Bostoner Pendler.

Capri lachte so heftig, dass sie anfing zu japsen. »Klar. Blümchendrucke erfahren gerade ein Comeback.«

Und dann tat mein Arm weh, weil ich ebenfalls lachte. Auch wenn ich Angst hatte, dass irgendein Mistkerl bereits Bilder von meinem geblümten Hintern mit dem iPhone auf YouTube eingestellt hatte.

Gebrochen.

Wenigstens nur das Handgelenk. Aber ich würde die nächsten sechs Wochen aussehen wie ein Katastrophengebiet mit all den Verbänden. Capri hat schon ein komisches, misslungenes fledermausartiges Dings auf den Gips gezeichnet. Sie machte zurzeit ganz auf Goth. Oben an ihren halben Dreadlocks waren ihre schönen blonden Haare schwarz gefärbt und sie stand auch die heißesten Tage in bodenlangen Röcken durch.

Ich blieb gern bei meinem toughen Look. Ich war da nicht so fanatisch wie Capri, sondern begnügte mich damit, akribisch dafür zu sorgen, dass ich nicht so aussah, als könne man mir blöd kommen. Das war wichtig, vor allem in Roxbury, das immer noch in die Kategorie der »dringend zu sanierenden Gegenden« in Bosten fällt. Und obwohl Mom und Dad es bevorzugen würden, wenn meine Röcke zehn Zentimeter länger wären, brachte sie mein Look nicht völlig zum Ausflippen.

Als ich nach Hause kam, war es schon nach neun Uhr abends. Sobald ich die Haustür aufschloss, hörte ich, wie Maddie von ihrem Zimmer auf die Treppe zuhüpfte. Kaum hatte ich die Tür hinter mir zugezogen, kam sie auch schon heruntergepoltert, immer drei Stufen auf einmal nehmend.

»Binie! Binie!« Sie wollte sich gerade von der untersten Stufe in meine Arme stürzen– eine ihrer typischen Aktionen–, als sie den Gips an meinem Handgelenk entdeckte.

»Was ist dir denn passiert?«, rief sie und bremste abrupt.

Für Maddie war ich unerschütterlich. Wahrscheinlich weil ich meistens, wenn ich krank war, so tat, als wäre ich es gar nicht, da ich immer Angst hatte, unabsichtlich eine Überdosis abzukriegen, wenn ich in beiden Welten Medikamente einnahm. Das war nicht einfach gewesen, als ich Mandelentzündung hatte, aber ich hätte mir die Mandeln ja wohl kaum zweimal entfernen lassen können. Und gebrochen hatte ich mir vorher ganz bestimmt nie etwas.

»Schon okay, Mads. Ich habe mir nur das Handgelenk gebrochen, als ich hingefallen bin.«

Sie sah mich bestürzt an, ihre Mundwinkel bebten. Ein sechsjähriges Mädchen, das einen anbetete, so betrübt zu sehen, bereitete mir an diesem Tag die größten Schmerzen.

Ich lächelte albern, extra für sie. »Hey, Süße, sieh dir das mal an!« Ich zog meinen Arm aus der Schlinge und zeigte ihr den Gips und Capris Fledermaus-Dings. Ich drehte meinen Arm, um ihr eine noch unberührte weiße Fläche zu zeigen. »Ich habe die ganze Fläche hier für dich reserviert. Kannst du darauf morgen etwas für mich zeichnen?«

Ihr Blick hellte sich auf. Sie griff nach ihrem langen rotblonden Zopf, der über ihre Schulter hing, und schwankte eine wenig. »Echt? Ich? Das würde dir nichts ausmachen?«

»Hey, du bist die beste Hasen-Zeichnerin, die ich kenne. Glaubst du, du kannst einen von diesen hüpfenden Hasen zeichnen, wie du mir neulich einen gezeigt hast?«

Sie nickte energisch. Ich merkte ihr an, wie sie sich das bereits ausmalte.

»Cool. Ich sorge dafür, dass niemand anderes etwas auf diesen Bereich malt, und morgen Nachmittag gehört er ganz dir. Aber jetzt gehst du besser zurück ins Bett, bevor Mom dich erwischt!« Zwar sah ich aus den Augenwinkeln Mom bereits im Türrahmen der Küche stehen, aber die Erfahrung hatte uns alle gelehrt, dass es einfacher war, wenn ich Maddie dazu brachte, sich zurück ins Bett zu schleichen. Ich rubbelte ihr über den Kopf, und sie schlang ihre Arme um meine Taille, wobei sie sorgsam meine schlimme Seite schonte.

»Ich hab dich lieb, Binie.« Ihre Umarmung zerrte an meinem Inneren. Ich drückte sie ebenfalls. Schlimm waren die Tage ohne sie.

»Bis morgen«, sagte ich leichthin.

Wie oft hatte ich diese Worte schon gesagt. Und jedes Mal insgeheim für mich selbst korrigiert: Bis übermorgen.

Mom stand mit dem Rücken zu mir, als ich die Küche betrat. »Tee?«

»Ja«, sagte ich seufzend und ließ mich auf einen der fleckigen Holzstühle an unserem ramponierten Küchentisch fallen. Unsere alles andere als perfekte Küche passte hervorragend zu unserem Haus, das allmählich aus den Fugen geriet.

Mom füllte Wasser aus einer riesigen Plastikflasche in den Wasserkocher. Es war die, die wir schon seit zwei Wochen in der Küche benutzten. Das Problem bestand nicht darin, dass das Abflussrohr verstopft war; das Problem bestand darin, dass Dad versucht hatte, es zu reparieren. Großer Fehler.

Mom hantierte mit den Tassen herum, zog ihre Lieblingstasse mit der Rose heraus, danach meine bevorzugte Daffy-Duck-Tasse.

»Was ist passiert?«, fragte sie, wobei ihre Aufmerksamkeit weiterhin fast ausschließlich ihrer Tätigkeit galt. Selbst zu dieser späten Stunde war es keine Überraschung, sie in ihrer Arbeitstracht zu sehen, das ergrauende Haar zu einem festen Knoten zusammengefasst, ihre heftig gestärkte weiße Bluse an der schlanken Taille in den Hosenbund gesteckt. Für Mom und Dad war das Erscheinungsbild alles. Vor allem Mom brauchte es, dass ihre Familie reibungslos funktionierte.

»U-Bahn-Treppe«, antwortete ich.

Mit durchgedrückten Schultern machte sie den Tee fertig und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. »Du hättest anrufen sollen.«

Ich rückte meine Schlinge zurecht und war froh, dass ich sie nur ein paar Tage zu tragen brauchte– der Gips, in dem mein Unterarm steckte, war schon schlimm genug. »Du hättest nur darauf bestanden zu kommen, um zu helfen.« Und um das Kommando zu übernehmen, dachte ich. »Es hätte doch nichts gebracht, Maddie aus dem Bett zu zerren, nur um in der Notaufnahme herumzusitzen. Außerdem war Capri bei mir.«

Mom schürzte die Lippen, während sie mir die Tasse reichte. »Welch ein Trost. Sie hat wohl nicht inzwischen die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten einer Haarbürste entdeckt?«

Ich zuckte mit den Achseln und blies auf meinen Tee. »Sie hat eben diesen Look, Mom. Sie ist glücklich damit, wo ist das Problem?«

Mom starrte mich an, als wäre die Antwort auf diese Frage nur allzu eindeutig. Sie würde es vorziehen, wenn ich mit anderen Leuten abhängen würde. Manchmal wünschte ich, ich könnte ihr erzählen, dass ich das auch tat. Ich starrte in meine Tasse, während ich mal wieder darüber nachdachte, dass meine Mom– wenn sie die Wahl hätte– mir wahrscheinlich eher das andere Leben wünschen würde als das hier. Aber solche Gedanken lohnten nicht.

»Ist Dad noch bei der Arbeit?«, fragte ich.

Mom nickte.

Dad öffnete den Drogerieladen dienstags bis samstags bis spät am Abend. Er hatte zwar eine Pharmazeutin eingestellt, bezahlte aber nur ungern Abendzuschläge, weswegen er selten vor Mitternacht nach Hause kam. Die Drogerie wäre ein gutes Geschäft für ihn, wenn sie ihm tatsächlich gehören würde, stattdessen hatten sie einen langwierigen– und unprofitablen– Managementvertrag unterzeichnet. Selbst mit zusätzlichem Personal hatten Mom und Dad ein heftiges Arbeitspensum. Sie bekamen uns eher selten zu Gesicht und noch seltener sahen die beiden sich gegenseitig. Aber sie waren unermüdlich und entschlossen, Maddie und mich auf ein gutes College zu schicken.

Wenigstens etwas, was ich für sie tun konnte. Zweimal zur Schule zu gehen half in Sachen Klugheit ungemein. Letztes Jahr hatte ich– sehr zu Capris Empörung– in Roxbury alle Register gezogen und vor Kurzem sogar ein Teilstipendium für die Boston University abgesahnt.

Die Sache ist nur, dass ich gar nicht so erpicht bin auf dieses ganze College-Ding. Zweimal zur Schule zu gehen ist schon schlimm genug, zweimal College wird total nervig– und Gott weiß, dass ich es in meinem anderen Leben nicht werde vermeiden können, deshalb hatte ich gehofft, es in diesem umgehen zu können. Doch als es dann darauf ankam, konnte ich das Mom und Dad einfach nicht antun. Oder den Zorn ertragen, der darauf folgen würde.

Manchmal habe ich es satt, es in meinen beiden Leben allen recht zu machen. Und bin deshalb frustriert. Und erschöpft. Und… nun ja, eine ganze Menge Dinge, die ich mich bemühe nicht zuzugeben. Das hätte keinen Sinn.

»Wenn du hungrig bist– im Kühlschrank ist noch Kuchen.« Ich schüttelte den Kopf. Wir arbeiteten uns schon eine Woche lang durch den riesigen Schokoladenkuchen, den Mom zu meinem achtzehnten Geburtstag gebacken beziehungsweise massakriert hatte.

»Ich habe vorhin schon etwas davon gegessen«, murmelte ich und sah weg.

»Ich hätte Dr. Meadows benachrichtigen können«, sagte sie, noch immer gekränkt, dass ich sie nicht angerufen hatte.

»Mom, mach dir keine Sorgen. Jetzt ist doch alles okay.« Ich streckte ihr meinen Arm hin und schenkte ihr mein Es-geht-mir-einfach-gut-Lächeln. »Handgelenk gebrochen, Arm im Gips. Jemand anderes hätte auch nichts anderes tun können. In ein paar Wochen ist alles wieder beim Alten.«

Und da dämmerte es mir.

»Shit!«, bellte ich und spuckte dabei Tee in meine gesunde Hand. Ich war so aus dem Konzept geraten durch diesen Störfall, als ich den Obstladen-Typen gesehen hatte, dass ich gar nicht daran gedacht hatte, es könnte ein echtes Problem geben.

»Sabine!«, fuhr mich Mom an.

Das hatten meine beiden Moms gemeinsam: die Regel, dass man nicht fluchen durfte. Aber in dem Moment war mir das egal. Mom konnte von Glück sagen, dass ich das F-Wort nicht gesagt hatte.

»Tut mir leid, Mom. Ich… mir ist gerade nur eingefallen, dass mein Abschlussaufsatz in Geschichte am Montag fällig ist und ich ihn noch nicht fertig habe.« Ich richtete mich auf, um die Lüge zu untermauern. Die Tage, an denen ich mich schuldig fühlte, wenn ich meine Eltern anlog, gehörten längst der Vergangenheit an.

Mom sah mich skeptisch an. »Seit wann machst du freitagabends Hausaufgaben?« Sie deutete auf meinen Arm. »Außerdem bin ich mir sicher, dass dein Lehrer Nachsicht üben wird.«

»Nein, schon gut. Ich bin ja fast fertig damit.« Ich wischte die vom Tee nasse Hand am Spüllappen ab und schnappte mir meine Tasse. »Ich mache ihn gleich fertig, dann muss ich mir nicht das ganze Wochenende darüber Gedanken machen. Ich taumelte mehr, als dass ich ging, durch die Küche und die Treppe hinauf, meine Gedanken überschlugen sich bei dem Versuch herauszufinden, wie genau ich damit jetzt umgehen sollte.

Gebrochener Arm.

Zwei Leben.

Das war noch nie zuvor passiert.

Es war fast zehn Uhr abends.

Shit.

Nur noch zwei Stunden, um einen Plan zu machen!

Ich hasste es, wenn mir die Probleme über den Kopf wuchsen– es bedeutete, dass ich vor dem Wechsel nicht mehr schlafen konnte. Ich spürte bereits, wie meine Handflächen klamm wurden. Es machte mir immer Angst, um Mitternacht wach zu sein.

Auf Zehenspitzen schlich ich an Maddies Zimmer vorbei. Im Moment konnte ich es nicht mit ihr aufnehmen; ich konnte jetzt kein tapferes Gesicht aufsetzen.

Nachdem ich die Kissen auf meinem Bett gestapelt hatte, setzte ich mich hin und legte den Arm auf den Stapel.

»Ich bin die Meisterin meiner eigenen Welt«, skandierte ich vor mich hin. »Ich meistere, was auf mich zukommt. Ich schaffe das.« Aber meine Worte klangen falsch und ließen schnell nach, als die Wahrheit über mich hereinbrach und sich mit eisernen Fängen an mir festklammerte.

Ich habe mir den Arm gebrochen.

ICH. HABE. MIR. DEN. ARM. GEBROCHEN.

»Idiotin!« Mein Magen zog sich vor Angst zusammen, und ich versuchte vergeblich, meine Atmung zu verlangsamen.

Normalerweise hatte ich einen eingebauten Radar für solche Sachen. Was geht und was nicht geht. Wie alles funktioniert. Eigentlich ist es ziemliche einfach. Mein Körper und alles, was dazugehört– Verstand, Erinnerungen–, machen den Wechsel mit. Aber das ist auch schon alles. Materielle Dinge– Kleider, Schmuck, sogar Nagellack– werden zurückgelassen. Das Einzige, was mir bleibt, ist mein Name. Aus Gründen, die ich nicht erklären kann, haben mich beide Elternpaare Sabine genannt.

Fazit: Wenn ich mir im einen Leben die Haare schneiden lasse, werden sie im anderen Leben auch beeinträchtigt sein. Einmal habe ich eine verdeckte Strähne rosa gefärbt, und obwohl die Farbe den Wechsel nicht mit vollzog, waren die Pigmente meiner Haare so beeinträchtigt, dass es in meinem anderen Leben anders aussah– ich habe es nie gewagt, weiter zu experimentieren. Wenn ich im einen Leben krank bin, bin ich in beiden krank. Wenn ich mich allerdings im einen Leben tätowieren lasse– nicht dass ich das vorhätte, sehr zu Capris Enttäuschung–, bin ich mir ziemlich sicher, dass es nur in diesem einen Leben sichtbar wäre. Tinte vollzieht den Wechsel nicht, aber die Schmerzen beim Verheilen wären in beiden Welten zu spüren. Wenn ich mir die Nase piercen ließe, würde das Loch in beiden Leben existieren, der Ring jedoch würde in einem bleiben.

Ich presste meine Finger an die Schläfen. Ich hasste es, über diesen Kram nachzudenken. Das meiste davon war einfach irrsinnig und fühlte sich… falsch an. Als wäre ich irgendwie falsch. Um Fehler zu vermeiden, war ich die ganze Zeit vorsichtig– ich ließ mir die Haare nur schneiden, wenn es sein musste, ich trug es lang und beließ es in seinem natürlichen, langweiligen Braun, wodurch ich nie die Art von Frisur hatte, die eine meiner Welten wirklich gutheißen würde. Ich blieb irgendwo dazwischen, in der Schwebe. In Sicherheit. Dort blieb ich– die ganze Zeit. In Sicherheit. Vorbereitet. Allein.

Ich habe zwei Leben und dennoch bin ich ein Geist.

In weniger als zwei Stunden würde ich in meinem anderen Leben sein. Mit drei sehr große Problemen: Erstens sollte ich dort keinen gebrochenen Arm haben– und dann auch noch ohne Grund. Zweitens: der Gips würde als materieller Gegenstand nicht mit mir kommen. Und drittens würde ich morgen meinen achtzehnten Geburtstag nachfeiern und ein gebrochener Arm würde nicht zu meinem Kleid passen. Ab-so-lut nicht.

Ich lehnte mich zurück, starrte die Farbe an, die von der Decke abblätterte, und suchte nach einer Lösung. Die einzig sinnvolle würde wehtun. Sehr weh. Aber mich die Treppe hinunterzustürzen, wenn ich aufwachte, wäre der einzige Weg, überzeugend vorzugeben, ich hätte dieselbe Verletzung soeben erlitten.

Etwa eine Stunde vor dem Wechsel zog ich mich um, schlängelte mich mit einer Hand aus meinem engen Minirock und wand mich in mein übergroßes Schlaf-T-Shirt. Die Schlinge nahm ich ab; sie war eher ein Hindernis als eine Hilfe. Meine schwarzen Doc Martens ließ ich bis zum Schluss an und zuckte zusammen, als ich mit einer Hand daran zog, um die Schnürsenkel zu lockern, bevor ich meine Füße dazu benutzte, um sie von mir zu schleudern.

Ich war auf Rituale angewiesen, fand Trost in den Mustern, die ich über Jahre hinweg entwickelt hatte. Ich machte es mir im Bett bequem, ignorierte den Schweiß auf meiner Stirn und die Übelkeit in meinem Magen, während ich mich wie immer gegen die Kissen lehnte und dafür sorgte, dass nichts anders wäre als sonst, wenn ich morgen Abend zurückkehrte.

Fast hätte ich es auch geschafft.

Doch als nur noch Minuten übrig waren, wurde mir auf einmal der Mund verräterisch wässrig. Ich musste ins Badezimmer rennen, um mich zu übergeben, um dann wieder zurück in mein Bett zu eilen, bevor es Mitternacht schlug.

Das Letzte, was mir durch den Kopf schoss, war vom Wechsel meiner Welten geprägt: Wie konnte das bloß passieren? Wie kommt es, dass mir so etwas nicht schon früher passiert ist?

2 – Wellesley, Freitag

Ich wusste, dass sich der Wechsel vollzogen hatte.

In diesem Leben schlief ich, deshalb dauerte es trotz meiner lebhaften Gedanken eine Weile, bis mein Körper aufwachte. Es war ein schreckliches Gefühl, als wäre man unter Drogen, während man sich zwingt, die Augen aufzumachen.

In dem Moment, als ich hellwach wurde, setzte ich mich im Bett auf und Panik kroch in mir hoch. Ich hätte es besser wissen sollen. Nachdem ich seit achtzehn Jahren diesen Wechsel vollzog, hätte ich keine solche Angst haben dürfen… hatte ich aber. Jedes. Einzelne. Mal. War ich wie gelähmt.

Ich konzentrierte mich darauf, langsam zu atmen. Meine heile Hand glitt über warme Seidenbettwäsche, bei der nichts darauf hindeutete, dass ich die letzten vierundzwanzig Stunden woanders gewesen war. Nichts und niemand in dieser Welt waren sich dessen bewusst, dass ich sie betrog, dass ich ein anderes Leben lebte. Ohne nachzusehen wusste ich, dass jetzt genau die Uhrzeit war, zu der ich weggegangen war.

Mitternacht… mein ewiger Feind.

Ich hatte alles Mögliche unternommen, um es zu beweisen, um die Wahrheit zu dokumentieren. Als ich fünfzehn war, habe ich mich in den Minuten um Mitternacht gefilmt. Das gab nicht einmal einen Blair-Witch-Moment her. In der einen Sekunde war ich da, in der nächsten hatte ich einen verwirrten Gesichtsausdruck. Ich merkte schon, dass ich in diesem Augenblick etwas anderes an mir hatte, aber da war nichts, wodurch man es jemand anderem hätte beweisen können.

Dann kam die Zeit, in der ich ein paar Sekunden vor Mitternacht ein Streichholz anzündete, um zu sehen, was passieren würde. Das war keine gute Idee. Mein Bett– mit mir darin– wäre fast in Flammen aufgegangen. Ich konnte mich nach dem Wechsel einfach nicht schnell genug zusammenreißen und es ausblasen, bevor die Flamme meine Finger erreichte. Hey– leben und lernen.

Ich schlüpfte aus dem Bett und machte mich auf den Weg zum Badezimmer, um mir das Gesicht zu waschen. Aber mit noch müden Füßen war mein Urteilsvermögen getrübt und der Tollpatsch-Modus setzte ein. Ich stolperte gegen den Türrahmen und mein schlimmer Arm bekam die volle Wucht des Aufpralls ab.

Ich erstarrte und erwartete angstvoll den schneidenden Schmerz, der gleich einsetzen würde. Aber nach ein paar Sekunden, in denen ich wie betäubt dastand, wartete ich immer noch darauf.

»Das kann nicht sein«, keuchte ich und streckte langsam meinen gar nicht mehr so gebrochenen– eigentlich völlig unversehrten– Arm aus und bewegte ihn. Immer wieder ballte ich die Hand zur Faust.

»Das. Kann. Nicht. Sein.«

Am liebsten wäre ich durchgedreht.

Am liebsten hätte ich alle inneren Alarmglocken geläutet und um Hilfe gerufen.

Ich wollte es endlich verstehen.

Nein, das war es nicht. Was ich wollte… es war das, was ich schon immer wollte, nur in einer anderen Verpackung.

Ich wollte, dass das nicht mein Leben war.

Ich wollte, dass das– was immer mich zu diesem Zwei-Leben-Menschen machte– nicht definierte, wer ich war.

Ich presste die Augen zu. »Und du kannst nichts dagegen tun«, schalt ich mich selbst und stieß resigniert den Atem aus.

Ich stolperte in mein Bad, das so groß wie ein Squashfeld war, und übergab mich erneut. Zurück im Bett versuchte ich, ein paar Stunden zu schlafen.

Es war zwecklos.

Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich musste mich zwingen, nicht aufzuspringen und auf und ab zu marschieren. Das ändert nichts, rief ich mir ins Gedächtnis, das ist nur eine Sache mehr, die in diesen überquellenden Geschenkkorb der Seltsamkeiten passt, die mein Leben ausmachen.

Ich konzentrierte mich auf die Vorteile; dieses eine Mal hatte ich einen Freischein bekommen. Es war eine willkommene Erleichterung, dass ich mich nicht in ein paar Stunden die Treppe hinunterstürzen musste.

Nimm es an! Freu dich. Wenigstens sieht das Kleid heute Abend hübsch an dir aus.

Um sieben gab ich das mit dem Schlafen auf und nahm eine ausgiebige Dusche. Danach fühlte ich mich eher wieder wie ich selbst. Na ja, wie dieses Ich jedenfalls– das, das ich in dieser Welt sein musste. Nur um sicherzugehen, bewegte ich mich langsam. Gönnte mir ein wenig zusätzliche Zeit. Normalerweise duldete ich das nicht– armseliges Herumtrödeln–, aber heute nahm ich meine Umgebung bewusster wahr. Mein riesiges Himmelbett mit der rosafarbenen Seidenbettwäsche und den Kissenstapeln. Ich schritt daran vorbei und meine Zehen sanken in den flauschigen cremefarbenen Teppich. Auf dem Weg zu den großen Glastüren ließ ich meine Finger über das üppig lackierte Bettgestell aus Walnussholz gleiten. Ich zog die cremefarbenen Vorhänge auf, befestigte sie sorgfältig mit ihrer Schleife an der Wand und öffnete die Türen zu meinem kleinen georgianischen Balkon.

Zu Hause. Alles ist genau so, wie es sein sollte.

Ich holte tief Luft und saugte die kleinstädtische Luft von Wellesley ein. Das gehörte zu den besten Dingen hier– die saubere Luft. Sie unterschied sich in jeder Hinsicht von Roxbury– sie war dünner, frischer, und dann war da noch dieser Geruch: frisch gemähtes Gras in der Sonne. Ich liebte diesen Duft. Der heutige Tag würde mal wieder typisch sein für Massachusetts: heiß mit wahrscheinlich einem Gewitter am Nachmittag.

Ich hatte gerade die Augen geschlossen, um das alles in mich aufzunehmen, als eine schrille Autohupe mich beinahe aus der Haut fahren ließ.

Ich blickte auf die Einfahrt hinunter. Mein ältester Bruder Ryan stand neben seinem Porsche-Cabrio im Retrostil, einen Fuß im Wagen, den anderen draußen.

»Wenn du mitfahren willst, dann beeil dich. Ich muss zurück ins College«, rief er, und er blickte zu mir hoch, als würde er am liebsten einfach ins Auto steigen und losfahren. Aber bei unserem Donnerstagsdinner mit Dad hatte dieser Ryan angewiesen, mich heute Morgen zur Schule zu bringen, weil mein kleiner Audi zum Reifenwechsel in der Werkstatt war. Was Ryan anbelangte, so erfüllte er seine Familienpflichten, indem er sich pro Monat ein paar Tage zu Hause blicken ließ. Das, und allein das, rechtfertigte offenbar ein überaus großzügiges Taschengeld, das er sinnlos verprasste, während er sich halbherzig durch die Harvard Business School schlug.

»Hallo! Erde an Sabine! Du bist noch nicht mal angezogen«, sagte er genervt.

Ich zeigte ihm grazil den Mittelfinger und schenkte ihm ein eindeutig falsches Lächeln. »Da wirst du wohl einfach warten müssen, Ry. Ich komme runter, so schnell ich es schaffe.« Sobald ich mich von ihm abgewandt hatte, erlosch mein Lächeln. Ich hatte mich wie ein Miststück aufgeführt. Ich wusste nicht genau, wann Ryan und ich in diese Art von Rollenverhalten gerutscht waren, aber irgendwann war es zur Norm geworden. Alles Teil des Programms, den Erwartungen Wellesleys zu entsprechen.

Ich zog mich an und frisierte mich. Als ich fertig war, blickte ich anerkennend in den bodenlangen Spiegel. Einfach, und doch schick. Ein blau karierter Rock mit hohem Bund, der direkt über dem Knie endete, zusammen mit einem weißen Seidenoberteil mit Cap-Ärmeln und grauen Schuhen mit Keilabsatz. Nach ein wenig Puder und einem Hauch Lipgloss schnappte ich mir meine Balenciaga-Tasche und schritt die Marmortreppe ins Foyer hinunter, wo mich meine Mutter erwartete.

Sie sah mir zu, wie ich die letzten Stufen nahm, und wartete dann ab, bis ich eine SMS von Miriam gelesen hatte, die mich zum Grinsen brachte. Als ich ihr schließlich meine volle Aufmerksamkeit schenkte, lächelte sie. »Denk daran, deine Freunde daran zu erinnern, dass heute Abend auf der Party nicht getrunken wird.« Sie hatte einen cremefarbenen Anzug und karamellfarbene Schuhe an, jedes Detail war mit Bedacht gewählt: das natürliche, schmeichelhafte Make-up, die locker hochgesteckten Haare und die erlesenen Accessoires.

»Ja, Mom. Alle wissen, was du davon hältst, wenn Minderjährige Alkohol trinken.« Weshalb alle, die trinken, im Poolhaus herumhängen werden, für den Fall, dass jemand kommt und herumschnüffelt.

Sie lächelte, trat einen Schritt vor und musterte mein Outfit. »Das ist ein hübscher Rock, Liebes. Schottenkaros erleben in dieser Saison in der Tat ein Comeback.« Sie strich mir nicht vorhandene Fussel von den Schultern und betrachtete mich noch einmal nachdenklich von oben bis unten.

»Aber…?«

»Ach, nichts, Schatz. Es ist wirklich süß. Aber du kennst mich doch, ich liebe es, wenn du Grün trägst– das betont deine Augen so schön.«

»Mom, ich trage heute Abend Grün. Ich will es nicht übertreiben.« Ich lächelte sie an, um sie zu beruhigen, und nahm es mir nicht so zu Herzen. Mom war die unsicherste Person, die ich kannte. Nicht nur, wenn es um mich ging, am härtesten war sie zu sich selbst. Ich war mir sicher, dass sie sich heute Morgen mindestens ein Dutzend Mal umgezogen hatte, bevor sie sich für ein Outfit entschied, und wenn ich von der Schule nach Hause kam, hatte sie selten noch dasselbe an. So war sie schon immer gewesen, aber seit Dad uns verlassen hatte, war es noch schlimmer.

Sie nickte zerknirscht. »Du hast recht. Du siehst wunderschön aus. Wie immer. Wir sehen uns heute Abend, alles wird fertig und perfekt sein.«

Ich fummelte am Träger meiner Tasche herum. »Ach… Mom, weißt du noch, wie wir neulich darüber diskutiert haben…«

Sie blickte mich einen Moment verständnislos an, aber dann blinzelte sie und begriff. »Oh, Liebes, ich weiß… du bist jetzt achtzehn und ich habe versprochen, dir mehr Privatsphäre zu gewähren. Ich werde mit Tante Lyndal ausgehen. Sie hat geschworen, mich vom Haus fernzuhalten. Ich will dich nur noch in deinem Kleid sehen und mich vergewissern, dass alles…«

»Perfekt ist«, vollendete ich ihren Satz.

»Ja.«

Ich beugte mich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Wir sehen uns nach der Schule. Ich muss jetzt los.«

Mom blickt mir nach, als ich zur Tür hinausging. Ich machte sie hinter mir zu, damit sie die nächste Szene nicht mitbekam. Als ich die Stufen hinunterging und Ryan mich verächtlich ansah, weil ich ihn so lange hatte warten lassen, kam ein weißer Geländewagen knirschend über den Kies der Einfahrt gefahren. Hinter dem Steuer saß Miriam, meine beste Freundin in dieser Welt. Perfektes Timing.

Ryan beobachtete den Geländewagen, bis er zum Stehen kam, dann blickte er sich mit schmalen Augen zu mir um.

Ich lächelte das Speziallächeln, das nur für ihn reserviert war. »Oh.« Ich klimperte mit den Wimpern. »Sorry, Ry, habe ich vergessen, dir zu sagen, dass mich heute Miriam mit zur Schule nimmt?«

Jetzt zeigte er mir den Mittelfinger, warf sich hinter das Steuer und gab Gas, dass der Kies nur so spritzte.

Einen Augenblick lang fühlte ich mich mies. Doch dann rief ich mir ins Gedächtnis: Das bin ich. Das ist die Person, die ich hier bin. Ich hatte andere Möglichkeiten ausprobiert, aber schon bald festgestellt, dass ich jede meiner Welten wirklich annehmen musste, wenn ich in ihnen funktionieren wollte. Meinen Platz darin akzeptieren. Die Sabine dieser Welt musste sich mit einem zweiundzwanzigjährigen Trottel von einem Bruder herumschlagen, der Ryan hieß– und das war die einzige Möglichkeit, mit ihm fertigzuwerden. Immerhin hatte mich der Typ mal fünf Stunden lang in der Garage eingesperrt, als ich elf war, nur weil er Freunde zu Besuch hatte.

Ich ließ mich neben Miriam auf den Beifahrersitz gleiten.

»Dein Bruder ist echt toll«, sagte Miriam, den Blick auf die Staubwolke gerichtet, die Ryans Auto hinterlassen hatte.

»Na ja, du nennst es toll, ich nenne es ätzend. Er ist einfach nur…« Ein frustriertes Geräusch kam über meine Lippen. »Er ist so egoistisch. Er steht Mom nie bei, er hilft… nie. Alles, was er zu tun braucht, ist, jeden Monat für ein paar Tage zu Hause aufzutauchen. Stell dir vor, er hält es ohne seine Saufkumpane keinen Tag lang aus, deshalb bringt er nächsten Monat einen von ihnen mit.«

»Ooh, ist er süß?« Miriams Gesicht hellte sich auf bei dem Gedanken, etwas fürs Auge zu bekommen.

Ich zuckte mit den Achseln. »Weiß nicht, ist mir auch egal. Alles, was ich weiß, ist, dass ich mich nächsten Monat mit zweien von der Sorte herumschlagen muss.«

Als wir durch das Zentrum der Kleinstadt fuhren, musste ich plötzlich wieder an gestern denken– na ja, an meine Version von gestern. »Hey, kannst du anhalten? Ich… ich wollte mir noch etwas Obst mitnehmen.«

Miriam verlangsamte den Wagen nicht. »Du kannst in der Schule Obst kaufen.«

Mein Unterbewusstsein plagte mich schon ungemütlich, aber bevor ich noch alles durchdacht hatte, öffnete sich mein Mund schon wieder.

»Ja, aber ich will dieses Obst. Halt einfach an. Hier. Einfach vor dem Obstladen.«

Miriam blickte mich an, als wäre ich verrückt. Ich unterzog mich einem mentalen Check-up und ja… es war verrückt. Das gehörte genau zu der Art von Dingen, die ich täglich wie wild zu vermeiden versuchte, und jetzt verfiel ich genau in die Art von Verhalten, für das mich die Leute anstarrten, als wäre ich– nun ja– verrückt.

Mist.

Gerade wollte ich zu Miriam sagen, sie solle es vergessen, aber da machte sie bereits einen Schlenker auf den Parkplatz vor dem Laden.

»Wenn du eine Obstdiät machst, untersteh dich, sie ohne mich zu machen.«

»Oh.« Ich klappte den Mund auf, um ihr zu sagen, dass ich das nicht vorhätte, und da begriff ich, dass sie mir dadurch ein Sicherheitsnetz bot. Ich hörte auf herumzuzappeln und zog eine Augenbraue nach oben. »Wir sind mitten in der Partysaison, Miriam«, sagte ich in einem Tonfall, der ihr mitteilte, dass sie darauf schon hätte vorbereitet sein müssen.

Sie nickte feierlich. »Ich werde genau das essen, was du isst.«

Ich nutzte die Chance und sprang aus dem Wagen.

Im Laden war alles entmutigend normal. Kein Anzeichen dafür, dass irgendetwas anders war als sonst. Dann trat er durch den Vorhang aus bunten Plastikröhrchen, der an der inneren Tür hing: der Obstladen-Typ. Dicklich, zur Glatze neigend und in übergroßen Jeans, die einen unwillkommenen Blick auf seine Po-Falte freigaben, als er sich über einen Haufen Äpfel beugte. Der Typ, dem, seit ich denken konnte, der Laden gehörte.

»Kann ich Ihnen helfen, Missy?«, fragte er und warf mir einen raschen Blick zu, bevor er sich wieder seiner Apfelpyramide zuwandte.

»Oh, ähm, ja. Ein paar Äpfel und Erdbeeren, bitte.«

Er schnappte sich eine Papiertüte. »Wie viel von jedem?«

Ich fühlte mich elend. »Zwei Äpfel und zwei Schälchen Erdbeeren, danke.«

Innerhalb weniger Sekunden hatte er alles in die Tüte gepackt und stand hinter der Kasse.

Als ich zahlte, räusperte ich mich. »Ich… ich glaube, ich habe Sie gestern gesehen. Sie sind aus der U-Bahnstation gekommen… in Boston.«

Er warf mir einen kurzen Blick zu. Befremdet.

»Das kann ich nicht gewesen sein, Missy.«

»Ähm, oh, na ja, hat jedenfalls ausgesehen wie Sie, und ich habe mich nur gefragt, ob Sie mich auch gesehen haben. Sie, ähm, hatten einen hellbraunen Anzug an und sind die Treppe hoch gekommen. Sie, ähm, sind direkt an mir vorbeigegangen.«

Der Obstladen-Typ reichte mir die Tüte, dazu gab es auf Kosten des Hauses noch einen weiteren völlig befremdeten Blick. »Das war ich nicht. Ich habe nicht mal einen Anzug und in der Stadt war ich nicht seit, oh…« Er dachte darüber nach. »Mein letzter Besuch ist mindestens einen Monat her. Muss wohl jemand anderes gewesen sein.«

Ich nickte eifrig. »Ja, ja. Ich war wahrscheinlich… Es wurde gerade dunkel und ich konnte nicht mehr so deutlich sehen.«

»Ein junges Mädchen wie Sie sollte so spät nicht mehr in der Stadt sein. Seien Sie lieber vorsichtig.«

Ich nickte wieder und ging rückwärts aus dem Laden.

Mist.

Ich hätte nie hineingehen sollen.

»Ja.« Ich hielt die braune Tüte hoch. »Danke, ich gehe jetzt besser zur Schule.«

Mein Herz klopfte mir in den Ohren; der trockene, bittere Geschmack in meinem Mund war der vertraute Geschmack der Enttäuschung.

Wen immer ich gesehen hatte, ob es nun er gewesen war oder nicht, er hatte keine Ahnung. Er war nicht wie ich.

Niemand war das.

3 – Wellesley, Freitag

»Noch eine Woche, dann winkt die Freiheit!«, verkündete Miriam, während wir den Flur entlanggingen. Unser Countdown lief schon seit zwölf Wochen. Für mich war er doppelt so lang gewesen, deshalb lächelte ich bis hinter beide Ohren.

»Ich für meinen Teil werde das Beste aus den Ferien machen«, sagte ich und biss mir kess auf die Lippe.

»Du und Dex?«, fragte Miriam und zog eine ihrer perfekt gezupften Augenbrauen nach oben. Miriam hatte lange blonde Haare, die sie stylisch-unordentlich hochgesteckt hatte. Sie hatte ein Faible für zweifelhafte Clips, und heute hatte sie mindestens ein Dutzend davon in ihre Frisur eingearbeitet, alle in unterschiedlichen Pastelltönen. Zusammen mit ihrem blassen Teint, den eisblauen Augen und ihrem heutigen Outfit, bestehend aus einem zartrosa Bleistiftrock und einem cremefarbenen, schulterfreien T-Shirt, sah sie wie eine Fashion-Queen aus.

Ich zuckte mit den Achseln. Miriam hatte »das erste Mal« schon hinter sich mit ihrem Freund Brett und seitdem versuchte ich sie bei jeder Party vom Rücksitz seines BMW zu zerren.

»Ich finde, er hat jetzt wirklich lang genug gewartet. Der Schulabschluss wäre dafür doch ein passender Anlass«, bluffte ich, grinste weiterhin spöttisch und ließ nicht zu, dass mich mein trockener Mund verriet. Nicht dass Dex nicht absolut perfekt gewesen wäre. Und es war auch nicht so, dass »absolut perfekt« nicht genau das war, was ich in diesem Leben wollte. Das funktionierte für mich, machte es mir leichter, die zu sein, die ich war. Es war nur… als er mich küsste, fühlte ich… alles. Und zwar nicht auf gute Art und Weise. Die Form seiner Lippen, die nicht ganz so mit meinen verschmolzen, wie ich es mir erträumt hatte, das raue Kratzen seiner Bartstoppeln auf meiner Haut, die Art und Weise, wie er sich zu mir beugte, dass ich keine Luft mehr bekam, und dass er mich am Hinterkopf festhielt, sodass es kein Entkommen gab. Von der Technik her küsste er zwar nicht schlecht, aber es war einfach nicht so, wie ich es mir vorgestellt hätte mit jemandem, den ich wirklich… Es war nur ein winziger Tick, um den es nicht passte. Wir waren einfach nicht komplett auf einer Wellenlänge. Und dann noch die Art und Weise, wie seine Hände…

Ich schloss die Augen. Ach, was sollte das. Dex war großartig, und er passte in jeder Hinsicht, auf die es ankam, zu mir. Kein Paar war perfekt.

Okay, Dex haute mich nicht gerade vom Hocker. Aber ich hatte mit dieser Entscheidung doppelt so lang gewartet wie alle anderen Achtzehnjährigen und weit länger als die aus dem »einen Leben«. Ich wollte nicht in beiden Leben weiterhin Jungfrau sein. Und wenn ich etwas Besseres kriegen konnte, etwas absolut Umwerfendes, hätte ich es bestimmt inzwischen entdeckt.

In beiden Welten.

»Also…«, begann Miriam, und ihr koketter Tonfall riss mich aus meinen Gedanken. »Heute Nacht?«

»Nein«, sagte ich und warf lässig mein Haar zurück, während alles in mir NEIN! schrie– ich wäre heute Nacht nicht bereit für Sex. »Ich denke an den Abschlussabend. Wir werden zu dem Dinner gehen und ich werde vorher alles arrangieren. Es wird perfekt werden. Und außerdem geht es heute Abend um eine andere Art von Spaß. Wie laufen die Vorbereitungen?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln, da gerade die Dritte im Bunde auf uns zukam.

»Guten Morgen, Ladys«, sagte Lucy. Sie hatte einen Notizblock in der Hand und lächelte uns wissend an. »Habe ich richtig gehört– hat gerade jemand gefragt, wie die Vorbereitungen für den heutigen Abend laufen?«

Ich lächelte zurück und entspannte mich zum ersten Mal an diesem Morgen. Dazu trug Lucy stets bei. Sie stellte keine nervigen Fragen. Sie hielt sich an die lustigen Dinge.

»Ja, da hast du richtig gehört. Wie sieht’s denn aus?«

»Alles fix und fertig, erledigt. Die Jungs sorgen für Getränke. Ich bin für Musik und Deko zuständig. Alle Zusagen und Absagen sind eingegangen. Wir haben die Juniors, die sich gemeldet haben, abgecheckt und zum Bedienen abgestellt.« Sie machte Häkchen auf ihren Notizblock, dann quietschte sie: »Das wird eine legendäre Party heute Abend!«

»Wie viele kommen?«, fragte ich.

»Och… weißt du«, sagte Lucy undeutlich und sah sich auf dem Korridor um.

Ich blieb abrupt stehen. »Lucy, wie viele?«

Miriam stand hinter mir, aber ich spürte, wie sie zusammenzuckte.

Lucy biss sich verlegen auf die Lippen. »Nun ja, die meisten aus dem Abschlussjahr und es könnten auch noch Einladungen an ein paar Freunde von ihnen außerhalb der Schule rausgegangen sein. Du weißt schon– es hat sich herumgesprochen und ich wollte nicht nein sagen.«

Ich starrte sie nur an und stemmte die Hände in die Hüften.

»Achtzig bis hundert.«

Ich starrte sie weiterhin an.

»Okay, allerhöchstens hundertfünfzig!«, sagte sie rasch.

Meine spontane Reaktion war auszuflippen. Ich hatte Mom gesagt, dass es maximal fünfzig werden würden! Doch dann erinnerte ich mich daran, dass sowohl Lucas als auch Ryan nach ihrem Schulabschluss Partys veranstaltet hatten– und sie hatten nicht mal Geburtstag gehabt! Und beide Male war es eine Riesenfete mit Polizei an der Tür und allem Drum und Dran gewesen. Mom hatte es überlebt. Deshalb sammelte ich mich, anstatt auszuflippen, und verdrehte die Augen. »Ich hoffe, ihr habt einen Security-Service.«

Lucy nickte erleichtert. Sie warf ihre dichten braunen Locken zurück, und ein Lächeln erschien auf ihren mit erdbeerfarbenem Lipgloss geschminkten Lippen, die ihre schneeweißen Zähne einrahmten. »Klar doch. Die Jungs wissen schon Bescheid.«

Mit »Jungs« meinte sie unsere jeweiligen Freunde. Genauer gesagt Miriams und meinen– Lucy war noch solo, aber dauerhaft und lustvoll in Noah verknallt.

Wir gehörten nicht zu den Football-Jungs oder den Basketball-Jungs. Unsere Schule arbeitete da zum Glück mit flacheren Hierarchien. Wer mithalten konnte und gut aussah in der Clique, in die er geraten war, konnte dort bleiben. Das System war nicht perfekt– wenn man ein Langweiler war, der nicht unter Leute gehen oder sich schick machen konnte, dann war man eben ein Langweiler und das war’s dann auch. Trotzdem gab es beim Mittagessen so etwas wie eine Sitzordnung, und man setzte Prioritäten, mit wem man eine Fahrgemeinschaft bildete– aber es war besser als in den meisten anderen Highschools.

Und eigentlich waren es Leute wie Dex, die das möglich machten.

Er war klug, fleißig, ein großartiger Sportler und er sah klasse aus– egal, was er anhatte. Jeder wollte am liebsten er sein– oder mit ihm ausgehen– und er war zu allen freundlich. Vor ein paar Jahren hatte er angefangen, Partys zu schmeißen und dazu die ganze Klasse einzuladen– nicht nur die coolen Leute– und alle wurden einfach Freunde. Und dann… hatte er sich mich ausgesucht. Wir waren seit zwei Jahren zusammen und das machte total Sinn. Unser sozialer Status ergänzte sich nahtlos.

Als wir drei das Klassenzimmer betraten, entdeckte ich Dex sofort, da er auf seinem üblichen Platz hinten in der Mitte saß. Ich lächelte und nahm neben ihm Platz.

»Hey, Sabine«, sagte er, wobei er sich zu mir herüberlehnte.

»Hey, Dex.«

Er war wirklich ein gut aussehender Kerl– athletisch gebaut, sandfarbenes Haar und ein Schwindel erregendes Lächeln, das er mit einem solchen Selbstbewusstsein präsentierte, dass das ganze Paket noch attraktiver wurde. Das einzige Problem… wenn ich ihn ansah, fühlte ich es einfach nicht. Was immer es war.

Einen Teil davon würde ich nie ganz beheben können. Tatsache war, dass Dex achtzehn geworden war. Sein Leben war bisher glatt verlaufen und der Rest davon würde sich ebenso glücklich entwickeln. Und ich… na ja, wenn es mich nur ein Mal gäbe, wäre das in Ordnung, aber ich war zweimal achtzehn geworden, und mein Leben war… kompliziert. Im Endeffekt würde ich es zwar nie tun, würde nicht einmal davon träumen… Aber falls ich je in Erwägung ziehen würde, jemandem von meiner abgefahrenen Existenz zu erzählen, dann ganz bestimmt nicht Dex.

»Was ist los? Dein Gesicht ist ganz angespannt«, flüsterte Dex und sah mich neugierig an.

Ich zwang meine Stirn dazu, sich zu entspannen, und schob diese Gedanken beiseite. Normalerweise gelang es mir besser, sie in Schach zu halten. »Nichts. Mir ist nur gerade eingefallen, dass ich noch vor heute Abend meine neuen Schuhe in der Stadt abholen muss.« Lügen, Lügen, Lügen.

Dex lächelte und kaufte mir das nur allzu leicht ab. Aus irgendwelchen Gründen machte mich das wütend. Ich wandte meine Aufmerksamkeit von ihm ab und tat so, als würde ich mich auf den Unterricht konzentrieren, damit ich nicht mehr mit ihm reden musste.

Ich hätte mir nicht so viel Zeit einräumen sollen, ins Leere zu starren. Meine Gedanken schweiften jetzt umher, und ich ertappte mich dabei, wie ich meinen nicht gebrochenen Arm anstupste. Und dann ging das mit den Fragen los…

Hatten sich die Regeln geändert?

Nein. Das musste eine einmalige Angelegenheit sein. War es eine einmalige Angelegenheit?

Würde mein Arm gebrochen sein, wenn ich in mein anderes Leben zurückwechselte?

War das ein Störfall, der vielleicht nur einen Tag dauerte?