Eine falsche Lüge – Wird es ihre letzte sein? - Sophie Stava - E-Book

Eine falsche Lüge – Wird es ihre letzte sein? E-Book

Sophie Stava

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Beschreibung

»Der Inbegriff eines Pageturners – schlau, originell und wendungsreich, ich konnte nicht aufhören zu lesen!« Liane Moriarty Sloane Caraway ist eine Lügnerin. Sie lügt nicht, um anderen zu schaden, sondern meist nur, um sich selbst ein wenig interessanter zu machen. So auch an jenem Nachmittag im Park, als sie einem weinenden Mädchen hilft und dabei vorgibt, Krankenschwester zu sein. Es kommt ihr ganz leicht über die Lippen, und der Vater des Mädchens, Jay Lockhart, glaubt ihr auf Anhieb. Aus Dankbarkeit stellt er Sloane seiner Frau Violet vor, und die beiden Frauen freunden sich an. Als Violet Sloane erzählt, dass sie dringend auf der Suche nach einem Kindermädchen ist, sieht Sloane ihre Chance gekommen, Teil dieser privilegierten Familie zu werden. Fortan passt sie immer häufiger auf die kleine Harper auf und macht sich unentbehrlich. Irgendwann fängt sie an, Violet zu imitieren, gleicht ihr äußerlich immer mehr. Was Violet nicht zu stören scheint, im Gegenteil, sie ermutigt Sloane sogar dazu. Sloane nimmt dafür gern in Kauf, weitere kleine Lügen zu erfinden. Doch ist sie die Einzige, die lügt? Kann sie glauben, was man ihr erzählt? Oder hat sie dieses Mal die Falschen belogen? »Ein Riesenspaß und teuflisch gut geplottet. Sie werden atemlos durch die letzten Seiten rasen und verzweifelt jeden noch so kleinen Hinweis aufsaugen, der dieses Lügengebäude zum Einsturz bringt.« Katy Hays, New York Times-Bestsellerautorin

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Seitenzahl: 502

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Sophie Stava

Eine falsche Lüge

Wird es deine letzte sein?

Thriller

 

Übersetzt von Janine Malz

 

Über dieses Buch

 

 

Sloane Caraway ist eine Lügnerin. Sie lügt nicht, um anderen zu schaden, sondern meist nur, um sich selbst ein wenig interessanter zu machen. So auch an jenem Nachmittag im Park, als sie einem weinenden Mädchen hilft und dabei vorgibt, Krankenschwester zu sein. Es kommt ihr ganz leicht über die Lippen, und der Vater des Mädchens, Jay Lockhart, glaubt ihr auf Anhieb.

Aus Dankbarkeit stellt er Sloane seiner Frau Violet vor, und die beiden Frauen freunden sich an. Als Violet Sloane erzählt, dass sie dringend auf der Suche nach einem Kindermädchen ist, sieht Sloane ihre Chance gekommen, Teil dieser privilegierten Familie zu werden. Fortan passt sie immer häufiger auf die kleine Harper auf und macht sich unentbehrlich. Irgendwann fängt sie an, Violet zu imitieren, gleicht ihr äußerlich immer mehr. Was Violet nicht zu stören scheint, im Gegenteil, sie ermutigt Sloane sogar dazu.

Sloane nimmt dafür gern in Kauf, weitere kleine Lügen zu erfinden. Doch ist sie die Einzige, die lügt? Kann sie glauben, was man ihr erzählt? Oder hat sie dieses Mal die Falschen belogen?

 

»Ein Riesenspaß und teuflisch gut geplottet. Sie werden atemlos durch die letzten Seiten rasen und verzweifelt jeden noch so kleinen Hinweis aufsaugen, der dieses Lügengebäude zum Einsturz bringt.«

Katy Hays, New York Times-Bestsellerautorin

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Sophie Stava war Ghostwriterin, bevor sie sich an ihren ersten eigenen Thriller »Eine falsche Lüge« wagte. Sie lebt mit ihrer Familie im Süden Kaliforniens und arbeitet bereits an einer neuen spannenden Thrilleridee.

 

Janine Malz studierte Übersetzen in Germersheim, Triest und München. Nach Stationen in Übersetzungsagenturen sowie im Lektorat eines großen Publikumsverlags ist sie heute als freiberufliche Literaturübersetzerin aus dem Englischen, Italienischen und Niederländischen tätig.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Count My Lies« bei Scout Press, Simon & Schuster, LLC, New York

© 2025 by Sophie Stava

All rights reserved

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Redaktion: Alexander Groß

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: www.buerosued.de

ISBN 978-3-10-492153-2

 

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Inhalt

[Widmung]

[Motto]

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Violet

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Jay

30. Kapitel

31. Kapitel

Sloane

32. Kapitel

Dank

Für Mom und Dad

Wenn du die Wahrheit sagst, gibt es nichts, was du im Kopf behalten musst.

Mark Twain

 

Ich dachte immer, es wäre besser, ein falscher Jemand zu sein als ein echter Niemand.

Tom Ripley in: Der talentierte Mr. Ripley

1

»Ich bin Krankenschwester.« Die Worte purzeln aus mir heraus, noch ehe ich mich bremsen kann, laut polternd wie Blechdosen, die hinten an der Stoßstange befestigt sind. Wenn ich danach greifen und sie an der Schnur zurückholen könnte, würde ich es tun, doch es ist zu spät. Die beiden haben mich gehört.

Ich sollte weggehen. Oder lachen und behaupten, ich hätte nur einen Witz gemacht. Aber als der Vater und seine kleine Tochter von der Parkbank zu mir hochsehen, spüre ich einen solchen Adrenalinrausch, dass ich weder zum einen noch zum anderen imstande bin. Stattdessen knie ich mich neben das Mädchen und lächle erst sie breit an, dann ihn.

»Sie müssen es kühlen«, sage ich zu dem Mann mit fester, klarer Stimme und einer Spur von Autorität, die jemand aus dem medizinischen Bereich wohl von Natur aus besitzen würde.

Die Sache ist nur, ich bin gar keine Krankenschwester. Bin ich nie gewesen. Was ich hingegen bin, ist eine Lügnerin.

Ich hatte das kleine Mädchen quer über den Spielplatz weinen hören und mich ihr genähert, wie magisch angezogen von ihren langgezogenen Schluchzern. Ich war schon immer neugierig, belausche hier und da die Gespräche von Fremden, blicke Leuten über die Schulter, um zu sehen, was sie so lesen, oder schiele in der U-Bahn bei meinen Sitznachbarn aufs Handy, was für Nachrichten sie schreiben. Noch so eine schlechte Angewohnheit von mir.

»Lass mal sehen«, sagte der Vater gerade zu seiner Tochter, als ich näher kam, und hielt ihren nackten Fuß in der Hand. »Wo hat sie dich gestochen? Hier? Oder hier?«

Ich wollte bloß helfen; er wirkte so aufgewühlt, so aufgelöst, dass ich, beinahe ohne nachzudenken, den Mund aufmachte, und schon kam die Lüge herausgepoltert. Landete mit einem Plumps mitten auf dem Gehweg und ließ sie beide hochschrecken. Ich habe es nur gut gemeint, ehrlich. Ich weiß schon, damit bringt man sich in Teufels Küche.

Ich lasse meinen Blick über ihre Sachen schweifen. Neben ihnen steht eine Lunchtüte aus Papier, der Inhalt liegt über die Bank verstreut. Ein halb gegessenes Sandwich. Bereits bräunlich werdende Apfelscheiben, Karottensticks. Zwei Getränke: eine Dose Mineralwasser mit Grapefruitgeschmack und ein Saft-Trinkpäckchen.

Ich schnappe mir die Dose. Sie ist kühl, nicht kalt, aber besser als nichts. »Hier«, sage ich und halte sie dem Mann hin. Er nimmt sie. Unsere Hände berühren sich, nur ganz leicht, seine Finger sind überraschend weich. »Ist der Stachel noch drin?«

Der Vater blickt stirnrunzelnd auf den Fuß seiner Tochter. Sie wimmert noch immer, doch das Weinen hat nachgelassen. Mit weit aufgerissenen Augen sieht sie zu mir hoch. Ihr Gesicht ist tränenüberströmt. Rotz läuft ihr aus der Nase. Sie hat ein Puppengesicht – die Stirnfransen, die langen Wimpern –, ausgesprochen süß. Genau wie er, gelinde gesagt. Ich spüre noch immer die Berührung seiner Finger.

»Ich glaube schon«, antwortet er. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, nachzuschauen?«

Ein Anflug von Stolz. Er vertraut mir. Natürlich tut er das. Ich bin eine gute Lügnerin – und, na ja, praktischerweise trage ich einen Kittel.

»Klar«, antworte ich lächelnd. Noch immer auf Knien, hebe ich ihre verschmutzte rosa Fußsohle an. Sie muss vier oder fünf sein, ihr Fuß ist winzig in meinen riesigen Händen. Für eine Frau habe ich ziemlich große Hände, schon als Kind hatte ich die. Guck dir diese Pranken an, hat mich meine Tante früher immer aufgezogen und ihre Hand neben meine gelegt. Bis heute schäme ich mich deswegen, halte jedes Händeschütteln bewusst kurz und verstecke meine Hände tief in meinen Taschen oder unter den Oberschenkeln, wenn ich sitze.

Mit zusammengekniffenen Augen inspiziere ich ihre Fußsohle. Darauf sind ein kleiner roter Hügel und in seiner Mitte ein schwarzer Punkt zu sehen. Der Stachel. Ich ziehe Luft zwischen den Vorderzähnen durch und nicke. »Er steckt noch drin.«

Er runzelt die Stirn und blickt hinunter auf den Fuß. »Soll ich …?«

»Sie müssen ihn rauskratzen. Mit einer Kreditkarte oder etwas anderem mit einer flachen Kante. Sie dürfen nicht daran herumdrücken, das macht es nur schlimmer.«

Ich bin zufrieden damit, wie kompetent ich rüberkomme, wie fachkundig, als wüsste ich, wovon ich rede. In gewisser Weise tue ich das, denn zufälligerweise bin ich im Spätsommer des vorigen Jahres in genau diesem Park ebenfalls auf eine Biene getreten. Ich hatte eine Decke ausgebreitet und die Schuhe ausgezogen, um mich zum Lesen hinzulegen. Als ich die Decke wieder zusammenfalten wollte, immer noch barfuß, die Sneaker im Gras daneben abgestellt, spürte ich einen schmerzhaften Stich in der Fußsohle. Leise fluchend setzte ich mich wieder hin, um die Verletzung zu begutachten, und entdeckte die zerquetschte Biene, deren Stachel in meiner Haut steckte. Vorsichtig drückte ich so lange daran herum, bis der Stachel herauskam. Erst später, als ich panisch googelte, stellte ich fest, dass das ein Fehler war.

Bis zum Abend war mein Fuß fast auf die doppelte Größe angeschwollen und sah aus wie eine dicke rosa Wurst. Es dauerte drei Tage, ehe das Jucken aufhörte, und noch mal vier, bis die Schwellung komplett zurückgegangen war. Die ganze Woche über war ich herumgehumpelt und hatte jedem das komplette Drama geschildert, der auch nur mit hochgezogenen Augenbrauen in meine Richtung schielte. Wobei ich zugeben muss, dass ich womöglich behauptete, es habe sich um einen ganzen Schwarm gehandelt, nicht nur um eine einzelne Biene. Jedenfalls habe ich tatsächlich Erfahrung auf diesem Gebiet.

Der Vater greift in die Gesäßtasche seiner Hose und zückt sein Portemonnaie. »Danke«, sagt er aufrichtig. »Wenn Sie nicht hier gewesen wären, hätte ich vermutlich den Notarzt gerufen.« Er lächelt, um mir zu bedeuten, dass er nur einen Witz macht. Seine Zähne sind strahlend weiß und ebenmäßig. Er ist jener Typ gutaussehender Mann, der das Herz von Teenies höher schlagen lässt, und vermutlich Anfang dreißig, genau wie ich.

Er zieht eine Kreditkarte aus einem der Fächer seiner Geldbörse. »Heb mal deinen Fuß, Süße«, sagt er, und als er mit der Karte über ihre Sohle schabt, sehe ich den auf der Karte eingeprägten Namen. Jay Lockhart. Jay Lockhart. Klingt gut, ganz so, als würde er mir leicht über die Lippen gehen, würde ich ihn laut aussprechen. Jay wie Jay Gatsby, der charmante, heißblütige, liebeskranke Millionär. Ich werfe einen Blick auf den Mann – Jay – und beschließe, dass der Name zu ihm passt, mit seinem jungenhaften Lächeln und dem Playboy-Gesicht.

»Hab ihn!«, verkündet Jay triumphierend und hält einen winzigen schwarzen Punkt zwischen Daumen und Zeigefinger – der Stachel vermutlich. »Siehst du?« Er zeigt ihn zuerst dem kleinen Mädchen, dann mir.

»Gut gemacht!«, sage ich und lächle ihn an. Er sieht so stolz aus, als hätte er gerade bei den Olympischen Spielen gewonnen. Vielleicht nicht gerade Gold, aber Bronze, immer noch ein äußerst respektabler Erfolg.

Als er zurücklächelt, spüre ich, wie ich leicht erröte. Es fühlt sich an, als wäre es unser gemeinsamer Sieg, als würde er mich, sein Teammitglied, jeden Moment umarmen.

»Geht’s dir besser?«, fragt er das kleine Mädchen. Sie nickt, hört auf zu schniefen. Er wischt ihr mit dem Daumen über die Wange, streicht ihren seidigen Pony glatt. Mir fällt auf, dass er keinen Ehering trägt.

»Sie sollten es weiter kühlen, wenn Sie nach Hause kommen«, sage ich und stehe wieder auf, »damit es nicht zu sehr anschwillt. Und vielleicht geben Sie ihr eine halbe Tablette Benadryl, gegen das Jucken.«

»Wirklich, vielen Dank. Harper, kannst du dich bedanken?« Jay wendet sich an das kleine Mädchen. »Sag Danke, Miss …?« Er verstummt und dreht sich fragend zu mir um.

»Caitlin«, antworte ich. Eine weitere Lüge. Keine Ahnung, wo die herkommt. Habe ich je eine Caitlin getroffen? Einmal vielleicht. Ich glaube, als ich jünger war, bin ich beim Ballett mal einer Caitlin begegnet. Oder hieß sie Carly? Wir besuchten denselben Kurs im Gemeindezentrum, doch das waren auch schon alle Gemeinsamkeiten. Sie hatte hüftlange Haare, die zu einem wunderschönen Zopf geflochten und an den Seiten mit glitzernden Spangen fixiert waren, und trug brandneue Ballettschuhe, deren rosa Satin glänzte. Ich tanzte derweil in alten Socken. Sie war die Beste, wie auch immer sie hieß, und spielte die Hauptrolle in dem Stück. Ich war Zuckerfee Nummer sechs. Das kleine Mädchen mit dem Bienenstich, Harper – ein süßer Name, aber typisch für Yuppies, genau was man in diesem Viertel erwarten würde –, hat ebenfalls einen glänzenden geflochtenen Zopf, und ihr Pony ist fein säuberlich gekämmt. Vielleicht bin ich deswegen auf den Namen gekommen: Sie erinnert mich an das Mädchen von damals.

»Danke, Miss Caitlin«, spricht Harper pflichtbewusst nach.

»Gern geschehen«, sage ich. »Ich hoffe, es geht deinem Fuß bald besser.«

Sie lächelt mich zögerlich an und blickt mit ihren großen braunen Augen zu mir hoch. Dann sieht sie wieder zu ihrem Vater. »Kann ich meine Sandburg zu Ende bauen?«

Jay nickt lächelnd, und sie rutscht von der Bank herunter zu ihrem im Sand verteilten Spielzeug.

»Ich bin übrigens Jay«, sagt er, steht auf und streckt mir die Hand entgegen. Er ist größer, als ich dachte, deutlich über eins achtzig.

»Freut mich, Jay«, erwidere ich. Als wir uns die Hände schütteln, ist da eine gewisse Spannung zwischen uns. Zumindest spüre ich sie. Er hätte sich nicht vorstellen müssen, hat es aber getan. Das ist schon mal was.

Es entsteht eine Pause, dann sagt er: »Jeder Einzelne ein Lügner, was?«

Mein Herz bleibt stehen, und mir stockt der Atem. »Was?«, bringe ich mit Mühe heraus. Woher weiß er …?

Jay lächelt und deutet dann auf meine linke Hand. Darin halte ich noch immer mein Buch, in dem ich gelesen habe, als ich Harpers Weinen hörte; meine Finger stecken zwischen den Seiten an der Stelle, wo ich aufgehört habe. Es ist eine abgenutzte Ausgabe von Mord im Orient-Express mit vom vielen Lesen hochgerollten Umschlagkanten. »Sorry.« Er grinst entschuldigend. »Habe ich etwas vorweggenommen? Es sieht so aus, als hättest du es schon mal gelesen«, wechselt er zum Du.

»Oh.« Ich stoße ein kleines Lachen aus und atme erleichtert aus. »Nein, alles gut, ich lese es bestimmt schon zum zehnten Mal. Du kennst das Buch?«

Jay nickt. »Ich habe den Detektiv geliebt, Hercule Poirot. Meine Eltern haben mir einen Schuber mit der Romanreihe zu meinem zwölften Geburtstag geschenkt. Ich habe immer versucht, den Fall noch vor ihm zu lösen, habe es aber nie hingekriegt.« Bedauernd schüttelt er den Kopf.

Ich lache. »Mein Lieblingsroman von Agatha Christie ist Und dann gabs keines mehr. Das Ende war einfach …« Ich imitiere ein explodierendes Geräusch. »Poah. Damit habe ich nicht gerechnet.«

»Den kenne ich nicht. Ist der echt so gut?«

»Ich könnte dir mein Exemplar ausleihen«, biete ich an. »Kommt ihr öfter her? Normalerweise bin ich ein paarmal pro Woche hier.« Ich halte den Atem an und spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Bestimmt bin ich zu weit gegangen. Das passiert mir öfter.

Aber die Wahrheit ist: Ich weiß, sie sind nicht das erste Mal hier im Park. Ich habe sie schon mal gesehen. Zweimal genauer gesagt, Anfang der Woche. Ich hatte gehofft, dass sie heute wieder hier sein würden, und mich gefreut, als ich sie kommen sah. Harpers Weinen hat zwar tatsächlich mein Aufsehen erregt, aber ehrlicherweise hatte ich sie die ganze Zeit über im Blick, während ich in meinem Buch blätterte, und schaute alle paar Seiten hoch, beobachtete, wie sie sich am Gerüst entlanghangelte und auf der Schaukel saß.

Das erste Mal, am Dienstag, fiel mir Jay noch vor Harper auf. Wie bestimmt allen Frauen im Park. Nicht nur weil er einer der wenigen anwesenden Männer war, sondern auch weil er aussah, als würde er an ein Filmset in L.A. gehören und nicht auf einen Spielplatz im Herzen von Brooklyn.

Tatsächlich bin ich unter der Woche fast jeden Tag hier, um nachmittags eine Pause von der Arbeit einzulegen, insofern kenne ich die Stammgäste des Parks. Ich sehe oft dieselben Kinder mit ihren Nannys, dieselben Mütter, die zusammensitzen und quatschen, während ihr Nachwuchs kreischend auf dem Spielplatz herumtollt. Ich mag diesen Park, mag, wie glücklich alle wirken, mag den Duft der Geißblattbüsche, die die sonnigen Wiesen säumen. Hier ist selbst in den kälteren Monaten viel los, wenn die Kinder mit rosigen Wangen dick eingemummelt spielen.

»Das wäre toll«, bedankt sich Jay für mein Angebot, »aber normalerweise bringt meine Frau Harper hierher. Ich hatte die Woche frei, deshalb bin ich mit ihr in den Park gegangen. Ab Montag übernimmt meine Frau wieder.«

Als er »meine Frau« sagt, wird mir das Herz schwer, und ich fühle mich noch alberner als ohnehin schon. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Dass das hier der Anfang einer romantischen Komödie wäre und ich Liv Tyler in Jersey Girl? Ich weiß, der Film ist schon relativ alt, aber welche Frau träumt nicht davon, dem trauernden Witwer Ben Affleck zu begegnen, der bei einem Trost sucht? Wer träumt nicht von einem mutterlosen kleinen Mädchen, das hinreißend zu einem aufschaut? Ja, es ist ein wenig morbide, aber ich bin bestimmt nicht die Einzige. Oh Gott, oder doch?

»Ich werde ihr Bescheid geben, damit sie das nächste Mal nach dir Ausschau hält, wenn sie hier ist«, sagt Jack. »Offenbar ist das Harpers neuer Lieblingspark.«

Ich setze ein breites Lächeln auf, als würde mich die Aussicht darauf, seine zweifellos bildschöne Ehefrau zu treffen, mit ungetrübter Freude erfüllen. »Super«, sage ich und hoffe, es klingt gut gelaunt. »Ich bin normalerweise immer um diese Zeit hier. Vielleicht kann ich ihr das Buch mitbringen.«

Das ist ein untrügliches Indiz dafür, dass ich nicht hübsch bin. Kein verheirateter Mann würde seiner Frau erzählen, dass er sich im Park mit einer attraktiven Frau angefreundet hat. Zumindest nicht, wenn er einen Funken Verstand besitzt oder nicht Gefahr laufen will, im Schlaf mit einem Kissen erstickt zu werden.

Und Jay kommt mir weder dämlich noch lebensmüde vor.

Aber es überrascht mich nicht. Ich weiß, ich bin nicht die Art Frau, die für andere Frauen eine Gefahr darstellt. Meine Nase ist ein wenig zu groß, mein Kinn zu kantig. An guten Tagen rede ich mir selbst ein, ich wäre eben keine klassische Schönheit, eher so wie diese Schauspielerinnen in den Schwarz-Weiß-Filmen mit markanten Gesichtszügen. Greta Garbo vielleicht, bei schummrigem Licht. Und ich trage mein Übriges dazu bei. Ich weiß, ich könnte mich mehr um mein Aussehen kümmern, könnte mich beispielsweise besser anziehen, doch ich mag es bequem und trage jahrelang Klamotten, die ich längst in die Kleidersammlung geben oder hätte wegwerfen sollen: High-Waist-Jeans mit Löchern an den Knien, Flanellhemden und ausgeleierte Oversize-Pullover. Da die Trends in der Mode ja kommen und gehen, könnte es tatsächlich cool wirken, wenn dahinter eine Absicht erkennbar wäre – und wenn ich diesen Look nicht mit einem hastig zusammengebundenen Dutt, einer billigen Plastikbrille und abgewetzten Sneakern kombinieren würde. Ich besitze zwar Kontaktlinsen (und eine Haarbürste), aber meistens bin ich morgens spät dran und stolpere halb angezogen aus der Tür, einen verbrannten Toast zwischen die Lippen geklemmt, so dass die Kontaktlinsen (und die Haarbürste) für gewöhnlich unter den Tisch fallen.

Es ist nicht so, dass ich keine schöneren Klamotten hätte – habe ich –, ich hatte in letzter Zeit nur einfach keinen guten Grund, sie zu tragen. Denn statt Strickjacke und Jeans trage ich einen Kittel bei der Arbeit. Einen mauvefarbenen Kittel, um genau zu sein. Meine Chefin Lena hat ihn mir am ersten Arbeitstag mit einem stolzen Lächeln überreicht. Sie hat die Farbe selbst ausgesucht.

Ich arbeite allerdings nicht als Krankenschwester, sondern als Nageltechnikerin in einem kleinen Beautysalon, der für fünfundsiebzig Dollar Maniküren und Pediküren, Sugar Waxing und ein dreiseitiges Menü von Gesichtsbehandlungen anbietet. Krankenschwester, Nageltechnikerin, wo liegt da schon der Unterschied? Ach so, ja richtig, einfach in allem. Die Kluft zwischen jemandem, der einen gebrochenen Arm behandelt, und jemandem, der sich um einen abgebrochenen Acrylnagel kümmert, könnte kaum größer sein.

Momentan trage ich neben dem erwähnten Kittel die zuvor erwähnte Plastikbrille, goldene Ohrstecker und eine goldene Kette, die ich auf dem Weg aus dem Studio schnell angelegt habe.

Ich befühle meine Halskette. Ich habe sie vor ein paar Wochen in einem kleinen Laden entdeckt, als ich auf dem Heimweg von der Arbeit war. Eigentlich war ich nur reingegangen, um Zeit totzuschlagen, nicht um etwas zu kaufen. Aber als ich an der Kasse vorbeikam, fiel mir in der Glasvitrine etwas auf, das golden funkelte. Die Verkäuferin bot mir an, sie mir umzulegen, damit ich mich damit im Spiegel betrachten konnte. Sie passte perfekt. Die Kette besteht aus feinen Kettengliedern, die miteinander verwoben sind, und direkt am Halsansatz prangt eine kleine schillernde Perle. Ich bezahlte und ließ sie gleich an. Als Natasha, meine Kollegin, mich am nächsten Tag darauf ansprach, erzählte ich ihr, es sei ein Familienerbstück von meiner Großmutter.

Aber, wer hätte das gedacht, selbst mit den Ohrringen und der Halskette bin ich auf einer Skala von zehn eher eine gute Fünf. Seine Frau sieht einer Liv Tyler vermutlich ähnlicher, als ich es je tun werde. Die Daisy zum Gatsby. Rank und schlank und mit hohen Wangenknochen, vollen Lippen und langen Locken, die ihr über den Rücken fallen. Von Spliss keine Spur.

»Noch fünf Minuten, Harp.« Jay bückt sich, um den Kopf des kleinen Mädchens zu tätscheln. Sie nickt abwesend. Sie scheint den Stich vergessen zu haben und spielt vergnügt zu unseren Füßen, wo sie mit einer Schaufel Sand in einen Eimer füllt und ihn anschließend auskippt.

Ich verlagere mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Ich sollte gehen – in weniger als zehn Minuten muss ich wieder bei der Arbeit sein –, aber Jay ist deutlich interessanter als das, was mich dort erwartet. Wenn ich mich beeile, schaffe ich es noch rechtzeitig. Deshalb frage ich stattdessen: »Du meintest, du hättest diese Woche frei?«

Er nickt. »Harpers Kindergarten hat während der Frühlingsferien geschlossen, deshalb habe ich mir die Woche ebenfalls frei genommen, um Zeit mit ihr zu verbringen.«

»Was machst du beruflich?« Das ist eine weitere schlechte Angewohnheit von mir, ich rede zu viel und stelle zu viele Fragen. Das ist wahrscheinlich auch derselbe Grund, weshalb ich lüge – um die Stille zu füllen, um Leute davon abzuhalten, sich gelangweilt abzuwenden.

Ich weiß genau, wie erbärmlich das klingt. Es ist nur einfach so, dass mein Job langweilig ist. Mein Leben ist langweilig. Fad und öde. Umso begieriger bin ich darauf, einen Blick in das Leben anderer Leute zu werfen. Und seins wirkt besonders interessant. Bestimmt ist es filmreif, Hollywood-like. Ich wette, mein Gefühl trügt mich nicht.

»Ich habe letztes Jahr meine eigene Firma gegründet, in der Online-Game-Entwicklung. Mit anderen Worten, ich bin ein ziemlicher Nerd«, witzelt Jay lächelnd, und seine Augen blitzen. Mir fällt auf, dass er ein Grübchen in der rechten Wange hat. Er ist kein Nerd. Ganz sicher nicht. Ist er nie gewesen. Das erkennt man allein daran, wie er aussieht. Wie gesagt, er ist groß, wirklich groß, mindestens eins neunzig, und hat dunkle Haare, durch die er mit der Hand fährt, um sie sich aus dem Gesicht zu streichen. Sein Kiefer ist stark, glatt rasiert und seine Haut gebräunt und weich.

»Ist bestimmt aufregend, seine eigene Firma zu gründen«, sage ich.

»Kann schon sein.« Er zuckt mit den Achseln. »Nicht so altruistisch wie im Gesundheitswesen zu arbeiten, aber es reicht, um die Rechnungen zu bezahlen.«

Stimmt, ich bin ja Krankenschwester. Ich lächle bescheiden, als würde ich das Kompliment verdienen. Ich wünschte, es wäre so.

Jay blickt auf sein Handy. »Mist, wir müssen los. Ich hatte versprochen, Harper bis drei heimzubringen.«

»Ist es schon so spät?«, frage ich und tue überrascht. »Oh, ich muss auch los.« Natürlich muss ich zu meinem echten Job zurück, wo keine Patienten, sondern Kunden warten. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.«

»Mich auch, Caitlin.« Sein Lächeln gibt mir das Gefühl, dass er es ernst meint, und mein Magen schlägt Salti.

»Wie gesagt, ich werde meiner Frau Bescheid sagen, damit sie nach dir Ausschau hält.«

Ich grinse breit zurück. »Das würde mich riesig freuen.« Ich bin eine Lügnerin, schon vergessen?

Ich beobachte, wie er und Harper Hand in Hand und mit schwingenden Armen den Park verlassen. Als sie das Tor erreichen, dreht sich Jay um und winkt mir ein letztes Mal zu. Ich winke zurück, warte aber, bis sie nicht mehr zu sehen sind, ehe ich ebenfalls losgehe.

Erst auf dem Rückweg zur Arbeit fällt mir auf, dass ich ihn deshalb für alleinstehend gehalten habe, weil er keinen Ehering trägt. Ich komme nicht umhin, mich zu fragen, weshalb.

2

»Mom?«, rufe ich, als ich von der Arbeit nach Hause komme, die Haustür hinter mir zuziehe und meinen Schlüssel auf dem kleinen Tisch am Eingang ablege. »Ich bin zu Hause!«

»Sloanie? Bist du’s?«

Das ist mein echter Name, Sloane. Sloanie, Sloanie, schafft es nie. Und ja, ich lebe noch bei meiner Mutter. Ich weiß, noch so eine Glanzleistung. Aber ich arbeite daran. Ehrlich wahr. Hand aufs Herz.

»Ja, ich bin’s, Mom«, rufe ich zurück. Ich ziehe die Schuhe aus, lasse meine Handtasche daneben fallen und gehe den kurzen Flur entlang zum Wohnzimmer. Sie liegt auf ihrem Fernsehsessel und schaut fern, trägt einen hellblauen Jogginganzug und dicke Wollsocken wie eine Figur aus einer Siebziger-Jahre-Sitcom. Ich durchquere den Raum und beuge mich zu ihr hinunter, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken, und schiele zum Bildschirm hinüber. Es läuft Mord ist ihr Hobby, ihre Lieblingsserie. Vermutlich hat sie diese Folge schon mindestens dreimal gesehen.

»Wie war’s bei der Arbeit?«, fragt sie und senkt die Lautstärke von trommelfellschädigend auf ohrenbetäubend. Sie blinzelt zu mir hoch und sieht weit älter aus, als sie ist, mit ihrem kurzen, fast komplett ergrauten drahtigen Haar und den tiefen Falten auf der Stirn, um die Augen und den Mund herum.

»Okay«, sage ich achselzuckend. »Ich mach dann mal Abendessen. Hast du Hunger?«

Sie nickt, richtet die Fernbedienung wieder auf den Fernseher und stellt den Ton erneut auf Tinnitus-Lautstärke. Es wundert mich, dass sich die Nachbarn noch nicht beschwert haben.

Sowohl das Sehvermögen als auch das Gehör meiner Mutter haben nachgelassen. Die jahrelange körperliche Arbeit als Putzkraft hat ihre Gesundheit ruiniert, so dass sie einen krummen, schmerzenden Rücken und steife Gelenke hat. Seit sie dreißig ist, leidet sie an rheumatoider Arthritis, die sie mit Medikamenten im Griff hält, doch die Krankheit hat ihren Tribut gefordert und dafür gesorgt, dass sie sich an den meisten Tagen kaum bewegen, geschweige denn arbeiten kann.

So verbringt sie ihre Tage auf einem verschlissenen Cordsessel in einer Ecke des Wohnzimmers, ein Heizkissen im Rücken, die Beine vor sich ausgestreckt, und starrt durch verschmierte Brillengläser auf den Fernseher, wo Wiederholungen von Unsolved Mysteries und Forensic Files über die Mattscheibe flimmern. Dazu trinkt sie literweise überzuckerten, lauwarmen Kaffee, gefolgt von einem Whiskey um fünf Uhr und einer weiteren Tasse Kaffee vor dem Schlafengehen, diesmal entkoffeiniert. Es war nicht mein Plan, noch mit Mitte dreißig bei meiner Mutter zu wohnen, aber so kann ich zumindest ein Auge auf sie haben. Solange ich mich erinnern kann, kümmere ich mich nun schon um sie, so dass es inzwischen zur Gewohnheit geworden ist.

Ich gehe in die Küche und mache den Kühlschrank auf. Darin stehen Reste des Brathähnchens, das ich gestern Abend gekocht habe und das ich nun aufwärme und in einer Schüssel zerpflücke, zusammen mit einer Handvoll geschnittener Gurken und Karotten und ein wenig Romana-Salat. Ein bescheidener Versuch, dem chinesischen Takeaway-Essen etwas entgegenzusetzen, das meine Mutter sich oft zum Mittag bestellt. Ich teile den Salat zwischen meinem Teller und dem meiner Mutter auf und gehe dann zurück ins Wohnzimmer.

»Danke, Sloanie«, sagt meine Mom und nimmt den Teller entgegen. Dann schaltet sie ihre Serie stumm. Sie hört mir gerne zu, wie ich von meinem Tag erzähle, während wir gemeinsam essen.

»Heute habe ich Dollys Nägel gemacht«, sage ich und beiße in eine Karotte.

Inzwischen arbeite ich seit fast einem Jahr im Beautysalon Rose & Honey. Eines Nachmittags sah ich im Fenster den Aushang Aushilfe gesucht und ging hinein. Ich war bestimmt schon hundert Mal an der Ladenfront mit der schwarz-weißen Markise vorbeigekommen, aber nie reingegangen. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits einige Monate arbeitslos. Ich fand nirgends eine Anstellung, zumindest keine, die meiner Qualifikation entsprach. Ich schaffte es mitunter durch ein paar Bewerbungsrunden, doch letztlich bekam ich nie ein Jobangebot. Natürlich wusste ich auch warum, insofern war es nicht überraschend, aber das machte es nicht einfacher. Nagelpflege klang nach einer vernünftigen Alternative, nach etwas, das mir liegen könnte, wenn ich es ausprobierte.

Die Frau am Empfang sah erfreut aus, als ich mich bewarb. Energisch drückte sie meine Hand und stellte sich als Lena vor, die Inhaberin des Salons. Lena war eine korpulente Osteuropäerin mit makellosem Make-up, mit Kajalstift umrandeten Augen, langen angeklebten Wimpern, Porzellanhaut und roten Schmolllippen. Sie hatte den Laden vor ein paar Jahren eröffnet, wie sie mir mit starkem osteuropäischem Akzent erzählte, und wollte nun eine weitere Nagelpflegerin einstellen, jemand Verlässlichen, jemanden, auf den sie zählen konnte. Wieso nicht, dachte ich, wie schwer kann es schon sein?

Als Lena fragte, ob ich eine Lizenz als Kosmetikerin hätte, bejahte ich und erklärte, ich hätte erst kürzlich meine Prüfung bestanden. Sie lud mich zu einem praktischen Bewerbungsgespräch ein, bei dem ich, wie sie mir erklärte, meine Kenntnisse unter Beweis stellen und ihr eine Maniküre verpassen sollte. Die darauffolgende Woche verbrachte ich damit, YouTube-Tutorials zu schauen und das Video alle paar Minuten anzuhalten, um an meiner Mutter zu üben, wie man feilt und lackiert. Ich prägte mir sämtliche Schritte ein, was nicht schwer war – Waschen, Schneiden, Feilen, Polieren, Nagelhautpflege, Peeling, Unterlack, Farbe, Überlack –, und tauchte zum vereinbarten Termin mit meinen eigenen Maniküre-Tools auf, die ich bei einem örtlichen Beauty-Zubehörladen mit einem Fünfundzwanzig-Prozent-Rabattcoupon gekauft hatte. Als ich fertig war, betrachtete Lena ihre Nägel, lächelte und bot mir den Job an.

»Du hast gute Hände«, sagte sie und nickte anerkennend. Ich sah hinunter. Neben Lenas Händen wirkten sie noch größer als sonst. Wer hätte gedacht, dass sich meine Pranken mal als Vorteil erweisen würden? Der Stundenlohn betrug einundzwanzig Dollar, fuhr sie fort, plus mindestens tausend Dollar monatlich extra an Trinkgeld, manchmal mehr; ihre Kundinnen waren großzügig, erklärte Lena und spielte auf die Gutverdiener in Cobble Hill an. Das war geringfügig weniger, als was ich bei meiner letzten Anstellung verdient hatte, selbst mit dem Trinkgeld, aber wie sagt man so schön: Arme Leute dürfen nicht wählerisch sein.

Ich nahm das Angebot an und überreichte ihr eine gefälschte Kosmetikerinnenlizenz, die ich online von irgendeinem Typen für fünfzig Kröten per PayPal gekauft hatte. Lena hatte, abgelenkt durch das klingelnde Telefon, nur einen kurzen Blick darauf geworfen und mir gesagt, ich könne am nächsten Tag anfangen.

Es ist ein angenehmer, unkomplizierter Job, bei dem man nicht viel nachdenken muss, und die meisten Kundinnen lassen mindestens zwanzig, manchmal dreißig Prozent Trinkgeld da. Zusammen mit der Erwerbsminderungsrente, die meine Mom kassiert, haben wir genug für unsere Miete und unsere Rechnungen, aber es ist nicht annähernd genug, um mich nicht nach etwas Besserem – nach mehr – zu sehnen oder mich jeden Morgen vor dem Wecker zu fürchten, dessen durchdringendes Klingeln meine Nerven strapaziert.

»Und wie geht es ihr?«, fragt meine Mutter und meint Dolly – eine Hommage an die Queen des Country, Dolly Parton. Ich denke mir nämlich gern Spitznamen für meine Stammkundinnen aus; Frauen, die ich Woche für Woche sehe und inzwischen dank ihrer laut geführten Telefonate oder ihrer ausgiebigen Tratschereien gut kenne. Dolly Parton heißt eigentlich Laura Hoffman, aber beide haben blonde Haare und riesige Brüste. Laura hat sogar einen leichten Südstaaten-Tonfall, obwohl sie in Texas aufgewachsen ist, nicht in Tennessee wie Dolly. Sie ist aus Dallas nach New York gezogen, nachdem sie ihren Mann bei einer Ölexpedition kennengelernt hat – oder was auch immer Tycoons machen, wenn sie auf Geschäftsreise gehen.

»Ihre Stieftochter will den Lamborghini«, sage ich.

Lauras – sehr alter und sehr vermögender – Ehemann ist vor zwei Jahren gestorben. Seither befindet sie sich in einem Rechtsstreit mit seinen Kindern und muss um jeden Cent kämpfen, den der alte Kauz hinterlassen hat. Was nicht wenige sind. Laura hält mich bei ihren wöchentlichen Terminen über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden.

Sie lebt in einem Penthouse in Manhattan – an der Upper East Side, wo sonst –, doch sie hat einen Sohn aus voriger Ehe in Brooklyn Heights, ein paar Straßen vom Rose & Honey entfernt, so dass sie an den Tagen bei uns vorbeikommt, wenn sie ihn zum Mittagessen trifft. Alle Köpfe drehen sich nach ihr um, wenn sie auftaucht, einen solchen Kontrast bildet sie zu unserer üblichen Brooklyn-Klientel.

»Aber«, erzähle ich weiter, »Laura sagt, sie würde den Wagen eher an einen Ersatzteilhändler verscherbeln, als ihn dieser verzogenen Göre zu überlassen. Ihre Worte, nicht meine.«

»Wo will man denn in Manhattan einen Lamborghini parken?«, fragt meine Mutter. Sie klingt aufrichtig neugierig.

Ich zucke mit den Achseln. »Sie hat was von einer privaten Garage erzählt. Dabei fährt von denen überhaupt keiner. Laura sagt, Cassie hat nicht mal einen Führerschein. Statt eines Autos bekam sie zu ihrem Sechzehnten einen Chauffeur geschenkt.«

Meine Mutter schnaubt und verdreht die Augen. Ihre Toleranzschwelle für reiche Frauen ist niedriger als meine. Aber ich mag Laura, ich mag, wie sie mich an ihrem Soap-Opera-haften Leben teilhaben lässt. Außerdem behandelt sie mich wie einen echten Menschen und nicht wie ein lebloses Objekt, das zufällig weiß, wie man Nägel feilt, was mehr ist, als ich von den meisten meiner Kundinnen behaupten kann.

»Doch sie hat herausgefunden, dass ihr Sohn bald zum zweiten Mal Vater wird, insofern war sie gut gelaunt. Hat das Trinkgeld gleich mal verdoppelt.«

Laura steckt mir normalerweise auf dem Weg nach draußen einen Fünfziger zu – eine der wenigen, die mir das Trinkgeld bar gibt –, aber heute hat sie mir einen Hunni in die Hand gedrückt. Ich wollte protestieren, doch sie fegte meine Einwände mit einem übertriebenen Zwinkern beiseite.

Das ist allerdings nicht die ganze Wahrheit. Vermutlich hat sie mir auch deshalb das Extrageld zugesteckt, weil ich zu Beginn der Maniküre erwähnte, ich hätte Kaffee über mein MacBook gekippt, so dass meine Festplatte durchgebrannt ist und ich deswegen die letzten fünfzig Seiten des Romans verloren habe, an dem ich gerade arbeite. Mit noch feuchten Nägeln hatte sie sich die Hand vor den Mund geschlagen. Oh nein, Sloane!

Natürlich gibt es gar kein MacBook und keinen Roman. Aber diese Lüge galt ihr genauso sehr wie mir. Ich wünschte, es gäbe wirklich ein halbfertiges Manuskript auf einem Laptop, und ich würde abends gekrümmt über der Tastatur sitzen anstatt tagsüber gekrümmt über Frauenfüßen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie das Trinkgeld verdoppelt. Hätte ich das gewusst, hätte ich das nicht erzählt. Ich schwöre.

Es ist nur so, dass die Wahrheit so uninteressant ist. Dieses Zurechtbiegen, dieses Schildern in den buntesten Farben, damit habe ich bereits als Kind begonnen; eine schlechte Angewohnheit – so wie an den Nägeln zu kauen oder an Schorf herumzukratzen –, die ich nie losgeworden bin. Tatsächlich ist es im Laufe der Jahre zu einer Art zweiter Haut geworden, die Lügen kamen mir immer natürlicher über die Lippen, fast schon reflexartig, bis es zu einem Instinkt wurde, einem Bestandteil meiner Persönlichkeit. Mittlerweile komme ich fast gar nicht mehr auf die Idee, die Wahrheit zu sagen. Warum sollte ich? Wenn man die Wahrheit erzählt – die fast immer öde ist –, fangen die Leute an, geistig abzudriften, und man kann regelrecht zusehen, wie ihre Aufmerksamkeit nachlässt. Bis es ihnen irgendwann auffällt und sie mit einem verlegenen Oh, tut mir leid, was hast du gesagt? hochschrecken und versuchen, Interesse zu heucheln.

Ich hasse diesen Blick. Dieses falsche, leere Lächeln. Dadurch fühlt man sich so unwichtig, wie ein zerknülltes Blatt Papier, das jemand auf den Boden statt in den Papierkorb geworfen hat. Das ist mir ständig passiert, als ich jünger war. Meine Mom und ich sind oft umgezogen, von Stadt zu Stadt, von Wohnung zu Wohnung, von Schule zu Schule, während sie immer wieder den Job wechselte. Dadurch war ich stets die Neue, musste ständig vor der Klasse stehen, mit schwitzigen Handflächen, während die Lehrerin mich bat, mich vorzustellen. Dann fing ich stockend an zu erzählen, dass ich in Florida geboren wurde, aus dem jeweiligen Kaff hergezogen war, wo wir zuletzt gewohnt hatten, und wenn ich hochblickte, sah ich, dass niemand zuhörte. Die Mädchen reichten sich Briefchen weiter und tuschelten miteinander, und die Jungs traten heimlich unter den Tischen ihre Gangnachbarn. Die Lehrerin rief sie daraufhin zur Ruhe, aber selbst sie war abgelenkt, schrieb an die Tafel oder teilte Arbeitsblätter aus. Derweil beobachtete ich mit sehnsüchtigem Blick die Mädchen und wünschte, man würde mir etwas zuflüstern. Doch mit meiner Hochwasserhose, den abgewetzten Sneakern und dem verblichenen Shirt würdigte mich niemand auch nur eines Blickes. Es war ein Scheißgefühl, diese Unsichtbarkeit. Jedes Mal wünschte ich mir, wir müssten nicht schon wieder umziehen, auch wenn ich die Gründe dafür verstand.

Meine Mutter arbeitete hart und gewissenhaft bis zur Selbstaufgabe, aber als ihre Arthritis schlimmer wurde, war sie plötzlich ans Haus gebunden, unfähig zu arbeiten, und verbrachte den Tag damit, Hände und Füße in so heißes Wasser wie erträglich zu stecken. Wenn ich von der Schule heimkam, kletterte ich zu ihr ins Bett, rieb ihre Gelenke mit Rizinusöl und Tigerbalsam ein und schaltete einen ihrer Lieblingsfilme an, um sie von den Schmerzen abzulenken. Letztlich begann sich ihr Arbeitgeber über ihre sich häufenden Fehltage zu beschweren und erteilte ihr eine Verwarnung, dann noch eine, bis sie eines Tages mit der letzten Lohnabrechnung heimkam.

Jedes Mal, wenn der Vermieter anfing, an die Tür zu hämmern und Mahnungen durch den Briefschlitz zu schieben, hieß es weiterziehen. Dann suchten wir uns eine neue Stadt, zwanzig Meilen in der einen oder anderen Richtung entfernt, zogen in irgendein anderes schäbiges Apartment, für das kein Verdienstnachweis nötig war, und ich ging in eine neue Schule. Immer und immer wieder.

Es war: Wir gegen den Rest der Welt. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, ich weiß nichts über ihn, nur dass meine Mom mit Anfang zwanzig eine kurze Affäre mit ihm hatte. Ihre Eltern – meine Großeltern – sind ein paar Jahre nach meiner Geburt gestorben, und ihre Schwester, die älter ist, lebte ein paar Stunden entfernt. Aber wir sind immer zurechtgekommen, zu zweit. Mussten wir ja.

In der fünften Klasse, als meine Mutter und ich nach Whispering Pines in Georgia zogen, einen kleinen Vorort am Rand von Macon, beschloss ich, dass es diesmal anders laufen würde. Am ersten Tag, als die Klingel zur Hofpause ertönte, folgte ich der Klasse nach draußen, wo mich eine Gruppe von Mädchen mit Zöpfen umringte. »Wo kommst du her?«, fragte mich eine von ihnen. Dass sie zu den Coolen gehörte, konnte man an den vielen Gummiarmbändern an ihrem Handgelenk in Neonpink und Neongrün ablesen, die beim Laufen wippten. Sie trug einen Pony, und als ich an diesem Tag nach Hause kam, stellte ich mich auf einen Stuhl vor dem Badspiegel, die Küchenschere in der Hand, und verpasste mir ebenfalls einen Pony.

»Aus Kalifornien«, sagte ich. Ich wusste selbst nicht, wo das auf einmal herkam. Wir waren gar nicht aus Kalifornien hergezogen; wir hatten uns lediglich eine Stunde weiter nördlich niedergelassen, hatten nicht mal die Grenze des Bundesstaats überschritten, waren nur von einem County ins nächste umgezogen. Gott sei Dank hatte mich die Lehrerin an diesem Morgen nicht vor der ganzen Klasse gefragt, hatte mich überhaupt nicht erwähnt. Ich war eine leere Leinwand, Tabula rasa.

Als ich sah, wie die Gesichter der Mädchen aufleuchteten, schwoll etwas in meiner Brust. Ich wusste, ich hatte das Richtige gesagt. Das Mädchen mit den Armreifen strahlte mich an. »Bist du berühmt?«, fragte sie aufgeregt.

Ich schüttelte den Kopf, doch als ich ihre Enttäuschung bemerkte, fügte ich schnell hinzu: »Aber mein Dad. Er spielt in Filmen mit.«

Man konnte das kollektive Einatmen hören. Und plötzlich war ich etwas Besonderes. Einfach so.

Das war das erste Mal, dass sich die anderen Kinder darum rissen, beim Mittagessen neben mir zu sitzen. Ich erzählte vom Meer und den Palmen und beschrieb detailliert, wie es war, durch die heranrollenden Wellen zu waten, und welche Farben die Muscheln hatten, die ich am Strand fand. In einem Sommer hatte ich sogar den Wettbewerb im Sandburgenbauen gewonnen, erzählte ich. Natürlich hatte ich den Pazifik in Wirklichkeit noch nie gesehen. Ich war ein paar Mal in Daytona Beach gewesen, was bei meinen Beschreibungen half, ebenso wie die Szenen aus meinem Lieblings-Disneyfilm Lilo und Stitch und meinem zweitliebsten Film Flipper. Nach dem Mittagessen spielten wir Handball, und das Mädchen mit den Armreifen – ihr Name war Bianca – fragte mich, ob ich in ihr Team kommen wollte. Ich war außer mir vor Freude.

Als sie darum baten, meinen Dad kennenlernen zu dürfen, erzählte ich ihnen, er sei gerade am Set und drehe einen neuen Film. Das könnte sogar stimmen, sagte ich mir selbst. Dadurch kamen mir meine Lügen nie so schlimm vor. Ich wusste ja nicht, wer, wo oder was er war. Insofern ließ sich nicht ausschließen, dass er nicht doch Schauspieler war, richtig?

Ich wusste, ich sollte damit aufhören, aber ich brachte es nicht über mich. Ich wollte so unbedingt gemocht werden, und das war die einzige Möglichkeit, die mir einfiel. Im Grunde war es nicht mehr als das: Ich wollte interessanter wirken, also machte ich mich interessant. Sloanie, Sloanie, glaub ihr nie.

Doch die Ironie daran war, je ausgeklügelter meine Lügen wurden, desto mehr musste ich andere von mir fernhalten. Nie konnte ich jemanden zu mir einladen. Sonst hätten sie den Welpen sehen wollen, von dem ich behauptete, wir hätten ihn im Sommer bei uns aufgenommen. Wie ich meinen Klassenkameraden erzählte, hieß er Pickles, war schwarz mit weißen Flecken und der Kleinste und Schwächste des Wurfs. Sonst hätten sie das Prinzessinnenbett sehen wollen, von dem ich erzählte, das mit dem glitzernden Baldachin und der Einhorn-Bettwäsche. Sonst würden sie meinen Dad, den Filmstar, kennenlernen und in unserem Gartenpool mit der Wasserrutsche schwimmen wollen. Und natürlich wollten sie all das. Deshalb waren wir ja Freunde. Und genau deshalb konnten wir keine Freunde sein. Zumindest keine echten.

Da fiel mir eine weitere Lüge ein, die all meine Probleme auf einen Schlag lösen würde. Eines Montags kam ich mit langer Miene in die Schule und flüsterte Bianca ins Ohr, dass bei uns am Wochenende ein Feuer ausgebrochen wäre. Unser gesamtes Haus samt Pool sei abgebrannt. Mein Himmelbett sei fort, genau wie unser Welpe.

Ich erzählte ihr, wir müssten nun in eine Wohnung am anderen Ende der Stadt ziehen, aber nur vorübergehend, bis sie unser Haus wieder aufgebaut hätten. Vielleicht hätte sie ja Lust, mal nach der Schule vorbeizukommen? Die Wohnung war zwar nicht so schön wie unser altes Haus, sagte ich, aber es gab gegenüber einen Park, in dem wir mit den Barbies spielen könnten, die ich vor dem Brand in Sicherheit gebracht hatte. Bianca starrte mich mit großen Augen an und nickte.

Bis zur Pause hatte es sich überall herumgesprochen. Meine Lehrerin, Miss Newberry, nahm mich beim Mittagessen beiseite und fragte mich, was passiert sei. Daraufhin wiederholte ich die Geschichte, die ich Bianca erzählt hatte: dass meine Mom den Ofen angelassen hatte und mitten in der Nacht ein Feuer ausgebrochen war. Die Lehrerin sah mich mit sanftem, mitfühlendem Blick an, berührte meinen Arm und sagte mir, falls ich irgendetwas bräuchte, sollte ich ihr Bescheid geben. Und dass ich diese Woche von den Hausaufgaben befreit wäre. Ich freute mich wie ein Schneekönig.

Am nächsten Tag, einem Dienstag, verkündete Miss Newberry vor der Klasse, dass die Schule eine Spendensammelaktion für mich und meine Familie abhalten würde, um uns in dieser schwierigen Zeit zu helfen. Es würde einen Kuchenbasar geben, und sie würde jedem Kind ein Spendenformular für die Eltern mitgeben. Ich lächelte schüchtern, überglücklich über so viel Aufmerksamkeit. Aber wenig überraschend fand die Spendensammelaktion nie statt. Die Mutter einer Klassenkameradin rief abends bei meiner Mom an und fragte nach unserer neuen Adresse, damit sie uns eingetuppertes Essen vorbeibringen könne. Ich malte gerade auf dem Boden unseres Wohnzimmers, und als ich meine Mom in den Telefonhörer sagen hörte: »Welcher Brand?«, wusste ich, es war aus und vorbei.

Am Donnerstag saß ich mit von der Stuhlkante baumelnden Beinen mit meiner Mutter vor dem Rektor, während er auf mich einredete und mich über die Konsequenzen meiner Lüge belehrte. Meine Mutter war, gelinde gesagt, zutiefst beschämt.

Mir war es auch höchst peinlich. Vor allem, weil ich erwischt worden war. Aber selbst, wenn ich es hätte rückgängig machen können – ich hätte es wieder getan. Allein dafür, wie mich alle zwei Tage lang angesehen hatten, war es das wert gewesen.

Ich war zu jung, um nachsitzen zu müssen, also bekam ich stattdessen vom Rektor die Strafe aufgebrummt, einen Brief an meine Klassenkameraden und Miss Newberry zu schreiben, in dem ich mich entschuldigte. Von meiner Mutter erhielt ich einen Monat lang Fernsehverbot. Aber keine dieser Strafen brachte mich vom Lügen ab. Es brachte mich nur dazu, besser im Lügen werden zu wollen. Dieser Fehler würde mir an der nächsten Schule nicht noch mal unterlaufen.

Am Ende des Schuljahres zogen wir erneut um. In der sechsten Klasse erzählte ich einer meiner Klassenkameradinnen, noch unter dem Eindruck meiner Lektüre von Black Beauty, ich würde an den Wochenenden reiten. Sie auch, rief sie begeistert aus, und lud mich für das folgende Wochenende in ihren Reitclub ein. Ich erfand eine Ausrede nach der anderen, weshalb ich nicht hingehen konnte. Einmal war es ein erfundener Besuch bei meiner Tante und meinem Onkel in den Bergen, ein anderes Mal ein Tanzkurs oder ein Übernachtungsbesuch mit Freunden aus meiner alten Schule. Was hieß, dass ich allein zu Hause bleiben musste, während meine Mom arbeitete, anstatt mich mit den Freunden zu treffen, die ich dank all meiner Geschichten gefunden hatte. An Freitagnachmittagen ging ich bei der Bibliothek vorbei, um mich mit Büchern einzudecken, die ich übers Wochenende las. Bücher, die mir in meiner Einsamkeit Gesellschaft leisteten und deren Details sich mit dem von mir gesponnenen Lügennetz verwoben.

Ich log die ganze Mittel- und Oberstufe hindurch, dann in der Berufsschule und darüber hinaus. Normalerweise waren es kleinere Lügen, aber trotzdem. Ich hätte längst damit aufhören sollen – ich bin schließlich erwachsen, verdammt –, doch es gelingt mir nicht. Ich kann nicht. Ich möchte einfach so unbedingt das Richtige sagen, den richtigen Eindruck hinterlassen, möchte, dass das aus meinem Mund kommt, wovon ich glaube, dass es mein Gegenüber hören will, egal ob es wahr ist oder nicht.

Es ist auch nicht so, als hätte es nie Konsequenzen für mich gehabt. Ich habe ab und an Freunde verloren, und mir sind Jobchancen flöten gegangen, wenn man meine Referenzen ein wenig zu genau unter die Lupe nahm. Ich bin gut im Lügen, aber hin und wieder unterläuft mir ein Fehler, oder jemand anderes widerspricht meiner Darstellung, und ich fliege auf.

Mitunter gibt es Phasen, in denen ich weniger lüge. Normalerweise nachdem ich erwischt worden bin. Ich versuche mich zu ändern, versuche ehrlich zu sein, doch nach ein paar Wochen höre ich mich selbst etwas sagen, das nicht stimmt, ohne dass ich überhaupt vorgehabt hatte zu lügen, und schlüpfe wieder in meine alte Rolle, so wie man immer wieder sein Lieblingsshirt überstreift. Es passt perfekt, fühlt sich schön gemütlich und vertraut an. In anderen Phasen, wenn alles gut läuft, wie als ich meinen vorherigen Job hatte, verspüre ich nicht so oft das Bedürfnis danach. Ich lüge dann zwar immer noch, ich kann einfach nicht anders, doch der Drang ist nicht mehr so stark.

Was mich aber noch mehr zum Freak macht: Manchmal glaube ich meine Lügen selbst. So real fühlen sie sich an. Beim wiederholten Erzählen geht mitunter die Phantasie mit mir durch, so dass ich nachts im Bett neue Details hinzuerfinde, wenn ich wegdöse und davon träume. Ich glaube, das liegt daran, dass ich immer das Gefühl hatte, dass das doch nicht alles gewesen sein konnte. Ich konnte nicht einfach nur ein armes Kind ohne Vater sein. Er musste irgendwo da draußen sein. Er musste etwas Besonderes sein, was hieß, dass ich ebenfalls etwas Besonderes war. Wollen wir das letztlich nicht alle – etwas Besonderes sein?

»Also war es ein guter Tag«, fasst meine Mom zusammen, und es klingt ebenso sehr nach einer Frage wie nach einer Feststellung. Ach ja, das Hundert-Dollar-Trinkgeld.

»Mh-hm«, antworte ich. Es war ein guter Tag. Ein sehr guter Tag sogar. Ich erwäge, ihr von Jay und Harper zu erzählen, tue es aber nicht. Keine Ahnung warum. Sie ist die Einzige, die ich nicht anlüge, die Einzige, die mich für interessant hält, einfach so wie ich bin. Trotzdem möchte ich die Begegnung für mich behalten, vorerst. Und etwas wegzulassen ist nicht dasselbe wie lügen, nicht ganz jedenfalls. Zumindest rede ich mir das ein.

Meine Mom reicht mir die Fernbedienung. »Such du einen Film aus«, sagt sie. »Ich habe den letzten ausgewählt.«

Ich reiche sie ihr zurück. »Nein, such du aus. Ich hole den Nachtisch. Wir haben noch immer den Becher Rocky-Road-Eis.«

»Ich nehme zwei Kugeln.«

Mom sinkt zurück in ihren Sessel, während sie die Liste an aktuell angesagten Titeln auf Netflix durchscrollt. Gestern Abend haben wir einen Thriller geschaut über eine Frau, deren Ehemann nicht so perfekt war, wie es nach außen hin den Anschein hatte. Das sind die wenigsten Ehemänner, zumindest in Hollywood, so scheint es.

In der Küche stelle ich die Teller in die Geschirrspülmaschine, kratze die Reste aus der Eispackung in zwei Schüsseln und werfe den leeren Behälter in den fast vollen Mülleimer. Ich mache mir im Kopf eine Notiz, ihn rauszubringen, bevor am Montag der Müll abgeholt wird. Auf dem Rückweg zur Couch dimme ich das Licht und reiche meiner Mom ihre Schüssel, ehe ich mich hinsetze. Der Titel des Films – ein weiterer Thriller – erscheint auf dem Bildschirm, es ertönt kitschige Musik, und ich stecke mir den kalten Löffel mit dem Eis in den Mund und drehe ihn herum. Fast sofort schweifen meine Gedanken ab, beginnt der Bildschirm zu verschwimmen und der Ton zu verstummen. Alles, woran ich denken kann, sind Jay und Harper. Aber vor allem denke ich an Jay. An sein Lächeln. Ich frage mich, ob ich ihn wiedersehen werde.

Bevor ich zu Bett gehe, hole ich meine Ausgabe von Und dann gabs keines mehr aus dem Bücherregal und stecke sie in meine Tasche. Nur für alle Fälle.

3

Am Montagmorgen komme ich zu spät zur Arbeit. Ich hatte meinen Wecker dreimal zu oft auf Schlummern gestellt und war dann zur Tür rausgerannt, während ich noch mit dem Reißverschluss meines Hoodies kämpfte. Glücklicherweise kümmert es niemanden, wann ich im Beauty Salon auftauche, solange ich rechtzeitig zu meinem ersten Termin da bin, der heute um zehn Uhr dreißig stattfindet.

Montage sind normalerweise bei uns die ruhigsten Tage, und dieser Montag ist da keine Ausnahme. Der Salon ist praktisch leer. Chloe, eine unserer drei wechselnden Rezeptionistinnen, sitzt hinter dem Tresen. Von den dreien mag ich sie am liebsten. Chloe ist eine neunzehnjährige Studentin im ersten Semester am Brooklyn College und cooler, als ich es je sein werde. Sie hat ihre pechschwarzen Haare platinblond gebleicht – ihre koreanischen Eltern hätten sie beinahe enterbt, als sie sie so sahen, wie sie mir vergnügt erzählte – und einen glatten Bob mit kurzem Pony. Dazu trägt sie eine Oversize-Schildpattbrille aus Plastik, weite Jeans und Crop-Tops. Wenn nicht viel los ist, lackiere ich ihr die Nägel, normalerweise in Neonfarben, in einem knalligen Gelb oder einem Orange, das an einen Textmarker erinnert.

Hinter Chloe sitzt allein eine Frau und bekommt eine Pediküre auf einem der fünf Spa-Stühle, die die linke Wand säumen. Nur einer der sechs kleinen Behandlungsräume ist besetzt, wie an dem Schild zu erkennen ist, das auf die Seite Belegt gedreht ist. Am Nachmittag wird etwas mehr los sein, aber nicht viel. Lena hat montagvormittags frei, deshalb kommen viele der Kolleginnen erst gegen zehn statt um neun hereingeschlendert, wenn die Schicht offiziell anfängt, mit Ausnahme der Schlüsselfrau, die Punkt acht erscheint, falls bereits Laufkundschaft eintrifft.

Ein kräftiger Duft nach Eukalyptus und Zitronengras weht mir entgegen, während ich durch den Salon laufe. Darunter der ätzende Geruch nach Nagellack und Aceton. Als ich hier anfing, hat mich diese dicke Duftwolke gestört, und ich bekam tränende Augen, aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Ich merke es kaum noch, außer an den Tagen, wenn ich eine Doppelschicht übernehme und der Geruch in meine Klamotten kriecht, sich in den Fasern meines Kittels festsetzt, in meinen Haaren und meiner Haut und mich die Chemikalien bis nach Hause verfolgen, bis in mein Bett und meine Träume.

Ich lege meine Tasche und meinen Mantel im Pausenraum im hinteren Bereich des Ladens ab und mache mir eine Tasse Kaffee, bevor meine erste Kundin eintrifft. Letztes Jahr hat Lena als Weihnachtsgeschenk an uns Mitarbeiterinnen eine Keurig-Kaffeemaschine gekauft. Passend dazu hat sie im Schrank einen Vorrat an Espresso-Pads und French-Vanilla-Kaffeesahne angelegt. Sie strahlt jedes Mal, wenn sie sieht, dass jemand sie benutzt, und ist von ihrer eigenen genialen Geschenkidee begeistert.

Ich nehme einen Schluck vom Kaffee und strecke den Kopf durch die Tür, um einen Blick in die Nagelecke zu werfen. Sie ist leer, und die Frau vom Pediküre-Stuhl steht nun am Empfang und reicht Chloe ihre Kreditkarte. Obwohl es an diesen schleppend verlaufenden Montagen weniger Trinkgeld gibt, ist mir dieses Tempo lieber als die Hektik am Ende der Woche, wenn Frauen im Koffeinrausch ungeduldig auf die Uhr starren, während wir eine Kundin nach der anderen abfertigen. So habe ich wenigstens Gelegenheit, zwischen den Terminen mit den anderen Nageltechnikerinnen den neuesten Tratsch auszutauschen.

Da betritt Natasha, meine Kollegin, wie aufs Stichwort den Pausenraum. Als sie mich sieht, lächelt sie. Natasha ist ein paar Jahre jünger als ich und kommt aus New Jersey, wobei ihre Mom aus Ho-Chi-Minh-Stadt stammt und ihr Vater Sizilianer in zweiter Generation aus East Hanover ist. Natasha hat ihre schwarzen Haare mit den pinken Strähnen meist zu einem hohen Pferdeschwanz auf dem Scheitel zusammengebunden und trägt ihren Kittel hauteng über ihrem Push-up-BH, dazu immer dieselben goldenen Creolen von der Größe eines Armreifs. Das tägliche Pendeln aus Jersey City ist zwar ätzend, aber hier bekommt sie das Dreifache von dem, was sie auf der anderen Seite des Hudson verdienen würde; bei den Hausfrauen in Hoboken sitzt das Portemonnaie etwas weniger locker.

»Morgen, Slo«, sagt sie und steckt ein Kaffee-Pad in die Maschine. Ihre Acrylnägel klackern gegen die Plastikknöpfe. »Hattest du ein schönes Wochenende?«

Ich nicke. »Allerdings.« Ich biete ihr Kaffeesahne aus der Glasflasche an. »Ich habe jemanden kennengelernt«, sage ich lächelnd und denke an Jay. »Am Freitag, im Park. Und gestern Abend hat er mich zum Essen ausgeführt.«

In Wirklichkeit habe ich den gestrigen Nachmittag damit verbracht, für meine Mom Alton Browns Wurzelgemüse-Panzanella nachzukochen, und dann sind wir beide vor dem Fernseher eingeschlafen, während Seinfeld lief. Jay und seine Frau lagen derweil bestimmt eng aneinander gekuschelt im Bett, mit Harper in der Mitte, und haben ihr Gutenachtgeschichten vorgelesen. Als ich später am Abend von der Couch ins Bett gegangen bin, habe ich ihn in der Dunkelheit, unter der Bettdecke, auf dem Handy gegoogelt und bin als Erstes auf sein LinkedIn-Profil gestoßen. Nachdem ich mir seine bisherige berufliche Laufbahn angesehen hatte, suchte ich ihn auf Social Media, musste aber enttäuscht feststellen, dass alle Konten auf privat gestellt waren.

»Ah ja?«, sagt Natasha. Ihre microgebladeten Brauen schnellen interessiert nach oben. »Erzähl!«

Ich grinse. »Also zunächst mal: Er ist unfassbar attraktiv. Und gut im Bett. So richtig, richtig gut«, betone ich.

Natasha hängt gebannt an meinen Lippen, während ich von meinem fiktiven Rendezvous erzähle. Sie will alle Details hören, das sehe ich ihr an. Genau wie ich ist sie Single, wischt sich durch die Dating-Apps und stimmt einer Verabredung zu, sobald ein Mann auch nur das geringste Interesse an ihr zeigt. Meistens verbringen wir unsere Schicht am Montag damit, uns gegenseitig für unser Pech in der Liebe zu bemitleiden und zu vergleichen, wer übers Wochenende die schlimmsten Nachrichten, die ekligsten Anmachsprüche und die furchtbarsten Fotos bekommen hat, die man dann nicht mehr aus dem Kopf kriegt.

»Wohin hat er dich ausgeführt?«, fragt sie.

»Ins La Vara«, antworte ich, ohne zu zögern. Das war ein Restaurant, das Laura erwähnt hatte; sie war vorige Woche mit ihrem Sohn dort gewesen und hatte davon geschwärmt, sie hätte die beste Sangria seit langem getrunken. »Die Cocktails waren der Hammer.«

»Und dann bist du mit ihm nach Hause gegangen? Du ungezogenes Mädchen, du!«

Ich nicke. »Das wärst du auch, wenn du gesehen hättest, wie umwerfend er aussah. Aber er war ein totaler Gentleman. Hat mir morgens Frühstück gemacht, bevor ich gegangen bin.« Ich nicke bescheiden. Natasha ist grün vor Neid. »Buttermilch-Pancakes«, füge ich hinzu, ich kann es einfach nicht lassen.

»Und wirst du ihn wiedersehen?«, fragt sie.

Noch ehe ich antworten kann, scheppert es an der Eingangstür, und ich höre, wie Chloe jemanden freudig begrüßt. Ich spähe nach draußen und sehe zwei Frauen, die am Eingang des Beautysalons stehen. Schnell kippen Natasha und ich den Rest unseres Kaffees hinunter und rollen unsere Wägelchen zu unseren Nagelpflege-Stationen, wo wir uns auf unsere Hocker setzen und den Wasserhahn aufdrehen.

Vor mir sitzt ein Mädchen Anfang zwanzig mit einem Aviator-Nation-Pulli und einer Oversize-Celine-Sonnenbrille, die sie wie einen Haarreif zurückgeschoben hat, und steckt die Füße, die Hosenbeine bis zur Wadenmitte hochgezogen, in das Fußwaschbecken, das sich allmählich füllt. Die Nagellackfarbe, die sie sich ausgesucht hat, steht auf der Armlehne neben ihr – Blitzblau. Sie hat Ohrhörer in beiden Ohren und seufzt am laufenden Band, als ob die Person am anderen Ende der Leitung ihr auf die Nerven geht. Sie scheint meine Existenz gar nicht zu bemerken, und falls doch, ignoriert sie mich. Ihre Attitüde ist typisch. Die meisten Frauen, die ihre Nägel hier machen lassen, würdigen uns kaum eines Blickes, während wir über ihre Füße und Hände gebeugt arbeiten. Es gibt ein paar Stammkundinnen, die sich unsere Namen merken und sich richtig mit uns unterhalten, aber die meisten Frauen reden nur mit uns, wenn sie uns anherrschen – aber nicht zu kurz oder nicht so, eher rund! und Aua! und werfen uns hin und wieder böse Blicke zu, wenn wir eine Nagelhaut zu beherzt rausziehen –, ansonsten sind wir für sie unsichtbar.

Neben mir, auf Natashas Stuhl, sitzt eine nichtssagende mittelalte Frau, die gelangweilt durch eine Zeitschrift blättert, wobei jedes Mal ihre Hermès-Armreifen klimpern.

»Zu heiß?«, frage ich meine Kundin und deute auf das Wasser im Becken. Sie sieht mich ausdruckslos an, deutet dann auf ihre Ohren und formt lautlos mit den Lippen: Ich telefoniere. Womit sie sagen will: Wage es nicht, mich anzusprechen, Sklavin. Ich nicke bestätigend. Mir auch recht. Wenn es ihr egal ist, ob sie sich die Füße verbrüht, kann es mir auch egal sein. Ich drehe den Wasserhahn ein wenig nach links, ein paar Grad wärmer.

»Meins ist zu heiß«, verkündet die Frau lauthals, die vor Natasha sitzt und meine Frage belauscht hat. »Zu heiß«, wiederholt sie betont langsam und blickt Natasha eindringlich an. Dann sieht sie zu mir. »Könnten Sie ihr bitte sagen, dass es zu heiß ist?«

Ich lächle angestrengt, während Natasha die Wassertemperatur anpasst. Eine beschämend große Zahl an Frauen geht davon aus, dass eine Asiatin in einem Nagelstudio wenig bis kein Englisch versteht, da spielt es keine Rolle, dass Natasha keine zwanzig Meilen von hier geboren wurde und ihre Eltern beide Hochschuldozenten sind. Wir haben längst aufgehört, unsere Energie darauf zu verschwenden, sie zu korrigieren, aber es wurmt mich dennoch und sorgt dafür, dass ich das Wasser am liebsten so heiß aufdrehen würde, wie es nur geht, bis ihre weiße Haut rot anläuft und Blasen wirft.

»Also«, sagt Natasha, sobald wir mit der Pediküre zugange sind, und dreht sich mir halb zu, wobei sie leise und dezent spricht. »Ich sterbe vor Neugier – siehst du den Typen jetzt wieder, oder was?«

Ich nicke grinsend. »Definitiv. Er ist gegen Ende der Woche auf Geschäftsreise, aber er meinte, er möchte mich sehen, sobald er zurück ist. Er hat gesagt, er würde gerne mit mir in Funny Girl gehen, mit Lea Michele.« Mehrere Kundinnen hatten darüber gesprochen, wie schwer es war, an Karten für das Broadway-Stück heranzukommen.

Ich frage mich, ob Jay manchmal mit seiner Frau ins Theater geht, und beschließe, dass das bestimmt der Fall ist. Wahrscheinlich hat er sie auch schon ins La Vara ausgeführt. Ich sehe sie vor mir, an einem Zweiertisch, sprudelnde Champagnerflöten vor sich, die Gesichter im Kerzenschein erleuchtet, mit geröteten Wangen und breitem Lächeln, die Finger quer über den Tisch ineinander verschränkt. Die Vorstellung ruft bei mir erstaunlich heftige Eifersucht hervor.

Das Lächeln, das ich aufsetze, ist steif wie Plastik. »Diesen hier?«, frage ich meine Kundin und greife nach dem blauen Nagellack auf dem Tablett neben ihr. Einen Moment lang starrt sie mich an und blinzelt bedächtig, ehe sie die Lippen schürzt und nickt. Du schon wieder, soll das wohl heißen. Auf dich verschwende ich doch nicht die Energie, extra zu antworten.