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Alex Subitz hatte in seinem Leben nahezu alles, was ihn glücklich machte: eine liebevolle Ehefrau, zwei aufgeweckte Töchter, eine Villa, einen lukrativen Job. Wäre da nicht etwas gewesen, das ihn überallhin verfolgte. Immer wieder muss er sich eingestehen, dass er vor seiner Vergangenheit nicht einfach weglaufen kann. Mal ist es sein schlechtes Gewissen, dass unvermittelt seinen Tag durcheinanderbringt, mal sind es diese Angstattacken, die über ihn hereinbrechen und ihn regelrecht lähmen. Dann fühlt er sich wehrlos und ausgeliefert - ein Zustand, den er nur schwer ertragen kann. Die Erinnerungen an jenen Novemberabend, als eine 17-jährige Anhalterin in sein Auto einstieg, sind in diesen Momenten so präsent, als wäre es gestern gewesen und nicht vor 25 Jahren. Alex Subitz ahnte nicht, dass die Ermittlungsbehörden vor einigen Wochen begonnen hatten, lang zurückliegende ungeklärte Fälle erneut zu bearbeiten.
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für Maja
„Es ist nichts so fein gesponnen, ´s kommt doch alles an die Sonnen“
Theodor Fontane, 1819-1898
In Deutschland werden jedes Jahr rund dreihundert Morde begangen. Die Aufklärungsquote liegt im Schnitt bei etwa 95 Prozent. Jährlich bleiben etwa zehn bis zwanzig Morde unaufgeklärt und werden zu Cold Cases erklärt — den kalten Fällen in der Kriminalstatistik.
Von einem dieser Fälle handelt diese Geschichte. Sie ist vom Autor in ihren Einzelheiten frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen oder den genannten Orten der Handlung wären daher rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Prolog
Mittwoch, 7. November 1985 gegen 23 Uhr
Der Tag danach
Wo ist Anna-Lena?
Die Ungewissheit hat ein Ende
25 Jahre später
Hannover-Kleefeld, Akazienweg 12
Landeskriminalamt (LKA) Niedersachsen
Getrübtes Shoppingvergnügen
LKA Hannover - Cold Case Unit
Pure Angst
Fortsetzung der Ermittlungen
LKA Hannover - Auf der Suche nach dem Täter
Die Nerven liegen blank
LKA Hannover - Der wichtigste Zeuge
Angst vor dem Aufprall
LKA Hannover - Ernüchternde Zwischenbilanz
Alex Subitz – unberechenbar oder normal?
Abflug ins Urlaubsparadies
Wo ein Wille ist…
Wer ist Alex Subitz?
LKA Hannover - Einlesen der Datenbanken
Letzter Fahndungsaufruf für Anna-Lena
LKA Hannover - Punktlandung
Unerwarteter Besuch
Noch 60 Minuten in Freiheit
Es ist vorbei
Das Monster ist gefasst
JVA Rosdorf - Ende einer langen Freundschaft
JVA Rosdorf - Wie ein Kartenhaus
LKA Hannover - Schluss-Meeting
Das Urteil
„Bitte lassen Sie mich gehen! Bitte!“
Was hatte er zuvor alles über sich erzählt? Was wusste sie nun über ihn? Was er ihr in der vergangenen Stunde angetan hatte, reichte aus, um ihn für viele Jahre hinter Gitter zu bringen. Würde sie ihr Versprechen wirklich einhalten und niemandem von dem berichten, was er ihr an Schmerzen und Leid zugefügt hatte?
Von dem Augenblick an, als sie zu ihm ins Auto stieg, lief alles automatisch wie in einem Film ab. Dieses freundliche „Hallo, wo möchten Sie denn hin? Kein Problem, da fahre ich sowieso lang, ist ja nicht weit von hier“, hatte augenblicklich eine Vertrauensbasis und eine Atmosphäre geschaffen, die suggerierte, dass sie sich schon länger kannten. Für ihn stieg sie in sein Auto, als würde er seine Freundin oder Ehefrau zu einem verabredeten Zeitpunkt abholen. Aber so war es nicht.
Die 17-jährige Anna-Lena Bauer hatte sich zuvor mit ihrem Freund heftig gestritten. Sie hatten sich einfach nicht darauf einigen können, ob sie in der kommenden Woche ein Open-Air-Konzert besuchen oder den runden Geburtstag ihrer Mutter gemeinsam mit ihrer Familie und Bekannten feiern sollten.
Überhaupt hatte Anna-Lena das Gefühl gehabt, dass sie in letzter Zeit viel zu oft mit ihrem Freund aneinandergeraten war. Und so verließ sie völlig aufgelöst und verärgert seine Wohnung, nachdem er sie mehrmals zurechtgewiesen hatte. In der Hoffnung, bei diesem typischen nasskalten Novemberwetter die drei Kilometer Heimweg zu ihrer elterlichen Wohnung nicht zu Fuß zurücklegen zu müssen, entschloss sie sich, ihren Wohnort per Anhalter zu erreichen.
Es vergingen keine fünf Minuten, bis neben ihr ein Auto anhielt, dessen Fahrer zuvor mit der Lichthupe auf sich aufmerksam machte, um ihr zu signalisieren, dass er sie mitnehmen würde. Und nun saß sie in der Falle. Wie oft hatte sie die Sätze schon gehört: „Steige nie zu einem Fremden ins Auto!“ oder „Als Anhalterin bist Du ausgeliefert! Nimm notfalls ein Taxi!“
Statt Anna-Lena in den nächsten Ort zu fahren und sie an der Wohnung ihrer Eltern abzusetzen, fuhr Alex S. wenige hundert Meter nach dem Ortsausgang auf einen Wirtschaftsweg, der am Rande eines Wäldchens endete.
Als sie die Hauptstraße verließen, bat Anna-Lena ihn inständig, sofort anzuhalten und sie aussteigen zu lassen. Sie versuchte dann die Tür zu öffnen, stieß mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, immer wieder gegen die Türverkleidung; jedoch vergebens.
Sie hatte es nicht wahrgenommen, dass Alex S. die Zentralverriegelung der Tür betätigt hatte, nachdem sie zu ihm eingestiegen war. Diese Neuerung in der Fahrzeugtechnik wurde Anna-Lena nun zum Verhängnis. Sie verschloss ihr den einzigen Fluchtweg und somit die Möglichkeit, sich ihrem Peiniger zu entziehen. Von Minute zu Minute wurde ihr bewusster, wie aussichtslos ihre Lage war, nicht nur weil Alex S. ihr körperlich überlegen war. Die einzige Chance, sich und ihr Leben zu retten, sah Anna-Lena Bauer nur noch darin, ihren Peiniger in ein Gespräch zu verwickeln und ihm ausdrücklich zuzusichern, dass sie niemandem von ihrer Begegnung erzählen und ihn schon gar nicht bei der Polizei anzeigen würde.
Aber Alex S. hörte ihr nicht mehr zu. Sein Gehirn schien innerhalb kürzester Zeit Hunderte von Gedanken verarbeiten zu müssen. Und immer wieder verlangten neue Fragen nach einer Antwort. Er hatte sich in eine Zwangslage hineinmanövriert.
Dabei hatte nichts darauf hingedeutet, dass es in dieser Novembernacht zu solch einer katastrophalen Situation kommen würde.
Seit einer Woche besuchte der junge Finanzexperte eine Fortbildung mit dem anspruchsvollen Arbeitstitel „Finanzströme im Zuge der künftigen Globalisierung“. Sein Arbeitgeber, ein aufstrebendes mittleres Unternehmen in der Bankenmetropole Frankfurt am Main, hatte schnell erkannt, dass in Alex ein Finanzgenie steckte.
Ein wahrer Künstler der Zahlen und ein skrupelloser Stratege obendrein, wenn es darum ging, enorme Gewinne durch Versicherungsverträge mit ahnungslosen Kleinstanlegern zu erzielen. Da lief Alex S. zu Höchstform auf; da war er ganz in seinem Element. Und das mit noch nicht einmal 25 Jahren. Die fixe Idee einer „Bilderbuchkarriere“ hatte sich in seinem Kopf regelrecht festgesetzt.
Sollte er diese erfolgversprechende berufliche Zukunft allein dadurch aufs Spiel setzen, weil er für kurze Zeit die Kontrolle über sich verloren und einer jungen Frau so Entsetzliches angetan hatte?
„Bitte lassen Sie mich gehen! Ich verspreche Ihnen, niemandem etwas zu erzählen! Bitte!“
Anna-Lena flehte jämmerlich um ihr Leben. Es war ein Leben, das für sie eigentlich noch gar nicht richtig begonnen hatte.
Bereits während eines Praktikums hatte sie festgestellt, dass sie später einmal in einem großen Hotel als Chef-Concierge arbeiten wollte. Es war fortan ihr Traum und zugleich auch ihr großes Lebensziel, nach der Ausbildung in ein renommiertes Hotel zu wechseln; sie war inzwischen Auszubildende im zweiten Lehrjahr.
Die persönlichen Voraussetzungen für ihr Berufsziel brachte Anna-Lena zweifellos mit. Sie war klug, stets wachsam, hatte großes Einfühlungsvermögen, ein ausgeprägtes Organisationstalent und verfügte über ausgezeichnete Umgangsformen; zudem war ihr Erscheinungsbild gepflegt.
Nach dem Einstellungsgespräch hatte ihr der Ausbildungsleiter ein besonders feines Gespür für Situationen und Menschen attestiert.
Die vielen Qualifikationen schienen ihr in der augenblicklichen Situation jedoch nicht weiterzuhelfen. Anna-Lena Bauer befand sich in einer Notlage. Sie sah sich in höchster Lebensgefahr.
„Bitte tun Sie mir nicht mehr weh! Bitte!“
Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre Tränen hatten das Make-up aufgelöst und zeichneten sich als konturlose dunkle Linien auf ihren Wangen ab. Sie verliehen ihr ein maskenhaftes Aussehen. Ihr zierlicher Körper wehrte sich mittlerweile gegen alles, was Alex S. ihr schon angetan hatte; er rebellierte bei jeder weiteren Annäherung durch ihn.
Schließlich hielt ihr Peiniger es nicht mehr länger aus, dass Anna-Lena minutenlang schrie, ihn kratzte, wild um sich schlug und ihn mehrmals biss. Alex S. hatte mit einer derartigen heftigen Reaktion nicht gerechnet – er hatte überhaupt nicht damit gerechnet, jemals in eine solche Situation hineinzugeraten.
Er verlor zunehmend die Kontrolle über alles, und letztlich auch über sich selbst. Er wollte nur noch, dass ihre Schreie verstummten.
„Sei endlich ruhig! Verdammt noch mal, sei endlich ruhig!“ forderte er sie fast unhörbar auf.
Nach nicht mehr als drei Minuten war es dann plötzlich still geworden. Anna-Lenas Kopf neigte sich wie in Zeitlupe zur Seite und lehnte sich schließlich an die Beifahrertür. Es machte den Eindruck, als würde sie sich, nach all der Gegenwehr, ausruhen und vor Erschöpfung friedlich schlafen.
Alex S. löste seine Hände ganz vorsichtig aus der Umklammerung, als könne er selbst nicht begreifen, was er ihr angetan hatte. Seine Daumen schmerzten und hinterließen deutlich sichtbar rot-violette Druckstellen an ihrem Kehlkopf, knapp oberhalb ihrer Halskette, an der ihr Sternzeichen hing.
Anna-Lena Bauer hatte den Kampf verloren – es war ein aussichtsloser und ungleicher Kampf gewesen, denn sie hatte einfach keine Chance gehabt.
Am darauffolgenden Morgen gegen 9.30 Uhr rief der Freund von Anna-Lena bei ihren Eltern an. Er wollte sich für sein Verhalten am Vorabend entschuldigen. Es ließ ihm einfach keine Ruhe, dass Anna-Lena nach dem Streit so plötzlich seine Wohnung verlassen hatte. Es tat ihm im Nachhinein unendlich leid. So hatte er sich den gemeinsamen Abend mit seiner Freundin nicht vorgestellt. Ganz bestimmt nicht. Und er hatte sich vorgenommen, in Zukunft nicht bei jeder Kleinigkeit so unangemessen zu reagieren und stattdessen mehr auf Anna-Lenas Wünsche und Bedürfnisse einzugehen.
Als ihr Vater ihm jedoch mitteilte, dass Anna-Lena die vergangene Nacht gar nicht zuhause verbracht hatte, stieg in ihm die Befürchtung auf, ihr könnte etwas zugestoßen sein.
Seit Anna-Lena am Vorabend gegen 22 Uhr die Wohnung ihres Freundes verlassen hatte, war sie von niemandem mehr gesehen worden. Die 17-Jährige schien wie vom Erdboden verschluckt.
Noch am selben Tage meldeten Anna-Lenas Eltern ihre Tochter bei der Polizei als vermisst. Bereits am frühen Nachmittag suchten Freunde und Bekannte in der näheren Umgebung nach ihr. An den Folgetagen wurde die Suche nochmals intensiviert.
Mehrere Hundertschaften der Bereitschaftspolizei, unterstützt von Suchhunden und einem Polizeihubschrauber, durchkämmten die Umgebung ihres Wohnortes. Über die Medien wurde die Bevölkerung schließlich mehrfach um Mithilfe gebeten und aufgefordert, sich umgehend bei der nächstgelegenen Polizeidienststelle zu melden, wenn sie irgendwelche Beobachtungen gemacht hatten oder Hinweise zum aktuellen Aufenthaltsort von Anna-Lena geben konnten.
Auch an den darauffolgenden Tagen fehlte von Anna-Lena jegliches Lebenszeichen. Sie blieb unauffindbar.
Nach 14 Tagen wurden die intensiven Suchmaßnahmen offiziell eingestellt und nur noch „im Rahmen der allgemeinen Streifentätigkeit fortgeführt“, war in einer kurzen Pressemitteilung der Polizei zu lesen.
Aus Sicht der Kriminalpolizei galt Anna-Lena Bauer nun offiziell als vermisst. Ihr Aufenthaltsort wurde in der Ermittlungsakte der Kategorie „bis auf Weiteres unbekannt“ zugeordnet.
Wenige Tage nach Verschwinden von Anna-Lena Bauer wurde bei der Kriminalpolizei Braunschweig die zehnköpfige SOKO Anna-Lena eingerichtet, die sich erneut eindringlich an die Öffentlichkeit wandte. Innerhalb kurzer Zeit gingen daraufhin mehr als 150 Hinweise aus der Bevölkerung ein. Die Anteilnahme und das Interesse an diesem Fall waren enorm hoch.
In den Regionalzeitungen wurde tagelang auf den Titelseiten ausführlich über das spurlose Verschwinden der jungen Frau berichtet. Und wie in derartigen Fällen gehörten Spekulationen und Mutmaßungen ebenfalls zur Berichterstattung.
Bei der Kriminalpolizei meldeten sich Auslandsurlauber, die Anna-Lena am Strand von Ibiza gesehen haben wollten. Andere vermeintliche Zeugen gaben fast zeitgleich an, die Vermisste in der Londoner Innenstadt in Begleitung von zwei Männern mittleren Alters beobachtet zu haben. Die Ermittler der SOKO Anna-Lena nahmen all diese Hinweise aus der Bevölkerung sehr ernst; sie überprüften sie auf ihren Wahrheitsgehalt, mussten sie aber ausnahmslos schnell relativieren.
Unter den anonymen Hinweisgebern waren typischerweise auch jene, die ihren Nachbarn oder Arbeitskollegen als mutmaßliche Entführer von Anna-Lena nannten, sogar mit vollständigen Namen und zugehöriger Adresse. Auch diesen Hinweisen gingen die Ermittler nach, jedoch ohne brauchbares Ergebnis.
Ein Anrufer schließlich behauptete, mit absoluter Sicherheit den momentanen Aufenthaltsort von Anna-Lena angeben zu können und nannte eine konkrete Anschrift, zu der eigens das Spezialeinsatzkommando (SEK) aus Braunschweig anrückte.
Dem Anrufer zufolge sollte sich Anna-Lena in einem einschlägigen Etablissement im Rotlichtviertel der Braunschweiger Innenstadt aufhalten. Da nicht ganz ausgeschlossen werden konnte, dass die Ermittler im Bereich der Prostitution und des Menschenhandels eingreifen mussten, hatte die Leitung der SOKO auf Spezialkräfte zurückgegriffen.
„Unter keinen Umständen darf das Leben von Anna-Lena durch diesen Einsatz gefährdet werden“, warnte der verantwortliche Einsatzleiter.
Was die Überprüfung dieses Hinweises letztlich zu Tage förderte, brachte die SOKO in keiner Weise voran.
Der personalintensive Einsatz endete schließlich mit zwei vorübergehenden Festnahmen von Personen aus dem Rotlichtmilieu. Sie waren seit längerer Zeit zur bundesweiten Fahndung ausgeschrieben gewesen. Darüber hinaus fertigten die Ermittler diverse Anzeigen wegen des Verstoßes gegen das Aufenthaltsrecht, der Förderung der Prostitution, des unerlaubten Waffenbesitzes und Beamtenbeleidigung.
Nicht anders verliefen die Befragungen von Zeugen und Personen, die Anna-Lena in irgendeiner Weise nahegestanden hatten und die deshalb zeitweise sogar als dringend tatverdächtig eingestuft wurden.
Im Ausbildungsbetrieb, in dem Anna-Lena 15 Monate zuvor ihre Ausbildung zur Hotelfachfrau aufgenommen hatte, stießen die Ermittler auf den Ausbildungspaten. Zwei weibliche Auszubildende gaben an, er habe Anna-Lena wiederholt mit anzüglichen Bemerkungen und Annäherungsversuchen belästig. Anna-Lena habe diese unerwünschten Avancen immer vehement abgewehrt. Ihre Kolleginnen konnten dennoch nicht ganz ausschließen, dass es zwischen ihr und dem Ausbildungspaten doch zu Annäherungen gekommen sein könnte.
Im weiteren Verlaufe der Befragungen stellte sich jedoch heraus, dass die Anschuldigungen und Unterstellungen unfundiert und von den beiden Auszubildenden frei erfunden waren. Sie hatten dem Mentor nur einen Denkzettel verpassen wollen, weil sie sich von ihm, Anna-Lena gegenüber, benachteiligt behandelt fühlten.
Die Ermittlungen im unmittelbaren Umfeld von Anna-Lena ergaben ebenfalls keinerlei verwertbare Hinweise.
So wurde ihr Freund mehrmals von der Kriminalpolizei vorgeladen. In stundenlangen Vernehmungen wurde er über seine Beziehung zu Anna-Lena befragt. Zeitweise hegten die Ermittler einen Anfangsverdacht gegen ihn, der sich im Nachhinein jedoch als unhaltbar erwies. Es fehlten einfach die entsprechenden Beweise; von einem handfesten Tat-Motiv ganz abgesehen.
Auch die Eltern von Anna-Lena wurden von den Ermittlern sehr ausgiebig zu ihrer Tochter befragt. Weder die Durchsuchung der Wohnung ihres Freundes noch des Zimmers von Anna-Lena im Hause ihrer Eltern erbrachten Hinweise zu ihrem Verschwinden. Es gab auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Anna-Lena das Elternhaus oder ihren Freund hatte verlassen wollen.
Somit wurde es mit jedem weiteren Tag, den Anna-Lena verschwunden blieb, immer wahrscheinlicher, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen war.
Diese Vermutung sollte noch einige Monate Bestand haben.
Mehr als ein halbes Jahr nachdem Anna-Lena spurlos verschwunden war, wurde aus dieser Annahme traurige Gewissheit: Pilzsammler fanden in einem Waldstück die Leiche von Anna-Lena Bauer. Der Fundort war nur rund zwei Kilometer entfernt von ihrem Elternhaus.
Am späten Nachmittag des 12. Juli 1986 suchten zwei Kriminalbeamte die Eltern von Anna-Lena auf.
Diese hatten bis zur letzten Minute gehofft, man würde ihnen mitteilen, ihre Tochter sei noch am Leben. Aber spätestens, als der Kripobeamte den entscheidenden Satz mit den Worten begann: „Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen …“, war die Hoffnung der Eltern, ihre Tochter jemals wieder in ihre Arme nehmen zu können, jäh zerbrochen.
Es folgten die üblichen Fragen und Reaktionen. Wer hat unserer Tochter das angetan? Warum? Sie hat doch niemandem etwas getan! Was hat man ihr angetan? Wo hat man sie denn gefunden? Sind Sie auch ganz sicher, dass es unsere Tochter Anna-Lena ist?
Einer der beiden Kripobeamten beantwortete die letzte Frage wortlos, indem er den Eltern das Portemonnaie von Anna-Lena aushändigte. Beamte der Spurensicherung hatten es in ihrer Jackentasche gefunden.
„Eine Verwechselung ist ausgeschlossen“, fügte der andere Kripobeamte hinzu.
Es klang wie ein Urteil, das durch nichts auf der Welt mehr aufgehoben werden konnte. Und diese Tatsache traf Anna-Lenas Eltern bis ins Mark. Ihnen wurde schlagartig bewusst, ihre geliebte Tochter unwiderruflich verloren zu haben. Der letzte Funke Hoffnung, den sie noch hatten, war in diesem Moment erloschen.
Für Josephine und Erwin Bauer war es nur ein schwacher Trost, endlich damit beginnen zu können, um ihre geliebte Tochter zu trauern, und letztlich auch von ihr Abschied nehmen zu können.
Die quälende Ungewissheit über den Verbleib von Anna-Lena war der nüchternen Gewissheit gewichen, dass irgendjemand dieses junge Leben gewaltsam beendet hatte.
Die Mitarbeiter der Mordkommission erlangten trotz weiterer intensiver Ermittlungen keinerlei neue oder brauchbare Hinweise auf den oder die Täter. Selbst ein länderübergreifender Fahndungsaufruf in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ führte nicht zum erhofften Durchbruch. Deshalb wurden die Ermittlungen zum Mord an Anna-Lena Bauer nach zwei Jahren zunächst ergebnislos eingestellt.
Die Ermittlungsakten wurden bis auf Weiteres im Archiv des niedersächsischen Landeskriminalamtes in Hannover abgelegt. Vom 1. November 1987 an zählte der Mordfall unter dem Aktenzeichen 85116805 JS zu den Cold Cases, den kalten Kriminalfällen.
Es sollten mehr als zwei Jahrzehnte vergehen, ehe die Ermittlungsakte erneut auf dem Schreibtisch der Ermittler landete.
„Alex, ich bin glücklich mit Dir!“
Katharina blickte den Mann an ihrer Seite an und flüsterte ihm wiederholt zu:
„Ich bin so unendlich glücklich mit Dir!“
Sekundenlang herrschte Stille. Alex reagierte einfach nicht auf die Liebeserklärung seiner Ehefrau. Er schien mit den Gedanken weit weg zu sein. Katharinas Mann war offenkundig emotional unerreichbar für sie, in einer anderen Welt, die ihn völlig zu absorbieren schien, obwohl sie doch so dicht beieinander lagen.
„An was denkst Du gerade, Liebling?“ Ohne zu antworten nahm er sie zärtlich in den Arm und küsste sie auf die Wange. Wenige Augenblicke später öffneten die Zwillingsschwestern Beatrice und Lea ganz vorsichtig die Schlafzimmertür.
„Mami, dürfen wir zu Euch ins Bett kommen?“
Das Drängen ihrer Töchter kam Alex ganz gelegen. Die beiden kleinen Wirbelwinde unterbrachen seine Gedanken und ersparten ihm schließlich, Antworten geben zu müssen.
„Soll ich Euch etwas vorlesen?“
„Oh ja, Papa, das ist schön“, entgegneten sie freudestrahlend, schlüpften unter die Bettdecke ihrer Mutter und kuschelten sich an sie.
Es war schon zu einem Ritual geworden, dass sich ihre sechsjährigen Töchter an den Wochenenden morgens zu ihren Eltern ins Schlafzimmer schlichen, um ganz nah bei ihnen zu sein. Beatrice und Lea hörten gespannt zu und sahen ihren Vater mit großen, wachen Augen an. Und als die Geschichte gruselig wurde, verkrochen sie sich noch mehr unter die warme Bettdecke. Seine Frau beobachtete ihn sehr genau und schaute ihn die ganze Zeit an, ohne überhaupt etwas von der Kindergeschichte mitzubekommen.
Sie war ihm so nah, und wusste, dass Alex es besonders mochte, wenn sie ihn dafür bewunderte, wie liebevoll und fürsorglich er mit ihren Töchtern umging. Katharina genoss jede freie Minute mit ihrem Ehemann und den beiden Mädels.
Sie hatte Alex während der Feierlichkeit zu einem Firmenjubiläum kennengelernt. Es hatte bei beiden wie ein Blitz eingeschlagen; es war mehr als Liebe auf den ersten Blick gewesen: Vom ersten Moment an hatten sie sich innig vertraut gefühlt. Alex hatte ihre zurückhaltende etwas schüchterne Art sofort gemocht. Es war eine Mischung aus Unsicherheit, Verlegenheit, Respekt und Aufschauen zu ihm, was Katharina ausstrahlte. Und Alex bildete sich ein, sie legte es auch darauf an, von ihm erobert zu werden; er selbst verspürte den Wunsch, sie unbedingt für sich zu gewinnen.
Katharina war von Anfang an fasziniert gewesen von seiner hingebungsvollen, zärtlichen Art. Allein wie er sie anschaute und ständig Komplimente machte, für ihr Aussehen, ihre Art, sich zu kleiden, zu bewegen und sich zu geben. Sie waren sich unausgesprochen darüber einig, dass sie zusammengehörten und es auch für immer bleiben wollten. Ohne Wenn und Aber. Sie fühlten sich wie füreinander bestimmt.
Zwei Jahre nach ihrem Kennenlernen heirateten sie. Aber nicht etwa, weil Katharina im siebenten Monat schwanger war. Sie erinnerte sich noch sehr genau daran, wie ihre Freundin Isabell am Hochzeitstag zu ihr sagte:
„Da ist Dir aber eine richtig gute Partie gelungen. Das ist wie ein Sechser im Lotto! Ich gratuliere Dir und Deinem Alex von ganzem Herzen. Alles Liebe für Euch beide, für Euch Vier“, korrigierte sie sich schnell und schaute dabei auf das Bäuchlein, das sich unter dem Brautkleid schon deutlich rundete.
In Isabell hatte Katharina eine Freundin zur Seite, wie sie sich keine bessere vorstellen konnte. Eine richtig gute Freundin, mit der sie über alles sprechen konnte und die immer für sie da war. Sie kam ihr manchmal vor wie ihre große Schwester.
Vom Äußeren her waren sie sehr unterschiedlich. Katharina, die zierliche, etwas zerbrechlich Wirkende, manchmal auch verträumte, naive und im doppelten Sinne Blauäugige. Und im Gegensatz dazu, ihre Freundin Isabell, die burschikose, spontane und lebenserfahrene Mittdreißigerin, die schon mal gerade heraus etwas mitzuteilen hatte, was ihr Gegenüber nicht immer mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm.
Katharina hatte Alex aus Liebe geheiratet, „… und nicht auch ein bisschen seines Geldes wegen? Gibs ruhig zu!“, provozierte Isabell ihre beste Freundin, als sie sich einmal über das Thema Geld und Liebe austauschten.
Katharina widersprach ihr in diesem Punkt zwar vehement, konnte aber nicht leugnen, dass ihr die finanzielle und auch materielle Sicherheit, die ihr Alex bot, einiges bedeutete. Es gab ihr ein gutes Lebensgefühl, auf das sie nicht mehr verzichten wollte. Und Katharina war durchaus bewusst, was es hieß, einen beruflich so erfolgreichen und angesehenen Partner und Ehemann an ihrer Seite zu wissen.
Zwar trennten sie Beruf und Privatleben strikt, aber wenn Katharina ihn danach fragte, wie es im Job denn so laufe, berichtete Alex gern schon mal ausführlicher. Stolz klärte er sie dann darüber auf, mit welchen Geldbeträgen – er nannte es stets „Transaktionen“ – er tagtäglich zu tun hatte und welch hohe Verantwortung das bedeutete. Es waren nicht selten dreistellige Millionenbeträge, mit denen er hantierte. Katharina war tief beeindruckt davon, und Alex mochte es, wenn sie ihn dafür bewunderte.
Gelegentlich kam Alex darauf zu sprechen, wie leicht es sei, manche Kleinanleger um den Finger zu wickeln und sie innerhalb von Minuten um beträchtliche Geldbeträge zu bringen. Dann fragte sich Katharina schon mal, ob auch wirklich alles mit rechten Dingen zuging. Als gehobene Personalsachbearbeiterin war Katharina in einem ganz anderen Bereich tätig. Sie vertraute Alex und hinterfragte lieber gar nicht erst etwas, von dem sie ohnehin zu wenig verstand.
Dass ihr Ehemann mit Geld, mit sehr viel Geld, umgehen konnte, erlebte Katharina hautnah, als er sie damit überraschte, dass sie in Kürze ein neues Zuhause beziehen würden.
„Ein standesgemäßes Nest für meine kleine Familie“, wie er es nannte. Das freistehende Haus von mittlerer Größe, das sie bis dato bewohnt hatten, schien Alex nicht mehr angemessen zu sein. Er wollte Katharina überzeugen: „Da muss etwas Richtiges her“, und malte ihr seine Ideen in strahlenden Farben aus.
Wenige Wochen später zogen sie in eine kleine Villa in Hannovers Nobelstadtteil Kleefeld. Hier waren Ärzte, Wissenschaftler, Politiker und Neureiche zuhause.
Katharina fühlte sich vom Luxus dieses kleinen Anwesens geradezu erschlagen. Und als sie im Eingangsbereich ihrer Villa standen, platzte es schließlich aus ihr heraus.
„Ja sag mal Alex, können wir uns das alles überhaupt leisten? Das kostet doch ein Vermögen!“ Alex weidete sich am Anblick seiner Frau, so verunsichert und überwältigt, wie sie war.
„Mein Liebes, es ist alles bis ins Detail durchkalkuliert. Also, mach Dir bitte keine Sorgen, okay?“, versuchte er Katharina zu beruhigen.
Am Abend rückte Alex noch mit weiteren Einzelheiten heraus zum Haus selbst und dem dazugehörigen Grundstück von immerhin gut dreitausend Quadratmetern. Fast beiläufig erwähnte er die Kosten und sprach von einem „absoluten Schnäppchenpreis“. Der Kaufpreis für ihr neues Zuhause betrug sage und schreibe knapp 1,2 Millionen Euro.
Zum ersten Mal, seit sie Alex kannte, stellte Katharina sich ernsthaft die Frage, ob sie all diesen Luxus überhaupt brauchte, um mit ihm glücklich zu sein.