Eine, die loszog, um zu sterben - Lola EyEres - E-Book

Eine, die loszog, um zu sterben E-Book

Lola EyEres

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Beschreibung

Eine Frau begibt sich auf die Reise ihres Lebens. Sie ist fest entschlossen, dass es ihre letzte wird. Auf der Suche nach Antworten findet sie sich stattdessen in einem Strudel von Gedanken wieder, die bislang ihr Leben beherrschten. Kann man trotz Sicherheit und Wohlstand ein schreckliches Dasein fristen, an einem grauenhaften Ort jedoch die Liebe entdecken? Lassen Sie sich ein auf eine Geschichte, die so ungewöhnlich wie menschlich ist! Suchen Sie mit, vielleicht finden Sie Antworten auf Fragen, die Sie nicht zu stellen vermochten ...

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Seitenzahl: 228

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhaltsverzeichnis

Teil 1 – ich denke

Teil 2 – ich fühle

Teil 3 – ich bin

Teil 1

ich denke

Es ist nur noch grotesk, banal und absolut sinnlos. Selbst mein Psychologe weiß mir nicht mehr zu helfen und überweist mich doch tatsächlich zu einem erfahreneren Kollegen, wie er seine Lustlosigkeit mir gegenüber vorsichtig formuliert. Doch die einzige Erfahrung, die dieser vorzuweisen hat, ist die, dass er sehr viele neue Fachwörter benutzt, die mich noch weniger weiterbringen, um auf den Kern meines Problems zu stoßen.

Das ist nämlich das eigentliche Problem: ich habe keines, kein offensichtliches zumindest. Tief in mir spüre ich jedoch diese unbeschreibliche Leere, die mich zu niemandem zu machen scheint. Diese Leere ist so tief, dass sie sich nicht mehr füllen lässt, sich eher mehr und mehr ausdehnt.

Ich wollte immer jemand sein und habe alles dafür getan. Alles. Ich habe einen gut bezahlten Job, eine abbezahlte Wohnung, Freunde, Familie, fünfunddreißig Tage Urlaub im Jahr und einen riesigen Kleiderschrank voller Klamotten. Was ist nur los mit mir? Was stimmt denn mit mir nicht? Dass mich keiner mehr ernst nimmt, wundert mich überhaupt nicht. Ich weiß ja selber nicht mehr, was ich ernst nehmen soll. Wie sieht das auch aus, wenn ich in meiner großen Wohnung mit der Designer-Einbau-Küche an dem selbst für mich in qualvollen Raten abgestotterten Kaffeevollautomaten nur Wasser für meinen Tee zapfe? Als hätte ich ein schwerwiegendes Problem? Ich doch nicht.

Dass ich nicht lache … oder gleich weine.

„Ach, hab dich nicht so.“ – „So schlimm ist das doch nicht.“ Diese ständig verurteilenden Aussagen von den anderen, wenn meine Mundwinkel mal wieder den Boden berühren, nerven mich total. Als wäre ihr Leben besser! Vielleicht? Kann ja sein oder sie wollen einfach nur nicht hinsehen. Wohin soll man eigentlich schauen, wenn man nicht erkennt, woher der Wind bläst?

Ich würde mir so gerne den Weg zu diesem erfahreneren Psychologen sparen, aber ohne wöchentliches Blabla bekomme ich nicht diese wunderbaren Tabletten von meinem Neurologen verschrieben, die mich über den Tag und manchmal auch über die Nacht retten. Morgen ist zu allem Überfluss mein Geburtstag. Schon wieder. Wie jedes Jahr. Jedes Jahr werde ich älter und unglücklicher.

Mama möchte unbedingt heute noch wissen, was ich mir zu meinem vierzigsten Geburtstag wünsche. Bemüht man sich bei so einer runden Zahl nicht schon Wochen zuvor um ein Geschenk oder fragt zumindest mal nach, was man schenken könnte? Die Frau macht immer alles auf den letzten Drücker.

Ja, was schenkt man einer erfolgreichen Geschäftsfrau, die alles hat, aber nichts fühlt? Vielleicht einen Tag mit einem Bademeister, der meinen Kopf so lange unter Wasser drückt, bis ich kurz vor der Bewusstlosigkeit bin, nur um mich danach freuen zu können, dass ich noch am Leben bin? Oder einmal über heiße Kohlen laufen, damit ich den Boden unter meinen Füßen wieder spüre? Das Einzige, was ich mir zu meinem vierzigsten Geburtstag wünsche, ist, dass es der letzte ist.

Ja, ich wünsche mir zu sterben.

Nur wie? Wie lädt man den Tod zu seinem Geburtstag ein? Die Tabletten, die ich habe, würden mir bei einer Überdosis nur den Tag verschönern, mich aber nicht umbringen. Vor einen Zug zu springen, ist auch nicht ganz mein Stil, und einen Sprung von einem Hochhaus kann ich schon gleich vergessen mit meiner Höhen-angst. Außerdem ist man bei dieser Art von Freitod sofort weg vom Fenster, man fühlt nichts mehr, von daher kann ich mir dieses Drama auch sparen und den anderen ebenso – die, die mich dann von der Straße wegkratzen müssen. Sterben ohne ein Gefühl, da kann ich ja gleich am Leben bleiben. Nein, ich möchte richtig sterben – mich in den Abgrund begeben und bei jedem Schritt, den ich wage, Gänsehaut bekommen. Ich möchte, dass mir kalt wird und danach wieder heiß. Ich möchte schwitzen und weinen, ja, weinen möchte ich wieder. Ich möchte, dass mein Herz vor Schreck pocht und mir vor Angst schlecht wird. Ich möchte nicht im herkömmlichen Sinne Leiden wie ein Märtyrer, ich möchte nur die ganze Palette von Gefühlen erleben, die ich seit Jahren nicht mehr empfunden habe.

Seit wann fühle ich eigentlich nichts mehr? War es an diesem einen Tag, an dem ich meinen Exfreund mit meiner besten Freundin in meinem Bett erwischt habe? In meiner neuen Satinbettwäsche, die ich danach wegwerfen musste. Oder war es, als meine Mutter mir verkündete, dass mein Vater nicht mein Vater ist?

Nein, da empfand ich nach Jahren noch dieses Gefühl von Hass oder Ablehnung. Das war es nicht. Vielleicht war es aber auch ein schleichender Prozess, der damit begann, als meine Kindergartenfreundin mir in der ersten Klasse mein Stickeralbum gestohlen und mich angelogen hatte, als ich es bei ihr zu Hause in ihrem Zimmer gefunden habe. Ja, vielleicht schlug der Dieb, der meine Gefühle stahl, sogar schon zu, als ich mit nur einem Jahr meiner Mutter aus den Händen fiel. Genau, daher könnte meine Angst vor Höhe kommen und das große Misstrauen in diese Welt. Nicht schlecht, diese Erkenntnis muss ich meinem neuen Psychologen erzählen. Vielleicht hat er dafür eine Diagnose und mein Geburtstag ist gerettet. Diagnose: Höhenangst.

Doch wenn er mich dann wieder befragt, was ich dabei fühle, muss ich passen, und dann bin ich wieder am Anfang - keine Diagnose. Ich glaube, es ist besser, ich sage den Termin für morgen ab und versuche das zu tun, was jeder normale Mensch an seinem Geburtstag so tut–: Ich bin einfach glücklich oder, wie in meinem Fall, ich tue so, als wäre ich glücklich, denn den Bezug zu Glück habe ich schon lange verloren.

Was mach ich jetzt nur? Ich habe so was von überhaupt keine Lust, morgen zu feiern, und in all die fröhlichen Gesichter zu blicken, die mir nur noch mehr die Stimmung vermiesen. Ja, warum alles noch schlimmer machen, als es sowieso schon ist? Meinen Wunsch kann mir niemand erfüllen. Und wenn doch alles nicht so schlimm ist, wie es für mich nun einmal ist, und ich mich nicht so haben soll, dann such ich mir eben einen Ort, an dem es so richtig grauenhaft ist. Ein Ort, an dem man das Fürchten lernt, an dem das Elend zu Hause ist. In jeder Sekunde, in der man sich dort aufhält, bekommt man vor Angst keine Luft mehr.

Tja, die besten Plätze sind da wohl die Kriegsgebiete. Nur welches soll ich nehmen? Wo ist das größte Gemetzel momentan? Mal schauen. Ukraine? Woher kommen noch mal die ganzen Flüchtlingsströme? Afrika, Serbien, Irak, Syrien, Afghanistan. Wo ist es am Schrecklichsten? Lass mal sehen. Wo hab ich meine Zeitung hingelegt? Wie es hier wieder aussieht. Nein, das Telefon klingelt, meine Mutter. Ich sage ihr für morgen ab.

Ich möchte morgen nicht feiern, ich habe keine Lust, ich wünsche mir …

Sie kommt morgen um zwei vorbei und mit ihr der Rest der Familie. Na toll, jetzt muss ich den anderen auch Bescheid sagen, sonst sind die beleidigt.

Hallo liebe Freunde und Familie,

morgen ist es wieder soweit - mein Geburtstag!

Ort: bei mir.

Zeit: 14.00 Uhr.

Bis morgen schon.

Senden und erledigt.

Oh nein, ich muss noch einkaufen gehen, Kuchen backen, aufräumen. Wo fange ich an? Wieso kann ich nicht einfach nein sagen, wieso? Gut, dann feiere ich meinen Geburtstag zum letzten Mal mit all den Pappnasen. Was soll's? Dann wird es halt ein Fest nur für sie, sozusagen ein unangekündigtes Abschiedsfest. Ja, genau, ich gebe mir richtig viel Mühe, oder auch nicht, denn es ist ja sowieso egal. Aber wenn ich es so aussehen lasse, als wäre alles in Ordnung, dann hätten sie noch eine schöne Erinnerung an mich. Wie sie doch noch alles geschafft hat. Wie sie doch immer die besten Torten backen konnte. Sie war eine, die alles hatte und trotzdem nicht glücklich wurde. Ja, das ist ein guter Abschluss. Ein vorgetäuschter Abschluss, der die Hoffnung von dem, das alles möglich ist, aufrechterhält. Vielleicht schafft es ja doch noch einmal einer – alles haben und glücklich sein. Was für eine Ironie, seine Geburt jedes Jahr zu feiern, wenn man doch gar keinen Grund zu leben hatte, wenn man für etwas beschenkt wird, das man gar nicht zu schätzen weiß. Eine Beerdigung ist da mehr mein Ding, da sind auch jede Menge Leute nur wegen mir, aber ich bin nicht da. Ja, tatsächlich, ein Begräbnis kommt meinem Geburtstag wirklich mehr gleich und ist dazu auch noch ehrlicher, denn dort trauert jeder gemeinsam. An meinem Geburtstag trauere nur ich für mich alleine.

Gut, welchen Kuchen backe ich? Vielleicht diesen Eierlikörkuchen, von dem jeder immer so schwärmt, weil er so saftig ist. Oder besser mal einen anderen? Nur welchen? Vielleicht frag ich doch Elise, ob sie mir wieder einen Kuchen macht? Nein, lieber mache ich ihn diesmal selber, ist ja auch das letzte Mal. Erstmal die Wäsche abhängen, dann staubsaugen. Nein, davor erst alles putzen und aufräumen und dann staubsaugen, dann einkaufen gehen, dann backen.

Oje, es ist schon sieben! Dann schnell einkaufen und den Rest später.

Syrien! Ja, Syrien soll es sein.

Wie viel Eier brauche ich für den Kuchen? Vier bis Fünf.

Schlüssel, Tasche, Geldbeutel und los geht´s.

Wieso ist alles so, wie es ist? Wieso kann es nicht anders sein? Anders – nur wie? Wieso bremst der Idiot jetzt? Fahr doch einfach weiter, da ist doch nichts. Er blinkt und blinkt und steht, mein Hupen interessiert ihn auch nicht. Idiot! Ich habe keine Zeit, auf dich zu warten. Jetzt, endlich. Hat er sich doch noch entschieden, weiter zu fahren. Männer können auch nicht Auto fahren.

Sieben Uhr dreißig. Das wird knapp.

Brauch ich einen Wagen oder reicht der Korb? Soll ich noch was zum Knabbern mitnehmen? Puderzucker, Vanillezucker müsste ich noch haben, Backpulver auch. Ein Rucksack im Angebot. Soll ich ihn mitnehmen für meine Reise oder soll ich ihn mir von Mama wünschen? Ist das makaber? Nein, bestimmt nicht, sie weiß ja nicht, wohin die Reise geht. Ich auch nicht. Dann hat sie wenigstens ein sinnvolles Geschenk für mich. Wo ist mein Smartphone? Hier bist du.

Dann wäre das schon mal geklärt. Warum aber stellt sie so aufdringliche Fragen, wohin ich verreisen möchte? Was geht sie das an? Wenn ich es ihr sagen würde, würde sie es sowieso nicht ernst nehmen und sich lächerlich über mich machen. Es war eindeutig besser, so zu tun, als wäre der Akku leer. Sie merkt bestimmt nicht, dass ich absichtlich aufgelegt habe. Oder doch? Egal. Sie hat jedenfalls ein Geschenk für mich, das ich brauchen kann, und nur das zählt. Diese Porzellanentchen zum Hinstellen hätte sie sich auch letztes Jahr sparen können. Ich hasse Staubfänger, aber wehe, ich würde mir erlauben zu sagen, dass ihr lieb gemeintes Geschenk eine Beleidigung für meine stilvoll eingerichtete Wohnung ist, dann wäre die Enttäuschung wieder groß und es würde Wochen dauern, bis sie sich wieder beruhigt hätte. Bin ich froh, wenn ich das nicht mehr miterleben muss. Oder ihr ständiges Rumgenörgel darüber, warum ich keine Beziehung habe. Wie oft habe ich ihr erklärt, dass man dafür Zeit haben muss. Sie will es einfach nicht verstehen, sie versucht es nicht einmal. Sollte ich ihr die Wahrheit darüber erzählen, dass ich meinen Verlobten verlassen habe, weil er sich zwei Tage später, nachdem er mir einen Antrag machte, seine Zeit lieber mit Elise vertrieb, die übrigens nach all dem immer noch meine Freundin ist – vielleicht gerade deswegen, weil sie mir die Augen über einen möglichen Fehltritt geöffnet hat. Meine Mutter würde selbst dies nicht verstehen. Sie würde ausflippen. Vielleicht erzähl ich ihr es doch, kann mir ja egal sein, was sie dann macht. Ja, vielleicht nimmt sie mir sogar die hässlichen Entchen wieder weg.

Soll ich meinem Vater auch Bescheid sagen, dass ich mich zum Feiern umentschieden, beziehungsweise überreden lassen habe. Wenn er weiß, dass Mama da ist, kommt er wahrscheinlich sowieso nicht. Sehen würde ich ihn trotzdem gerne noch mal, bevor ich meine Reise antrete – die letzte.

Die Schlange an der Kasse ist unendlich lange. Und das gerade heute. Wie soll ich das nur alles schaffen? Aufräumen, backen, putzen, staubsaugen. Ich habe jetzt schon keine Lust mehr. Kurz vor acht schon. Erstaunlich, wie unruhig jeder ist, ist das immer so? Was für grelle Lampen hier hängen und wie unangenehm die Plastiktüten riechen, wie ranziges Öl. Igitt! Seit wann ist hier ein Post-Lotto-Laden? Ist der immer schon hier? Und ich fahre ständig in die Stadt wegen den Päckchen. Dabei ist hier ein Shop direkt in meinem Supermarkt, in dem ich zweimal in der Woche einkaufe und einen Teil meines Lohnes lasse.

Ich fühle nicht nur nichts, ich sehe auch nichts. Mein Leben ist wirklich erbärmlich unübersichtlich. Mal sehen, was ich sonst noch nie bemerkt habe. Den Bäcker kenne ich und den Kaffee auch, sehr gut, kräftig und aromatisch. Die hässlichen Fliesen hier sind mir schon beim ersten Mal aufgefallen und der nette Verkäufer, der möglicherweise der Chef von dem Laden sein könnte. Ja, es muss der Chef sein. Welchen Grund hätte er sonst auch, zu jedem so freundlich zu sein? So viele Menschen. Obwohl ich hier seit sieben Jahren meinen Körper ernähre, kenne ich keine Menschenseele, niemanden, nicht mal flüchtig. Wie auch, wenn ich die ganze Zeit in meinem Büro verbringe und die Straße erst betrete, wenn die Nacht mich begrüßt? Seit meiner Studienzeit habe ich keine neuen Bekanntschaften mehr gemacht. Alle Freunde, die ich habe, sind aus einer Zeit, in der ich die war, die ich jetzt nicht mehr bin. Vielleicht ist das ja auch mein Problem, warum ich das Gefühl habe, stehen zu bleiben.

Das Gefühl, stehen zu bleiben.

Das Gefühl.

Fühlt sich so stehenbleiben an? Ich stehe an der Supermarktkasse in einer langen Schlange und warte, bis ich an der Reihe bin. Ich habe keine Lust mehr, ständig zu warten.

Immer warten, warten, warten. Immer warte ich nur, bis alles besser wird. Ich warte, bis der Tag vorüber, der Kaffee durch und das Leben vorbei ist. Warten ist so endlos frustrierend. Dreiundvierzig Euro Siebenundzwanzig.

O nein, jetzt ist der Autoschlüssel nach ganz unten gerutscht. So viel Mist in der Tasche. Da ist er. Ein Los, ein Euro. Mal schauen, ob sich die Investition gelohnt hat.

Na dann, viel Glück! Besser, ich schenke es mir morgen früh selbst. Vielleicht entwickelt sich ja noch dieses Gefühl von Neugierde auf das, was drin ist. Ich habe noch nie gelost. Doch, auf dem Volksfest, am Rot-Kreuz-Stand. Aber nur, weil es dort keine Nieten gegeben hat.

Ich hätte früher öfter zocken sollen, dann wäre vielleicht niemals diese Leere in mir entstanden, die so stark an mir haftet, dass der Wunsch zu sterben größer ist, als der Wille, etwas Neues auszuprobieren.

Da ist sie wieder – diese Leere.

Warum wieder warten?

Leider nicht, sagt sogar das Los, das ich gezogen habe. Mein Leben beschreibt dieses Los haargenau–: leider nicht. Selbst ein Glückskeks hätte diese Botschaft für mich haben können.

Der Texter der Glückskekse ist bestimmt genau so unglücklich mit seinem Leben wie ich und lässt seinen Frust über das nicht erhaltene Glück an seinen Nächsten schriftlich durch Sätze aus, wie: „Machen Sie Ihre Steuererklärung”, „essen Sie mehr Fleisch”, oder: „Leider nicht”.

„Leider nicht” ist wohl mein gezogenes Los über mein persönliches Glück zum Unglück.

Was hat noch mal mein Psychologe in der letzten Sitzung zu mir gesagt?

Dass jeder Mensch einen Sinn im Leben hat, eine Lebensaufgabe sozusagen, und jetzt, wo ich hier in meinem mächtigen SUV mit dem wohlriechenden Ledersitzen Richtung meiner Loftwohnung fahre, fällt mir plötzlich ironischerweise mein persönlicher Lebensauftrag ein: zu fühlen, wie es ist, wenn man stirbt.

Beziehungsweise zu fühlen, wie es ist, wenn man tot ist, obwohl man lebt.

Kann das einem überhaupt auffallen, dass man lebt, obwohl man sich nicht mehr fühlt? Wann kommt der entscheidende Punkt, in dem einem das bewusst werden kann? Eigentlich doch dann schon, wenn ich nur die Frage stelle, oder?

Egal, ich werde mir diese Frage sowieso nicht mehr beantworten können, weil ich mich schon viel zu weit von dem entfernt habe, was dazu nötig ist, um genug Lust aufzubringen, um überhaupt eine Antwort darauf bekommen zu wollen.

Den Weg zum Ziel, zu meinem Lebenssinn, der Sinn zu sterben, den kann sowieso nur ich alleine gehen. So werde nur ich dieses Gefühl, das ich daraus gewinne, mit mir nehmen, und darauf freue ich mich so sehr, doch noch etwas in mir tragen zu können, das mich erfüllt, bevor ich diese Welt, in der ich taumle, für immer verlassen werde.

Jetzt hab ich überhaupt nicht aufgepasst. Wie lange ist der Kuchen schon drin? Ich denke, ungefähr zehn Minuten oder so. So schmutzig ist es eigentlich gar nicht. Das Staubsaugen spare ich mir einfach, wird ja sowieso morgen wieder dreckig. Es macht doch mehr Sinn, nach einer Party aufzuräumen als zuvor und danach noch mal.

Dann wäre das schon mal erledigt. Die Toilette könnte ich noch sauber machen.

Wo hat Martha die Putzlappen aufbewahrt?

Wenn man nicht alles alleine macht, findet man gar nichts mehr. Aber alleine schafft man auch nicht alles. Obwohl! Würde ich nicht so lange arbeiten, dann hätte ich auch Zeit, meine Wohnung zu putzen. Ich würde sogar das Geld für die Putzfrau sparen und hätte so gesehen nicht weniger verdient.

Aber möchte ich das eigentlich? Alles selber machen, wenn ich nicht muss?

Wenn ich mehr Zeit zu Hause verbringe als in der Arbeit, dann würde es nur noch schlimmer hier aussehen und ich hätte genau so viel zu tun. Doch in der Arbeit mache ich den Dreck für die anderen weg, und zu Hause wäre es nur mein eigener. Dann geht es meiner Putzfrau so wie mir. Ein Teufelskreis. Ich gehe in die Arbeit, damit ich mir jemanden leisten kann, der meinen Dreck wegmacht, damit ich wiederum Zeit habe, den Dreck der anderen zu erledigen. O Mann, was für ein Mist.

Der Kuchen muss raus.

Halb eins. Erst. Oder schon? Ich bin überhaupt nicht müde. Habe ich alles erledigt?

Tisch ist gedeckt. Check. Kuchen ist fertig. Check. O nein, ich hab total vergessen, den Termin beim Psycho-Doc abzusagen. Ach, dem rede ich jetzt noch schnell auf den Anrufbeantworter.

Soll ich doch schon meine Sachen packen und mich heimlich aus dem Staub machen? Wer hat eigentlich den Schlüssel zu meiner Wohnung?

Niemand! Nicht einmal meine Mutter. Gerade ihr gebe ich meinen Schlüssel nicht. Die würde hier ja alles umdekorieren. Nee, danke. Soll ich ihn dann einfach von außen stecken lassen?

Wieso habe ich niemandem einen Ersatzschlüssel zu meiner Wohnung gegeben?

Was wird eigentlich mit meiner Wohnung, wenn ich weg bin?

Soll ich noch einen Abschiedsbrief verfassen, in dem ich mein Hab und Gut auf all diejenigen verteile, die ich kenne?

Kenne ich die, die ich meine zu kennen, wirklich so gut?

Kenne ich die Ängste von jedem einzelnen? Kenne ich meine Ängste? Die Lieblingsfarbe von Melody? Die Wünsche von Maud? Sexuelle Vorlieben oder Bedürfnisse jedes einzelnen oder selbst von mir? Nein, so gesehen sind alle, die ich kenne, Fremde für mich, und wer gibt schon einem Fremden den Schlüssel zu seiner Wohnung, in der alles ist, was man ist?

Bin ich wirklich alles, was hier rumsteht?

Eine Soundanlage? Ein Sofa? Eine unbeschreiblich teure Küche?

Meine Küche wäre ich schon gerne, wenn ich es mir aussuchen könnte.

Möchte ich dann tatsächlich eine Küche sein? Eher nicht.

Wie oberflächlich man doch so lange nebeneinander her leben kann, ohne nur das geringste über einen zu wissen. Vielleicht war ich aber nicht aufmerksam genug und hätte mehr beobachten sollen, um erkennen zu können, was zum Beispiel Elise gerne isst, wenn wir in unserem Lieblingsrestaurant stundenlang uns über andere unterhielten. Vielleicht hätten wir uns mehr über uns erzählen sollen, anstatt über die Fehler der anderen zu lästern?

Vielleicht wüsste ich jetzt, was meine wahren Bedürfnisse sind, oder die von Elise zumindest?

Darf man überhaupt Bedürfnisse haben?

Was habe ich eigentlich für Bedürfnisse?

Ist der Wunsch, sterben zu wollen, ein Bedürfnis oder eher ein Wunsch, der bedürftig ist?

Drei Uhr vierundzwanzig. Das wird wieder eine kurze Nacht.

Wo sind meine Tabletten? Eine wird reichen, sonst werde ich morgen nicht wach.

Schön … Sie fängt zu wirken an. Ach, welch' ein Segen, so eine kleine Tablette.

Ja, ist ja gut. Ich steh ja schon auf! Blöder Wecker, sei still!

Alles Gute zum Vierzigsten, meine Liebe. Älter wirst du nicht werden, das ist sicher, aber der Wecker stirbt zuerst. Stecker raus und aus.

Wie schau ich denn heute aus? Wow, meine Augenringe. Eine Pracht! Bin ich froh, wenn der Tag vorüber ist. Ich brauch erst mal einen Espresso, einen doppelten. Dann fahre ich ins Büro. Um zwölf höre ich heute auf. So schaffe ich noch alles gemütlich, fahre beim Bäcker vorbei und hole Baguettes. Ja, und dann kommen die unerwünschten Abschiedsgäste. Vielleicht wird es ja ganz lustig. Mir ist übel, total schlecht. Vielleicht eine Nebenwirkung von der Schlaftablette?

Es war sicher zu spät, sie zu nehmen. Ich sehe alles verschwommen, als wäre überall Nebel. Ich werde verrückt, ich verliere die Kontrolle, ich muss mit dem Psycho-Doc reden. Jetzt!

Gut, dass er es mir nicht übel genommen hat, dass ich den Termin abgesagt habe und der Termin noch frei ist. In einer Stunde soll ich bei ihm sein, also schnell ins Büro, Termine verlegen.

Termine verlegen?

Termine absagen ist besser.

Keine Termine mehr. Nie wieder Termine haben. Ach, was für ein schöner Gedanke.

Was zieh ich heute an? Den Rock, die weiße Bluse und die hohen Schuhe dazu.

Sieht super aus zu den Augenringen. Die muss ich überdecken, so kann ich nicht unter die Leute gehen.

Besser.

Schon so spät! Ich mache mir einen Espresso im Büro. Einen doppelten.

Ob meine Kollegen wissen, dass ich heute Geburtstag habe?

Wenn ja, sie würden mir trotzdem nicht gratulieren. Mit wem habe ich dort auch schon was zu tun? Ist ja auch nicht so wichtig. Oder?

Sieben Uhr genau. Niemand hier. Noch nicht.

Was riecht hier so komisch?

Was ist das für ein Geruch?

Riecht modrig. Woher kommt das?

Die Orchidee badet in abgestandenem Wasser und das sicher nicht erst seit gestern. Na toll, selbst den Blumen in meinem Büro steht das Wasser bis zum Halse. Schrecklich, ich hab einfach jeden Montag gegossen, weil es sich so gehört. Weil ich es immer so mache. Was ich alles so mache, weil es sich so gehört.

Was tue ich die letzten Stunden jetzt hier? Die Unterlagen durchzu wälzen, bringt es jetzt auch nicht mehr. Dann bring ich stattdessen mal die Kaffeemaschine zum Laufen. Ich habe noch nie den ersten Kaffee aus der Maschine getrunken, und das, obwohl ich immer die Erste im Büro bin.

War.

Es ist normalerweise immer die Empfangsdame. Sie spült die Maschine, stellt danach ihre Tasse darunter und wenn die Tasse voll ist, sagt sie: „Schön.“

Ob sie das heute auch sagen wird?

Sie kommt.

Was macht sie da? Sie schaltet doch tatsächlich die Maschine ab und spült sie.

Das kann doch nicht sein. Der ist auch nicht mehr zu helfen. Da macht man es ihr leicht und sie denkt, sie habe gestern vergessen, die Maschine auszuschalten.

Ist es denn wirklich so schwierig, etwas anders zu machen?

Ich habe noch nie meine Beine auf meinem Schreibtisch abgelegt. Und warum?

Weil er sündhaft teuer war. Mein erster Schreibtisch aus meinem Lieblingsholz. Sheesham. Ist der schön. Ich hab auch noch nie meine Kaffeetasse ohne Untersetzer auf dem Holz abgestellt. Wobei. Die Tassenränder oder Kaffeeflecken würden mit dem Holz verschmelzen. Das sähe bestimmt gut aus. Ach, was soll's? Tonne auf. Untersetzer adé!

Und für was habe ich eigentlich diese Soundanlage in meinem Büro? In meiner Naivität dachte ich, mit Musik würde es sich einfacher arbeiten lassen. Und durchs viele arbeiten habe ich ganz vergessen, dass sie dort drüben steht. Unbenutzt.

And I wonder who's lovin' you. Ja, danke Michael Jackson, das frag ich mich auch. Tonne auf. CD adé. Jetzt weiß ich auch, warum die Anlage nie gelaufen ist.

Tim hat sie mir geschenkt. Zur Verlobung. Mit unserem Lied. Vergiss es einfach.

Die Anlage hat genauso geschwiegen wie er seit diesem totgeschwiegenen Tag.

Mensch, riecht das Holz gut. Ich hätte jeden Tag die Tasse auf einer anderen Stelle abstellen können, dann hätte es immer gut nach Sheesham Holz geduftet, und die heiße Tasse hätte viele schöne kreisrunde Muster in den Tisch gezeichnet. Das hätte bestimmt richtig gut ausgesehen, und ich hätte was Kunstvolles in der Welt zurückgelassen.

Ja, was lasse ich eigentlich zurück, wenn ich gehe?

Außer unvollendete Probleme. Vielleicht ist ein unvollendetes Problem noch kein ganzes, und erst, wenn ich es quasi rund gemacht habe, ist es ein komplettes Problem, das behandelt werden kann. So gesehen habe ich wirklich kein Problem, zumindest kein offensichtlich ganzes. Vielleicht möchte ich ja nur eine Diagnose haben, damit ich eine Ausrede habe, warum ich so bin, wie ich bin.

Wie bin ich eigentlich?

Bin ich das, was andere über mich behaupten, oder die, die ich sein möchte?

Kann ich sein, wer ich sein möchte, und wenn ja, wer möchte ich dann sein?

Ich weiß, wer ich nicht sein mag, und von der bin ich sehr viel. Ich bin unglücklich, launisch, fühle mich in mir einsam und leer, ich bin zu anspruchsvoll, und meine Erwartungshaltung ist dort, wo sich nicht einmal ein Riese hinzustrecken vermag. Vielleicht hatte der Psychologe ja recht, als er meinte, dass ich mir durch meinen zu hohen Anspruch nur alles vom Leibe halten möchte, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen, und ich mir dadurch einrede, dass nichts und niemand gut genug für mich sei.

Ja, könnte sein, aber wo soll ich meinen Anspruch runterschrauben?

Ach ja, die Antwort hat er mir ja schon gegeben – zuerst bei mir! Doch ohne meinen übertriebenen Anspruch an mich selbst hätte ich auch nicht so viel in meinem Leben erreicht.

Was habe ich eigentlich erreicht in meinem Leben?

Dass ich unglücklich bin, mich einsam fühle und mir nichts mehr auf der Welt wünsche, als zu sterben. Wie erbärmlich doch diese Erkenntnis ist, dass Ansprüche nur Unglück bringen!

Aber wie kann man etwas in seinem Leben erreichen, wenn nicht mit Anspruch?

Ich bin ja sogar anspruchsvoll, wo und wie ich sterben möchte.

Darf man sich überhaupt das Recht für solch eine Entscheidung herausnehmen?

War das nicht Chefsache?

Ein Urteil, das nur der dort oben zu fällen hatte?

Der Wille des Unbegreiflichen und nicht der Wille einer, die gefühlvoll sterben möchte?

Ja, du siehst bestimmt gerade kopfschüttelnd zu mir hinunter oder eher zu mir herab, mit strengem Blick. Du redest bestimmt gerade mit mir oder versuchst es zumindest. Streng dich gar nicht erst an, ich weiß schon, was du mir sagen möchtest.

Wer gefühlvoll sterben möchte, muss erst mal ein Gefühl für das Leben entwickeln!