Eine Eisprinzessin küsst man nicht - Zerwas Michelle - E-Book

Eine Eisprinzessin küsst man nicht E-Book

Zerwas Michelle

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Beschreibung

Nach einem Wohnungsbrand landet Camilla auf der Straße und muss sich von da an unter harten Bedingungen irgendwie durchschlagen. Schließlich gelingt es ihr, über Nacht in einem Geschäft eingeschlossen zu werden und so der winterlichen Kälte draußen zu entfliehen. Als sie von der Filialleiterin Isabella entdeckt wird, bietet die ihr überraschenderweise eine vorübergehende Bleibe in ihrer Wohnung an. Camilla ist ihrer Retterin nicht nur dankbar, sondern verliebt sich in sie. Doch von den Menschen in ihrem Umfeld wird Isabella als Eisprinzessin bezeichnet, weil sie ihre Gefühle nicht zeigt. Camilla versucht dennoch den Eispanzer, den Isabella um ihr Herz errichtet hat, zu durchdringen.
 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Michelle Zerwas

Eine Eisprinzessin küsst man nicht

UUID: 50d6efe2-8a7f-48f9-8953-2eb6c35ae25b
Dieses eBook wurde mit Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

Kontakt zur Autorin

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Buchanfang

1. Kapitel

„ Gute Nachrichten, Frau Theobald. Sie dürfen heute nach Hause.“ Der Arzt stand vor ihrem Krankenbett, strahlte sie an und notierte etwas auf seinem Klemmbrett.

Unter normalen Umständen sehnten Patienten genau diese Worte herbei, doch in Camillas Leben war nichts mehr normal.

„ Sie freuen sich ja gar nicht.“ Der Arzt runzelte verwundert die Stirn.

„ Doch, doch“, versicherte Camilla ihm schnell.

„ Sehr schön, dann müssen Sie mir noch die Entlassungspapiere unterschreiben.“ Er reichte ihr das Klemmbrett und einen Kugelschreiber.

Camilla unterzeichnete das Dokument und gab die Sachen an den Arzt zurück.

„ Dann bleibt mir nur noch, Ihnen alles Gute zu wünschen“, sagte der Arzt.

„ Danke.“

Der Arzt ging weiter zum nächsten Bett und richtete das Wort an den Patienten.

Camilla blieb in ihrem Bett sitzen, sie hatte es nicht eilig. Am liebsten hätte sie sich einfach unter der Decke verkrochen. Vielleicht fiel ihr noch etwas ein, womit sie ihren Aufenthalt im Krankenhaus verlängern konnte.

Ein paar Minuten später verließ der Arzt das Zimmer. Er nickte ihr im Vorbeigehen noch einmal zu.

„ Mensch, sei froh, dass du hier raus kommst“, sprach Camillas Bettnachbar. „Ich komme hier so schnell nicht raus.“

Camilla mochte den Mann nicht. Er hatte ihr zwar nichts getan, aber sie mochte seine Art nicht, deshalb hatte sie in den vergangenen Tagen nur das Nötigste mit ihm geredet.

„ Du freust dich wirklich nicht“, stellte ihr Bettnachbar fest. „Was ist los?“

„ Nichts!“ Camilla sprang aus dem Bett und landete unsanft auf ihrem Fuß, den sie sich kürzlich verstaucht hatte. Ihr Fuß reagierte darauf mit einem leichten Schmerz.

„ Autsch“, sagte sie und sank zurück aufs Bett.

„ He, immer langsam, mit den jungen Pferden“, schallte es vom Nachbarbett herüber.

Genervt rollte Camilla mit den Augen. Zum Glück konnte ihr Zimmergenosse es nicht sehen, weil sie mit dem Rücken zu ihm saß.

Kurz darauf startete Camilla einen zweiten Versuch und diesmal meckerte ihr Fuß nicht. Viel hatte sie nicht einzupacken. Sie stopfte ihre wenigen Habseligkeiten in eine Plastiktüte.

„ Tschüss, und weiterhin gute Genesung“, sagte Camilla zum Abschied.

„ Mach es gut und grüß mir die Welt da draußen.“

„ Werde ich machen.“

Camilla zog mit ihrer Plastiktüte los. Die Gänge des Krankenhauses schienen kein Ende nehmen zu wollen. Doch irgendwann erreichte sie den Ausgang. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wohin sie nun gehen sollte, denn ein Zuhause hatte sie nicht mehr. Das war vor zehn Tagen in Flammen aufgegangen und hatte ihr einen Krankenhausaufenthalt beschert.

Sobald Camilla durch die Schiebetür das Krankenhaus verließ, schlug ihr eiskalte Luft entgegen, die sie sofort frieren ließ. Sie hatte nicht mal eine warme Jacke, sondern trug lediglich eine Jeans und einen Pullover, die Sachen, die sie schon bei ihrer Einlieferung am Leib getragen hatte. Sie rochen sogar noch ein wenig nach Rauch. Wie sollte sie es in dieser Kälte bloß aushalten? Kurz dachte sie darüber nach, ins Krankenhaus zurückzukehren, denn dort war es wenigstens warm. Doch sie konnte schlecht auf dem Gang schlafen, aber sie konnte behaupten, dass es ihr noch immer schlecht ging.

„ Nein, ich muss mich dem Leben stellen“, sprach sie zu sich selbst. Entschlossen ging sie voran. Wenn sie sich bewegte, konnte sie die Kälte ganz sicher vertreiben.

Als sie einige Straßen entlang gelaufen war, hielt sie inne. Sie fror inzwischen so sehr, dass ihre Zähne klapperten. Sie schlang die Arme um sich, aber es half nichts, ihr wurde davon nicht wärmer. Sie musste dringend aus dieser Kälte raus. Doch wohin sollte sie gehen? Sie hatte keinen einzigen Cent in der Tasche. In ein warmes Café konnte sie sich also nicht setzen, weil sie nicht einfach so da sitzen konnte, ohne etwas zu verzehren und zur Bank konnte sie auch nicht gehen, denn ihre Bankkarte war den Flammen zum Opfer gefallen. Sie besaß nichts mehr, keinen Ausweis, kein Geld, nur die Kleider, die sie am Leib trug. Schließlich kam ihr die rettende Idee und sie machte sich auf den Weg zu einem großen Kaufhaus in der Stadt. Dort war es warm und niemand konnte ihr verbieten sich darin aufzuhalten. Bis die Geschäfte schlossen, konnte sie auf jeden Fall bleiben. Vielleicht gelang es ihr ja sogar, jemanden dazu zu bringen, ihr einen Kaffee auszugeben.

Bereits am Eingang schlug ihr angenehme, warme Luft entgegen. Camilla fühlte sich wie im Paradies und die Weihnachtsdekoration, die an allen Ecken festlich blinkte und funkelte, sorgte für noch mehr Gemütlichkeit. Besonders der riesige, geschmückte Weihnachtsbaum inmitten des Einkaufszentrums, der mehrere Etagen hinauf ragte, war sehr beeindruckend. Nach dem längeren Fußmarsch zwickte ihr Fuß ein wenig und sie ließ sich auf der erstbesten Sitzgelegenheit, einer Holzbank, nieder. Menschen eilten geschäftig an ihr vorbei, viele hielten Kaffeebecher oder kleine Snacks aus der Bäckerei in der Hand. Sie hätte sich auch gerne einen Kaffee gekauft, aber ohne Geld war das leider nicht möglich.

Eine Weile saß sie einfach nur da und sah den Leuten zu, bis es ihr irgendwann zu langweilig wurde und sie sich wieder auf den Weg machte. Sie bummelte eine Weile durch die Geschäfte und entdeckte dabei einige Dinge, die sie nur zu gut brauchen konnte, doch ohne Geld war für sie alles unerschwinglich. Schließlich landete sie in einem großen Bekleidungsgeschäft, das von zahlreichen Menschen bevölkert wurde. Die Schlangen an der Kasse waren geschätzt Kilometer lang. Sie huschte zwischen den Kleiderständern herum und wurde besonders von den dick gefütterten, mollig warmen Winterjacken wie magisch angezogen. Ihr war klar, dass sie ohne eine solche Jacke unmöglich draußen in der Kälte überleben konnte. Doch ohne Geld war schwerlich dran zu kommen, es sei denn… Camilla traute sich kaum, den Gedanken zu Ende zu denken. Sie suchte eine Jacke in ihrer Größe aus der Menge heraus und begab sich damit zielstrebig zu den Umkleidekabinen. Eine lange Warteschlange hatte sich dort gebildet und Camilla reihte sich ein. Heute war es ihr egal, denn je länger sie warten musste, umso länger konnte sie im warmen Kaufhaus verbringen.

Meter für Meter rückte die Schlange vorwärts und als Camilla endlich dran war, huschte sie in eine freie Kabine. Sie öffnete den Reißverschluss der Jacke und zog sie an. Sie passte wie angegossen. Glücklich drehte sie sich damit vor dem Spiegel und betrachtete sich von allen Seiten. Dann tastete sie sorgfältig den Stoff ab, auf der Suche nach einer Diebstahlsicherung, doch sie konnte nichts entdecken. Am Reißverschluss baumelte jedoch das Preisschild. Camilla zögerte einen kurzen Moment, dann riss sie den Zettel ab und ließ ihn zu Boden flattern. Doch das erschien ihr im nächsten Moment zu riskant. Sie bückte sich und hob den Zettel wieder auf. Dann verließ sie die Kabine, dabei zerknüllte sie das Preisschild in ihrer Hand. Sie kehrte zu den Kleiderständern mit den Jacken zurück und stopfte das Preisschild in irgendeine Jackentasche. Dann schlenderte sie lässig zum Ausgang, ihr Herz klopfte ihr allerdings bis zum Hals. Jeden Moment rechnete sie damit von einem Wachmann überwältigt zu werden, doch nichts dergleichen geschah, auch nicht, als sie aus dem Geschäft hinaus spazierte.

Camilla musste sich sehr zusammen reißen, um nicht loszurennen, doch damit machte sie sich ja erst recht verdächtig, deshalb schlenderte sie lässig weiter, um keinen Verdacht zu erregen. Sie konnte es nicht glauben, dass sie es aus dem Laden hinaus geschafft hatte, doch ihr schlechtes Gewissen meldete sich zu Wort. Sie hatte noch nie in ihrem ganzen Leben etwas geklaut. Sie fühlte sich mies. So etwas gehörte sich einfach nicht, auch nicht, wenn man in einer echten Notlage steckte, so wie sie gerade. Doch nun gab es kein Zurück mehr, aber vielleicht konnte sie es eines Tages wieder gut machen.

Camilla steuerte den Ausgang des Kaufhauses an. Nichts wie weg hier, bevor am Ende doch noch jemand auf sie aufmerksam wurde und sie der Polizei auslieferte.

Auch diese letzte Hürde gelang ihr. Sie verließ das riesige Einkaufszentrum und mischte sich unter die zahlreichen Menschen in der weihnachtlichen Fußgängerzone. Die Jacke war bei diesen eisigen Temperaturen Gold wert. Noch nie in ihrem Leben war sie so dankbar gewesen, eine warme Jacke zu tragen. Ihr schlechtes Gewissen versuchte sie in den Hintergrund zu drängen. Darum wollte sie sich kümmern, wenn ihr Leben wieder in geordneten Bahnen verlief.

2. Kapitel

Im Weihnachtsmarkt Getümmel konnte Camilla ihre Sorgen für einen Moment vergessen. Die Holzbuden luden zum Verweilen ein, überall erklang Weihnachtsmusik und die Luft war geschwängert von köstlichen Düften. Camillas Magen knurrte laut, ihre letzte Mahlzeit lag schon eine Weile zurück. Es war ein scheußliches Gefühl inmitten all der köstlichen Sachen zu stehen und sie nicht kaufen zu können. In ihrer Verzweiflung sprach sie einen Mann in ihrem Alter an. „Kannst du mir vielleicht mit einem Euro aushelfen?“

Der Mann sah sie angewidert an. „Geh arbeiten, dann hast du auch Geld“, schnauzte er sie an.

Camilla lag eine freche Erwiderung auf der Zunge, aber sie schluckte sie hinunter. Sie wollte keinen Ärger. Als nächstes sprach sie eine Frau an. „Haben Sie einen Euro für mich, bitte?“

Die Frau sah sie nur kurz an, murmelte ein leises Nein und eilte davon.

Camilla lief weiter und versuchte nach einer Weile ihr Glück bei einer Gruppe junger Leute. Sie hielten sich in der Nähe des Glühweinstandes auf und schienen gut drauf zu sein, die Stimmung war feucht fröhlich und Camilla rechnete sich große Chancen aus.

„ Hey, habt ihr ein bisschen Geld für mich?“, sprach sie die Gruppe an.

„ Wie wär’s mit arbeiten?“, erhielt sie als Antwort zurück.

„ Wenn du Arbeit für mich hast, kann ich gleich morgen anfangen“, entgegnete Camilla.

„ Ja, ne, is klar.“ Der Mann lachte spöttisch.

„ Du kannst mir einen blasen“, schlug ein anderer Typ vor. „Ich geb dir nen Zehner dafür.“

Seine Worte brachten ihm einen Rippenstoß von einer der Frauen ein, die in Begleitung der Männer waren.

„ Arschloch!“, zischte Camilla.

„ He, das war bloß ein Spaß!“, rief der Kerl ihr hinterher, denn Camilla hatte schnell das Weite gesucht. Mit solchen Leuten wollte sie nichts zu tun haben.

„ Hey du“, wurde sie nach ein paar Metern von der Seite angesprochen.

„ Ja?“, antwortete Camilla misstrauisch. Das Betteln war keine gute Idee gewesen. Neben ihr stand eine ältere Frau, die ihr ein freundliches Lächeln schenkte.

„ Ich habe das vorhin mitbekommen. Echt mies von dem Kerl. Wozu brauchst du Geld?“

„ Ich habe Hunger“, gestand Camilla.

„ Oh, okay. Ich könnte dich auf eine Bratwurst oder so einladen, wenn du magst.“

„ Das wäre sehr nett.“ Camilla konnte ihr Glück kaum fassen.

„ Da vorne ist eine Imbissbude“, sagte die Frau.

Gemeinsam kämpften sie sich durch die Menge und Camilla hatte Mühe ihre freundliche Retterin nicht aus den Augen zu verlieren.

„ Was möchtest du haben?“, fragte die Frau, als sie es schließlich geschafft hatten und sich am Imbissstand in die Schlange einreihten.

„ Eine Bratwurst würde mir schon reichen“, sagte Camilla. Es war ihr ein bisschen peinlich von jemand anderem abhängig zu sein, aber sie musste im Moment nehmen, was sie kriegen konnte, auch wenn es ihr unangenehm war.

„ Lebst du auf der Straße?“, fragte die Frau, nachdem sie einige Minuten schweigend nebeneinander in der Reihe gestanden hatten.

„ Ja.“

„ Dafür siehst du aber sehr gepflegt aus. Viele Obdachlose sehen verlottert aus und riechen auch so.“

„ Ich bin noch nicht lange obdachlos“, erklärte Camilla. Es fühlte sich komisch an, die Worte auszusprechen, denn dadurch wurde ihre missliche Lage real.

„ Oh, okay. Warst du schon bei der Obdachlosenhilfe?“, fragte die Frau weiter.

„ Nein. Ich wusste gar nicht, dass es hier so etwas gibt.“

„ Sie haben sogar einen Stand auf dem Weihnachtsmarkt. Bestimmt kann dir dort jemand helfen.“

„ Danke, das werde ich mal versuchen.“

Sie waren inzwischen in der Schlange so weit vorgerückt, dass die Frau ihre Bestellung aufgeben konnte.

„ Einmal Bratwurst mit Pommes, bitte“, sagte sie. Dann wandte sie sich an Camilla. „Magst du Mayo, Ketchup oder Senf?“

„ Nein, gar nichts.“

Nicht mal eine Minute später stand das Gewünschte auf der Theke. Die Frau nahm das Essen vorsichtig entgegen und reichte es an Camilla weiter. „Guten Appetit“, wünschte sie ihr lächelnd. Es kam wirklich von Herzen.

„ Vielen Dank“, sagte Camilla gerührt. So viel Freundlichkeit war selten in dieser kühlen Welt.

„ Lass es dir schmecken. Ich muss jetzt leider weiter.“

„ Danke für alles.“

Die Frau verschwand in der Menge und Camilla suchte sich eine ruhige Ecke, um ihr Essen zu verzehren. Jeder Bissen tat ihrem Körper gut, sorgte für Wärme und ein angenehmes Sättigungsgefühl. Danach konnte sie sich mit neuer Kraft auf die Suche nach dem Stand der Obdachlosenhilfe begeben. Lange musste sie nicht suchen, bis sie den winzigen Stand zwischen all den anderen entdeckte. Zwei Frauen saßen in dem kleinen Häuschen. Es gab einige Flyer, die über die Arbeit des Vereins informierten und mehrere Spendenboxen, in denen Geld gesammelt wurde.

Unsicher trat Camilla näher.

„ Guten Tag“, grüßten die beiden Frauen freundlich.

„ Guten Tag.“

Camilla wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war noch nie in einer so ausweglosen Lage gewesen. Sie betrachtete interessiert die Flyer und wünschte sich heimlich, dass eine der Frauen das Gespräch eröffnete. Doch sie saßen einfach nur da und wollten offenbar niemanden bedrängen oder zu einer Spende überreden.

Schließlich nahm Camilla bloß einige Flyer an sich, in der Hoffnung, darin eine Adresse zu finden, an die sie sich wenden konnte.

„ Tschüss“, murmelte Camilla leise, bevor sie den Stand eilig verließ. Die Situation war ihr unangenehm. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so hilflos gefühlt.

Sie lief einige Meter weiter und entdeckte ein Zelt, in dem sie die Möglichkeit hatte, sich auf Bierbänken ein wenig auszuruhen. Ihr Fuß, der sich noch nicht ganz von seiner Verletzung erholt hatte, brauchte dringend eine Pause.

Camilla ließ sich in einer Ecke nieder und widmete sich den Flyern der Obdachlosenhilfe. Zunächst wurde die Arbeit des Vereins beschrieben. Alles klang sehr vielversprechend. Es gab da draußen tatsächlich Menschen, die ein Herz hatten, für die Armen und Hilflosen. Irgendwann stieß Camilla auf eine Adresse, die ihr jedoch nichts sagte. Sie kannte die Straße nicht. Doch sie hatte Glück, denn auf einem Flyer war ein kleiner Stadtplan abgedruckt und dadurch bekam sie eine ungefähre Ahnung, wohin sie sich wenden musste. Sie verweilte noch einige Zeit im Zelt und machte sich dann auf den Weg. Sie brauchte auf jeden Fall für die Nacht einen Schlafplatz, denn der Gedanke, auf der Straße schlafen zu müssen, war für sie unerträglich.

3. Kapitel

Der Fußmarsch war länger, als sie gedacht hatte und ihr Fuß zeigte ihr deutlich, was er davon hielt, indem er immer mehr schmerzte.

Das Obdachlosenheim entpuppte sich als heruntergekommenes Gebäude. Der Putz bröckelte an einigen Stellen von der Wand und es gab Graffiti Schmierereien. Es war ein Ort, an dem man eigentlich nicht sein wollte, aber Camilla ließ sich mit der Aussicht auf einen warmen Schlafplatz dorthin locken.

An der Eingangstür suchte sie vergeblich nach einer Klingel. Sie drückte gegen die Tür und zu ihrer Überraschung öffnete sie sich. Offenbar konnte an diesem Ort jeder kommen und gehen, wie er wollte. Sie trat in einen Flur, der von einer leicht flackernden Neonröhre erhellt wurde und es roch etwas muffig, nach ungewaschenen Körpern und als habe jemand Kohlsuppe gekocht. Im ersten Moment hatte Camilla das Gefühl, es an diesem Ort nicht aushalten zu können, aber nach einer Weile gewöhnte sie sich daran. Es war merkwürdig still im Gebäude, so als sei es verlassen.

„ Hallo? Ist jemand da?“, rief Camilla. Ein kleines bisschen fürchtete sie sich. Unter normalen Umständen hätte sie diesen Ort niemals freiwillig betreten.

Auf einmal hörte sie Schritte näher kommen und kurz darauf kam eine ältere Frau um die Ecke. Aufgrund ihrer Leibesfülle war sie etwas außer Atem und schnaufte ein wenig, aber sie machte einen sympathischen Eindruck und Camillas Bedenken schwanden ein kleines bisschen.

„ Hallo. Wie kann ich helfen?“, fragte sie.

„ Ich bin auf der Suche nach einem Schlafplatz.“

„ Bist neu auf der Straße, hm?“ Die Frau sah sie mitfühlend an.

Camilla nickte.

„ Armes Ding. Na, dann komm mal mit! Wir finden schon ein Plätzchen für dich. Ich bin Renate.“

„ Ich heiße Camilla.“

Sie liefen einen trostlosen Gang entlang.

„ Du hast Glück. Normalerweise sind wir um diese Jahreszeit voll bis unters Dach. Keine Ahnung, warum das dieses Jahr anders ist.“

Camilla hätte ihre momentane Lage ganz sicher nicht als glücklich bezeichnet. Sie wollte nicht hier sein und wenn ihr das Schicksal nicht so übel mitgespielt hätte, wäre sie ganz sicher auch nicht an diesem Ort. Doch nun galt es, das Beste daraus zu machen.

Renate verlangsamte ihre Schritte und betrat einen Raum. Die Tür hing schief in den Angeln. Offenbar fühlte sich für die Reparatur niemand zuständig. Als Renate wieder auf dem Flur erschien, drückte sie Camilla ein Handtuch, sowie Seife, Zahnpasta und eine Zahnbürste in die Hand. „Brauchst du noch andere Dinge?“

„ Nein, ich denke das reicht erstmal.“

Schweigend gingen sie weiter, bis sie zu einem weiteren Raum kamen. Renate stieß die Tür auf. „Hier ist das Bad. Da kannst du dich waschen.“

Camilla sah sich in dem düsteren Raum um. Es gab keine Fenster und an der Decke spendeten Leuchtröhren etwas Licht. Camilla erinnerte der Anblick des Raumes an eine Szene im Horrorfilm.

„ Wenn du drin bist, schließt du am besten ab“, riet Renate ihr. „Wir sind hier ziemlich männerlastig, es gibt Drogen, Alkohol… Wenn du verstehst, was ich meine.“

Camilla verstand nur zu gut. Sie war an einem furchtbaren Ort gelandet und sie musste schnellstmöglich wieder weg. Doch im Augenblick blieb ihr keine Wahl. Sie musste erstmal bleiben. Doch vielleicht verlor dieser Ort seinen Schrecken, wenn sie erstmal eine Nacht dort verbracht hatte.

Renate führte Camilla in ein Zimmer mit drei Betten.

„ Du kannst dir eins aussuchen. Das Zimmer steht momentan leer, aber ich kann dir nicht versprechen, dass es so bleibt.“

„ Danke.“

„ Brauchst du Klamotten zum Wechseln?“

Camilla zögerte mit ihrer Antwort.

„ Ich suche dir einfach was raus“, sprach Renate weiter.

„ Danke, das ist sehr nett.“

„ Wir kriegen das schon alles hin.“

Renate versuchte, ihr Mut zuzusprechen. „Du kannst dich jetzt erstmal etwas ausruhen und frisch machen. Es gibt bald Abendessen.“

Camilla verspürte noch gar keinen Hunger, da sie am Nachmittag, dank der großzügigen Spende der Frau auf dem Weihnachtsmarkt, gut gegessen hatte.

Renate verließ das Zimmer und Camilla blieb allein zurück. Sie hatte immer noch nicht wirklich realisiert, wie sie in diese Lage geraten war. Es war alles so schnell gegangen, von einem Tag auf den anderen hatte sie auf der Straße gesessen.

Sie setzte sich ans Fußende des Bettes und stützte den Kopf in die Hände. Noch nie in ihrem Leben war sie so verzweifelt gewesen.

Ein paar Minuten später kam Renate nochmal zurück und reichte ihr einen Stapel Klamotten.

„ Ich hoffe, es passt alles. Wenn nicht, gib mir Bescheid.“

„ Danke.“

„ Kopf hoch!“, sprach Renate weiter. „Auch wenn die Lage gerade verzweifelt ist, heißt das nicht, dass es so bleibt. Wir werden gleich morgen schauen, wie wir dir helfen können.“

Renates Worte machten Camilla ein wenig Mut. Sie wollte so schnell wie möglich wieder von der Straße in ein eigenes Zuhause.

Erneut ließ Renate sie allein. Camilla besah sich die Klamotten. Sie sahen schon ziemlich verwaschen aus, aber sie rochen frisch gewaschen und in ihrer momentanen Situation konnte sie es sich nicht erlauben wählerisch zu sein.

Sie packte ihre neuen Habseligkeiten zusammen und machte sich auf den Weg zum Bad. Der Dreck des Tages musste weg. Sie beherzigte Renates Rat und sperrte die Tür ab. Sie warf ihre dreckigen Klamotten auf einen Haufen und stieg in die Dusche. Das warme Wasser, das kurz darauf auf sie niederprasselte, war eine wahre Wohltat, nach der langen Zeit in der winterlichen Kälte. Deshalb blieb sie ein wenig länger als nötig in der Dusche. Anschließend trocknete sie sich sorgfältig ab und zog ihre neuen Klamotten an. Sie passten wie angegossen. Renate schien ein gutes Augenmaß zu haben, was vermutlich daran lag, weil sie schon jahrelang obdachlosen Menschen half und sich in dieser Zeit einen guten Blick für Kleidergrößen angeeignet hatte.

Camilla kehrte in ihr Zimmer zurück und ließ sich aufs Bett sinken. Sie verschränkte die Arme unter ihrem Kopf und starrte an die Decke.

Wie schnell sich das Leben radikal ändern konnte, überlegte sie. Sie war zwar eine Abenteurerin und jederzeit bereit neue Erfahrungen zu machen, aber auf der Straße zu landen, war für sie immer schon eine Horrorvorstellung gewesen und nun war genau das passiert.

Irgendwann waren Schritte und Stimmen auf dem Gang zu hören. Es waren Männerstimmen. Camilla setzte sich auf. Wurden Männer und Frauen etwa gemeinsam untergebracht? Das konnte doch unmöglich gut gehen. Sie schlich zur Tür, die noch immer offen stand und lugte um die Ecke in den Gang. Tatsächlich führte Renate eine Gruppe Männer zu den Schlafräumen. Camilla wurde bei dem Anblick mulmig zumute. Natürlich hatte sie nicht erwartet die einzige Hilflose zu sein, aber der Gedanke, Tür an Tür mit fremden Männern zu schlafen, machte ihr doch ein wenig Angst. Zum Glück hatte sie niemand entdeckt. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und schloss die Tür. Zu ihrem Entsetzen ließ sich die Tür zwar schließen, aber es gab keinen Schlüssel, um unliebsame Besucher draußen zu halten.

Sie legte sich wieder aufs Bett und grübelte. Sie fragte sich, welche Möglichkeiten sie noch hatte, um nicht an diesem Ort bleiben zu müssen. Leider fiel ihr keine Alternative ein.

„ Eine Nacht wirst du hier drin schon überleben“, sprach sie sich selbst Mut zu.

In den folgenden Minuten kamen immer mehr Menschen in die Einrichtung, denn die Stimmen auf dem Flur brachen nicht ab. Camilla rechnete jeden Moment damit, dass die Tür aufging und sie eine Mitbewohnerin bekam oder womöglich einen Mitbewohner. Letzteres war ein furchtbarer Gedanke. Wie sollte sie an diesem Ort ein Auge zu machen? Irgendwann hielt sie es in dem stickigen Zimmer nicht mehr aus. Es war zwar, dank der Heizung, gemütlich warm, aber der Geruch im Zimmer wurde immer unerträglicher. Mit den Jahren hatte sich der Duft nach ungewaschenen Körpern und Schweißfüßen offenbar tief in alles eingenistet und ließ sich nicht mehr vertreiben.

Beinahe fluchtartig verließ Camilla das Zimmer und stieß im Flur beinahe mit Renate zusammen.

„ Das trifft sich gut. Ich wollte dich gerade zum Abendessen rufen. Komm mir einfach hinterher.“

Camilla folgte Renate den Flur entlang, der inzwischen richtig penetrant nach Kohl roch. Sie hatte den Geruch noch nie gemocht und daran änderte sich an diesem furchtbaren Ort erst recht nichts.

Sie kamen zu einem weiteren Raum, der anscheinend ein Speiseraum war. Zwei junge Männer standen hinter einem Tisch, vor ihnen befanden sich riesige Töpfe mit Suppe und sie verteilten die dampfende Mahlzeit in Suppenschalen. Dazu gab es Brot oder Brötchen. An weiteren Tischen, die im ganzen Raum verteilt waren, saßen Männer und Frauen jeden Alters und ließen sich die warme Mahlzeit schmecken.

An der Essensausgabe hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Es waren überwiegend Männer. Nur vereinzelt entdeckte Camilla eine Frau. Sie reihte sich in die Schlange ein. Großen Appetit hatte sie nicht und die Aussicht auf Kohlsuppe förderte ihren Appetit auch nicht gerade, aber sie musste nehmen, was sie kriegen konnte. Es gab Momente im Leben, da konnte man es sich nicht leisten wählerisch zu sein.

Ein paar Minuten später war sie an der Reihe und die Männer reichten ihr eine großzügig gefüllte Suppenschale und ein Brötchen.

„ Danke“, sagte Camilla. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach einem freien Platz. Sie hätte sich gerne zu einer Frau gesetzt, aber es war kein Platz mehr frei und so hockte sie sich neben einen älteren Mann, der ihr auf den ersten Blick nicht ganz so gruselig vorkam. Er schlürfte lautstark und unappetitlich seine Suppe und riss, einem Raubtier gleich, große Fetzen von seinem Brötchen ab. Einige Krümel blieben in seinem langen, grauen Bart hängen, doch das schien ihn nicht im Geringsten zu stören.

„ Du bist neu hier, was?“, sprach er Camilla mit vollem Mund an.

„ Ja“, antwortete Camilla knapp. Sie wollte mit dem Mann nicht reden, aber das konnte sie ihm ja schlecht sagen.

„ Ich bin Rudi und wenn du mal Hilfe brauchst, dann bin ich da.“

Camilla verschluckte sich fast an ihrer Suppe. So viel Freundlichkeit hatte sie von dem Mann nicht erwartet.

„ Danke. Ich bin Camilla.“

Der Mann nickte ihr zu und aß schmatzend seine Suppe weiter. In Windeseile hatte er seine Schüssel geleert.

„ Ich hole mir noch einen Nachschlag. Soll ich dir noch was mitbringen?“

„ Nein, danke“, lehnte Camilla ab. Sie hatte nicht mal die Hälfte gegessen, obwohl die Suppe nicht schlecht war, das musste sie zugeben.

Rudi schob geräuschvoll den Stuhl zurück und schlurfte schwerfällig zur Essensausgabe. Camilla sah ihm nach und fragte sich, wie lange er wohl schon auf der Straße ums Überleben kämpfte.

„ Ein hübsches Ding, die wäre was“, hörte Camilla eine Stimme vom Nebentisch. Als sie aufsah und den Kopf in die Richtung drehte, bemerkte sie, dass mehrere junge Männer sie intensiv musterten.

Camilla lief ein Schauder über den Rücken. Wo war sie hier bloß gelandet? Sie wendete den Blick rasch ab, sonst bildeten die Kerle sich womöglich noch ein, sie habe ebenfalls Interesse. Ihr wurde übel vor Angst, aber sie aß trotzdem tapfer weiter und war beinahe froh, als Rudi zurückkehrte. Er machte sich wie ein ausgehungerter Wolf über seine zweite Portion her, schlürfte und schmatzte und die Suppe tropfte in seinen Bart.

„ Du musst dich in Acht nehmen“, flüsterte er Camilla zwischen zwei Löffeln zu. „Hier gibt’s paar ganz üble Typen.“

Camillas ungutes Gefühl verstärkte sich noch und kurz spielte sie mit dem Gedanken, das Obdachlosenheim nach dem Essen heimlich zu verlassen. Doch die Aussicht, die Nacht auf der Straße, in Dunkelheit und Eiseskälte zu verbringen, war nicht weniger gruselig. Egal, wie sie es auch drehte und wendete, sie steckte in einer beschissenen Situation.

Sie schob den Suppenteller von sich, ihr war nun endgültig der Appetit vergangen.

„ Isst du das nicht mehr?“, fragte Rudi.

Camilla schüttelte den Kopf und Rudi zog die Schale zu sich rüber und löffelte die restliche Suppe leer. Er verspeiste sogar Camillas angebissenes Brötchen.

„ Guck nicht so! Hab schon Schlimmeres gegessen“, richtete er das Wort an Camilla. „Wenn du lange genug auf der Straße bist, legst du deinen Ekel irgendwann ab. Geht gar nicht anders.“

Camilla konnte sich das nicht vorstellen. „Wie lange bist du schon auf der Straße?“

„ Ein paar Jahre. Ich hab irgendwann aufgehört zu zählen.“ Er stand auf. „Ich bin dann mal weg. Schönen Abend noch.“ Er klopfte zum Abschied auf den Tisch und ließ Camilla allein zurück.

Camilla sah noch einmal zu der Gruppe junger Männer und stellte fest, dass sie sie noch immer angafften. Sie musste hier weg. Am liebsten wäre sie geflüchtet, aber sie wollte den Typen nicht zeigen, dass sie Angst hatte und so schlenderte sie bemüht lässig aus dem Raum. Auf dem Flur beschleunigte sie ihre Schritte und flüchtete in ihr Zimmer. Sie schlug die Tür hinter sich zu und legte sich wieder aufs Bett. In dieser Nacht würde sie keine Ruhe finden, so viel war klar.

4. Kapitel

Am Ende hatte die Erschöpfung über die Angst gesiegt und Camilla war eingeschlafen. Doch mitten in der Nacht schreckte sie auf einmal aus dem Schlaf. Zuerst wusste sie nicht, was sie geweckt hatte, doch dann vernahm sie Schritte in der Dunkelheit und der Schrecken fuhr ihr in alle Glieder. Während sie noch darüber nachdachte, ob es besser war, sich schlafend zu stellen oder in die Verteidigung zu gehen, tauchte auch schon ein Schatten neben ihrem Bett auf.

Camilla wurde in dem Moment klar, dass der Schatten neben ihrem Bett vermutlich nichts Gutes von ihr wollte. Wer schlich schon mitten in der Nacht in fremden Zimmern herum?

Sie sprang auf und versuchte an der Gestalt vorbei zu kommen, aber sie war zu langsam und wurde grob gepackt. Jemand versuchte, sie wieder zurück aufs Bett zu drücken. Camilla stieß einen Schrei aus, der jedoch sofort erstickt wurde. Eine Hand presste sich fest auf ihren Mund.

„ Wir werden jetzt ein bisschen Spaß haben, Prinzessin“, drohte ihr eine Stimme, die eindeutig männlich war.

Camilla wand sich in Panik und versuchte zu entkommen, aber der Griff des Unbekannten wurde noch fester. Sie hatte keine Chance. Sie versuchte abermals mit einem Geräusch auf sich aufmerksam zu machen, doch mit der Hand auf dem Mund war das fast unmöglich. Es gab kein Entrinnen, niemand hörte sie und so konnte ihr keiner zu Hilfe eilen. Wahrscheinlich schliefen auch alle, sodass niemand etwas mitbekam. Renate hatte sie ja gewarnt. Wäre sie bloß nach dem Essen wieder gegangen. Auf der Straße konnte sie wenigstens fliehen. Hier in diesem Zimmer gab es keine Fluchtmöglichkeit.

Der Unbekannte fing nun an sich an ihren Klamotten zu schaffen zu machen und Camilla wehrte sich so gut sie konnte. Doch ihr wurde schnell klar, dass sie nicht die geringste Chance hatte. Panik ergriff Besitz von ihrem Körper. Sie war in einem Alptraum gelandet. Auf einmal, als sie sich schon beinahe mit ihrem Schicksal abgefunden hatte, wurde die Tür mit einem Krachen aufgestoßen und knallte gegen die Wand.

„ Hör sofort auf, du dreckiger Lump!“, ertönte eine weitere männliche Stimme. Vom Flur drang ein wenig Licht ins Zimmer und Camilla meinte, Rudi im Lichtschein zu erkennen. Der Griff um ihren Arm lockerte sich und Camilla gewann ihren Kampfgeist zurück. Sie versuchte erneut sich zu befreien. Rudi stürzte sich auf den Unbekannten, packte ihn am Kragen und drehte ihn zu sich um. Im selben Moment krachte Rudis Faust ins Gesicht des anderen Mannes. Camilla kauerte auf dem Bett und beobachtete erschrocken die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte. Rudi schlug immer und immer wieder auf den anderen ein. Nach einer Weile kamen weitere Männer hinzu und stürzten sich bereitwillig in den Kampf. Es wurde laut und unübersichtlich und Camilla nutzte diesen Moment aus, um klammheimlich zu verschwinden. Sie krabbelte vom Bett hinunter und bahnte sich einen Weg durch die Menschen hindurch. Als sie den Flur erreicht hatte, begann sie zu rennen. Sie wollte weg, einfach nur weg von diesem schrecklichen Ort. Auf ihrer Flucht nahm sie wahr, wie sich immer wieder Türen rechts und links von ihr öffneten und weitere Menschen auf den Flur traten. Sie musste ihnen ausweichen und endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichte sie den Ausgang. Sie stieß die Tür auf, stürzte nach draußen und atmete die frische, eiskalte Luft ein. Sie drang tief in ihre Lungen und es war eine Wohltat nach der stickigen, abgestandenen Luft des Obdachlosenheims. Ratlos stand Camilla einen Moment in der Dunkelheit. Wohin sollte sie gehen? Es gab keinen Ort, an den sie gehen konnte, aber bleiben konnte sie auch nicht. Schließlich lief sie einfach los, in die Nacht hinein. Manche Möglichkeiten entdeckte man erst auf dem Weg.

Sie wurde von der Dunkelheit verschluckt, während ihr die Kälte allmählich in alle Glieder kroch. Beim Atmen stieß sie immer wieder Rauchwolken aus, die in der Luft auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Die Straßen waren wie ausgestorben. Niemand ging freiwillig in die Kälte und wahrscheinlich schliefen die meisten auch noch. Camilla hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war. Eigentlich wollte sie es auch gar nicht wissen, denn dann hatte sie die Gewissheit, wie viel Zeit in dieser Nacht noch vor ihr lag. Sie lief und lief. Nach einer Weile entdeckte sie in einem Schrebergarten eine Holzhütte und schöpfte sogleich Hoffnung. Vielleicht konnte sie dort für den Rest der Nacht unterschlüpfen. Querfeldein lief sie darauf zu. Sie drückte die Türklinke herunter, aber die Tür öffnete sich nicht. Sie rüttelte daran, denn vielleicht klemmte sie bloß ein bisschen. Doch auch das half nicht und so schlich Camilla sich wieder davon. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Es blieb ihr anscheinend nichts anderes übrig, als die restliche Nacht draußen auszuharren.

Obwohl sie erschöpft war, lief sie weiter, denn dadurch ließ sich die Kälte wenigstens ein bisschen in Schach halten. Und schließlich hatte das Glück doch noch ein paar Funken für sie übrig, denn nach einigen hundert Metern kam sie an einer Pferdeweide vorbei. Sie war mit einem dünnen Elektroband eingezäunt und wirkte auf den ersten Blick verlassen, doch dann entdeckte Camilla einige Pferde, die geisterhaft in der Dunkelheit standen. Camilla schöpfte wieder Hoffnung, denn wo Pferde waren, gab es auch Heu und Stroh und das war nicht nur wunderbar weich, sondern spendete auch ein wenig Wärme. Sie berührte vorsichtig das weiße Band um die Weide und bekam einen schmerzhaften Stromschlag verpasst.

„ Autsch.“ Sie schüttelte ihre Hand, um den Schmerz zu vertreiben. Als er nachließ, überlegte sie, wie sie auf die Koppel gelangen konnte, ohne einen Stromschlag zu bekommen. Sie besah sich den Zaun. Wenn sie sich ganz klein machte, konnte sie vielleicht unten durch krabbeln. Sie probierte es gleich mal aus, indem sie auf die Knie ging und durchs Gras unter dem Zaun durch rutschte. Dabei holte sie sich zwar nasse Knie, aber das war es ihr wert. Immerhin hatte sie keinen weiteren Stromschlag abgekriegt. Bevor sie wieder aufstehen konnte, tauchten auf einmal zwei lange Beine in ihrem Blickfeld auf. Sie sah nach oben und stellte fest, dass sich ihr ein Pferd genähert hatte.

Hoffentlich sind die friedlich, dachte Camilla. Sie richtete sich langsam auf.

„ Tu mir bitte nichts!“, flehte sie das Pferd an. „Ich komme in friedlicher Absicht.“

Das Pferd senkte seinen Kopf und beschnupperte Camilla vorsichtig. Dabei stieß es ebenfalls eine Atemwolke durch seine Nüstern aus, die sich mit Camillas Atem vermischte.

„ Du tust mir nichts und ich tue dir nichts“, flüsterte Camilla. So ganz geheuer war ihr das riesige Tier nicht, aber gefährlicher, als die Typen, die nachts auf der Straße herum lungerten, konnte das Pferd auch nicht sein. Das Pferd hatte sich offensichtlich schon seine Meinung gebildet, denn es ließ von Camilla ab und trottete gemächlich davon.

Camilla atmete erleichtert auf. Das lief besser als gedacht. In der Dunkelheit konnte sie einen Unterstand ausmachen. Sie lief darauf zu und als sie dort ankam, fühlte sie sich beinahe wie im Paradies. Der Unterstand war dick mit Stroh ausgelegt, damit die Pferde es sich dort gemütlich machen konnten. Sie sah, dass ein Pferd im Stroh lag, die Beine unter dem Pferdeleib. Es schnaubte, als es Camilla entdeckte.

„ Keine Angst, ich will dich gar nicht stören. Bleib einfach liegen, ja“, redete sie beruhigend auf das Pferd ein. Sie huschte in die entgegengesetzte Ecke und ließ sich dort im Stroh nieder, rollte sich so gut wie möglich zusammen und endlich, zum ersten Mal, fühlte sie sich sicher. Inmitten der Pferde konnte ihr nichts passieren. Es dauerte nur wenige Minuten, bis Camilla tief und fest eingeschlafen war. Sie vertraute darauf, dass die Pferde sie beschützten.

Die ganze restliche Nacht wachte Camilla kein einziges Mal auf. Erst im Morgengrauen wurde sie von den weichen Nüstern eines Pferdes geweckt, die sanft ihr Gesicht abtasteten.