Ein Wunder alle hundert Jahre - Ashley Ream - E-Book

Ein Wunder alle hundert Jahre E-Book

Ashley Ream

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Beschreibung

Wird das Wunder uns alle verändern?

Alle hundert Jahre geschieht ein Wunder an der Küste von Washington Island: das Wasser glüht und schimmert grün wie ein Polarlicht. Für sechs Tage. Dr. Rachel Bell erforscht dieses Wunder sowie die winzigen Wasserwesen, die es hervorrufen. Sie hofft, dass das Geheimnis über das grüne Wasser, das allen Mythen und Geschichten zugrunde liegt, wahr ist: demnach könnte es eine Kraft besitzen, die Rachel das Leben retten und die ganze Welt verändern könnte. Rachel hat genau sechs Tage lang Zeit, das herauszufinden. Bevor das Wasser wieder dunkel wird - für die nächsten einhundert Jahre ...

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Seitenzahl: 502

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Zum Buch

Alle hundert Jahre geschieht ein Wunder an der Küste von Washington Island: Das Wasser glüht und schimmert grün wie ein Polarlicht. Für sechs Tage. Dr. Rachel Bell erforscht dieses Wunder sowie die winzigen Wasserwesen, die es hervorrufen. Sie hofft, dass das Geheimnis über das grüne Wasser, das allen Mythen und Geschichten zugrunde liegt, wahr ist: Demnach könnte es eine Kraft besitzen, die Rachel das Leben retten und die ganze Welt verändern könnte. Rachel hat genau sechs Tage lang Zeit, das herauszufinden. Bevor das Wasser wieder dunkel wird – für die nächsten einhundert Jahre …

Zur Autorin

Mit 16 Jahren bekam Ashley Ream ihren ersten Job bei einer Zeitung. Seitdem hat sie für verschiedene Magazine in ganz Amerika geschrieben, bis sie es irgendwann leid war, ständig einer Deadline hinterherzulaufen. Sie suchte sich einen »richtigen« Job und schrieb nur noch in ihrer Freizeit – mit Erfolg: Gleich mehrere Verlage wollten ihren Debütroman veröffentlichen. Seitdem zählt sie Gillian Flynn zu ihren größten Fans. Ashley Ream lebt in Wisconsin, schreibt an ihrem nächsten Buch und läuft in ihrer Freizeit Marathon.

Ashley Ream

Ein Wunder alle hundert Jahre

Roman

Aus dem Amerikanischen von Beate Brammertz

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel The 100 Year Miracle bei Flatiron Books, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Dezember 2017

Copyright © 2016 by Ashley Ream.

Published by arrangement with Flatiron Books. All rights reserved.

Dieses Werk wurde im Auftrag von Flatiron Books durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 bei btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Shutterstock/Anna Tochennikova; Kaspri

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MP · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-20913-1V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Gamms

Prolog

Der letzte Tag des Wunders

Als sich Dr. Rachel Bell umdrehte, sah sie den Mann, der sie gestoßen hatte. Sie wusste, sie würde fallen, und sie kannte den Grund. Die Gewissheit spendete ihr ein sonderbares Gefühl von Trost. Das Präparat, das sie an sich selbst getestet hatte, zermahlen und zu einer Paste verarbeitet, verursachte »akustische und visuelle Halluzinationen«. So stand es in ihrem Notizbuch – nicht dass irgendjemand es im Falle ihres Todes entziffern könnte. Sie hatte ihre Aufzeichnungen in einem Geheimcode verfasst, damit niemand sie ihr stehlen konnte. Von »möglicher Paranoia« war dort ebenfalls die Rede.

In der Dunkelheit und Kälte war sie ins Freie gehastet, um eine letzte Probe aus dem Gewässer der Olloo’et-Bucht zu entnehmen, das sich grundlegend von sämtlichen Gewässern überall sonst auf der Erde unterschied. Ein leuchtend grünes Band lag ringförmig um die gesamte Bucht wie ein im Wasser gebundenes Polarlicht. Das Licht stammte von den biolumineszierenden Körpern winziger Gliederfüßer, Abermillionen, die im seichten Wasser pulsierten. Ihr sechstägiger Lebenszyklus endete bald, und sie sandten ein letztes Mal das Signal zur Paarung aus.

Der Boden war rutschig. Der Wind hatte aufgefrischt, und der eiskalte Regen peitschte ihr so heftig ins Gesicht, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Die glitschigen Felsen waren scharf und tückisch, und es war fast unmöglich, etwas über das zischende Heulen der Wellen hinweg zu hören, die sich am Ufer brachen. Die nächtliche Flut hatte ihren Höhepunkt überschritten und zog sich nun langsam ins Meer zurück, hinterließ dabei leuchtende Wasserlachen zwischen der kantigen Felszunge. Es war das Aufbäumen am allerletzten Tag der Laichzeit, ein Ereignis, das sich erst in einem Jahrhundert wiederholen würde. Es war so selten und unglaublich, dass im Vergleich dazu selbst Kometen und Meteoriteneinschläge alltäglich wirkten. Zeitungen und Fernsehreporter hatten es das Hundertjahrwunder getauft.

Und dieses Wunder stellte Dinge mit den Menschen an. Sonderbare und nicht immer nur wunderbare Dinge.

1.

Der erste Tag des Wunders

Die Fischerei- und Naturschutzbehörde hatte den Strand der kleinen halbmondförmigen Bucht mit gelbem Absperrband abgeriegelt. Der Bürgermeister und der Gouverneur hatten in zwei getrennten Pressekonferenzen – nicht einmal diesen Termin wollten sie teilen – die Menschen gewarnt, sich vom Wasser fernzuhalten. Sie fürchteten, die Inselbewohner und Touristen könnten so viele Artemia lucis in Glasgefäßen sammeln, um sie wie Glühwürmchen staunend zu betrachten, dass die Laichaktivität gestört werden und die Gattung für immer aussterben könnte. Diese Sorge war Dr. Bells Meinung nach nicht ganz unbegründet.

Rachel zog den Reißverschluss ihrer wasserdichten Jacke ein Stückchen höher. Handschuhe wären angebracht gewesen, aber sie konnte in ihnen nicht arbeiten. Die Winter auf den San Juan Islands waren kalt, allerdings selten so kalt, dass es schneite, und der unaufhörliche Niesel musste nicht einmal schmelzen, bevor er in ihre Kleidung, Stiefel und Haut drang. Der leichte, wenn auch fortwährende Regen hatte im Laufe des Tages nicht nachgelassen, und bis Juni würde er das auch nicht tun. Anscheinend konnte man sich an das Klima gewöhnen, aber Rachel, die in Arizona aufgewachsen war, wo die Sonne einem die Knochen schon zu Lebzeiten versengte und ausbleichte, konnte sich nicht vorstellen, sich jemals an dieses Wetter zu gewöhnen. Die vergangenen zwei Jahre war ihr durchgehend kalt gewesen. Es war eine Kälte, der weder mit dicken Wollsocken noch unförmigen Sweatshirts zu Leibe gerückt werden konnte. Es war die Art Kälte, die Menschen schrecklich gereizt machte.

Wären die Artemia lucis nicht gewesen, hätte Rachel es niemals in Betracht gezogen, an einen solchen Ort zu ziehen. Aber bei Wissenschaftlern hat es eine lange Tradition, dass sie ihren Obsessionen in die ungemütlichsten und gefährlichsten Winkel der Welt folgen, tief in den Dschungel oder hinaus auf Eisschollen, weshalb sie sich niemals, unter gar keinen Umständen, bei ihren Teamkollegen beschwert hätte, von denen einige mit Nieselregen und Moos aufgewachsen und anscheinend gut gediehen waren, als wäre die Feuchtigkeit eine Art Wachstumsmittel.

Ihr Forschungsteam wurde von Dr. Eugene Hooper geleitet, der dem Institut für Biologie an der University of Washington schon so lange vorstand, dass sich niemand mehr erinnerte, wer es vor ihm geleitet hatte. Hooper, der seinen Vornamen hasste und nicht reagierte, wenn er damit angesprochen wurde, war einen Kopf größer als alle anderen Männer am Institut. Scheinbar unfähig, Körperfett anzusetzen, lag seine Haut wie eine Schrumpffolie um seinen Körper, und er hatte um Mund und Augen tiefe Falten, die sich durch zu viel Sonne während zu vieler Forschungsexpeditionen eingegraben hatten. Die Arbeit hatte auch noch auf anderen Gebieten ihren Tribut gefordert. Eine Reise nach Borneo zu Anfang seiner Karriere beutelte ihn seitdem in all den Jahren mit wiederkehrenden Malariaschüben, was zu interessanten »Abwesenheitshinweisen« führte.

Alle Seminare, Sprechstunden und Sitzungen von Dr. Hooper entfallen in dieser Woche aufgrund fiebriger Halluzinationen. Vielen Dank für Ihr Verständnis.

Hoopers Team für diese Forschungsreise war vor einem Jahr zusammengestellt worden und wartete seitdem auf seinen Einsatz. Während die voraussichtliche Laichzeit geschätzt werden konnte, konnte das genaue Datum nur auf achtundzwanzig Tage eingegrenzt werden, und selbst das war nur eine Wahrscheinlichkeit.

Jedes Mitglied hatte eine gepackte Reisetasche im Kofferraum seines Wagens. Sämtliche notwendigen Laborausrüstungen und Geräte zum Sammeln von Proben waren zusammengetragen worden und warteten in der Universität auf den Abtransport. Es hatte Einweisungen und praxisorientierte Übungen und mehr Sitzungen gegeben, als Rachel lieb war. Gott bewahre, sollte der Akku eines Handys einmal leer sein! Es war, als seien sie alle werdende Väter, die nur darauf warteten, dass die Fruchtblase platzte.

Als der Anruf an jenem Morgen um kurz nach halb sechs kam, hatte Rachel, eine Biochemikerin, gerade versucht, sich vorzubeugen. Sich vorzubeugen war eines von vielen Dingen, die ihr schwerfielen. Im Schlaf versteifte alles, und egal wie sehr sie sich am Vortag gedehnt hatte, sie musste jeden Morgen wieder von vorne beginnen.

Als Erstes schob Rachel das Deckbett, die Tagesdecke und die Daunendecke beiseite und rutschte von der Matratze wie eine Frau, die ein Glas Wasser auf dem Kopf balanciert. Sobald sie auf den Beinen war, ließ sie den Kopf, der an den seilartigen, knotigen Wülsten der glänzenden Narben an ihrem Halsansatz zog, nach vorne sinken. Sie biss die Kiefer fest zusammen und wartete, bis der schlimmste Schmerz vorüber war, bevor sie die Schultern nach vorne rollte und die Arme locker über die Zehen baumeln ließ. Unter einer Abfolge tiefer, lauter Atemzüge, die sie durch die Zähne presste, dehnte Rachel ihren Rücken, einen Wirbel nach dem anderen. Die Schwierigkeit bestand darin, weder in Ohnmacht zu fallen noch sich zu übergeben. Erbrechen wäre eine bedauerliche Angelegenheit, da sie bereits ihr morgendliches Vicodin geschluckt hatte, und es schade wäre, die Wirkstoffe zu verlieren, die sich noch unaufgelöst in ihrem Verdauungstrakt befanden.

Rachel vollführte gerade ihre Lamaze-Atemtechnik, als ihr Handy laut vibrierte. Es war ein schrilles Plärren in der frühmorgendlichen Stille, während selbst die blau schimmernden Westlichen Buschhäher immer noch fest schliefen.

Mit einer Hand tastete sie blind nach ihrem Nachttisch und dann nach ihrem Handy.

»Bell«, meldete sie sich.

»Rachel?«, sagte Hooper. »Es ist so weit.«

Obwohl sie die chemischen Prozesse in ihrem Gehirn verstand, konnte sie sie nicht kontrollieren. Ein Schwall Adrenalin traf ihre Adrenozeptoren, reizte ihren Sympathikus und löste einen unwillkürlichen Reflex aus. Sie zuckte heftig zusammen und Phosphene schwirrten auf ihrer Netzhaut.

»Aua.« Rachel biss die Zähne zusammen und boxte sich auf die Hüfte.

»Bei Ihnen alles in Ordnung?«

Hooper fragte häufig, ob bei ihr alles in Ordnung war, und Rachel gab stets dieselbe Antwort. Die Frage und die Antwort waren schon so viele Male zwischen ihnen ausgetauscht worden, dass sie keines bewussten Gedankens mehr bedurften. Rachel würde ihm natürlich niemals von ihren Narben erzählen, denn sie erzählte niemandem davon, aber wenn sie jemals eine Ausnahme machen würde, dann bei ihm. Diese rein hypothetische Überlegung war das größte Maß an Vertrauen, das Rachel jemals in irgendjemanden gesetzt hatte, seit sie alt genug war, um Fahrrad zu fahren.

»Alles gut«, sagte Rachel durch einen Atemzug. »Ich bin auf dem Weg.«

Sie beendete das Gespräch mit dem Daumen, ohne sonst irgendein Körperteil zu bewegen. »Verdammt!«

Das, was sie mehr als alles andere auf der Welt herbeigesehnt hatte, traf gerade ein – genau in diesem Moment –, und Rachel hatte keine andere Wahl, als zu warten. Sie wackelte mit den Fingern, krümmte die Zehen, ballte die Fäuste und löste sie wieder, Faust, lösen, Faust, lösen, wackeln, krümmen, wackeln, krümmen, tat einfach alles, um ihre Nerven zu beruhigen. Während sich allmählich jeder Millimeter Narbengewebe entspannte, verlangsamte sich ihr Atem und normalisierte sich dann. Als er vollkommen ruhig war, waren ihre Dehnübungen beendet. Sie erhob sich und zog das schlabbrige T-Shirt aus, in dem sie geschlafen hatte.

Ihr Rücken, von den Schultern bis zu ihrer Hüfte, glich geschmolzenem, tropfendem Wachs. Rachel kannte die Narben gut genug, um darin Formen zu erkennen, so wie ein Kind in Wolken Tiere sah. Rechts von ihrer Wirbelsäule, ungefähr in der Mitte ihres Rückens, gab es einen Baum, links, ein bisschen höher, einen Raben im freien Flug, und zwischen ihren Schulterblättern hatte sich das Gesicht eines alten Mannes eingebrannt. Die Narben dehnten sich, wenn sie sich bewegte, und obwohl sie keinen Deut besser wurden, fragte sich Rachel manchmal, ob sie sich im Laufe der Zeit nicht leicht veränderten, wie Sterne, die am Himmel schwebten.

Obwohl Rachel sie inzwischen nicht mehr abscheulich fand, waren sie es objektiv betrachtet natürlich schon. Es war die Sorte Narbe, bei deren Anblick sich die Menschen die Hände auf den Mund pressten. Die Sorte Narbe, die Menschen Angst einjagte. Und auch wenn ein Erwachsener zu einem Kind sagen mochte, dass sie – dass Rachel – nichts war, wovor man Angst haben müsste, war es eine Lüge. Jeder vernünftige Mensch hätte Angst und sollte sie auch haben, denn ihre Narben waren der Beweis, dass Dinge, die nicht überlebt werden durften, manchmal überlebt wurden, und dass dies keine freudige Botschaft war. Es war besser, nichts davon zu wissen. Rachel wünschte, sie wüsste nichts davon, was zum Teil der Grund war, weshalb niemand jemals ihre Narben gesehen hatte. Kein lebender Mensch, abgesehen von den Ärzten – und von denen hatte es viele gegeben –, wusste, dass sie da waren.

Dieses Geheimnis zu bewahren zog gleichzeitig ihre zwischenmenschlichen Beziehungen in Mitleidenschaft, aber andererseits war es wohl sowieso nicht zuträglich, sie als »zwischenmenschliche Beziehungen« zu bezeichnen.

Mit hastigen Bewegungen griff Rachel nun in eines der zwei kleinen Goldfischgläser auf ihrem Nachttisch. Weiße Pillen in der einen, orangefarbene in der anderen. Das Vicodin war eine Mischung aus Paracetamol, das längst ihre Leber angegriffen hatte, und Hydrocodon. Laut ihrer eigenen Berechnung würde ihre Dosierung bei ihr in weniger als einem Jahr zu Herz- und/oder Lungenversagen führen. Es lagen, dachte sie, einige Vorteile in ihrer distanziert-kritischen Analysehaltung, zwar nicht viele Vorteile, gewiss, aber einige. Dies war einer davon. Sie wusste, wie viel Zeit ihr noch blieb, um ihre Angelegenheiten zu regeln. Sie konnte sich einen Plan zurechtlegen.

Rachel nahm drei Tabletten von ihrem orangefarbenen Vorrat und schluckte sie, während sie die gestrige Kleidung anzog, die sie abends zuvor auf den Boden geworfen hatte. Als sie halb in der Hose steckte, hielt sie inne, dachte kurz nach und fluchte dann leise, während sie sie wieder auszog. Nach kurzem Suchen fand sie eine frische Unterhose, stieg wieder in die Jeans, schnappte sich ihren gepackten Seesack und verließ die Wohnung, ohne daran zu denken, die Lichter auszuschalten.

Der Treffpunkt des unterfinanzierten, aus sechs Forschern bestehenden Teams war die Fähre, die von Anacortes, einem Küstenort achtzig Meilen nördlich von Seattle, zur Insel Olloo’et verkehrte. Doch als sie dort eintrafen, in aller Hast angezogen und mit Coffee to go in der Hand, der in den Getränkehaltern kalt geworden war, waren sie zu siebt. Ein Umstand, der zu betretenem Fußgescharre und verstohlenen Blicken führte. Es war, als säße man beim Essen in einem Restaurant, und ein Wildfremder zöge ungefragt einen Stuhl an den Tisch.

»Das hier ist John«, sagte Hooper und klopfte dem Fremden auf den Rücken. »John ist Experte auf dem Gebiet der Küsten-Ökosysteme und wurde mir in höchsten Tönen empfohlen. Er wird unser Team unterstützen. Ich hoffe, ihr heißt ihn alle bei uns willkommen.«

Rachel stieß ein Geräusch aus. Erst nachdem sie dieses Geräusch gemacht hatte, wurde ihr bewusst, dass es ihr entschlüpft war und ihre Kollegen sie ansahen.

»Wollen Sie etwas sagen?«, fragte Hooper.

Selbst Rachel, die sich in solchen Dingen nicht auskannte, ahnte, dass es besser wäre, ihm eine Antwort schuldig zu bleiben.

Hooper hob eine Augenbraue, aber er fuhr ungerührt fort, und sie ärgerte sich innerlich. Sie waren alle Experten. Sie waren alle in höchsten Tönen empfohlen worden. Das waren kaum Gründe dafür, ihn in letzter Minute mit an Bord zu nehmen. Doch Hooper zu widersprechen wäre nicht nur unhöflich gewesen, es hätte gleichzeitig eine irgendwie geartete Rechtfertigung von ihr verlangt, die zu geben sie unter gar keinen Umständen gewillt war.

Rachel kannte eine sehr wichtige Eigenschaft der Artemia lucis, eine Eigenschaft, von der bis zu diesem sonderbaren Moment, und da war sie sich sicher, keiner in ihrem Team etwas ahnte. Sie war ihnen allen eine Nasenlänge voraus und mit einem Mal, im Wimpernschlag einer Begrüßung, war sie sich da nicht mehr so sicher. Wenn es irgendjemand ahnte – wusste –, dann John. Sie hatte ihn nie zuvor getroffen, aber sie konnte es in seinem Gesicht lesen.

Und sie meinte das nicht im übertragenen Sinne. Seinen Hals hinauf und bis knapp unterhalb seines Ohrs hatte John die Tätowierung der Olloo’et, die allen männlichen Stammesmitgliedern nach der Pubertät, aber bevor sie sich vermählten, in die Haut gestochen wurde. Vier Reihen kohlschwarzer Punkte. Insgesamt achtundachtzig.

Die Olloo’et waren ein kleiner Stamm gewesen, viel kleiner als die bekannteren Snohomish, an deren Hauptquartier in der Nähe der Interstate 5 Rachel auf dem Weg zur Fähre vorbeigekommen war. Die Olloo’et gehörten zu den Nordwestküstenstämmen, aber sie sprachen weder eine der Salish-Sprachen noch der Chimakum- oder eine der Chinook-Sprachen. Sie unterschieden sich kulturell, linguistisch und geografisch von allen anderen Stämmen und lebten nur auf einer einzigen Insel, der vom Festland am weitesten entfernten, noch bewohnten Insel. Im Gegensatz zu anderen Stämmen waren sie nicht, wie etwa die Nimi’ipuu, als große Diplomaten bekannt oder als große Krieger wie die Cayuse. Im Grunde waren die Olloo’et fast völlig unbekannt.

Rachel hatte zwei Jahre damit verbracht, die Handvoll alter Fotografien zu studieren, die es von diesem Volk noch gab, Johns Vorfahren, einem Stamm, von dem sie angenommen hatte, er wäre kein Teil dieser Welt mehr, ausgestorben wie der Brillenkormoran. Natürlich war das lächerlich. Sprachen starben aus. Religionen verschwanden. Menschen nicht. Sie assimilierten und vermehrten sich, und als Nächstes befand man sich in einem Team mit John.

Der Rest der Forscher kam auf ihn zu. Zwei- oder dreimal wurden Hände geschüttelt, mehrfach höflich mit dem Kopf genickt, aber später wäre Rachel die Einzige, die sich an seinen Namen erinnern würde. Bei den übrigen sorgten Aufregung und Nervosität dafür, dass alles andere zur Nebensächlichkeit wurde. Die Anspannung hüpfte von Forscher zu Forscher über wie statische Elektrizität, ließ sie die Ausrüstung doppelt prüfen, auf den Zehen wippen und mit ihren Reißverschlüssen spielen. Rachel war auch nervös. In ihren Jackentaschen ballte sie die Hände zu Fäusten und löste sie wieder, spähte zu John und versuchte gleichzeitig, den Neuen, der neben Hooper stand und vertraulich mit ihm zu reden schien, nicht anzuschauen.

Die Fähre, die in dem ruhigen Gewässer sanft auf und ab schaukelte, hatte angedockt. Wagen, die zurück zum Festland wollten, wurden weggefahren, und das Team hastete zu den Autos zurück. John, der die Statur eines Rugbyspielers hatte, bückte sich, um seinen Seesack aufzuheben. Im selben Atemzug griff er mit der anderen Hand nach dem Rucksack, der zu Rachels Füßen lag. Sie stürzte sich auf ihre Tasche, bevor John die Finger um die Riemen legen konnte.

»Der gehört mir«, sagte sie, hob den abgewetzten Rucksack hoch und warf ihn sich über die Schulter, außer Reichweite von John.

»Ich wollte nur behilflich sein.«

»Ich brauche keine Hilfe.« Zu viele Sekunden verstrichen, bevor sie daran dachte hinzuzufügen: »Vielen Dank.«

»Nie?«, fragte er.

»Was nie?«

»Sie brauchen niemals Hilfe?«

Rachel richtete ihre Antwort an sein linkes Ohr. »Einmal brauchte ich Hilfe. Ich hatte einen Stromschlag bekommen, als ich das Licht in meinem Badezimmer neu verlegen wollte.«

Das letzte Fahrzeug fuhr von der Fähre, und eine Möwe landete neben ihren Füßen, angelockt von einer leeren Tüte Kartoffelchips.

»Ist das ein Scherz?«, fragte John.

»Ich brauchte ein EKG.«

John erwiderte nichts. Hooper rief seinen Namen, und er löste sich von ihr, ohne sich zu verabschieden, was Rachel recht war, nur dass Hooper gewöhnlich nach ihr rief. Stattdessen blieb sie nun allein zurück.

Die Überfahrt nach Olloo’et dauerte zwei Stunden. Das siebenköpfige Team richtete Arbeitsplätze sowohl am Ufer als auch in dem Sommercamp ein, in dem sie sich eingemietet hatten. Sie arbeiteten so rasch und effektiv wie eine MASH-Einheit, die ein Feldlazarett aufbaut. Ein paar von ihnen würden nachts arbeiten. Hooper würde beide Schichten überwachen und schlafen, wann immer er Zeit fand. Bei Sonnenuntergang versammelten sie sich alle an dem steinigen Strand der Bucht und betrachteten das Wasser, das allmählich grünes Feuer fing, anfangs nur ein bisschen, sodass Rachel blinzeln und die Augen zusammenkneifen musste, um sich zu vergewissern, dass sie es sich nicht nur einbildete.

Streifen und Schlieren von Limettengrün tauchten am Ufer auf, als wären Hunderte, vielleicht Tausende Leuchtstäbe geknickt und dann in die Bucht geschüttet worden. Die Flecken aus phosphoreszierendem Neon wuchsen, breiteten sich aus und gingen ineinander über.

Ehrfurchtsvolles Gemurmel kam von den versammelten Einheimischen, die sich nebeneinander hinter dem gelben Absperrband aufgestellt hatten. Rachel schlang sich die Arme um den Körper, grinste breiter als gewollt und musste sich auf die Lippe beißen, um kein lautes Juhuu hinauszuschreien. Wäre sie allein gewesen, wäre sie womöglich jubelnd über den Strand gehüpft wie ein kleines Kind, das auf einen Schlag die Geschenke von zehn Weihnachtsfesten bekommen hat.

Diese winzigen Gliederfüßer, die mit Salzwasserkrebsen verwandt waren, gehörten zu den seltensten Lebewesen der Welt. Artemia lautete der Gattungsbegriff. Lucis stammte von dem lateinischen Wort lux für Licht.

Soviel Rachel wusste, hatte kein lebender Mensch je diese Tierchen außerhalb eines Probengefäßes gesehen. Sie hatten einen mehrgliedrigen Körper, ein Exoskelett und zweiundzwanzig Beine, was ungehörig viel für ein Lebewesen war, das kaum mehr als acht Millimeter maß. Bei einer Lebensspanne von gerade einmal sechs Tagen laichten sie millionenfach, aber eben nur einmal in einem Jahrhundert, und sendeten sogleich dieses biolumineszierende Signal aus. Sie – die Biologen, die dort am Ufer standen – glaubten, dass es der Paarung diente. (Fast alles diente auf die eine oder andere Weise der Paarung.) Das Licht mochte von der Dichte abhängen. Es mochte von den Bewegungen des Wassers ausgelöst werden. Sie wussten so wenig, dass es Rachel schier den Atem verschlug. Der Gedanke war aufregend, ließ ihre Haut kribbeln und ihr Herz schneller schlagen. Sie kam sich wie eine Entdeckerin vor, die etwas völlig Neues erforschte. Schon bald würde sie Dinge wissen, die vor ihr niemand gewusst hatte. Kein einziger Mensch. Noch nie.

»Na schön«, sagte Hooper zu den sechs anderen Wissenschaftlern, die Schulter an Schulter zu beiden Seiten von ihm standen. Er holte Atem und schien nach etwas Wichtigem zu suchen, das er sagen wollte. Sie alle spürten es und strafften erwartungsvoll den Rücken, bereit, diesen schicksalhaften Moment auf sich wirken zu lassen, selbst Rachel, die noch nie eine Freundin großer Reden gewesen war. Aber die Inspiration verließ Hooper jäh, und sie alle mussten sich mit einem »Sie wissen, was zu tun ist« begnügen.

Rachel trottete mit einem Planktonnetz, an dem ein Probenbehälter befestigt war, zu dem wartenden Kajak. Das hier war es, dachte sie. Das hier war, worauf sie gewartet hatte, die Sache, die ihr das Leben retten könnte und würde.

2.

Tilda bog in die Auffahrt des Hauses ein, das seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr ihres war. Es war dreistöckig, mit weißen Stuckelementen und einem mit verwitterten grauen Schindeln gedeckten Dach. Ein Innenarchitekt würde vielleicht jemanden beauftragen, Schindeln ein »Antikfinish« zu verpassen, damit sie ganz genau wie diese aussahen. Vor der Haustür befand sich eine Veranda, die nichts im Vergleich zu der breiten Terrasse auf der Rückseite des Hauses war, von der man über eine Treppe zu dem schmalen Strand gelangte. Von fast jedem Zimmer aus hatte man einen ungetrübten Blick auf die Bucht. Es war die Art Haus, das Menschen, die Vermögensseminare besuchten, auf ihre »Traumcollagen« klebten. Es gab sogar eine echte Bibliothek mit passender Leiter, die auf einer Schiene rollte. Zumindest hatte es sie noch vor ein paar Jahren gegeben. Tilda hatte sie selbst einbauen lassen.

Sie schaltete den Motor aus und knöpfte den Mantel zu. Drei Zeitungen lagen auf der Auffahrt, vom Regen durchweicht, und sie wusste, wenn sie den Briefkasten öffnete, würde sie die Post einer Woche vorfinden. Sie stellte den Kragen bis zum Kinn hoch und marschierte mit einer Reisetasche in jeder Hand zur Haustür.

Im Fenster zu ihrer Linken, damit kein Besucher es übersehen konnte, hing eines ihrer Poster. »Tilda wählen. U.S. Senat.« Es war ausgeblichen, und der Klebestreifen hatte sich an einer Ecke abgelöst, das perfekte Sinnbild für ihre erfolglose Wiederwahlkampagne. Und so typisch für ihren Exmann, es noch monatelang hängen zu lassen, nachdem es keinerlei Bedeutung mehr hatte.

Sie klingelte. Shooby bellte auf der anderen Seite der Tür – nur einmal, um zu zeigen, dass er noch Herr der Lage war.

Es dauerte sehr lange, bis Harry an die Tür kam.

Tilda stand da, die Reisetaschen in der Hand, und wartete. Ein Auto fuhr in die Auffahrt des Nachbarhauses. Ihr Blick wanderte in seine Richtung, während sie versuchte, sich den Anschein zu geben, als sähe sie nicht hin. Ein Mann stieg aus. Er hingegen musste sich nicht den Anschein geben, als sähe er nicht neugierig zu ihr hin, denn er tat es gar nicht. Er ließ den Wagen in der Auffahrt stehen – wahrscheinlich war die Garage vollgestopft mit Müll – und betrat das Haus durch die Vordertür.

Tildas Augen glitten zurück zu ihrer Extür. Aus der Nähe betrachtet, war nicht zu übersehen, dass sie einen neuen Anstrich gebrauchen konnte. Das Rot blätterte an einigen Stellen ab. Zu ihren Füßen bemerkte sie flaumige grüne Flechten, die der durchdringenden Feuchtigkeit geschuldet waren. Sie wuchsen entlang der Verandaecken und hatten längst die untersten zehn Zentimeter des Hauses besiedelt. Es bedürfte eines anständigen Hochdruckreinigers, um sie zu entfernen.

Tilda überlegte, ob sie noch einmal klingeln sollte. Sie erwog, den Messingtürklopfer zu betätigen, tat es jedoch nicht. Bei dem Lärm würde Shooby einen Anfall bekommen. Sie dachte an den Nachbarn, der nicht derselbe Nachbar war wie damals, als sie hier gewohnt hatte. Sie fragte sich, was aus ihren alten Nachbarn geworden war, den Feingolds. Hießen sie überhaupt Feingold? Vielleicht war es Feinstein. Sie konnte sich nicht erinnern und schob es auf das Alter, was die Sache nicht besser machte. Wer auch immer sie gewesen waren, sie hatten eine Katze ohne Schwanz besessen, die draußen frei herumlaufen durfte, bis sie von einem Auto überfahren worden war. Das wusste Tilda noch. Der neue Nachbar war höchstwahrscheinlich genauso verantwortungslos.

Und er hatte höchstwahrscheinlich für ihren Gegenkandidaten gestimmt.

Wahrscheinlich war er überhaupt nicht zur Wahl gegangen. Ein Phlegmatiker. Das war nicht zu übersehen.

In den vergangenen paar Monaten hatte sie sich häufig solche Gedanken über Fremde gemacht. Angesichts des Wahlergebnisses lag sie wohl in den meisten Fällen richtig.

Da öffnete Harry endlich die Tür, den Hund zu seinen Füßen. »Komm rein. Komm rein«, sagte er.

Sie hatte Harry seit einem halben Jahr nicht gesehen. Dennoch hatte er sie angerufen und eingeladen. Dieser Schritt musste ihn große Überwindung gekostet haben, das wusste Tilda. Harry war nicht die Sorte Mensch, die um Hilfe bat. Er war die Sorte Mensch, die, in Flammen stehend, noch versuchen würde, selbst den Feuerwehrschlauch zu bedienen. Das war mehr oder weniger das, was er getan hatte, seit vor zwei Jahren seine neurologische Erkrankung diagnostiziert worden war.

Ihr Sohn, der in Seattle lebte, hatte Tilda erklärt, womit sie zu rechnen hatte. Sie hatte ihn verstanden, aber anscheinend nicht richtig zugehört. Es gelang ihr nun kaum, ihr Erstaunen zu verbergen.

»Harry«, hauchte sie.

Harry Streatfield war früher Komponist gewesen – und das war er auch heute noch. Er arbeitete am Klavier und hatte lange, spinnenartige Finger, denen die Tasten blind gehorchten. Nur dass diese Finger jetzt um den Griff eines Vierfußgehstocks gekrallt waren, einer dieser Aluminiumgehhilfen, die Krankenhäuser und Altenheime ausgaben. Er stützte sein ganzes Gewicht darauf. Sein rechtes Knie war eingeknickt und sein Fuß stand in einem sonderbaren Winkel ab. Er belastete diese Körperseite kaum, und das Bein, obwohl es in einer braunen Hose und praktischen braunen Schuhen steckte, sah wie das eines Krüppels aus.

»Nein.« Er ließ die Gehhilfe los und hielt die Hand zwischen ihnen hoch, als würde er den Verkehr regeln. Die andere Hand blieb auf der Türklinke liegen, stützte ihn. »Wenn du mir mit diesem Scheiß kommst, kannst du gleich wieder nach Hause fahren.«

Es war genug Harry, selbst wenn er in diesem verkrüppelten Körper gefangen war, um Tilda in die Version ihrer selbst zurückzuverwandeln, zu der sie in Harrys Gegenwart immer wurde.

»Es ist kaum zu glauben, dass du all die Pflegerinnen vertrieben hast«, sagte sie.

»Es waren nur zwei, und sie waren beide Vollidioten.«

Eine Seite seines Gesichts hing leicht herab und zog seinen Mundwinkel und ein Auge nach unten. Tilda versuchte, ihn nicht unverhohlen anzustarren, und war dankbar, dass die Krankheit seine Sprache noch nicht in Mitleidenschaft gezogen hatte – auch wenn es irgendwann passieren würde.

»Ach wirklich?«, fragte sie.

»Allem Anschein nach bekommt heutzutage jeder ein Pflegediplom.«

Harry drehte sich um, wobei er mehrmals Anlauf nehmen musste wie ein Auto, das eine 180-Grad-Drehung vollführte, und humpelte ins Haus. Tilda folgte ihm, zog die Tür hinter sich ins Schloss und versuchte, nicht ungeduldig zu werden angesichts der Zeit, die es sie beide – drei, Shooby mit eingerechnet – kostete, bis sie den Küchentisch erreichten.

Shooby war nicht ihr Hund gewesen. Harry hatte ihn viele Jahre, nachdem Tilda ausgezogen war, bei sich aufgenommen, aber sie mochte die Promenadenmischung. Sein Name war Schubert, und er erinnerte irgendwie an einen Jagdhund, auch wenn niemand genau wusste, was er war. Seine Beine waren zu lang für den Körper, und seine Pfoten sahen aus, als müsste er noch hineinwachsen, obwohl er längst seine volle Größe erreicht hatte. Sein Fell war mittelbraun, bis auf eine einzige weiße Stelle an der Schnauze. Seine Ohren flatterten, wenn er lief, und wurden beim Trinken nass. Shooby stammte aus dem Tierheim, und es gab keine treuere Seele von einem Hund als ihn. Sie waren sich schon einmal begegnet, und er mochte Tilda. Er mochte im Grunde jeden – wahrscheinlich sogar den Nachbarn, der nicht in seiner eigenen Garage parkte. Aber Harry liebte er von ganzem Herzen.

Tilda stellte die Reisetaschen auf den Boden, und Shooby schnüffelte daran, um sich zu vergewissern, dass nichts Gefährliches in ihnen versteckt war, bevor er sich seinem Herrchen zu Füßen plumpsen ließ. Tilda überlegte gerade, ob sie den Rest ihrer Sachen gleich entladen oder den Mantel ablegen und sich erst einmal hinsetzen sollte, als Harry verkündete: »Ich habe Hunger. Was machst du uns zum Abendessen?«

Sie blinzelte und warf ihm ihren unschuldigsten Blick zu. »Was? Ich werde hier nicht bekocht?«

Die linke Hälfte von Harrys Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

Herrgott noch mal, Tilda hasste Rauchmelder. Sie stand auf dem Küchenstuhl und versuchte, das Innenleben von Harrys Melder herauszureißen, der an roten und blauen Drähten von der Decke hing. Als endlich die Batterie entfernt war, klang alles wie gedämpft von dem markerschütternden Sirenenecho, das immer noch in ihrem Kopf hallte. Harrys Hände waren auf seine Ohren gepresst. Er wirkte wie ein übergroßes Kind, und Shooby war so aufgeregt, dass Tilda fürchtete, er würde gleich pinkeln.

Tilda hatte versucht, Butter für eine Soße anzubräunen, um sie zum Hühnchen zu servieren. Ohne großen Erfolg. Allerdings war das Hühnchen selbst in etwa genauso schlimm wie die Soße. Es bestand zwar keinerlei Gefahr einer Salmonellenvergiftung, aber man musste ordentlich Flüssigkeit zu sich nehmen, um die steinharten Brocken hinunterzubekommen.

»Früher konntest du das besser«, sagte Harry und ließ die Hände sinken.

Er saß immer noch am Tisch. Das Kreuzworträtsel der Sonntagszeitung lag vor ihm aufgeschlagen, ausgefüllt mit Kugelschreiber. Die Buchstaben sahen zittrig aus, aber die Fragen schienen ihm noch keine Schwierigkeiten zu bereiten. Fast kein Kästchen war leer.

»Das stimmt nicht«, erwiderte Tilda. »Ich war noch nie gut darin.«

Harrys Augenbrauen zogen sich zusammen, das gelang ihm offenbar immer noch. »Wir haben immer gegessen.«

»Das Abendessen kam aus dem Kühlregal des Supermarkts«, sagte sie.

»Wirklich?«

»Natürlich.«

»Wusste ich das?«

»Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was du wusstest.«

Harry neigte dazu, nur den Dingen Beachtung zu schenken, die ihn interessierten, und verfügte über die bemerkenswerte Fähigkeit, alles auszublenden, was ihn nicht interessierte, was für gewöhnlich Ehefrauen und Kinder einschloss.

»Da war dieser Hackbraten«, sagte er. »Ich erinnere mich an einen Hackbraten.«

»Supermarkt«, wiederholte Tilda.

»In einer Tomatensoße. Das war lecker.«

»Vielleicht gibt es im Jake’s Hackbraten«, sagte Tilda.

»Das glaube ich nicht.«

»Dann bestell etwas anderes. Wo ist dein Mantel?«

3.

Das Jake’s war Tildas und Harrys Stammrestaurant gewesen. Es lag am Ende der Straße, die sich um die Bucht schlängelte, keine Meile von ihrem Haus entfernt.

Harrys Haus, berichtigte sich Tilda.

Wie die restlichen Häuser am Strand nutzte das Jake’s seine Uferlage mit einer teuren und ausladenden Terrasse, die sie im Winter mit Heizstrahlern und durchsichtigen Plastikplanen ausstatteten. Das Plastik hielt den Wind ab (meistens), schützte vor Regen (meistens) und ließ das Haus aussehen, als wäre es jederzeit dafür gerüstet, dass bei Termitenbefall Insektizide gesprüht werden konnten.

Es war noch früh, aber das Restaurant füllte sich bereits. Fremde mit Fotoapparaten hockten zwischen Burgern und riesigen Bergen Pommes frites, und die Kellnerinnen, junge Mädchen aus der Gegend mit Pferdeschwänzen und kleinen Tattoos, wirkten überwältigt von dem Strom an Kundschaft.

Harry wollte draußen auf der Terrasse sitzen, mit Blick auf das Geschehen in der Bucht. Tilda hingegen fand, die Kälte wäre schlecht für ihn, und bestand darauf, drinnen zu sitzen. Harry widersprach, dass sie sich lächerlich machte, und bedeutete der Bedienung mit einer Handbewegung, sie ins Freie zu bringen. Die Kellnerin sah aus, als hätte sie ebenso viel Lust auf ein Streitgespräch mit einer behinderten Person wie auf eine antibiotikaresistente Gonorrhö. Wenn es irgendjemand schaffte, seiner schwierigen Lage etwas Positives abzugewinnen, dann Harry, dachte Tilda, und folgte den zweien hinaus auf die überdachte Terrasse.

Die Außentemperatur betrug keine zehn Grad, doch unter dem Wald an Heizstrahlern musste Tilda ihren Mantel aufknöpfen. Dies ließ den missbilligenden Ausdruck in ihrem Gesicht jedoch nicht verschwinden.

»Früher warst du entspannter«, sagte Harry zu der in Plastik eingeschweißten Speisekarte, die er in Händen hielt.

»Und du gut aussehend«, sagte sie.

»Du musst nett zu mir sein. Ich liege im Sterben. Außerdem sehe ich immer noch gut aus.«

Harry – und er vermutete, auch jeder andere – war sich durchaus bewusst, dass er das nicht tat, doch diese Erkenntnis stellte für ihn keinen Verlust dar. Tilda hingegen hatte die kantigen Gesichtszüge und langen Gliedmaßen, die man häufig auf kubistischen Gemälden sah. Es war ein Aussehen, das ihr als junge Frau, als sich ihr Selbstwertgefühl herausbildete, keine guten Dienste geleistet hatte. Harry wusste, dass sie nicht nachvollziehen konnte, wie sie in ihr Aussehen hineingewachsen war, und wie anziehend sie auf eine gewisse Sorte Mann wirkte.

Tilda konterte: »Ich muss nicht nett zu dir sein. Du hast mich für eine Grundschülerin verlassen. Aber ja, objektiv betrachtet siehst du wohl immer noch ganz passabel aus.«

Es kostete sie ihre gesamte Willenskraft, damit sich ihre Mundwinkel nicht zu etwas wölbten, das jemand mit einem Lächeln hätte verwechseln können, und zwar derart, dass sie sich nicht auf das Lesen der Speisekarte konzentrieren konnte. Ihre Augen huschten einfach mechanisch hin und her.

»Ich habe dich wegen keiner anderen verlassen«, sagte Harry, ohne den Blick von den Vorspeisen zu lösen.

Das Gespräch glich einem Drehbuch. Jedes Mal, wenn sie sich sahen, spulten sie eine Version davon ab. Es war wie ein alter Lieblingsfilm, nur dass der Teil mit dem Sterben neu war.

»Ich habe Maggie sechs Monate, nachdem du ausgezogen bist, getroffen, und das weißt du«, fuhr er in seinem Skript fort.

»Wie geht es Maggie?«, fragte Tilda.

»Sie genießt ihre Unterhaltszahlungen«, erwiderte er. »Sie wird stinksauer werden, wenn ich den Löffel abgebe.« Er wechselte das Thema, ohne auch nur einen einzigen Atemzug zu holen. »Ich nehme die gebackenen Kokosnuss-Shrimps.«

»Die sind nicht gut für dich«, sagte Tilda.

»Die Unterhaltszahlungen oder die Shrimps?«

»Die Shrimps. Die bestehen aus nichts als Fett und Zucker.«

»Das ist kaum ein Hinderungsgrund. Ich werde nicht lang genug leben, um Diabetes zu bekommen.«

Ihre Bedienung blieb an ihrem Tisch stehen, um ihnen ihr Wasser hinzuknallen, bevor sie wieder verschwand. Sie stellte sich nicht vor oder empfahl ein Tagesgericht, und es war offensichtlich, dass der Service an diesem Abend dem Standard eines Drive-in-Restaurants entsprach.

»Hör auf, so zu reden«, rügte Tilda ihn und fuhr im nächsten Atemzug fort: »Herrgott, ich will ein Glas Wein!«

»Ich denke, ich nehme auch ein Gläschen, jetzt, wo du es erwähnst«, sagte Harry.

»Nein, wirst du nicht. Alkohol verträgt sich nicht mit deinen Medikamenten.«

Irgendwo war Schluss.

Harry schnaubte. »Ja, wie schrecklich, sollte sich irgendetwas nicht mit meinen Medikamenten vertragen, die zu nichts weiter gut sind, als mir das Geld aus der Tasche zu ziehen, mir den Schlaf zu rauben und Magenprobleme zu verursachen. Daran darf man natürlich nicht rütteln.«

»Stell dir nur vor, wie die Dinge aussähen, wenn du dich nicht an deinen Gesundheitsplan halten würdest.«

Seit der Scheidung war Tilda in losem Kontakt mit Dr. Woo geblieben. Er war mit ihnen befreundet gewesen, als sie noch einen gemeinsamen Freundeskreis gepflegt hatten, und war einer der wenigen, dem es gelungen war, mit ihnen beiden eine Freundschaft zu erhalten. Er war derjenige, der Harrys Diagnose gestellt hatte, und derjenige, der die Unmenge an Medikamenten vorgeschlagen hatte, die Harry nun einnahm. Es hatte nie eine Hoffnung auf Genesung gegeben. Das Beste, was sie tun konnten, hatte Dr. Woo erklärt, war, zu versuchen, die Krankheit zu verlangsamen.

Die Bedienung kehrte zurück. Tilda bestellte einen Chardonnay für sich und einen Tee für Harry, bevor er auch nur einen Laut herausbekam. Er funkelte sie finster an, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Leg dich nicht mit mir an, sonst bringe ich deinen Hund um, nur um ihm beim Sterben zuzusehen.«

Harry brach so unerwartet in schallendes Gelächter aus, dass er sich an seiner eigenen Spucke verschluckte. Er musste sich das Kinn mit seiner Serviette abwischen und einen Schluck Wasser trinken, bevor er die Fassung wiedergewann. Als es ihm schließlich gelang, sagte er: »Halt die Klappe! Gleich beginnt die Show.«

Die Sonne, nichts weiter als ein pinkfarbener Streifen am Horizont und verdeckt von einer tiefen Wolkenbank, würde in fünfzehn Minuten untergehen. Gelbes Absperrband flatterte ganz am Ende der Terrasse im Wind. Dahinter scharten sich Wissenschaftler unter weißen Zeltplanen. Tische und Stühle waren aufgestellt, Laptops und Mikroskope ordentlich aufgereiht und betriebsbereit. Aus der Ferne wirkten die Wissenschaftler gehetzt und arbeitsam, obwohl Harry und Tilda nicht sagen konnten, was genau sie dort taten.

Weiter unten am Strand hatte sich eine Menschentraube versammelt. Sie warteten in einem abgeriegelten Bereich, weit weg vom Sand, gezwungen, im Gebüsch zu stehen, das wie eine natürliche Grenze gewachsen war. Es gab mehr Menschen, darunter einige Filmcrews, als Tilda jemals zu irgendeiner Zeit in Olloo’et gesehen hatte. Zwei Männer in Uniform behielten die Dinge von der anderen Seite des gelben Absperrbands aus im Auge, aber jeder wusste, dass sie nichts anrichten könnten, sollte sich die Herde entscheiden loszustürmen.

»Hast du die Nachrichten gesehen?«, fragte Harry, ohne den Kopf zu drehen.

»Natürlich.«

Tilda hatte befürchtet, keinen Platz für ihr Auto auf der Fähre zu bekommen. Touristen fluteten in Scharen die Insel, um das Hundertjahrwunder zu erleben. Sämtliche Zimmer in den kleinen Gasthäusern und Frühstückspensionen waren ausgebucht. Sollten Harry und sie sich streiten, müsste Tilda im Freien schlafen.

Harry warf einen Blick auf seine Uhr. Eine Minute verstrich. Zwei. Ihre Getränke kamen. Tilda glaubte, ein Flackern im Wasser zu sehen, doch als sie die Augen zusammenkniff, war es verschwunden. Drei Minuten vergingen. Vier. Und dann, als habe jemand die Weihnachtsbeleuchtung angeschaltet, glühte die gesamte Bucht. Anfangs nur ein bisschen, dann nahm das Leuchten zu, wurde heller und immer heller. So etwas hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen.

»Unglaublich«, hauchte Tilda.

»Ich weiß«, sagte Harry.

Es war das aufrichtigste Gespräch, das sie seit Monaten geführt hatten. Selbst die Wissenschaftler, ansonsten in ununterbrochen wuselnder Betriebsamkeit, hielten in ihrer Arbeit inne und blickten zum Wasser.

Harry und Tilda verbrachten den Rest des Abendessens damit, zur Bucht zu starren. Neben den weißen Zelten wurden Generatoren eingeschaltet, und Glühbirnen strahlten die Forscher an. All jene, die nicht vor Laptops und Mikroskopen saßen, waren unten am Ufer, ihre Bewegungen untermalt von den hüpfenden weißen Lichtern ihrer Stirnlampen.

Seit ihrer Ankunft im Restaurant hatte Harry hauptsächlich die linke Hand benutzt, die rechte lag reglos in seinem Schoß. Doch als seine Shrimps samt Schwanz serviert wurden, beobachtete Tilda aus den Augenwinkeln, wie er die rechte Hand einsetzte, um sein Messer zu halten. Das Besteck klapperte gegen den Teller, als seine Hand zu zittern begann. Er würde nicht wollen, dass sie es sah, weshalb sie vorgab, es nicht zu bemerken, während Harry versuchte, mit Messer und Gabel die Schwänze zu entfernen. Diese einfache Koordinationsübung überforderte ihn. Das zuckende Messer verfehlte den Shrimp und schob stattdessen einen Berg Krautsalat auf die Tischdecke. Harry fluchte. Tilda reagierte nicht, sondern behielt den Strand im Auge.

Eine der Forscherinnen entfernte sich von der geschäftigen Meute. Sie hatte ein Handy an das eine Ohr gepresst und eine Hand über dem anderen, um den Lärm auszublenden. Schon bald war sie nur noch knapp fünf Meter von Harry und Tilda entfernt, schenkte ihnen oder den restlichen Gästen aber keinerlei Beachtung. Im Grunde machte es den Anschein, als würde sie selbst das Restaurant nicht bemerken. Noch nie hatte Tilda jemanden derart konzentriert gesehen.

Die Frau erregte auch Harrys Aufmerksamkeit. »Becca?«

Tilda zuckte zusammen und erstarrte dann. Sie atmete, bekam aber kaum Luft. Nichts an ihr bewegte sich.

Harrys Augen glitten von der Frau zu Tilda, bevor sie unvermittelt zurück zu der Wissenschaftlerin huschten. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Natürlich war es nicht Becca. Die junge Frau war Becca nur wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hätten Schwestern sein können, hätten Harry und Tilda ein weiteres Mädchen gehabt.

Der Druck, etwas zu sagen, einfach irgendetwas, war unbeschreiblich groß. »Sie sieht ein bisschen aus wie … irgendwie vertraut. Findest du nicht auch?«

Tilda wollte die Frau nicht anschauen, aber dank Harry war das nun fast unmöglich. Da war, erkannte sie aus den Augenwinkeln, eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer Tochter. Sie hatten beide lange schwarze Haare und denselben hellen Teint, der einen leichten Olivstich aufwies. Am auffälligsten war die ähnliche Art, wie beide Frauen standen – oder vielleicht die Art, wie sie einfach waren –, die den Raum um sie herum ausfüllte, ihn vollständig und erbarmungslos beanspruchte.

Andererseits wirkte diese Frau, als wüsste sie nichts mit Wimperntusche oder Ähnlichem anzufangen, während Becca auf eine umfangreiche Sammlung an Haargummis, Haarreifen und Haarspangen bestanden und sie fein säuberlich auf ihrer Frisierkommode aufgereiht hatte. Es gab Ähnlichkeiten. Da hatte Harry nicht ganz unrecht. Aber sie waren keine Zwillinge.

Tilda sagte nichts von alldem. Sie sagte überhaupt nichts. Sie hatten damals vereinbart, wenn auch nicht mit Worten, so doch in der praktischen Umsetzung, kein Wort über Becca fallen zu lassen. Diese nie laut ausgesprochene Übereinkunft zu brechen, wäre … Tilda wusste nicht, was es wäre. »Verhängnisvoll«, war das Wort, das ihr in den Sinn kam. Mit konzentriertem Blick besah sie sich ihr Essen.

Harry starrte die Forscherin weiterhin an. Die Frau, die immer noch telefonierte, bewegte sich steif. Sie stand mit dem Rücken zum Wasser und betrachtete den Sand zu ihren Füßen. Ihre Stirnlampe war ausgeschaltet. Als sie zu Harry hochsah, wandte er sich wieder seinem Teller zu, peinlich berührt, ertappt worden zu sein.

Seine Shrimps hatten sich verändert. Direkt unter seiner Nase waren die Schwänze entfernt und das Fleisch in mundgerechte Bissen zerteilt worden, genau so, wie man es für ein Kleinkind getan hätte. Er sah zu Tilda, aber ihre Augen ruhten auf ihrem eigenen Teller. Mit der linken Hand nahm er die Gabel, und keiner von ihnen ließ ein Wort darüber fallen.

Rachel beendete das Telefongespräch, ohne sich zu verabschieden – es war ihr einfach nicht in den Sinn gekommen. Die Daten, die sie brauchte, würden ihr in Kürze gemailt werden, und sie hastete zurück zum Zelt, zurück zum Rest ihres Teams, und bedauerlicherweise auch zurück zu John.

Die Biolumineszenz der Artemia lucis war zyklisch. Tagsüber sah die Bucht wie an jedem anderen Dezembertag aus und verwandelte sich erst nachts zu einer neongrellen Lichtshow. Während der folgenden fünf Tage würden sie alle in Schichten arbeiten. Drei Forscher tagsüber, drei nachts. Rachel war zusammen mit John für die Nachtschicht eingeteilt. Sie würden leben, wie die Gliederfüßer lebten, tagsüber schlafen und sich erst blicken lassen, wenn die Sonne unterging. Zumindest alle anderen hätten die Stunden im Hellen frei. Rachel hingegen hatte andere Pläne.

Am Nachmittag hatte sie im Camp zwei Klapptische in ihre Hütte geschmuggelt, während die anderen eine Pause eingelegt hatten, um ihre Becher mit Kaffee zu füllen und Kekse zu essen, die sie bei der nächstgelegenen Tankstelle gekauft hatten. Nachdem sie zweimal überprüft hatte, dass die Tür auch wirklich abgeschlossen war, hatte sie drei große Aquarien aufgestellt, runde Gläser wie die, in denen Goldfische in Tierhandlungen gehalten wurden, nur dass diese Aquarien sterilisiert und mit Sensoren und digitalen Anzeigen versehen worden waren, um jede Variable zu messen und aufzuzeichnen, die Rachel in den Sinn gekommen war. Sie baute Kühlaggregate, Belüftungsschläuche, UVA- und UVB-Leuchten ein, um, so gut es ging, eine Bucht im Nordwesten des Pazifiks nachzubilden.

Zum ersten Mal hatte sie von den Artemia lucis gelesen, während sie in den letzten Zügen ihrer Doktorarbeit gelegen hatte. Die Erwähnung in einem Kapitel, das sich mit tierischer Biolumineszenz beschäftigte, war kurz, wenn auch ausreichend gewesen, um sie nach Monaten der Recherche zu den Olloo’et zu führen. Die Primärquellen über den Volksstamm hatten sich auf Tagebücher katholischer Missionare des neunzehnten Jahrhunderts beschränkt, die Geschichten der Olloo’et aufgezeichnet hatten, da diese selbst über keine eigene Schriftsprache verfügten. Als Rachel die Originaltagebücher endlich in die Hände bekommen hatte, hatte sie den Staub von den Seiten wegpusten müssen, und allein die Rohübersetzung hatte sie einen ganzen Sommer gekostet. Die Priester waren Franzosen und sprachen damit eine Sprache, die Rachel nach der Highschool nur allzu bereitwillig ad acta gelegt hatte.

Versteckt zwischen den detailreichen Beschreibungen von Bodenrechten, dem Bau von Schulen und der Unterweisung der Olloo’et in Bezug auf europäische Agrartechniken, stach eine Geschichte heraus, die für Rachel von besonderem Interesse war. Die Olloo’et berichteten dem Priester vom »erleuchteten Pfad aus dem Land der Geister«. Auch wenn manchmal vom »erleuchteten Pfad zum Land der Geister« die Rede war. Egal ob es nun ein Kommen oder Gehen war, so erzählten die Menschen, dass der Beginn der Laichzeit mit überschwänglichen Feierlichkeiten begleitet wurde. Es gab Tänze und Gesang, und Zelte wurden am Strand für die erwachsenen Männer des Stammes errichtet. Es war dem Schamanen vorbehalten, hinaus in die Bucht zu waten, sobald das Glühen einsetzte, und Wasser voll mit den winzigen Tierchen in Becher zu füllen, nicht unähnlich dem, was Rachel und das Team gerade taten.

Genaue Einzelheiten über die rituellen Vorbereitungen waren vage, aber im Großen und Ganzen lief es darauf hinaus, dass sie es tranken. Zuerst der Schamane und dann der Stammeshäuptling, den die Ureinwohner selbst nicht als Häuptling bezeichneten, auch wenn es spätere Historiker gerne taten, und schließlich nahmen alle anderen erwachsenen Männer einen Schluck. Danach zogen sich die Männer in die Zelte am Strand zurück, in denen es viel kälter und weniger angenehm als in ihren Langhäusern aus Zedernholz war, wo sie normalerweise wohnten. Sechs Tage lang steigerten sie die Menge an Wasser aus der Bucht, was dazu führte, dass sie in einen fast ununterbrochenen Zustand halluzinogener Trance fielen. Sie berichteten von Visionen ihrer Vorfahren und von Geistern, die im Wasser und im nahen Wald lebten. Sie beschrieben ein Gefühl großen körperlichen Wohlbefindens. Die Lahmen gingen, die Kranken gesundeten und all jene, die verletzt waren, hatten keine Schmerzen mehr. Sechs volle Tage lang lebten sämtliche erwachsenen Männer (niemals eine Frau) in etwas, das mit einer modernen Opiumhöhle vergleichbar war. Gelegentlich berichteten die Priester, dass jemand gestorben war, für gewöhnlich weil er ins Wasser gegangen und nicht zurückgekehrt war.

Es waren allerdings nicht die angeblichen halluzinogenen Eigenschaften der Artemia lucis, die Rachel interessierten. Die Welt hatte genug LSD. Was Rachels Aufmerksamkeit erregt hatte, waren die Worte »und all jene, die verletzt waren, hatten keine Schmerzen mehr«.

Ein Analgetikum. Es musste ein Analgetikum sein. Irgendein Stoff in den Gliederfüßern war ein Schmerzmittel.

Zu behaupten dies habe Rachels Aufmerksamkeit erregt, wäre eine schamlose Untertreibung. Nahrung, Sauerstoff, Sex – nicht dass Rachel jemals Sex gehabt hätte –, nichts war wichtiger für sie als dieser Hinweis.

Es ist unmöglich, beschreiben zu wollen, wie es sich anfühlt, jede einzelne Sekunde im Leben Schmerzen zu haben. Jede Nacht mehrmals aufzuwachen, um weitere Pillen zu schlucken, weil das Nervensystem nicht aufhört, einen einzigen traumatischen Augenblick immer und immer wieder zu durchleben. Jede medizinische Maßnahme ausgeschöpft zu haben und den Tod durch eine Überdosis als einzigen Ausweg zu sehen. Und dann das hier zu finden. Diesen vagen, historischen, unglaublichen Verweis auf einen Stoff, tief vergraben irgendwo im Körper eines uralten Meerestiers, so klein, dass es mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Diese Hoffnung – dieser winzige Hoffnungsschimmer – hatte sie die vergangenen zwei Jahre am Leben erhalten.

Und nun war sie hier. Sie hatte die Tiere in Händen, aber die praktischen Schwierigkeiten waren fast unüberwindbar. Rachel musste herausfinden, wie sie es schaffen könnte, die Eier der Gliederfüßer daran zu hindern, in ihren Ruhezustand zu verfallen, und sie musste herausfinden, wie sie die ausgewachsenen Tiere am Leben hielt. Dann müsste sie sie in Gefangenschaft züchten und die Eier zum Schlüpfen bringen, und das in einem Zyklus von sechs Tagen. Erst dann könnte sie den Wirkstoff isolieren. Und falls sie den Wirkstoff isolieren könnte, würde sich alles ändern. Sie würde ihren nächsten Geburtstag erleben und auch den darauffolgenden.

Fast unüberwindbar war nicht dasselbe wie tatsächlich unüberwindbar, und niemand würde für eine Lösung härter arbeiten als sie. Dennoch stellte das, was sie über diese Tierchen nicht wusste, alles in den Schatten, was sie tatsächlich an Wissen über sie gesammelt hatte, und sie wagte nicht, Fragen zu stellen, an niemanden. Alles, was sie tat, gehörte der Universität. Alles, was sie entdeckte, könnten sie ihr wegnehmen. Sie könnten ihr das Labor und sämtliche Gliederfüßer entreißen. Und das würden sie. Rachel war sicher, dass sie es tun würden, bekämen sie von irgendetwas Wind. Für die Pharmaindustrie gab es nichts Wertvolleres als eine funktionierende Schmerztherapie, so viel war klar. Würden sie davon erfahren, würde sie jede Kontrolle über ihr Projekt verlieren, und vor allem würde man ihr unter allen Umständen verbieten, die Experimente an sich selbst durchzuführen. Doch das war alles, was sie wollte. Das war alles, was sie wollte, und sie würde auf der Stelle damit beginnen.

4.

Erst nachdem die Reste des Abendessens im Kühlschrank verstaut, Shooby zum Pinkeln in den Garten gelassen worden war und sämtliche Türen verriegelt, kontrolliert und dann noch einmal überprüft worden waren, stieg Tilda die Treppe zu ihrem Zimmer hoch. Auf dem Treppenabsatz der ersten Etage zwang sie sich, die Augen nicht zu der Tür genau gegenüber schweifen zu lassen – nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde. Sie wusste, dass dieses Zimmer sauber geschrubbt und völlig unpersönlich, wenn nicht gar steril war. Sie hatte darauf bestanden, und niemand, auch nicht Harry, hatte damals Verständnis dafür gehabt.

Zwei ihrer Cousinen waren gekommen und hatten die kleinen Unterhosen und sämtliche Bücher der Unsere kleine Farm-Reihe mit den geknickten Rücken weggepackt. Sie hatten die Schachtel mit den gesammelten Muscheln aus dem Wandschrank genommen sowie die angeschlagene Keramikspardose in Form eines Welpen mit den drei Sacagawea-Dollar darin. All das war nun verschwunden, aber vor Tildas geistigem Auge sah sie das Zimmer, wie es vor mehr als zwei Jahrzehnten gewesen war. Sie wusste, wo jedes einzelne Kleid gehangen hatte, kannte die Sammlung an Stofftieren samt Namen. Und sie musste sich noch krampfhafter am Geländer festkrallen, damit ihre Füße, einen Schritt nach dem anderen, die Treppe in die nächste Etage hochstiegen, weg von der Tür.

Harry verstand nicht, was es ihr abverlangte, hier in diesem Haus für ihn da zu sein. Er wusste nicht, dachte Tilda, wie sehr sie ihn lieben musste, um es zu tun. Er wusste es wirklich nicht.

»Juno.« Tildas Stimme verhärtete, als würde sie mit unangenehmen, aufdringlichen Lobbyisten sprechen. »Das ist nicht deine Entscheidung. Sondern meine, und ich habe sie getroffen.«

Tilda hatte viele Ratschläge für die ersten Jahre bekommen, für das nächtliche Füttern und die Tobsuchtsanfälle von Kleinkindern, aber niemand hatte sie vorgewarnt, wie es wäre, erwachsene Kinder zu haben, insbesondere dieses erwachsene Kind. Es stimmte, Juno war von Geburt an schwierig gewesen. Er war äußerst sensibel, was seine eigenen Gefühle betraf, achtete aber aus Prinzip nicht auf die der anderen. Tilda gab sich und Harry die Schuld. Beccas Tod hatte ihr Verhalten als Eltern in Bezug auf ihr überlebendes Kind verändert. Sie waren überbehütend und distanziert gewesen, häufig sogar beides zugleich. Sie hatten Juno zum Mittelpunkt ihrer Welt gemacht und sich dabei selbst verloren.

»Ich finde einfach, dass er dich ausnützt«, sagte Juno. »Wenn Maggie so viel besser war, dann soll Maggie kommen und sich um ihn kümmern.«

Tilda wollte das Telefon aufs Bett legen und einfach weggehen. Sie war müde, und es war ein anstrengender Tag gewesen. Aber Juno interessierte sich nicht für ihre Gefühle. Er verstand sich nicht sonderlich gut mit seinem Vater und erwartete deshalb, dass sie ebenfalls nicht mit ihm klarkam.

»Wie geht es Anna Beth?«, fragte Tilda.

Anna Beth war eine kluge junge Frau mit einem Master in Architektur, die ihren Lebensunterhalt damit bestritt, Pizza-Restaurantketten zu entwerfen, allerdings höhere künstlerische Ziele hatte. Tilda hatte angenommen, sie wäre Juno bald leid. Stattdessen war sie schwanger geworden.

»Ihr geht’s gut. Das Baby tritt.«

»Jetzt gerade?« Tilda war nicht immun gegen die Verlockungen eines Babys, solange es nicht ihr eigenes war.

»Nein, ganz allgemein«, sagte Juno. »Anna Beth ist gerade im Bad. Sie muss, keine Ahnung, zwanzig Mal am Tag aufs Klo.«

»Ich verstehe.«

Als das Gespräch beendet war, fiel Tilda aufs Bett und versuchte, den Anweisungen ihrer Yogalehrerin in puncto positive Gedanken zu folgen. Sie musste etwas tun. Wenn sie weiterhin diese negativen Gedanken hatte, da war sich Tilda sicher, würde sie als eine dieser maisgelben Bananenschnecken wiedergeboren werden, die durch das herabgefallene Laub der Insel krochen. Sie begann, gute Gedanken für Juno und Anna Beths Beziehung auszusenden. Tilda versuchte, sie sich glücklich vorzustellen. Als ihr das nicht gelang, versuchte sie, sich die beiden in warmes Licht gebadet vorzustellen, doch das erinnerte sie an Tschernobyl.

Sie schlug die Augen auf und blickte zur Decke. Wäre es nicht so kalt, würde sie das Fenster öffnen. Das Zimmer war seit geraumer Weile nicht benutzt worden, und Harrys Haushälterin hatte die Tür geschlossen gehalten, um die Heizkostenrechnung zu senken. Es musste die Haushälterin gewesen sein. Selbst wenn Harry die Zeit gehabt hätte, jeden Gedanken der Welt zu denken, wäre es ihm niemals in den Sinn gekommen, »Heizkosten einzusparen«. Und niemand hatte daran gedacht, das Zimmer vor Tildas Ankunft zu lüften. Es war stickig.

Es mochte offiziell das Gästezimmer sein, aber Tilda betrachtete es als ihr Zimmer. Sie hatte die letzten sechs Monate ihrer Ehe dort geschlafen, als sie sich nicht mehr genug gemocht hatten, um sich ein Bett zu teilen. Als sie jetzt ihre Taschen nach oben brachte, führten ihre Füße sie automatisch, ohne Anweisungen zu bekommen, und sie war erleichtert, dass vieles, wenn nicht gar alles, woran sie sich erinnerte, immer noch so war wie früher.

Es war ein kleines Giebelzimmer mit Dachschräge, das zu einer anderen Zeit womöglich einem niederen Dienstboten zugeteilt worden wäre. In dem Raum befanden sich ein Doppelbett, eine hohe Kommode und ein kleiner Schreibtisch von der Sorte, die früher Damen für ihre Korrespondenz benutzten. Ein Hocker, den sie, wie sie sich nun wieder erinnerte, vor Junos Geburt auf einem Flohmarkt gekauft hatte, diente ihrem Telefon als Ablage und konnte als Nachttisch benutzt werden, um ein Glas Wasser abzustellen oder ein Buch abzulegen. Ansonsten gab es nichts, und für mehr wäre auch kein Platz gewesen. Das Zimmer war einfach gehalten, und es schien, als hätte sie jedes Mal, wenn sie in diesem Raum landete, den Wunsch, die Dinge sollten wieder einfach werden.

Das Gästezimmer war der erste Schritt auf ihrem Weg gewesen, aus dem Haus auszuziehen und ihre Ehe endgültig zu beenden. Wie Stützräder hatte das Zimmer ihr Halt gegeben, bis die Vorstellung, eine Frau mittleren Alters und allein zu sein, nicht mehr so furchteinflößend gewesen war, dass sie zusammengebrochen wäre. In diesem Raum konnte sie ihr Alleinsein ausprobieren und wenn nötig, es wieder ablegen, bis es ihr so weit stand, dass sie es außer Haus und in die Welt tragen konnte.

Tilda war sich nicht sicher, in welche neue Rolle sie diesmal schlüpfen würde. Wie es schien, hatte sie die früheren allesamt abgelegt und jegliches Gefühl für Identität verloren. »Tilda Streatfield ist …«, sagte sie zu sich und suchte eifrig nach einem Satzende. Doch sie hatte nicht genug Geduld, um die Übung hartnäckig durchzuziehen, und gab sich erfolglos geschlagen. Ihr neues Ziel, an sich selbst zu arbeiten, war noch lange nicht erreicht.

»Müde«, entschied sie. »Morgen werde ich mehr wissen.«

5.

Der zweite Tag des Wunders

Knapp fünf Stunden später, kurz vor dem Moment, da die Nacht guten Gewissens als früher Morgen bezeichnet werden kann, befand sich Harry unten in der Bibliothek. Dort stand sein Klavier, weshalb er den Raum mehr als sein Arbeitszimmer als eine richtige Bibliothek betrachtete. Dennoch befanden sich in dem Zimmer Hunderte, vielleicht Tausende von Büchern, alle in weißen Einbauregalen, die an drei Wänden vom Boden bis zur Decke reichten, mit einer dieser Rollleitern davor.

Die meisten Bücher gehörten Tilda. Sie hatte nur ein paar wenige mitgenommen und ihn mit der greifbaren Erinnerung an ihre Launen und Interessen zurückgelassen. Viele Jahre war er ihr dafür nicht eben dankbar gewesen, doch er hatte sich auch nie durchringen können, ein einziges Buch wegzuwerfen. Weshalb sie immer noch da waren. Politik, Gärtnern im Nordwesten Amerikas, historische Romane, mehrere Biografien über Franklin D. Roosevelt. Es gab Bücher über primitive Kunst, eines über die Chaostheorie (das, wenn er es recht bedachte, ihm gehörte) und einen Bauernkalender für jedes Jahr ihrer Ehe – Gott allein wusste, warum. Die Bücher hatten Maggie nur überlebt, weil Harry ihren Ursprung klugerweise verheimlicht hatte, und die Bibliothek sein Rückzugsort und deshalb tabu gewesen war.

Wenn Harry bei einer Komposition ins Stocken geriet, stand er vom Klavier auf und ging zu einem Regal, suchte wahllos ein Buch aus, öffnete es und las eine oder zwei Seiten, bis es ihm sinnvoller erschien, sich wieder hinzusetzen. Den Bauernkalendern gelang es hingegen, seine Aufmerksamkeit länger zu fesseln. Die historischen Romane waren ein sicherer Weg, ihn sofort zu den Tasten zurückzubringen.

Es hatte etwas, sich selbst als professionellen Komponisten bezeichnen zu können, ohne einen weiteren Beruf auf der Visitenkarte angeben zu müssen. Harry unterrichtete weder gleichzeitig Musik in der Highschool noch putzte er nachts Büros. Er konnte mit dem Komponieren von Musik seinen Lebensunterhalt bestreiten, was keine Kleinigkeit war und der Punkt, der ihn am meisten mit Stolz erfüllte. Ein Großteil war Filmmusik gewesen, und viele dieser Filme waren schrecklich. Aber das war nicht Harrys Schuld, und dem Geld sah man es nicht an. Dennoch zog er die Freiheit vor, für Musiker in Konzerthallen zu komponieren – für ganze Orchester, wenn er die Möglichkeit bekam –, als zu versuchen, die Streicher just in dem Moment das Crescendo spielen zu lassen, wenn der Held mit seiner Armee Kriegselfen den Gipfel erreichte.

Da Harry bald sterben würde, schien es der richtige Zeitpunkt zu sein, nur noch die Dinge zu tun, die er tun wollte, solange er noch die Möglichkeit dazu hatte. Dies war der Grund, weshalb er zugestimmt – im Grunde versprochen – hatte, für die nächste Spielzeit des Seattle Symphony zu komponieren. Es wäre Harrys viertes und letztes Klavierkonzert. Das Versprechen war ihm von Gerald ohne große Mühe entlockt worden, dessen Ausbildung an der London Royal Academy of Music um Längen beeindruckender als Harrys war, der die Juilliard ohne Abschluss verlassen hatte. Gerald war der musikalische Leiter des Symphonieorchesters, jetzt bereits im neunten Jahr und in einer Position, um Harrys Konzert auf den Spielplan zu setzen, wenn ihm verdammt noch mal der Sinn danach stand. Es war Harry nicht klar, ob die vier Aufführungen, die zu sehen er womöglich nicht lange genug leben würde, etwas waren, das sich Gerald wirklich wünschte, oder nur das Geschenk an einen sterbenden Mann. Harry wollte nicht, dass es eine Rolle spielte, aber in schlimmen Nächten schürte der Gedanke seine Selbstzweifel und verlangsamte seinen Fortschritt, was das Letzte war, das er brauchte.

Das Problem war, dass diese Arbeit, die ihn körperlich vor keinerlei Schwierigkeiten hätte stellen dürfen, es dennoch tat, und das immer häufiger, als Harry jemals gedacht hätte. Zunehmend weigerten sich seine Finger, ihren Tanz auf der Tastatur zu vollführen. Es fiel ihm sogar schwer, den Bleistift zu halten, mit dem er die Noten in leere Partiturblätter kritzelte.

Die Vorstellung, nicht mehr Klavier spielen und nicht einmal mehr die Noten richtig auf Papier bringen zu können, damit andere sie spielten, war das Frustrierendste, was ihm jemals widerfahren war. Und obwohl er Tilda niemals davon erzählen würde, hatte es vor ihrer Ankunft Nächte gegeben, in denen Notenblätter auf den Boden geschleudert und seine Schultern von Schluchzern geschüttelt worden waren.

Harry wusste, dass aus seiner Musik die Frustration herauszuhören war. Es blieb nur die Frage, ob man es als selbst gewähltes künstlerisches Stilmittel oder als unvermeidliche Folge betrachtete.