Eine fast perfekte Welt - Milena Agus - E-Book
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Milena Agus

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Beschreibung

Wie wird man glücklich in einer Welt, die nicht perfekt ist? Als Ester noch in Genua lebte, sehnte sie sich nach Sardinien zurück. Nach der wilden, steinigen Landschaft und dem ursprünglichen Leben im Dorf. Nun ist sie zurück in ihrer Heimat, doch die Sehnsucht ist geblieben. Ihrer Tochter Felicita soll es da besser ergehen – und tatsächlich findet sie ihr Glück. Im bunten Hafenviertel von Cagliari fertigt sie Schmuck aus Weggeworfenen und zieht ihren Sohn Gregorio groß – dem das Leben seiner Mutter bald zu eng wird. Poetisch und berührend erzählt Milena Agus von drei Generationen einer sardischen Familie und davon, dass wir alle Voraussetzungen für ein erfülltes Leben in uns tragen.

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Über das Buch

Als Ester noch in Genua lebte, sehnte sie sich nach Sardinien zurück. Nach der wilden, steinigen Landschaft und dem ursprünglichen Leben im Dorf. Nun ist sie zurück in ihrer Heimat, doch die Sehnsucht ist geblieben. Ihrer Tochter Felicita soll es da besser ergehen – und tatsächlich schafft sie sich ihren Flecken Glück. Im bunten Hafenviertel von Cagliari fertigt Felicita Schmuck aus Weggeworfenem und zieht ihren Sohn Gregorio groß. Gregorio wird Pianist, ihn zieht es in die Ferne nach New York, in die Stadt des Jazz und der Einwanderer.

 

 

Poetisch und berührend erzählt Milena Agus von drei Generationen einer Familie und davon, dass wir alle Voraussetzungen für ein erfülltes Leben in uns tragen.

 

 

 

 

Eines Abends erzählte Gerschom Wald eine Geschichte von einer Kreuzfahrerschar, die sich in der Mitte des 11. Jahrhunderts von der Gegend um Avignon aus auf den Weg nach Jerusalem machte, um die Stadt aus den Händen der Ungläubigen zu befreien und um in ihr […] Seelenfrieden zu finden. […] Sie mussten viel Mühsal ertragen, Krankheiten und Auseinandersetzungen und Hunger und blutige Kämpfe mit Wegelagerern und anderen bewaffneten Gruppen, die ebenfalls im Namen des Kreuzes nach Jerusalem zogen […] doch während der ganzen Zeit sahen sie das wunderbare Jerusalem vor sich, eine Stadt wie keine andere auf der Welt, eine Stadt, in der es nichts Böses und kein Leid gab […] Langsam sank ihre Stimmung […] Trotzdem zogen die Kreuzfahrer weiter ostwärts, Richtung Jerusalem, durch Morast und Staub und Schnee, […] bis sie an einem Sommerabend, zur Zeit des Sonnuntergangs, ein kleines Tal erreichten, umgeben von hohen Bergen […] In ihren Augen war dieses Tal eine göttliche Oase […] So kam es, dass die Kreuzfahrer sich untereinander berieten und beschlossen, diesem gesegneten Tal den Namen Jerusalem zu geben und hier ihre zermürbende Reise zu beenden.

Amos Oz, Judas

ERSTER TEIL

Das Festland

1

Ester kam völlig außer Atem genau in dem Moment am Bahnhof an, als der Zug einlief. Aber sie gesellte sich nicht zu dem Grüppchen der dort Wartenden, weil anstelle von Raffaele, ihrem Verlobten, ein aufgedunsener, fast gänzlich kahler Mann in einem lächerlichen grünen Trainingsanzug aus dem Waggon stieg.

Raffaele war arm. Sein Vater war Hilfsarbeiter gewesen, und Raffaele war schon als kleiner Junge mit ihm arbeiten gegangen, im Winter eine schäbige Strickmütze und im Sommer ein feuchtes, an den Ecken geknotetes Taschentuch auf dem Kopf. Er sei freiwillig in den Krieg gezogen, weil er Faschist sei, sagten die Leute im Dorf. In Wirklichkeit hatte er einfach nur die Romane von Salgari, Melville, London und Conrad gelesen, wieder und wieder, und schließlich bei der Marine angeheuert, weil er das Meer sehen wollte. Vielleicht aber auch, weil er sich nicht auf immer und ewig als Hilfsarbeiter oder als Hirte oder Bauer verdingen wollte.

Seiner Mutter hatte er gesagt, er komme nur ins Dorf, um mal wieder kurz zu Hause vorbeizuschauen, ehe er erneut in seine Marineuniform schlüpfen und wieder aufbrechen werde.

Die Mutter war in jungen Jahren Witwe geworden. In ihrer Straße war sie die Einzige, die lesen und schreiben konnte, und wenn sie für andere einen Brief verfasste, wurde sie mit einem Ei entlohnt. Früher hatte immer ihr jüngerer Sohn, ein kränklicher Junge, es bekommen, und für Raffaele, den Älteren, der von robuster Gesundheit war, blieb kaum etwas zu essen übrig. Auch deswegen war er als Freiwilliger in den Krieg gezogen, und nicht etwa, weil er Faschist war.

Im Krieg, ein ohnehin unglückseliges Universum, traf es ihn besonders schlimm. Im April 1943 befand er sich auf dem Schweren Kreuzer Trieste, als dieser in der Reede Mezzo Schifo vor Palau von B-17-Bombern des III. Geschwaders der 98. Bomb Group versenkt wurde, konnte sich jedoch retten, indem er sich stundenlang an einer Holzplanke festklammerte. Im September 1943 nahmen ihn die Deutschen vor Marseille auf der Fregatte Jean de Vienne gefangen, die das Vichy-Regime 1942 der Regia Marina, der königlichen italienischen Marine, überlassen hatte. Wie alle italienischen Kriegsgefangenen hatte man ihn gefragt, ob er auf der Seite Hitlers kämpfen wolle, andernfalls werde man ihn in einem Lager internieren. Raffaele zögerte keine Sekunde und wählte das Lager. Und so brachten die Nazis ihn ins SS-Sonderlager Hinzert, wo er dann von den Amerikanern befreit wurde.

Daher hatten die Dorfbewohner erwartet, er würde innerlich gebrochen zurückkehren, nur noch Haut und Knochen, aber stattdessen war er füllig geworden und sprach geradezu begeistert von seinem Lageraufenthalt. Die Amerikaner seien, als sie das Lager betraten, so entsetzt vom Zustand der Gefangenen gewesen, dass sie diese mit Konservennahrung, Schokolade und allen Arten von Köstlichkeiten gemästet und obendrein mit Zigaretten versorgt hätten. Deswegen sei er so dick geworden und habe sich das Rauchen angewöhnt.

Dann stellte er seine Reisetasche auf den Boden und kramte darin herum. Er brachte Zigarettenpackungen und Schokoladentafeln zum Vorschein, hielt sie den Dorfbewohnern hin, die zum Bahnhof gekommen waren, um ihn willkommen zu heißen, und verkündete stolz, das seien Geschenke seines Freundes aus New York, eines Trompeters, der eines Tages gewiss berühmt werden würde. Dieser Soldat, ein Schwarzer, habe seine Trompete nach Europa mitgebracht, und nie werde er vergessen, was für eine Wirkung sein Spiel in der Trostlosigkeit des Lagers gehabt habe. Auch die Deutschen hätten hin und wieder auf ihren Grammofonen Musik gespielt, die bis zu den Gefangenenquartieren drang, aber die von seinem Freund sei natürlich etwas ganz anderes gewesen. Musik, ganz allein für sie, noch dazu Jazz.

Dieser Trompeter, erzählte Raffaele weiter, habe die verflixte Angewohnheit gehabt, einfach nur zu rufen: »Hey, white man, come here!«, wenn er einen bestimmten Gefangenen meinte. Und da alle Gefangenen des Lagers weiß waren, sei ihnen natürlich klar gewesen, dass er sie auf den Arm nahm. Eines Tages reichte es Raffaele, und er bat einen Amerikaner, der Italienisch konnte, für ihn zu antworten: »Übrigens haben wir Weißen hier alle einen Namen und von Weißen, Schwarzen, Juden, Slawen, Zigeunern und Japanern wollen wir nichts mehr hören.«

Von diesem Moment an habe der Schwarze aus New York sie nicht mehr auf den Arm genommen. Und er habe Raffaele viel über Jazz erzählt, so gut er es in seiner Sprache vermochte. Nur seinen Namen habe er ihm nicht gesagt.

Indessen lauschten die Dorfbewohner dem jungen Mann mit einer Miene, die ausdrückte, dass sie ihn auf keinen Fall enttäuschen wollten, indem sie das, worauf er so stolz war – die Schokolade, Zigaretten und schwarzen Freunde aus Amerika –, nicht gebührend schätzten, und hielten die Mitbringsel andächtig in den Händen.

Ester, die diese Szene aus einiger Entfernung beobachtet hatte, versteckte sich. Ihre große Liebe war dick, schwerfällig und fast glatzköpfig geworden, und mit einem Mal erschien es ihr verrückt, all die Zeit über auf ihn gewartet zu haben.

Nachdem er Schokolade und Zigaretten verteilt hatte, trennte sich Raffaele von dem Grüppchen und ging allein auf den Bahnhofausgang zu. Die Dorfbewohner blickten ihm nach. Mit seinen Geschichten und seinem Jazz konnten sie nicht viel anfangen.

Auch Ester machte sich wieder auf den Heimweg und achtete darauf, unbemerkt zu bleiben.

2

Trotz ihrer Enttäuschung löste Ester die Verlobung nicht auf, aber als Raffaele zum ersten Mal aus Genua nach Sardinien kam, um sie zu besuchen, fand er die Tür verschlossen vor. Als niemand aufmachte, wandte er sich zum Gehen, doch Ester lief auf die Straße hinaus und ihm nach.

Diese Szene sollte sich noch oft, nämlich bei jedem weiteren Besuch von Raffaele, wiederholen. Wenn die Tochter durch das Eingangstor entwischen wollte, packte die Mutter sie am Arm und hielt sie mit der anderen Hand an den Haaren fest. Sie schüttelte sie, schrie sie an, sie sei verrückt, wenn sie diesen Hungerleider noch immer als ihren Verlobten betrachte. Nur eine dumme Gans wie sie habe fünf Jahre lang darauf warten können, dass dieser arme Schlucker, der nichts könne und nichts besitze, aus dem Krieg zurückkehre, sagte sie.

»Lass sie in Ruhe!«, rief dann eine männliche Stimme über den Laubengang hinweg. »Sie wäre für ihn gestorben!«

Die Mutter dachte jedoch nicht daran, Ester loszulassen, sondern schrie sie weiter an. Es sei ihr egal, wenn man sie im ganzen Dorf hören könne, dann wüssten wenigstens alle, dass es in diesem Haus noch jemanden gebe, der bei Verstand sei. Doch vom hinteren Ende des Laubengangs her ertönte erneut ein Befehl: »Lass sie los!«, und Ester flehte diese Stimme um Hilfe an. Oft kam Felice, ihr Bruder, herbeigelaufen, um sie aus der Umklammerung ihrer Mutter zu lösen, während diese ihn mit Beschimpfungen überzog. »Du Nichtsnutz! Nur für Dummheiten bist du zu gebrauchen!«

Seit Felices Rückkehr aus dem Krieg in Afrika war er arbeitslos, so wie Millionen anderer verzweifelter Heimkehrer. Der Mutter machte dieser Sohn keine Freude. Vor allem mochte sie seine runden Augen nicht, die einen nie direkt ansahen, sondern immer angstvoll auf etwas gerichtet waren.

Der Hafen von Genua hatte, nachdem die deutschen Truppen abgezogen waren, nur relativ wenig Schaden genommen, sodass Raffaele seine Arbeit bei der Marine behalten hatte.

Zwar war der Lohn erbärmlich, aber nachdem er lange Zeit nur Mauern und Stacheldraht gesehen hatte, gefiel ihm Genua, weil es am Meer lag, wegen des klaren blauen Himmels nach so viel grauem Nebel, wegen des Windes und des Auf und Ab der Gassen nach der trostlosen Öde.

Insgeheim wäre er aber auch gern nach New York emigriert. Wie so viele vor ihm träumte er davon, in Ellis Island einzulaufen. Er stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, unter der Freiheitsstatue zu stehen. Aber wie sollte er das Ester beibringen?

Er hatte sie kennengelernt, als sie, blutjung, mit einem Steinkrug auf dem Kopf mit ihren Schwestern zum Brunnen ging. An jenem Tag war der Himmel voller Wolken, die sich aufrollten und wieder entrollten wie Wollknäuel.

Er hatte sich in sie verliebt, weil sie anders war, blond in einer Welt von lauter Dunkelhaarigen, mit einem schmalen, feinen Gesichtchen unter lauter Frauen mit strengen Mienen. Mit den nach oben weisenden Mundwinkeln schien sie jederzeit zum Lächeln bereit, aber bei näherem Hinsehen erwies sich ihre Miene als ganz und gar nicht heiter, und statt zu lächeln, sagte sie: »Wie schafft man es bloß, an einem solchen Ort zu leben?«

3

Raffaele musste oft an seinen schwarzen Freund denken. Er war allen Amerikanern dankbar, weil sie ihn und seine Landsleute befreit und überdies großzügig auf Reparationsforderungen an Italien verzichtet hatten. Außerdem hatten sie sich nicht darauf beschränkt, das Land mit lebenswichtigen Gütern zu versorgen, sondern halfen den Italienern obendrein mit anderthalb Millionen – nach heutigem Wert etlichen Milliarden – Dollar, wieder auf die Beine zu kommen. Ganz zu schweigen von diesen neuen Insektiziden, die die Malaria, diese Geißel, in Sardinien so gut wie ausgemerzt hatten.

Felice mochte hingegen die Sowjetunion. Die Amerikaner konnte er nicht ausstehen, die schlugen ihm regelrecht auf den Magen. Hiroshima und Nagasaki schien die Welt bereits wieder vergessen zu haben. Er war britischer Kriegsgefangener gewesen, und es interessierte niemanden, was er alles durchgemacht hatte. Alle bemitleideten nur die Kriegsgefangenen der Nazis.

Aber in den folgenden Jahren fand jedes Mal am 9. Mai, dem Tag, an dem die Russen das Kriegsende feierten, eine große Aussöhnung zwischen den beiden statt. Wenn er an diesem Tag zufällig im Dorf war, versäumte es Raffaele nie, Felice eine Flasche Wein mitzubringen, um auf dieses Ereignis anzustoßen, und war er in Genua, rief er ihn an, um ihn von ganzem Herzen zu beglückwünschen. Zwar hätten ihn die Amerikaner befreit, sagte er, aber hätte sich das Lager, wo er inhaftiert war, weiter im Osten befunden, hätte sein schwarzer Freund ohne Weiteres auch ein blonder Musiker aus Moskau sein können.

Zu guter Letzt ließ seine zukünftige Schwiegermutter Raffaele doch ins Haus, wenngleich nur widerwillig. Dagegen fürchtete sich Ester neuerdings fast vor den Besuchen ihres Verlobten, weil dieser sich unentwegt mit seinen Schwagern in spe über Politik in die Haare kriegte. Mit der Zeit wünschte sie, er würde nur noch so selten wie möglich kommen. Sie liebte ihn mehr, wenn er weg war. Während der langen Wartezeit bis zur Hochzeit schrieb sie ihm täglich, und täglich wartete sie am Eingangstor auf seine Antwortbriefe.

Unterdessen hörte die Mutter nicht auf, diese Liebe zu sabotieren. Unter dem Vorwand einer dringenden Besorgung schickte sie ihre Tochter ungefähr zu der Uhrzeit weg, zu der der Postbote normalerweise kam, oder verriegelte das Tor, in der Hoffnung, er würde unverrichteter Dinge wieder gehen.

Ester schrieb die Briefe, wartete auf Antwort und träumte vom Tag ihrer Hochzeit, an dem sie diesem gottverlassenen Flecken Sardinien endlich den Rücken kehren konnte, um aufs Festland zu ziehen; außerdem verbrachte Ester ihre Tage damit, unter Anleitung ihrer ältesten Schwester, einer versierten Schneiderin, ihre Aussteuerwäsche zu besticken, die Terracotta-Böden zu wischen und die Hühner und Kaninchen zu füttern; in aller Herrgottsfrühe, wenn es noch dunkel war, stand sie auf, um Brot zu backen, und die Holzschuhe und groben Wollstrümpfe legte sie nur an den Sonntagen ab, wenn sie zur Messe ging und nachmittags mit ihren Freundinnen die Dorfstraße auf und ab flanierte.

Es mochte ja sein, dass Raffaele nach all der Zeit wieder so schön wie vor dem Krieg geworden war, aber es gelang ihr einfach nicht, in ihm den Jungen wiederzuerkennen, der Jahre zuvor ihren Vater um ihre Hand gebeten hatte. Doch wenigstens würde er sie aus diesem Dorf wegbringen, denn ihr ging weiter die Frage im Kopf herum: Wie schafft man es bloß, an einem Ort wie diesem zu leben?

Es war vielleicht die mühevollste ihrer Aufgaben, aber Wasser vom Brunnen zu holen war das Einzige, was sie wirklich gern tat. Nachdem sie den Krug mit Wasser gefüllt hatte, musste sie ihn auf dem Kopf balancierend nach Hause tragen, aber da sich der Brunnen unweit des Hauses ihrer zukünftigen Schwiegermutter befand, verschaffte ihr das jedes Mal einen Vorwand, diese zu besuchen und in den Genuss der Teestunde zu kommen, die dort nachmittags zelebriert wurde.

Raffaeles Mutter stammte nämlich aus einer Familie von Honoratioren und war enterbt worden, als sie sich in einen mittellosen Mann verliebte. Dennoch hielt sie auch in diesem ärmlichen Haushalt an den Sitten und Gebräuchen ihrer Familie fest: Das Mittagessen ließ man aus, dafür pflegte man die Tradition des Five o’Clock Tea, genau wie im Buckingham Palace oder bei den Sisternes, der reichsten und vornehmsten Familie am Ort, deren einzige Tochter Dolores hieß.

Diese Besuche mussten geheim bleiben, und nur Felice wusste davon. Unermüdlich verteidigte er seine Schwester, derentwegen er von der Mutter beschimpft und gedemütigt wurde; immer wieder warf sie ihm an den Kopf, er sei kein richtiger Mann, denn wäre er einer, würde er seine Schwester vor Raffaele, diesem Verrückten, beschützen.

Raffaeles Besuche im Dorf wurden für Ester immer belastender. Seine Wortgefechte mit ihrem Bruder wegen der Russen und Amerikaner waren ebenso unerträglich wie jene mit den Ehemännern ihrer Schwestern. Diese wählten die Christdemokraten und meinten, es sei nicht alles schlecht gewesen, was Mussolini getan habe.

»Was zum Beispiel?«, fragte Raffaele dann angriffslustig.

»Die Arborea-Ebene. Das war früher ein Sumpf. Jetzt können wir sie landwirtschaftlich nutzen. Und wem verdanken wir das, wenn nicht Mussolini, der sie trockengelegt hat?«

»Der Rockefeller-Stiftung und dem DDT ist das zu verdanken; wenn die nicht gewesen wären, wäre die Gegend um Arborea noch immer ein einziger großer Mückentümpel.«

»Das DDT«, beeilte sich Felice zu sagen, »hätten die Russen auch gebracht, hätten die uns befreit.«

»Aber es waren die Amerikaner, die uns befreit haben.«

»Die Amerikaner hätten ohne den Widerstand der Russen in Stalingrad nichts ausrichten können. Im Grunde hat Stalingrad den Nazis den Todesstoß versetzt.«

»Nein, der eigentliche Todesstoß war die Landung der Alliierten in der Normandie.«

Die Frauen seufzten. Sie nahmen den Männern den Wein weg, damit der Alkohol sie nicht noch hitziger machte. Währenddessen saß Esters Mutter schweigend und den Kopf mit dem schwarzen Tuch nach vorn gebeugt da; der Aufstand, den die Männer veranstalteten – ihr Sohn um Togliatti, der Verlobte ihrer Tochter um Rockefeller und ihre Schwiegersöhne um Mussolini –, machte sie fassungslos. Wie konnten sie sich nur so ereifern, wo sie selbst doch solche Hungerleider waren und es immer bleiben würden? Daher atmeten alle auf, wenn Raffaele nach seinem Urlaub wieder nach Genua zurückkehrte.

Nachdem ein paar Jahre vergangen waren, verfiel Ester irgendwann in Trübsinn. Sie litt zusehends unter Schlaflosigkeit und schrecklichen Kopfschmerzen und bekam einen Hautausschlag, der so juckte, dass sie schier verrückt wurde. Noch immer schloss sie jeden Brief an ihren Verlobten mit den Worten: »Wie schafft man es bloß, an einem solchen Ort zu leben?«

Raffaele wiederum gelangte drüben auf dem Festland mit jedem weiteren Tag mehr zu der Überzeugung, dass sein magerer Sold ihm niemals gestatten würde zu heiraten; in der Industrie hingegen würde er genügend Geld verdienen, um Ester endlich zu sich holen zu können.

Schließlich fand er eine Stelle bei Ansaldo, einem großen Industrieunternehmen. Er wollte nicht aus Genua weg. Er liebte den Hafen mit seinen Ozeandampfern, die gerade aus Amerika kamen oder dorthin aufbrachen, die kalte, böige Tramontana, die engen, dunklen Gassen, die oben auf dem Felsen urplötzlich in lichte Plätze mündeten, von wo aus man auf das Meer und die Züge blickte, die tief unten mit schrillen Pfiffen über die Gleise ratterten.

4

Raffaele arbeitete nun schon seit vielen Jahren bei Ansaldo.

Eines Morgens, als er wieder einmal zu Besuch auf der Insel war, ging seine Mutter in der niedrigen Küche zwischen Tisch und Kamin hin und her, wo sie zum Frühstück ein paar Scheiben civraxiu, ein knuspriges sardisches Brot, röstete. Man hörte ihr Schnaufen. Sie war schwerkrank, und selbst bei der leichtesten Tätigkeit geriet sie schnell außer Atem.

»Wenn du sie kennen würdest«, brach der Sohn das Schweigen, »wenn du nur sehen würdest, wie perfekt sie zu mir passt.«

»Perfekt«, sagte die Mutter leise, wie zu sich selbst, »perfekt, nur weil sie anders und weit weg ist.«

»Was willst du damit sagen – weit weg?«

»Ich will sagen, dass ihr Vater ein Reeder ist. Ich will sagen, dass sie weit weg von mir und diesem schwarzen Tuch auf meinem Kopf ist, weit weg von dieser Küche, dem Klo auf dem Hof draußen.«

»Willst du damit sagen, ich liebe sie, weil sie reich ist?«

»Nein. Aber ich bin alt genug, um zu wissen, dass zwischen dem einen und dem anderen Grund schwer zu unterscheiden ist.«

»Willst du damit sagen, dass Babbo dich nur geheiratet hat, weil du reich warst?«

»Nein. Du weißt ganz genau, dass meine Eltern mich enterbt haben. Ich meine die Zeit, als es angefangen hat zwischen uns. Er hat mich als reiche Tochter kennengelernt. Du darfst nicht nur an dich, sondern musst auch an deine neue Freundin denken.«

»Was willst du damit sagen?«

»Gar nichts will ich damit sagen.«

»Dass sie es irgendwann bereuen könnte, einen armen Schlucker geheiratet zu haben? So wie du es bereut hast?«

»Gar nichts will ich sagen.«

»Ester versteht mich einfach nicht. Selbst wenn wir zusammen sind, habe ich nicht das Gefühl, dass sie mir nahe ist. Mit ihr werde ich nie glücklich sein.«

»Ach, glücklich sein, was ist das schon. Das ist eine Gabe, entweder man hat sie oder man hat sie nicht. Mit anderen hat das nichts zu tun. Du hast ein gutes Herz. Ein besseres als meine anderen Kinder. Nicht einmal dem Krieg ist es gelungen, einen grausamen Menschen aus dir zu machen, aber jetzt willst du diese arme Frau umbringen.«

»Ganz schön starke Worte!«

»Tja, aber sie stimmen. Wenn du Ester nach all den Jahren in diesem Nest sitzen lässt, ist für sie das Leben gelaufen. Kein anderer wird sie dann noch nehmen.«

»Doch, jemand, der sie liebt.«

»Ach, die Liebe. Man nimmt den Mund so voll mit diesem Wort. Hast du der Neuen erzählt, dass deine Verlobte den ganzen Krieg auf dich gewartet hat und es noch immer tut?«

»Sie weiß alles über mich. Sie ist die Einzige, die mir Fragen stellt. Die es interessiert, wie’s mir geht. Niemand sonst fragt mich je, wie’s mir geht. Wenn du mir erlauben würdest, sie mit hierherzubringen …«

»Dann kannst du dir gleich wünschen, dass ich sterbe, denn solange ich lebe, bringst du sie mir nicht in dieses Haus.«

Raffaele trank seinen Caffè Latte aus. Er war sich mit der Hand durch die wenigen ihm verbliebenen Haare gefahren, die jetzt sogar ein wenig zerzaust aussahen. Nach längerem Schweigen stand er auf und ging seine Jacke holen.

»Wohin willst du?«

»Zu Ester.«

»Was wirst du ihr sagen?«

»Sie soll alles Nötige für die Hochzeit vorbereiten.«

Nachdem er mehrmals vergeblich versucht hatte, mit der Hand das Ärmelloch zu treffen, trat die Mutter zu ihm und half ihm in die Jacke.

»Die andere darfst du ab jetzt aber nicht mehr treffen.«

»Das werde ich auch nicht, doch tief drinnen werde ich nicht aufhören, mich nach ihr zu sehnen. Ohne sie werde ich nie glücklich sein.«

»Ach, sag doch nicht solche Sachen. Natürlich wirst du glücklich sein.«

Bevor er hinausging, ließ sich Raffaele nochmals auf einen der Stühle sinken, die an den Wänden der Diele aufgereiht waren. Die Mutter, die wieder in die Küche zurückgekehrt war, hörte ihn noch lange weinen.

5

Weil er ein schwaches Herz hatte, konnte Felice keine schweren Arbeiten übernehmen. Und für die leichten Verrichtungen, zu denen er in der Lage war, schämte er sich.

Aber er schämte sich auch, sich an den gedeckten Tisch zu setzen und seinen Schwagern auf der Tasche zu liegen und den Schwestern, die bis spätnachts nähten, um rechtzeitig die Schneiderarbeiten für ihre Kunden fertigzubekommen.

Wenn ihm danach war, abends auszugehen, zog er sich um, trug Parfüm auf und trällerte hin und wieder sogar ein Lied. Aber wenn ihm dann einfiel, dass er seine Schwestern um Geld bitten musste, zog er die Jacke wieder aus und tauschte sie gegen die alten, zerschlissenen Sachen aus, die er zu Hause trug, und wartete, bis es an der Zeit war, seine beiden verheirateten Schwestern nach Hause zu begleiten.

Er verdingte sich mit Botengängen, brachte zum Beispiel die von seinen Schwestern genähten Kleidungsstücke zu den Kunden, aber da er kein kleiner Junge mehr war, kam er sich lächerlich vor.

»Irgendwann gehe ich in die Sowjetunion«, sagte er in diesem schleppenden, murmelnden Tonfall, den er sich angewöhnt hatte. »Dort gibt es für alle Arbeit. Eines Tages hau ich ab und komm nie wieder.«

Aber er kehrte zurück. Oder besser gesagt, blieb ohnehin fast die meiste Zeit zu Hause und traf sich nur noch selten mit seinen Kameraden vom PCI, der Kommunistischen Partei Italiens.

Wenn die Mutter Ester wieder einmal wegen ihres Verlobten anging und seine Schwester ihn hilfesuchend ansah, zuckte Felice mittlerweile nur noch die Achseln, statt sie in Schutz zu nehmen. Nachts konnte er nicht mehr schlafen, und man hörte ihn in seinem Zimmer auf- und abgehen. Bis er, bei jedem Wetter, irgendwann in den Hof hinaustrat.

In jenem Jahr ging er am 9. Mai, dem Tag, an dem die Russen das Kriegsende feierten, nicht in die Bar, wo es ein Telefon gab, über das Raffaele ihn wie jedes Jahr anrufen würde, um ihn zu beglückwünschen. Als Ester ihn daran erinnerte, zuckte er nur wieder die Achseln und erwiderte, die Sowjetunion sei viel zu weit weg.

Eines Morgens, an dem er einen Mantel ausliefern sollte, frühstückte er wie immer eine geröstete Brotscheibe und trank seinen Caffè Latte, den ihm die Mutter mit sauertöpfischer Miene hinstellte. Dann ließ er sich von den Schwestern die Adresse des Kunden geben und überquerte mit dem Päckchen unter dem Arm den Hof. Ob absichtlich so laut, dass er es hören musste, oder nur zu sich selbst, jedenfalls brummte die Mutter auf Sardisch: »Custu no esti omini« – »das ist doch kein richtiges Mannsbild«.

Weder lieferte Felice den Mantel beim Kunden ab, noch kam er nach Hause zurück.

Man fand ihn auf einem Feld in der Nähe, wo er in einem Brunnen ertrunken war. Aus dem Schmutz unter den Fingernägeln und den zerkratzten Händen schlossen sie, dass er, nachdem er sich hineingestürzt hatte, wieder versuchte, sich an den Mauervorsprüngen des Brunnens festklammernd, hinauszuklettern. Also musste er sein Unterfangen bereut haben und hatte nicht wirklich sterben wollen, aber leider war es für eine Umkehr zu spät gewesen.

6

An ihrem Hochzeitstag hatte Ester weder Kopfschmerzen, noch fürchtete sie, in Ohnmacht zu fallen, ja selbst der gewohnte Hautausschlag war weg. Sie war rundum zufrieden.

Den Gästen, die auf den Bänken längs des Laubengangs saßen, servierte sie hausgemachte Süßigkeiten und alle möglichen Liköre. Ihr Brautkleid war grau mit zwei großen schwarzen, samtüberzogenen Knöpfen, zum Zeichen der Trauer um Felice und um Raffaeles Mutter, die nicht mehr ihre Schwiegermutter geworden war. Aber obwohl sie das Grau und Schwarz der Halbtrauer trug, fühlte sie sich wohl und sah elegant aus.

Bei den Haaren hatte sie allerdings noch im allerletzten Augenblick Hand anlegen müssen, um zu retten, was noch zu retten war. Denn tags zuvor war sie zu einem richtigen Friseur in Cagliari gegangen, der ihr eine Dauerwelle gemacht hatte, und war, zufrieden über ihre Verwandlung in eine moderne junge Frau, mit kurzen, lockigen Haaren nach Hause gekommen.

Eine der Schwestern öffnete ihr die Tür. Ihr Gesichtsausdruck wollte die angehende Braut noch warnen, aber kaum hatte diese den Fuß über die Schwelle gesetzt, als ihre Mutter, die sich nach wie vor weder mit den neumodischen Frisuren noch mit diesem Hungerleider Raffaele abfinden wollte, ihr einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht schüttete.