Ein Traummann zum Dessert - Gabriele Ketterl - E-Book

Ein Traummann zum Dessert E-Book

Gabriele Ketterl

0,0

Beschreibung

Kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag ähnelt Sophias Leben einem Scherbenhaufen: Ihr Freund Stefan betrügt sie mit seiner blutjungen Assistentin – und das, obwohl sie ihm kurz zuvor einen romantischen Heiratsantrag gemacht hat. Was nun? Arsen (für ihn) oder Flucht (für sie)? Sophia wählt nach reiflicher Überlegung die Flucht und taucht vorübergehend bei Freunden im sommerlichen Venedig unter. Dass sie in der verzauberten Stadt innerhalb kurzer Zeit zwischen zwei atemberaubenden Männern steht, hätte sie niemals vermutet. Doch sowohl Conte Ariano als auch der junge Romano, der ihr bei der ersten Begegnung etwas unheimlich erscheint, verwirren sie. Zu allem Überfluss steht urplötzlich Stefan vor der Tür und legt ihr ein Angebot zu Füßen …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 407

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kurzbeschreibung:

Kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag ähnelt Sophias Leben einem Scherbenhaufen: Ihr Freund Stefan betrügt sie mit seiner blutjungen Assistentin – und das, obwohl sie ihm kurz zuvor einen romantischen Heiratsantrag gemacht hat.Was nun? Arsen (für ihn) oder Flucht (für sie)? Sophia wählt nach reiflicher Überlegung die Flucht und taucht vorübergehend bei Freunden im sommerlichen Venedig unter. Dass sie in der verzauberten Stadt innerhalb kurzer Zeit zwischen zwei atemberaubenden Männern steht, hätte sie niemals vermutet. Doch sowohl Conte Ariano als auch der junge Romano, der ihr bei der ersten Begegnung etwas unheimlich erscheint, verwirren sie.

Zu allem Überfluss steht urplötzlich Stefan vor der Tür und legt ihr ein Angebot zu Füßen …

Über die Autorin:

Gabriele Ketterl wurde in München geboren, wo sie auch heute wieder mit ihrer Familie lebt.Nach dem Gymnasium folgte ein Studium der Amerikanistik und Theaterwissenschaften an der Ludwig-Maximilians- Universität, München.Inspiriert durch zahlreiche Auslandsaufenthalte (Los Angeles, London, Edinburgh, Rom, Madrid, Kanarische Inseln, die sie zwei Jahre nicht mehr losließen …) entstanden erste Kurzgeschichten.Mit dem ersten Kurzroman für Erwachsene „Mitternachtsflut“ gelang ihr 2012 eine romantische Liebeserklärung an ihre zweite Heimat Teneriffa.Sie ist mittlerweile u.a. Verfasserin von Kinderbüchern, Kurzgeschichten, Fantasy Romanen, Romantic History und diversen anderen.

Weitere Titel der Autorin bei Edel Elements

Puerto-de-Mogán-Reihe

Allein geht's besser ( Puerto-de-Mogán-Reihe 1)Tapas, Träume und ein Macho (Puerto-de-Mogán-Reihe 2)Paradies im zweiten Anlauf (Puerto-de-Mogán-Reihe 3)

Gabriele Ketterl

Traummann zum Dessert

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2019 by Gabriele Ketterl

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Ashera Agentur

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart

Lektorat: S. Lasthaus

Korrektorat: Mandy Linde

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-233-8

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Berlin, Juli 2016

1.

„Also, mal so janz aus Neugierde, watt wird dit denn? Auswandern? Australien? Mal so eben umme janze Welt?“ Keuchend und prustend wuchtete der bemitleidenswerte Taxifahrer Sophias wahrlich gigantischen Reisekoffer in den Wagen.

Es war zwar nicht so, dass sie ihn nicht bedauern würde, aber dabei konnte sie dem Mann leider nicht helfen. „So was in der Richtung. Nur nicht ganz so weit.“ Ihr Bedürfnis nach Konversation war gerade wenig ausgeprägt.

Der Taxifahrer schien das nicht krummzunehmen. „Na, watt soll’s, Frauen und kleenet Jepäck, wa? Na, dann fangen wa doch mal mit dem Flughafen an, richtig?“ Lächelnd hielt er ihr die Hintertür auf.

„Danke, genau da will ich hin.“

„Hab ick mir doch fast jedacht.“

Sophia glitt mit einem erleichterten Seufzen auf den Rücksitz, zupfte die weiße Bluse zurecht und versuchte, sich in der Scheibe zu erkennen. Was hatte sie eigentlich an? Himmel, sie sollte sich wirklich langsam wieder ein wenig auf das konzentrieren, was sie tat, auch wenn es verdammt schwerfiel. Na ja, Jeans, besagte weiße Bluse, hellbraune Wildlederslipper und dazu die dünne braune Leinenjacke. Das ging fast schon als passendes Ensemble durch. Ihre langen, rotbraunen Haare waren zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Styling war heute definitiv nebensächlich gewesen. Sie stützte den Ellbogen an der Wagentür ab und sah hinaus auf die vorüberziehenden Straßen, Menschen, Autos und Fahrräder. Das alles verschwamm vor ihren Augen zu einer einzigen wabernden Masse, aus der sich, sehr zu ihrem Leidwesen, schon wieder ziemlich deutlich die Ereignisse der vergangenen Nacht schälten.

Stefan, der Mann, mit dem sie – eigentlich – ihr Leben hatte verbringen wollen, arbeitete seit Wochen hart für den neuen Auftrag, den er auf Biegen und Brechen für die Agentur an Land ziehen wollte. Natürlich unterstützte sie ihn, wie immer, was auch sonst? Sie waren nicht nur als Paar ein eingespieltes Team, sondern auch im Job. Seine Kampagnen waren perfekt durchdacht, strukturiert und zielorientiert. Zusammen mit ihrer Kreativität und ihrer Erfahrung war das Team Weißenfels-Hauser derzeit auf dem Markt beinahe unschlagbar. Klang vielleicht ein wenig überheblich, entsprach aber, betrachtete man die Erfolge, durchaus den Tatsachen. Die Ideenjäger, die Agentur, in der Stefan angestellt war und für die sie als Freelancerin regelmäßig Aufträge erledigte, war derzeit die erfolgreichste Werbeagentur im kompletten Bereich Ost.

Sophia rutschte noch ein wenig tiefer in ihren Sitz und lehnte ihren schmerzenden Kopf an das Rückenpolster.

Gestern, bei einem unverschämt schönen Sonnenuntergang, war ihr Fotoshooting in Friedrichshain, in einem Abrisshaus mit diesem speziellen, morbiden Charme, nicht nur sehr unterhaltsam gewesen, sondern auch schneller vorüber als geplant. Die leicht durchgeknallten Musiker, die sie ablichten sollte, erwiesen sich als ausgesprochen nette, umgängliche Vollprofis, mit denen die Arbeit Spaß machte. So konnte sie schon um kurz nach neun Uhr ihre Ausrüstung einpacken und sich beschwingt auf den Heimweg machen.

Da das Haus, in dem sich die Ideenjäger samt ihren Büros einquartiert hatten, nur ein paar Ecken entfernt lag, entschloss sich Sophia, Stefan zu überraschen und ihn, da ihr Magen lautstark knurrte, zu ihrem Lieblingsitaliener auf der anderen Straßenseite zu entführen.

Stefan arbeitete so viel und so lange, dass ihm eine Auszeit sicher gelegen käme. Sie fand in dem fast verlassenen, dreistöckigen Haus, in dem einstige Lagerflächen gekonnt in moderne, hippe Büroräume verwandelt worden waren, auch im Halbdunkel ihren Weg zu Stefans Büro. Es lag am Ende des langen Flurs in der obersten Etage.

Tja, wie auch immer man Arbeit definieren mochte, auf jeden Fall arbeitete er. Hart, schweißtreibend und mit, wie sie es mehr oder weniger laienhaft einschätzte, optimalem Einsatz. Sein breiter, ausladender Schreibtisch, von allen – zumindest in diesem Augenblick – sinnlosen Dingen wie Arbeitsmaterial befreit, bot die passende Grundlage für das, was er mit einer schätzungsweise zwanzig Jahre alten, sehr blonden Frau praktizierte.

Ihr eigenes Liebesleben kränkelte ja nun seit einiger Zeit etwas. Nicht, dass es komplett tot gewesen wäre, nein, er mühte sich redlich. Um ein Haar hätte sie bei diesem Gedanken gelacht, obwohl ihr vielmehr zum Heulen zumute war. Sich hinter dem breiten, hölzernen Türrahmen verbergend, überlegte sie angestrengt, wie nun eine möglichst theatralische Reaktion ihrerseits aussehen könnte. Eine ausgesprochen schwere Frage, insbesondere, da sich statt eines vernünftigen Drehbuchs fortwährend neue Details der Szenerie in ihr Bewusstsein drängten. Alleine dieses Nichts von einem knallroten Slip, das da höchst dekorativ über Stefans Sessellehne baumelte, lenkte sie schon enorm ab.

Sophia selbst war in Sachen Dessous eher der Typ schlichte Eleganz.

„Ja, du bist so gut, so unfassbar gut, Stefan, so gut.“ Nun ja, besonders kreativ war Blondie ja gerade nicht. Offenbar war sie schon mal nicht aus der Textabteilung und falls doch, dann gute Nacht Ideenjäger! Was sollte das hier eigentlich noch werden? Leider folgten keine weiteren, kreativen Ergüsse.

Nach ein paar Minuten, in denen sie den Blick nicht von dem skurrilen Schauspiel auf der Tischplatte abwenden konnte, entschied sie sich für geordneten Rückzug. Angesichts der Umstände und der banalen Tatsache, dass sich ihre Kreativität in Sachen Dramaqueen offensichtlich in Luft aufgelöst hatte, schien ihr das die einzig praktikable Möglichkeit.

Wie sie nach Hause gelangt war, entzog sich – auch langfristig – ihrer Kenntnis, was sie im Nachhinein geringfügig beunruhigte. Kaum in ihrer gemeinsamen Wohnung angekommen, war der Drang, erst einmal alles zu zertrümmern, nicht so einfach in den Griff zu bekommen. Daher musste als Erstes ein kaltes Pils für ein wenig Abkühlung sorgen.

Wenn sie doch nur gewusst hätte, wohin mit ihrem Zorn und ihrer ja schließlich gerechtfertigten Aggression, doch selbst in diesem Moment war da diese ruhige Stimme der Vernunft. „Wenn du jetzt das Geschirr zerdepperst, stehst du nachher inmitten der ganzen Scherben, lass dir was Sauberes einfallen!“

Sauber? Arsen? Eine durchaus erwägenswerte Möglichkeit, doch leider waren ihre Arsenvorräte wohl gerade auf ein absolutes Minimum geschrumpft. Nein, das war leider, wenn auch durchaus akzeptabel, nicht der Weisheit letzter Schluss. Kaum fiel ihr Blick auf die wunderschöne, handgearbeitete Maske, die sie von ihrem letzten Kurzbesuch bei ihrer Freundin Saskia mitgebracht hatte und die von Stefan als „extremst kitschig“ bezeichnet worden war, öffnete sich unvermittelt ihr geistiger Vorhang:

Venedig!

Natürlich, warum war sie nicht sofort darauf gekommen? Nichts wie weg! Wobei das Häuschen, das Saskia und ihr Lebensgefährte Maurizio bewohnten, schon arg klein war. Außerdem war sie doch erst vor … Sekunde einmal … waren das wirklich schon wieder vier Jahre, seit sie die beiden besucht hatte und durch Venedig gebummelt war? Falsch, gebummelt waren! Ihre erste gemeinsame Reise mit Stefan. Ach Mist, musste das jetzt sein? Sie erinnerte sich bestens. Stefan fand Venedig zwar ganz nett aber auch ziemlich heruntergekommen. Gut, sie war da gänzlich anderer Meinung, denn das war der Charme der Jahrhunderte – das war einfach die Patina der Geschichte, kein Dreck. Stefan fühlte sich in Singapur oder Hongkong wohler als in den Gassen Venedigs. Umso besser, dann würde er ihr wohl kaum folgen … wahrscheinlich. Jetzt erst einmal logisch denken und möglichst viel Abstand zwischen ihn und sich selbst bringen, um sich darüber klar zu werden, wie es weitergehen sollte.

Tausendeinhundert Kilometer waren da ein guter Anfang, wie sie fand.

„Tja, meine Dame, da haben wir wohl fünf Kilo zu viel.“

Sophia sah an sich hinunter, blickte erneut den netten Bodensteward hinter seinem Counter an und erklärte lächelnd: „Finden Sie? Und ich dachte, meine Figur wäre ganz akzeptabel.“ Gott sei Dank! Zumindest ihre Schlagfertigkeit war also wieder im Anmarsch.

Der junge Mann versuchte nach Kräften, die Contenance zu wahren, versagte jedoch nach einigen Sekunden kläglich. „Der war gut, richtig gut. Und lediglich, weil die Maschine heute, mitten unter der Woche, nur zu zwei Dritteln gebucht ist, drücke ich jetzt alle Augen zu. Zwei Kilo sind im Ermessenspielraum der Airline und drei gehen als Kreativitätsbonus durch.“

Sophia strahlte ihn an, so gut sie das heute konnte. „Vielen Dank, das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.“

Er reichte ihr die Boardingkarte zurück, wies ihr den Weg zum richtigen Gate und wünschte mit charmantem Lächeln einen guten Flug.

Ging doch! Folglich konnte man sogar im hohen Alter von knapp dreißig noch punkten, auch wenn man inzwischen schon verflixt erfindungsreich werden musste. Sophia passierte die Kontrollen, kaufte sich im Duty-Free-Bereich ein überteuertes Hochglanzmagazin und einen noch teureren Milchkaffee, setzte sich in eine möglichst entlegene Ecke des Wartebereichs und versuchte zum wiederholten Mal ihre Gedanken zu ordnen.

Das Telefonat mit Saskia am vergangenen Abend war so verlaufen, wie es zu erwarten gewesen war. Mit der ihr eigenen Bodenständigkeit und Logik analysierte Saskia die Situation.

„Der Kerl ist doch das Letzte, vor allem nach dem, was du vor drei Tagen für ihn abgezogen hast. Du packst natürlich sofort deine Sachen und kommst hierher. Dieser Volltrottel, typisch Y-Chromosom. Du buchst jetzt auf der Stelle einen Flug, ich kann dich zwar nicht abholen, da wir morgen bei Maurizios Tante sind, aber das ist kein Problem. Unsere Adresse kennst du, der Schlüssel liegt unter dem großen Blumentopf mit dem Basilikum gleich rechts neben der Tür. Ich freu mich auf dich.“

Saskia war kein Freund des langen Überlegens. „Nägel mit Köpfen“ entsprach schon eher ihrer Devise. So wie damals, als sie kurz vor dem Abschluss das Studium schmiss, um Maurizio nach Venedig zu folgen. Auf die Frage „Innenarchitektur oder Liebe“ gab es für Saskia nur eine Antwort. Liebe. Und entgegen aller damaligen Unkenrufe hielt diese Liebe noch immer.

Nachdenklich rührte Sophia in ihrem Kaffee. Fünf Jahre war sie mit Stefan zusammen, fünf Jahre, in denen sie sich so viel zusammen aufgebaut hatten. Traumwohnung, Traumurlaube, Traumauto, Traumjob … nun ja, bei so viel Traum hätte sie eigentlich damit rechnen müssen, eines Tages aufzuwachen. Wenn dieses Aufwachen nur nicht so verflucht weh tun würde. Allerdings war sie seit der vergangenen Nacht richtig wach. Das lange Telefonat mit Thilo, ihrem einzigen Vertrauten bei den Ideenjägern,war mehr als aufschlussreich gewesen. Thilo, mit seinen fast vierzig Jahren einer der Ältesten im Team, war ihr von Anfang an ein treuer und guter Berater gewesen. Wo Stefan eher Sturm und Drang vertrat, war Thilo das überlegende, abwägende Element. Damit hatte er ihr zu Anfang nicht selten den Hintern gerettet. Dank Thilo war es ihr gelungen, die Vorstellungen der Chefetage stets perfekt umzusetzen.

Warum er beim letzten Firmen-BBQ so schweigsam gewesen war, wusste sie seit vergangener Nacht auch. Blondie war bei Weitem nicht Stefans erster liebestechnischer „Nebenjob“. Nur zögerlich – und das nicht, um Stefan zu schützen, sondern weil er ihr nicht weh tun wollte – rückte Thilo mit der Wahrheit heraus. Grob geschätzt kam er auf acht Praktikantinnen, Sekretärinnen und – was besonders delikat war – Kundinnen. Nun, da die Katze aus dem Sack war, sah Thilo keine Notwendigkeit mehr, etwas zu verschweigen. Giftmord rangierte nach diesen Enthüllungen in ihren Überlegungen im oberen Bereich der Möglichkeiten. Insbesondere, da Thilo zusicherte, sie tatkräftig bei der Entsorgung der Leiche zu unterstützen.

Wie konnte sie dermaßen blind gewesen sein? Auf beiden Augen wohlgemerkt! Die Antwort war relativ einfach. Durch die viele Arbeit, die ja so ganz nebenbei auch noch Spaß machte, war ihr keine Zeit für Überlegungen geblieben. Wann bitteschön hätte sie misstrauisch werden sollen? Stefan war immer hervorragend vorbereitet gewesen. Aus dem Büro brachte er fertige Präsentationsmappen mit, rief zwischendurch immer wieder an, überraschte sie mit spontanen Wellnessurlauben und Einladungen in edle, teure Restaurants.

„Sophia, denk jetzt mal nach, bitte. Ohne dich ist er in der Agentur nur die Hälfte wert.“ Thilos Statement hatte so viel mehr beinhaltet als nur den Umstand, dass sie ihren Job gut machte. Natürlich war es Stefan daran gelegen, sie bei Laune zu halten. Eindeutig mit Erfolg, denn bis vergangene Nacht hatte sie tatsächlich nichts bemerkt.

Die zweite Tasse Kaffee half, ihren Koffeinlevel einzupendeln, und das Denken klappte noch besser.

Nichts aufgefallen? Wie man es nahm. Wenn aus drei Mal pro Woche Sex irgendwann zwei Mal pro Monat wurde, sollte man eigentlich stutzig werden. Warum war sie es denn dann nicht geworden? Was war nur los mit ihr? Mit Scheuklappen durch die Welt zu laufen war doch nicht ihre Art gewesen und nun war es dennoch so weit gekommen? Das musste sich ändern, und zwar flott.

Mit dem letzten Schluck ihres Muntermachers kam die Durchsage, dass sich der Flug nach Venedig leider um voraussichtlich eine Stunde verzögern würde – wegen technischer Probleme der Maschine. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

Nach eineinhalb Stunden war Sophia beim vierten Kaffee angelangt und kannte die Kolumne über geistige Fitness im Alter auswendig. Immerhin stellte die freundliche Stimme aus dem Lautsprecher nun in Aussicht, dass das Boarding für den Flug nach Venedig in zwanzig Minuten beginnen könne. Also trank sie aus, hängte ihre Handtasche über die Schulter, klemmte sich das Magazin unter den Arm und verzog sich auf die Toilette. Das war nötig, um eventuell notwendige Restaurierungsarbeiten an ihrer Erscheinung vornehmen zu können, bevor sie im Flieger saß und die knackigen Italiener sie zu Gesicht bekämen.

Vor dem langen Spiegel in der Damentoilette musterte sie sich erst einmal kopfschüttelnd. Knackige Italiener? Sag mal, hast du sie noch alle? Sogar dein eigener Kerl rührt dich kaum mehr an und du machst dir noch Hoffnungen?

Wobei. Eigentlich war ihr Spiegelbild, das ihr zweifelnd entgegenblickte, gar nicht so übel. Die gut schulterlangen, rotbraunen Haare waren tatsächlich noch ohne Grau, die grünen Augen noch nicht von Sorgenfalten überschattet und dem Mund fehlte auch noch der gefürchtete Faltenwurf. Gut, die Produkte, die sie sich regelmäßig ins Gesicht schmierte, kosteten auch ein kleines Vermögen, irgendwie musste sich das ja bemerkbar machen.

Vor längerer Zeit hatte Stefan einmal die Bemerkung fallen lassen, ihr Lächeln sei unbezahlbar – er hatte ja keine Ahnung, wie nah das der Realität kam.

Sie zog sich den schwarzen Haargummi von ihrem Pferdeschwanz und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare. Der halblange Pony fiel ihr in die Stirn und Make-up kaschierte die tiefen, dunklen Augenringe recht passabel. Grundgütiger. Eine Nacht ohne Schlaf und sie sah aus wie Draculas Schwester, wie hatte sie das denn früher gemacht? Nächtelang feiern, nach Hause, duschen, Kaffee oder je nach körperlichem Befinden eiskalte Cola und ab in die Uni. Dabei auszusehen wie das blühende Leben war auch möglich gewesen. Und nun? Thilos Frau Silvia hatte das an ihrem Vierzigsten recht treffend erkannt: Altwerden ist nichts für Weicheier. Sie hatte ja so Recht!

Mit viel Bedacht zog sie sich die Lippen mit kupferfarbigem Lippenstift nach und tupfte ein wenig Gloss darüber. Dann noch ein Hauch Rouge und etwas Puder, sah doch ganz nett aus. Für das Malheur unter den Augen wäre Camouflage eine gute Lösung, aber das befand sich nicht in ihrem Notfallset. Sie schnitt sich eine leicht genervte Grimasse, packte ihre Beauty-Utensilien wieder ein und machte sich auf den Weg zum Gate.

2.

Tatsächlich, man mochte es kaum glauben, saß sie eine knappe halbe Stunde später auf ihrem Fensterplatz in der Maschine zum Flughafen Marco Polo in Venedig. Zu ihrem Leidwesen entpuppte sich der erhoffte knackige Italiener neben ihr als gestresste Mutter zweier Kinder, was sie dazu veranlasste, sich mit entschuldigendem Lächeln die Kopfhörer ihres iPods in die Ohren zu stopfen. Diskussionen über Kindererziehung standen gerade nicht auf ihrer Wunschliste.

Ach ja, ihre Wunschliste. Lang war sie gewesen, und das schon während sie noch in München Grafik und Design studiert hatte. Damals siegte stets ihr Optimismus und so gelang es ihr tatsächlich, nach dem erfolgreichen Studium den Ausbildungsplatz bei Mick Forman zu ergattern. Eineinhalb Jahre unter der Fuchtel des Altmeisters der Fotografie vermittelten ihr Einblicke in eine Welt voller Techniken, Tricks und Kniffe, die sie selbst kaum hätte erlernen können und wenn, dann nur in jahrelanger Arbeit. Schon während der Ausbildung war sie Stefan über den Weg gelaufen, der beruflich in München war. Sich Hals über Kopf in den ebenso attraktiven wie eloquenten Mann zu verlieben war so einfach gewesen. Stefan mit seinen blonden Wuschelhaaren, den blauen und – zumindest damals – unternehmungslustig blitzenden Augen und dem durchtrainierten Körper war aber auch ein Hingucker. Von da an ging es stetig bergauf, vor allem beruflich. Eigentlich war sie immer der Meinung gewesen, dass das auch im privaten Bereich so war. Seit vergangener Nacht musste sie hier wohl geringfügig umdenken.

Die Maschine hob ab und flog eine letzte Runde über Berlin. Sophia erhaschte einen Blick auf den belebten Kudamm und den Grunewald. Wann sie wohl dort wieder ihre Joggingrunden drehen würde? Am Morgen war sie extra früh aufgestanden, um nicht in der Wohnung zu sein, wenn Stefan losmusste. Heute war Lagebesprechung in der Agentur, das hieß, Punkt neun Uhr mussten alle anwesend sein. Gute Ausgangsposition für ihr Vorhaben!

Schon letzte Nacht war alles, von dem sie auch nur annähernd glaubte, Verwendung dafür zu haben, in ihrem riesigen Rollkoffer gelandet. Normalerweise packte sie sehr ordentlich, aber dafür hatten gestern einfach Zeit und Nerven gefehlt. Wie hätte sie ihre Aktion auch erklären sollen, falls Signore Casanova doch vor Mitternacht nach Hause gekommen wäre? So waren der fertig gepackte Koffer im Keller und die Reisetasche unter ihrem Bett, als Stefan nach ein Uhr in der Nacht in die Wohnung geschlichen kam. Sich schlafend zu stellen war ihr ungeheuer schwergefallen. Eigentlich wäre sie ihm liebend gerne an die Gurgel gesprungen, das wäre jedoch ihren schönen Plänen gewiss abträglich gewesen.

Um kein Risiko einzugehen, war sie schon vor sieben Uhr zu ihrer Joggingrunde aufgebrochen. Es wurde eine ausnehmend lange Runde, denn irgendwie musste sie die eineinhalb Stunden, bis er auch sicher die Wohnung verlassen haben würde, ja totschlagen.

Es gelang gut, vor allem, da sie ihrem Ärger, ihrem Frust und der noch immer latent vorhandenen Mordlust so ein wenig davonlaufen konnte.

Als sie schweißgebadet und atemlos, aber mit wesentlich besserer Laune zurückkam, war Stefan erwartungsgemäß bereits weg. Noch vor zwei Jahren hätte er ihr wenigstens eine Nachricht hinterlassen, ein paar nette, liebe Worte – jetzt machte er nicht einmal mehr Kaffee. Nach einer ausgiebigen Dusche hatte sie fertig gepackt und wollte sich dann – pflichtbewusst wie immer – an die für den Folgetag fällige Präsentationsmappe setzen. Gerade noch rechtzeitig kam ihr in den Sinn, dass das eindeutig zu viel des Guten wäre, daher verwandte sie ihre Kreativität stattdessen auf ein besonderes Kunstwerk. Mit einer Riesentasse heißer Schokolade – ein wenig Nervennahrung musste erlaubt sein – setzte sie sich an den Küchentisch und zeichnete ein sehr lebendig gestaltetes Bild der Szene von letzter Nacht. Talent hatte sie schon immer und mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch wurde es gleich noch einmal besser. Sie verwendete wirklich viel Liebe aufs Detail, so fehlte auch der rote Slip nicht und selbst Stefans leicht verkniffenes Gesicht gelang ausnehmend gut. Nach etwa einer Stunde war sie sehr zufrieden mit dem Ergebnis gewesen. Sogar die Mühe, einen passenden Rahmen für das Kunstwerk zu finden, hatte sie sich noch gemacht. So stand nun diese ausnehmend gut gelungene Malerei neben der unvollendeten Mappe auf dem Tisch in der Küche. Es gelang ihr auch noch, ihren Verlobungsring sehr dekorativ in diesem anmutigen Ensemble zu drapieren.

Schade eigentlich, dass sie Stefans Gesicht nicht würde sehen können, wenn nicht nur die Mappe unfertig herumläge, sondern auch sie selbst nicht aufzufinden sein würde. Einmal ganz zu schweigen von der wirklich plastischen Darstellung seiner nächtlichen Überstunden.

Um den schönen Ring tat es ihr ein wenig leid. Um ihn zu bekommen, hatte sie einiges auf sich genommen. Doch daran wollte Sophia gerade nicht denken, der Heiratsantrag war ein Kapitel, das sie ungern auch noch aufschlagen wollte.

Dankbar nahm sie das kalte Tonic entgegen, das die Stewardess ihr reichte. Drei Euro fünfzig waren für grob vier Schlucke Tonic zwar glatter Wucher, doch die latenten Kopfschmerzen wurden langsam störend und Tonic half ihr meistens. Neugierig blickte sie aus dem Fenster und stellte fest, dass sie bereits die Alpen überquerten. Gut, dass Venedig nicht am anderen Ende der Welt lag, ein langer Flug wäre sicher das Letzte, das sie heute noch durchgestanden hätte.

Während die Dame neben ihr wort- und gestenreich ihre Kinder für die Landung fixierte, genoss Sophia den Blick auf die sanften Hügel Venetiens. Sie liebte diese Gegend schon immer und der Vorteil von München, der Stadt, in der sie studiert hatte war seine Lage als nördlichste Stadt Italiens. Von Berlin, ihrer neuen Heimat, aus fuhr man leider nicht mal eben an den Gardasee zum Frühstücken.

Es war bereits dunkel, als sie landeten, und ein Blick auf ihr Handy zeigte an, dass es bereits halb elf war. Satte zwei Stunden zu spät, doch was sollte es? Saskia und Maurizio waren in Bologna und so musste niemand auf sie warten. Die zwei Stunden machten nun auch nichts mehr aus.

Dass sie damit gründlich falsch lag, dämmerte ihr spätestens, als sie am Hafen aus dem Zubringerbus stieg. Nicht nur, dass sie erst einmal einen Schalter für die Fähre zum Markusplatz suchen musste, da der am Bahnhof bereits geschlossen hatte, nein, auch die dort ausgehängten Pläne sahen wenig ermutigend aus. Ihnen zufolge ging die letzte Fähre um 23:40 Uhr. Das war übel, da es bereits 23:45 Uhr war.

Dem Herrn hinter der Glasscheibe mangelte es um diese Uhrzeit sichtlich an Motivation.

Obwohl sie umgehend ihr recht passables Italienisch wiederbelebte, zuckte der nur traurig die Schultern.

„Es tut mir wirklich leid, Signora, aber für heute geht keine Fähre mehr. Also keine offizielle.“

„Und was heißt das, keine offizielle?“

Sein Ton wurde noch einmal einen Hauch entschuldigender. „Wenn Sie Glück haben, finden Sie noch ein Privatboot, das zurückfährt. Ansonsten müssen Sie leider bis fünf Uhr warten.“

Die Aussicht, fünf Stunden in dem gigantischen, menschenleeren Gebäude zu verharren, behagte ihr überhaupt nicht. Bis auf ein paar Straßenreiniger und Angestellte der Tronchettos, der großen Fährschiffe, war niemand zu sehen. Prima, das war ja ein ermutigender Neustart.

Hoffnungsfroh wandte sie sich an den Mann, der bereits seine Dienstjacke auszog und damit eindeutig zu erkennen gab, dass er nun endlich verschwinden wollte. „Und was ist mit Taxis?“

Sein Blick war eine Mischung aus Mitleid und Ungeduld. „Signora, Venedig? Auf ein Wassertaxi warten Sie um diese Zeit hier drüben Stunden.“

„O ja, stimmt, da war doch was.“ Resigniert schulterte sie ihre Reisetasche und angelte nach dem Griff ihres Rollkoffers.

Das Mitleid schien dann doch zu überwiegen. „Wirklich, Signora, sehen Sie zu, dass Sie nach draußen kommen. Um diese Zeit sind oft noch Privatboote am hinteren Teil der Pier. Einfach geradeaus und dann immer links am Wasser entlang.“

Sophia nickte dankbar. „Gut, vielen Dank, dann versuche ich es.“

Angesichts ihres derzeitigen Karmas machte sie sich zwar keine übersteigerten Hoffnungen, aber einen Versuch war es allemal wert.

Wenn schon etwas schiefging, dann aber bitte gründlich. Die Räder ihres Koffers und das Pflaster hier am Hafen waren nicht wirklich kompatibel und so zerrte sie das schwere Teil zuckelnd und ruckelnd über den mit Steinen unterschiedlichster Größe gepflasterten Weg.

Verflucht noch eins! Eigentlich wollte sie nicht nach Venedig laufen, wie lang war denn diese Pier? Sie hob den Blick und erkannte zu ihrem Leidwesen: sehr lang! Zu allem Übel waren die Boote, die tatsächlich noch hier lagen, fest vertäut und verlassen. An dieser Pier wartete ganz sicher niemand mehr auf mögliche Passagiere. Mittlerweile klebte ihr, trotz der vom Wasser kommenden kühlen Brise, ihre Bluse klatschnass am Rücken. Schnaufend hielt sie an und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, was angesichts dieser Anstrengungen leichter gesagt als getan war.

Sophia beschloss, dass sie auch diesen Tag getrost in der Pfeife rauchen konnte. Sie ließ den Koffer los und strich sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht.

3.

„Signora?!“

Wenn sie jetzt noch anfing Stimmen zu hören, wurde es langsam wirklich kritisch.

„Hey, Signora! Brauchen Sie Hilfe?“

Gut, solange die Stimmen solche Fragen stellten, könnte sie sich eventuell mit dem Phänomen arrangieren. Suchend blickte sie sich um. Allerdings sah sie nichts bis auf drei an Betonpollern festgezurrte Boote. Aber irgendjemand rief doch hier?

„Hier, Signora. Auf dem Boot links von Ihnen.“

Erneut blickte sie suchend die Reihe entlang.

„Das andere Links, Signora.“ Die Stimme klang ebenso amüsiert wie knurrig, eine seltsame Mischung.

Endlich erkannte sie im Halbdunkel die Umrisse einer menschlichen Gestalt auf dem links von ihr festgemachten Boot. Eine recht große Gestalt.

So froh Sophia war, auf ein menschliches Wesen zu treffen, so unsicher war sie auch, ob sie das gut finden sollte. Dem Mann waren ihre Überlegungen offensichtlich egal, dann er lief schnell und geschickt über das Deck des beeindruckenden Holzbootes und sprang mit einem sehr eleganten Satz an Land. Als er sich vor ihr aufrichtete, war sie sich kurzfristig sogar sehr sicher, dass sie das alles nicht gut fand. Er war gewiss einen Meter neunzig groß, wenn nicht noch mehr, sein Gesicht wurde zu einem Teil von langen, schwarzen Haaren verdeckt und an den muskulösen Armen erkannte sie diverse Tätowierungen. Als ob das nicht genügen würde, baumelte an seinem Ohr ein umgedrehtes Kreuz. Komplett in schwarz gekleidet, Tattoos, ein ausgesprochen dunkler Typ … Selbst wenn er nicht gleich einer Teufelsanbetersekte angehören musste, aber mal im Ernst, hätte es denn nicht ein harmlos-sympathischer Kerl á la Käpt’n Iglo sein können?

Als er jetzt mit beiden Händen die langen Haare nach hinten schob, revidierte sie ihre Meinung geringfügig. Der Satansjünger hatte ein ausnehmend hübsches Gesicht, sehr ernst, aber verdammt hübsch.

„Äh, hallo, ja, Hilfe bräuchte ich tatsächlich. Ich habe die letzte Fähre zum Markusplatz verpasst.“

„Um fünf Uhr in der Früh geht die erste.“

Charmantes Kerlchen. „Danke, das weiß ich auch. Ich suche eine Möglichkeit, doch noch rüberzukommen.“

„Sagen Sie das doch gleich.“ Sieh einer an, da konnte der Bengel doch tatsächlich lächeln, auch wenn dieses Lächeln vor Zynismus troff. „Wenn Sie sich noch ein paar Minuten gedulden, könnte ich Sie mitnehmen.“

Sophia musste sich, müde und übernächtigt wie sie war, ziemlich zusammenreißen. „Trifft sich doch gut. Ich habe tatsächlich gerade nichts Wichtiges vor.“ Sie musterte den Mann unauffällig, so glaubte sie zumindest. Wollte sie sich ihm überhaupt anvertrauen? Wobei ihre Möglichkeiten recht überschaubar waren und er derzeit wohl die eindeutig beste Option darstellte.

Er schüttelte mit nachsichtiger Miene den Kopf. „Also, Signora, so richtig viel Vertrauen haben Sie aber nicht in mich, oder?“

„Ganz normaler, weiblicher Überlebenstrieb.“ Sie warf ihm einen giftigen Blick zu, was ihn zu einem weiteren schiefen Lächeln nötigte.

„Aha, nun ja. Wenn ich mich so umsehe, dann ist die Auswahl an Anwärtern zum Retter in strahlender Rüstung wohl recht eingeschränkt, nicht wahr?“ Seine Miene wurde ein wenig entspannter und er seufzte leise. „Frauen und ihre Vorurteile. Keine Angst, ich bin vollkommen harmlos. Ich mach jetzt mein Deck schnell fertig, dann legen wir ab, und ich bring Sie rüber, in Ordnung?“

Sie nickte ein wenig kleinlaut. „In Ordnung, tut mir leid, ich wollte Sie nicht kränken.“

„Haben Sie nicht, ich komm damit ganz gut klar.“

Sie beobachtete ihn dabei, wie er mittels eines kleinen Eimers und eines Schrubbers das Heck des Bootes säuberte, das Putzwasser ins Meer kippte, alles flink aufräumte und wieder zu ihr kam.

„Geben Sie schon her, Sie brechen ja unter der Tasche fast zusammen.“ Er nahm ihr die Reisetasche ab, verfrachtete diese und ihren Koffer auf das Schiff und streckte ihr dann eine Hand entgegen, um ihr an Bord zu helfen.

Gerade noch rechtzeitig kam ihr in den Sinn, nach dem Preis für die Überfahrt zu fragen.

Er musterte sie mit ausdrucksloser Miene. „Wie wäre es mit zweihundert Euro?“

Ihre Gesichtszüge entgleisten ihr wohl dermaßen, dass er lauthals lachen musste. „Mein Gott, Frau, ich muss doch sowieso zurück. Dafür verlange ich nichts von Ihnen. Was wäre ich denn für ein Mann, wenn ich Ihre Notlage ausnutzen würde.“

„Öhm, vielen Dank, das hatte ich aber so nicht geplant. Ich möchte schon etwas bezahlen.“ Der Typ war ganz schön vielschichtig. Zynisch, schlagfertig, geschickt, kräftig, gutaussehend, ein wenig unheimlich im Erscheinungsbild und offenbar wohl Kavalier.

„Vergessen Sie das gleich wieder. Bitte setzen Sie sich hin. Sie sehen müde aus, ich möchte nicht, dass Sie mir umkippen.“

Nun war sie sprachlos. Gehorsam setzte sie sich auf eine der Bänke an der Seite des Bootes und hielt sich an der Reling fest. „Gut so?“

„Perfekt. Gut festhalten. Wir legen ab. Ach, nur damit Sie wissen, wer Sie jetzt gleich entführen wird, ich heiße Romano.“

„Wirklich beruhigend war das jetzt nicht, das ist Ihnen klar, oder?“ Sie bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick.

„Wie jetzt? Kennen Sie denn die vielen Geschichten über italienische Gentleman-Ganoven nicht? Ich muss schon sagen.“

Sie hüstelte leise. „Ihnen ist aber schon bewusst, dass die ein wenig anders ausgesehen haben?“

Er verzog nur spöttisch die Lippen. „Aber sicher. Anzug, Krawatte und Kurzhaarschnitt. Und Sie glauben ernsthaft, dass sich das geändert hat?“

Es war gar nicht so leicht, ihm zu folgen. „Wie meinen Sie das?“

„Na, so wie ich es sage. Auch heute haben die schlimmsten Kriminellen teure Anzüge und hängen sich edle Krawatten um den Hals. Sie wissen schon, dass die Dinger die Blutzufuhr zum Gehirn abschneiden und so das Denken einschränken?“

Wer hatte hier jetzt Vorurteile? „Ach nein, soviel zu meinen Vorurteilen, was?“

Er würdigte sie noch immer keines Blickes. „Das sind keine Vorurteile, das sind Fakten, Frau.“

„Wenn Sie meinen. Ich heiße übrigens Sophia, damit Sie sich das Frau sparen können.“

Da war es wieder, das schiefe Grinsen. „Warum, Sie sind doch eine Frau, oder, Sophia?“

„Und Sie sind ganz schön unverschämt.“ Verärgert blickte sie auf die Lagune hinaus und schwieg.

Romano war das wohl nur recht, denn er konzentrierte sich darauf, das Boot geschickt durch die ankernden Schiffe zu lenken. Langsam wurde ihre Müdigkeit zu einem Problem. Ihr drohten die Augen zuzufallen und da sie ungern von der Bank rutschen wollte, drehte sie sich etwas um und legte beide Unterarme auf dem Holz der Reling ab. Sie stützte ihr Kinn darauf und versuchte, sich auf die Fahrt zu konzentrieren.

Sie waren mittlerweile ein ganzes Stück vom Hafen entfernt und langsam schälten sich am Horizont die Umrisse Venedigs aus dem Dunkel der Nacht. Sogar in ihrem Zustand kam sie nicht umhin, diesen erhabenen Anblick gebührend zu bestaunen. Trotzdem fiel es ihr zunehmend schwer, die Augen offen zu halten. Als sich eine Coladose in ihr Blickfeld schob, war sie mit ihren Gedanken so weit weg, dass sie zuerst gar nicht verstand, was los war.

„Na kommen Sie, Sophia, ich will Sie weder betäuben und ausrauben noch Sie sonst irgendwie unter Drogen setzen. Ehrlich, ich will nur, dass Sie wach bleiben. Wobei Sie natürlich auch auf dem Boot schlafen können. Ich habe genug Platz.“

Das könnte ihm so passen. „Vielen Dank, das ist wirklich nett, also das mit der Cola.“

„Sag ich doch, ich bin ein durch und durch netter Mensch. Dumme Frage, wohin müssen Sie eigentlich genau?“

Sophia konnte seine Augen nicht wirklich erkennen, dazu war es zu finster, doch sie hätte schwören können, dass es darin spöttisch blitzte. Sie nannte ihm, wenn auch leicht widerstrebend, Saskias Anschrift. Was, wenn der finstere Kerl sie ausspionierte?

Der aber nickte nur leicht und konzentrierte sich wieder auf die Route. Ein gutes Stück vor dem Markusplatz bog Romano in einen der zahllosen Kanäle ein und sie verlor komplett den Überblick.

„Wo sind wir hier?“

„Unterwegs zu meinem Unterschlupf.“

„Und im Ernst?“

„Auf dem Rio de San Girolamo, es dauert nicht mehr lange, bis wir in San Lorenzo sind. Halten Sie durch.“ Täuschte sie sich, oder klang er tatsächlich besorgt?

„Keine Bange, ich kipp nicht um, den Gefallen tu ich Ihnen nicht.“ Überzeugend klang das nicht einmal in ihren Ohren.

„Mmh, das werden wir ja sehen.“

Das verzweigte Netz der Kanäle verwirrte und faszinierte Sophia gleichzeitig. Obwohl sie wirklich todmüde war, schaffte sie es, die Augen offen zu halten. Nicht mit einer überfüllten Fähre, sondern mit einem wirklich hübschen Boot durch das nächtliche Venedig zu fahren, war ein durchaus schönes Erlebnis. Schade, dass sie nicht fitter war, das hätte sie gerne mehr genossen.

Ihr Blick huschte zu ihrem schweigsamen Fährmann.

„Romano, ist das Ihr Boot?“

„Nein, Diebesgut. Natürlich gehört es mir. Warum fragen Sie?“ Nun klang er schon wieder so verärgert.

„Weil ich fragen wollte, ob Sie das hier beruflich machen, also, ob Sie Touristen durch Venedig fahren.“

„Tagsüber, ja. Abends eigentlich nicht mehr. Heute war eine Ausnahme, weil das Danieli mir ein kleines Vermögen dafür bezahlt hat, einen Stammgast zu später Stunde zu fahren. Nochmal, warum wollen Sie das wissen?“ Er klang regelrecht bedrohlich.

„Himmel, was habe ich denn nun schon wieder Falsches gesagt? Ich wollte doch nur fragen, ob Sie mich einmal – gegen Bezahlung – nachts hier herumfahren könnten. Also dann, wenn ich nicht halb im Delirium bin.“

Prompt entspannten sich seine Züge. „Das lässt sich sicher einmal einrichten.“

„Danke.“ Sophia zog es vor zu schweigen, offensichtlich traf sie entweder zielsicher den falschen Ton oder dieser Romano war verdammt empfindlich.

Etwa zehn Minuten später bog er langsam in einen sehr schmalen Kanal ein und hielt nach ein paar Metern an einem kleinen Steg.

„Da wären wir.“ Er deutete nach vorne und tatsächlich erkannte sie die Häuserzeile, an deren Ende Saskia und Maurizio wohnten.

„Oh, wir sind ja fast am Haus. Vielen Dank, das ist wirklich nett.“ Sie erhob sich ein wenig ungelenk und streckte erst einmal ihre Arme und Beine.

„Ich bin sogar noch netter“, grummelte ihr Fahrer. „Los, raus mit Ihnen.“

In der Annahme, dass er schnellstmöglich wieder losfahren wollte, sah sie sich hektisch um. „Darf ich zuerst mein Gepäck an Land bringen?“

Sie sah, wie er sichtlich genervt die Augen verdrehte. „Nein, das behalt ich als Bezahlung. Nun klettern Sie schon raus, ich bringe Ihnen Ihr Gepäck.“

Prima, das nächste Fettnäpfchen.

„Okay, danke schön. Ich stehe wirklich ungefähr einen halben Meter neben mir. Tut mir leid, wenn ich komisch reagiere.“ Kleinlaut musterte sie Romanos ernste Züge.

Der aber schüttelte nur den Kopf. „Schon gut, kein Thema. Und jetzt raus hier, ich helfe beim Gepäck, ich muss nur schnell das Boot richtig festzurren, sonst kann ich nachher eine Runde schwimmen gehen.“

Er half ihr, von Bord zu kommen, stellte Koffer und Tasche neben sie, vertäute das Boot und richtete sich wieder auf. „So, fertig. Wie war gleich wieder die Nummer?“

Schon etwas vertrauensvoller nannte sie ihm die Hausnummer und während er mit ihrem Gepäck zielsicher auf das richtige Haus zusteuerte, stolperte sie im Halbschlaf hinter ihm her.

„Da wären wir. Kann ich Sie alleine lassen, Sophia, oder brechen Sie mir zusammen, ehe Sie über die Schwelle sind?“ Schon wieder dieses freche Grinsen.

„Danke, Romano, aber ich glaub, das schaffe ich gerade noch.“ Sie hielt ihm die Hand hin und blickte zu ihm auf. „Im Ernst, Sie haben mir wirklich sehr geholfen und ich möchte mich gerne erkenntlich zeigen. Abgesehen davon, wie kann ich Sie denn erreichen wegen der Rundfahrt?“

„Ich weiß ja jetzt, wo Sie wohnen. Wie lange sind Sie denn in der Stadt?“

Nun war sie etwas verwirrt. „Ähm, keine Ahnung, womöglich schon etwas länger.“

„Sehr gut. Dann melde ich mich bei Ihnen wegen der Bootstour. Und jetzt ab ins Bett.“ Im Weggehen drehte er sich noch einmal zu ihr um. „Sie sind sich wirklich sicher, dass Sie es bis dorthin alleine schaffen?“

„Aber sowas von sicher.“ Das Lächeln konnte sie sich einfach nicht verkneifen, er war schon ziemlich unverfroren, aber bei solch schönen Augen …

So schnell wie möglich riss sie sich wieder zusammen. Drehte sie denn jetzt total durch? Ehe sie nun noch anfing, wirklich mit dem Kerl zu flirten, musste sie dringend ihre müde-verworrenen Gedankengänge wieder auf Spur bringen. „Gute Nacht, Romano.“

„Gute Nacht, Sophia.“ Er verschwand so schnell, dass sie es in ihrem Zustand kaum mehr registrierte.

4.

Das Nächste, an das sie sich später erinnerte, war, dass sie den dicken Tontopf mit der ausladenden Basilikumpflanze anhob, den Schlüssel hervorfischte und mit etwas Mühe die schwere, hölzerne Eingangstür aufschloss. Sophia zerrte Koffer und Tasche in den Flur und schloss hinter sich ab. Es war warm im Haus und es duftete ein wenig nach Essen. Sie tastete nach dem Lichtschalter und knipste das Licht im Flur an. Es war genau so, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte. Der schmale Gang, von dem aus Türen in die angrenzenden Zimmer abgingen, war vollgestellt mit Regalen, kleinen Schränken und allem möglichen Dekokram, den Saskia schon immer geliebt hatte. Die Freundin verstand es, aus einem nichtssagenden Raum eine stilvolle Oase zu zaubern. Kein Wunder, dass sie sich schon immer gut verstanden hatten.

Die Wände waren in warmem Ockergelb gestrichen und mit in Schwammtechnik getupften, kleinen Kunstwerken versehen. Ganz besonders faszinierte Sophia eine herrliche venezianische Maske über der Küchentür.

Küche! Das war ihr Stichwort. Ihr Magen knurrte wie verrückt und sie hoffte inständig, dass Saskia und Maurizio etwas im Kühlschrank hatten – egal was, Hauptsache essbar. Als sie das Deckenlicht in der Küche einschaltete, musste sie lächeln. Nicht nur, dass die Küche einer der faszinierendsten Räume überhaupt war, auf dem massiven Küchentisch aus dunklem Holz ihr direkt gegenüber stand eine große Auflaufform, mit Alufolie abgedeckt, daneben eine Flasche Rotwein, eine Flasche Wasser, Teller, Besteck, Serviette und die italienische Gebrauchsanweisung für die Mikrowelle.

Sie hätte es wissen müssen, dass Italiener immer befürchteten, ihre Gäste könnten verhungern. Sophia atmete tief ein, erahnte das köstliche Aroma von Rosmarin sowie einen Hauch Knoblauch und zupfte vorsichtig die Folie von der Form. Eine ganze Lasagne! Sie war im Himmel gelandet. Eilig schaufelte sie sich eine gehörige Portion des duftenden Nudelgerichts auf den Teller, schaltete die Mikrowelle an und wandte sich wieder dem Tisch zu. An die Rotweinflasche gelehnt fand sie Saskias Brief.

Willkommen in Venedig! Wenn du das hier liest, hast du es ganz offensichtlich geschafft, heil anzukommen. Du glaubst nicht, wie sehr ich mich auf dich freue. Zuerst aber isst du bitte diese kleine Lasagne, trinkst den Wein aus, spülst mit einem Schluck Wasser nach, duscht solange du magst und legst dich dann in unser hochherrschaftliches Gästezimmer, von dem ich hoffe, es einigermaßen wohnlich hergerichtet zu haben. Falls du mehr Hunger hast, im Kühlschrank sind noch Schokoladenkuchen und dein geliebter Vanillejoghurt. Wir werden voraussichtlich morgen am späteren Nachmittag eintrudeln. Bitte fühl dich in der Zwischenzeit einfach wie zuhause. Frische Brötchen für das Frühstück bekommst du gleich um die Ecke, über den kleinen Kanal, dann links in die Gasse. Bester Bäcker von Welt, falls du weißt, was ich meine. Unsere edle und vollautomatische Kaffeemaschine steht wie immer auf dem Herd, du kennst dich damit ja schon aus. Jetzt kommst du erst einmal auch geistig an, relaxt und vergisst diesen notgeilen Dünnbrettbohrer in Berlin. Du bist jetzt bei uns und in Bella Italia.

Ich hab dich schrecklich lieb!!

Saskia

Sophia wischte sich die Tränen aus den Augen. Ja, das war typisch ihre Freundin. Abgesehen davon, dass der Hungertod in weite Ferne gerückt war, fühlte sie sich hier sofort willkommen. Behutsam faltete sie den Brief wieder zusammen und erlöste ihre Lasagne aus der fiependen Mikrowelle.

Nur noch schnell in das bezaubernde, in venezianischem Rot und Gold gemalerte Badezimmer zum Hände waschen und dann nichts wie ab an den Esstisch. Die Lasagne schmeckte göttlich, der Rotwein war leicht und vollmundig – nicht das staubtrockene, teure Zeug, das Stefan bevorzugte, sondern die blumige Variante, Mädelszeugs eben.

Nach noch einer nicht zu kleinen Portion Lasagne goss sie sich ein zweites Glas Rotwein ein, ignorierte ihre Müdigkeit und raffte sich dazu auf, sich noch ein paar Minuten vors Haus zu setzen und die venezianische Nacht zu genießen. Um diese Zeit war auf dem kleinen Kanal vor der Häuserzeile so gut wie kein Boot mehr unterwegs, Fußgänger verirrten sich selten in diese schmale Gasse.

Direkt neben der Tür stand eine kleine, von Saskia liebevoll in Rot und Gelb gestrichene Holzbank, auf der sich Sophia mit dem Weinglas in der Hand niederließ. Es war mucksmäuschenstill, nur das Wasser des Kanals gluckerte leise vor sich hin und Möwen zogen ab und an laut kreischend in der Ferne über den Himmel. Müde lehnte Sophia ihren Kopf an die nun kühle Mauer. Was für ein Tag! Aber zugegeben, sie freute sich über ihre gelungene Flucht aus Berlin. Noch mehr aber freute sie sich darüber, hier zu sein. Genüsslich leerte sie ihr Glas, ging nach einem letzten Blick auf den im Mondlicht glitzernden Kanal zurück ins Haus und schloss sorgfältig ab.

Ihr schweres Gepäck in das Gästezimmer im ersten Stock zu schleppen war eine ziemliche Herausforderung, da die enge Treppe sich als nicht unbedingt schrankkofferkompatibel erwies. Aber mit etwas gutem Willen gelang es ihr und so landete sie beinahe unbeschadet in Saskias und Maurizios hübschem Gästezimmer. Es war klein, blitzsauber und so wie es aussah erst vor Kurzem neu eingerichtet worden. Lächelnd strich Sophia über das eiserne Gestell des weißen Ikea-Prinzessinnen-Bettes, das Saskia mit einem handgenähten Baldachin in ein echtes Kunstwerk verwandelt hatte. Der knarrende, dunkle Holzboden war mit sehr lustigen, bunten Flickenteppichen ausgelegt, die Wände in zartem Gelb gestrichen und mit einer dunkelroten Bordüre aus ineinandergreifenden Wellen geschmückt, die sich durch das ganze Zimmer zog. Dazu ein nicht allzu großer, sichtlich alter und liebevoll restaurierter Kleiderschrank, zwei Rattan-Regale, ein winziger, runder Tisch mit einem uralten Bistrostuhl, beides, ebenso wie der liebevoll auf antik getrimmte Schrank, in mattem Weiß gestrichen. Auf dem Tisch stand ein großes, rotes Windlicht mit einer dicken, weißen Kerze. Saskia wusste von ihrer Vorliebe für Kerzenlicht. Sophia schaffte es gerade noch, die wichtigsten Dinge aus dem Koffer zu angeln, zu duschen und sich die Zähne zu putzen. Alles andere musste warten. Bereits im Halbschlaf krabbelte sie in ihr kuschliges Bett und schlief in dem Augenblick ein, in dem ihr Kopf das Kissen berührte.

Die Welt warf Schatten, oh, die Sonne schien. Augenblick, wo war sie hier? Es dauerte eine ganze Weile, ehe Sophia begriff, dass sie nicht mehr in Berlin in ihrem edel-ausgeflippten 200-Quadratmeter-Domizil weilte, sondern mitten in Venedig. Eine durchaus akzeptable Alternative, wenn man bedachte, dass Stefan in weiter Ferne war. Ein ausgesprochen beruhigender Gedanke. Darüber nachzudenken, wohin sie ihn im Augenblick wünschte, würde ihr den Start in den Tag vermiesen, also ließ sie es einfach bleiben und streckte sich lieber noch einmal genüsslich.

Ein Blick auf die Uhr über der Zimmertür zeigte ihr, dass es bereits kurz vor elf am Vormittag war. Schien ganz so, als wäre der Schlaf dringend notwendig gewesen. Sie kletterte aus dem Bett, schlüpfte in ihre bequeme, blaue Yoga-Hose und ein weißes Shirt, fuhr sich ordnungshalber mit einer Bürste durch die langen Haare und öffnete leise die Tür. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie alleine hier war. Daher die Ruhe! Außerdem ging das Fenster ihres Zimmers zum ruhigen Innenhof hinaus, was erklärte, warum sie so lange hatte schlafen können.

Auf nackten Füßen tapste Sophia die Treppe hinunter. Jetzt, im hellen Tageslicht, wirkte das Haus noch gemütlicher und freundlicher als am Vorabend. Die schönen Landschaftsbilder in bunten Rahmen an den in warmen Farben gestrichenen Wänden, die Möbel, gewiss alt, aber von Saskia und Maurizio liebevoll wieder aufpoliert, und die leise knarzende Holztreppe bildeten ein urig-einladendes Ganzes. Es fiel nicht schwer, sich hier zuhause zu fühlen.

In der Küche widmete sie sich schmunzelnd der „vollautomatischen Kaffeemaschine“: einer der von den Italienern seit Urzeiten zum Kochen von Espresso genutzten, eisernen Kannen, die man noch händisch auf- und wieder zuschrauben musste, nachdem man sie mit Kaffeepulver und Wasser gefüllt hatte. Immerhin produzierten sie den besten Kaffee der Welt. Während der Espresso vor sich hin blubberte, erwärmte Sophia auf dem Gasherd Milch für ein großes Glas Latte macchiato. Den köstlichen Kaffee in den Händen, suchte sie sich ihren Weg in den kleinen Garten, sofern man den winzigen Innenhof so nennen wollte. Er war mit diversen Tontöpfen bestückt, in denen bunte Blumen sowie Rosmarin und Oregano wucherten, verfügte über eine eiserne, schwarze Zweisitzer-Bank und einen kleinen, mit einem bunten Mosaik ausgelegten Bistrotisch. Italien pur, Sophia liebte es. Das Nachbarhaus, samt Grünstreifen, dessen Front der schmalen Straße auf der anderen Seite zugewandt war, schloss direkt an den Garten an. Berührungsängste durfte man hier nicht haben, was ihr auch umgehend vor Augen geführt wurde.

„Guten Morgen, Signora. Sind Saskia und Maurizio schon wieder zurück?“ Die kleine, rundliche Nachbarin stand, angetan mit einer knallbunten Küchenschürze, mit gerunzelter Stirn in ihrem Kräutergärtchen.

„Auch Ihnen einen guten Morgen. Nein, sie kommen erst am Nachmittag wieder. Ich bin Sophia, Saskias beste Freundin.“

Die Stirnfalten verschwanden wie von Zauberhand und wurden durch ein freundliches Lächeln ersetzt. „Stimmt, das hat Saskia ja erzählt. Ich bin ab und an schon etwas vergesslich. Herzlich willkommen, Signora Sophia.“

Sophia stellte ihr Glas auf dem Tisch ab und strahlte die Nachbarin an. „Vielen Dank, und ich bin einfach nur Sophia, bitte.“

Das Lächeln auf der Gegenseite vertiefte sich noch um einige Nuancen. „Freut mich, ich bin Carla. Und jetzt störe ich Sie nicht länger, sonst wird der Kaffee kalt. Einen schönen Tag, bis später.“

Weg war sie. Hier achtete man offenbar darauf, wer sich in den Nachbargärten herumtrieb. Vollkommen in Ordnung! Genussvoll schlürfte sie ihren Muntermacher und hielt mit geschlossenen Augen die Nase in die Sonne. Erst nach einer ganzen Weile kam es ihr in den Sinn, dass sie einen Blick auf ihr stumm gestelltes Handy werfen könnte. Zwar nicht überdurchschnittlich motiviert, aber pflichtbewusst trabte sie in ihr Zimmer und holte es.

Ups, dreizehn Nachrichten. Davon alleine sieben von Stefan, zwei von Thilo, eine von ihrer Mutter und der Rest Meldungen aus dem Büro. Es schien, als hätte Stefan einige Menschen aufgescheucht. Seufzend las sie die ersten Nachrichten ihres treulosen, verlassenen Ex-Lebensgefährten, eine Formulierung, die ihr übrigens sehr gefiel. Weniger gefielen ihr seine Nachrichten.

„Wo steckst du? Ich mache mir Sorgen. Sophia, lass uns reden. Bitte melde dich.“

Nachricht Nummer zwei war dann eher die Businessvariante.

„Sophia, bitte lass unsere privaten Differenzen außen vor. Wir haben eine Präsentation, die pünktlich beim Kunden sein muss. Ich appelliere an deine Professionalität. Bitte melde dich asap.“

„Du kannst mich mal asap, du weißt schon was“, fauchte sie das unschuldige Handy an.

Nachricht Nummer drei war eher eine Mischversion.

„Sophia, so geht das nicht. Bitte melde dich umgehend bei mir. Ich komme kaum zum Arbeiten, so sehr sorge ich mich. Sobald du das hörst, melde dich.“

Sie trank einen großen Schluck Kaffee und zog dem Handy eine angesäuerte Grimasse. „Sophia, so geht das nicht … O Mann, du hast ja keine Ahnung, was alles geht, pass bloß auf.“

Die nächste Nachricht war höchst interessant.

„Sophia, Liebling, das alles ist ein schreckliches Missverständnis. Bitte melde dich und lass uns darüber reden. Ich kann dir alles erklären.“

„Missverständnis? Mann, du hast Nerven. Willst du mir erzählen, du arbeitest nebenher als Schreibtischunterlagentester, oder wie?“ Kopfschüttelnd drückte sie die Nachricht weg.

Nachricht Nummer fünf war laut Anzeige um 04:43 abgeschickt worden. Hatte sie da etwa jemanden um den Schlaf gebracht?

„Sophia, ich warne dich. Wenn du dich weiterhin so verhältst, werde ich wohl nicht umhinkommen, dich als vermisst zu melden. Möchtest du das tatsächlich? Ruf mich an oder schreib, auf jeden Fall melde dich. Wir haben beide unsere Verpflichtungen, also benimm dich bitte wie eine Erwachsene.“

„Du kannst mich warnen, so viel du willst. Ich glaub, ich spinne.“ Der letzte Schluck ihres Kaffees spülte einen Teil ihres aufkeimenden Ärgers hinunter.

Ah ja, er wurde ungehalten. So deutete sie seine nächste Nachricht.

„Was du hier abziehst, ist eine unangebrachte und deiner vollkommen unwürdigen Inszenierung. Du hattest jetzt deine Genugtuung, ich habe sogar bei deinen Eltern angerufen, die sich nun auch die größten Sorgen um dich machen. Du kannst nicht einfach abtauchen. Heute um Punkt 18 Uhr stehen unsere Kunden auf der Matte. Bitte bedenke, dass du nicht nur mich, sondern auch deinen Ruf schädigst.“

Die nächste SMS war von Thilo und ein paar Minuten nach neun verschickt worden. Kurz, informativ und durchaus amüsant.