Eine Frage der Chemie - Bonnie Garmus - E-Book
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Bonnie Garmus

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Beschreibung

Elizabeth Zott wird Ihr Herz erobern, ganz sicher! Elizabeth Zott ist eine Frau mit dem unverkennbaren Auftreten eines Menschen, der nicht durchschnittlich ist und es nie sein wird. Doch es ist 1961, und die Frauen tragen Hemdblusenkleider und treten Gartenvereinen bei. Niemand traut ihnen zu, Chemikerin zu werden. Außer Calvin Evans, dem einsamen, brillanten Nobelpreiskandidaten, der sich ausgerechnet in Elizabeths Verstand verliebt. Aber auch 1961 geht das Leben eigene Wege. Und so findet sich eine alleinerziehende Elizabeth Zott bald in der TV-Show »Essen um sechs« wieder. Doch für sie ist Kochen Chemie. Und Chemie bedeutet Veränderung der Zustände ... So smart wie »Damengambit«, so amüsant wie »Mrs. Maisel«

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Seitenzahl: 577

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Übersetzung aus dem englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

© Bonnie Garmus 2022

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Lessons in Chemistry«, Doubleday, New York

((immer))

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildung: © Lisa Larsen/The LIFE Picture Collection/Shutterstock

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für meine Mutter Mary Swallow Garmus.

Mom, bitte entschuldige die vielen Kraftausdrücke. Ich hab eine ganze Rolle Vierteldollarmünzen in die Fluchdose getan.

Kapitel 1

November 1961

Damals, im Jahr 1961, als Frauen Hemdblusenkleider trugen und Gartenvereinen beitraten und zahllose Kinder bedenkenlos in Autos ohne Sicherheitsgurte herumkutschierten; damals, bevor überhaupt jemand ahnte, dass es eine 68er-Bewegung geben würde, und erst recht nicht eine, von der ihre Teilnehmer die folgenden sechzig Jahre erzählen würden; damals, als die großen Kriege vorbei waren und die geheimen Kriege gerade begonnen hatten und die Menschen allmählich anfingen, neu zu denken und zu glauben, alles wäre möglich, stand die dreißigjährige Mutter von Madeline Zott jeden Morgen vor Tagesanbruch auf und war sich nur einer Sache ganz sicher: Ihr Leben war vorbei.

Trotz dieser Gewissheit begab sie sich ins Labor, um den Lunch für ihre Tochter einzupacken.

Kraftstoff fürs Gehirn schrieb Elizabeth Zott auf einen kleinen Zettel, den sie in die Lunchbox ihrer Tochter steckte. Dann hielt sie inne, den Stift in der Luft, als würde sie neu überlegen. Treib in der Pause Sport, aber lass die Jungs nicht automatisch gewinnen, schrieb sie auf einen anderen Zettel. Dann hielt sie erneut inne, klopfte nachdenklich mit dem Stift auf den Tisch. Du bildest dir das nicht nur ein, schrieb sie auf einen dritten. Die meisten Menschen sind einfach scheußlich. Die letzten beiden legte sie obenauf.

Die meisten kleinen Kinder können nicht lesen, und falls doch, sind es meist Wörter wie »Hund« und »Maus«. Aber Madeline las bereits, seit sie drei war, und jetzt, als Fünfjährige, hatte sie schon fast den gesamten Dickens durch.

Madeline gehörte zu der Sorte Kind, die ein Bach-Konzert summen, aber sich nicht selbst die Schuhe zubinden konnte, die die Drehung der Erde erklären konnte, aber bei Tic-Tac-Toe versagte. Und das war das Problem. Denn während musikalische Wunderkinder stets bejubelt werden, ist das bei frühen Lesern nicht der Fall. Weil frühe Leser nämlich bloß in etwas gut sind, in dem andere irgendwann auch gut sein werden. Deshalb ist es nichts Besonderes, darin die Erste zu sein – es ist bloß nervig.

Madeline war sich dessen bewusst. Deshalb nahm sie unweigerlich jeden Morgen – wenn ihre Mutter das Haus verlassen hatte und ihre Nachbarsbabysitterin, Harriet, abgelenkt war – die Zettel aus der Lunchbox, las sie und legte sie dann zu all den anderen Zetteln, die sie in einem Schuhkarton ganz hinten in ihrem Schrank aufbewahrte. Sobald sie in der Schule war, tat sie so, als wäre sie wie alle anderen Kinder: praktisch des Lesens unkundig. Für Madeline war Dazugehören wichtiger als alles andere. Und ihr Beweis war unwiderlegbar: Ihre Mutter hatte nie irgendwo dazugehört, und schau, wie es ihr ergangen war.

So lag sie in der südkalifornischen Kleinstadt Commons, wo das Wetter meistens warm war, aber nicht zu warm, und der Himmel meistens blau, aber nicht zu blau, und die Luft sauber, weil die Luft das damals einfach war, in ihrem Bett, die Augen geschlossen, und wartete. Sie wusste, bald würde ihr ein sanfter Kuss auf die Stirn gedrückt, die Bettdecke fürsorglich über die Schultern hochgezogen, »Nutze den Tag« ins Ohr gemurmelt. Kurz darauf würde sie einen Automotor anspringen hören, das Knirschen von Reifen, wenn der Plymouth rückwärts aus der Einfahrt setzte, ein geräuschvolles Umschalten vom Rückwärtsgang in den ersten. Und dann würde ihre dauerhaft depressive Mutter zu dem Fernsehstudio fahren, wo sie sich eine Schürze umbinden und ihr Set betreten würde.

Die Sendung hieß Essen um sechs, und Elizabeth Zott war ihr unangefochtener Star.

Kapitel 2

Pine

Die ehemalige Forschungschemikerin Elizabeth Zott war eine Frau mit makelloser Haut und dem unverkennbaren Auftreten eines Menschen, der nicht durchschnittlich war und es nie sein würde.

Sie war, wie alle guten Stars, entdeckt worden. Obwohl in Elizabeths Fall kein Eiscafé eine Rolle spielte, keine Parkbank, auf der sie zufällig gesichtet wurde, keine glückliche Fügung. Stattdessen führte Diebstahl – genauer gesagt Mundraub – zu ihrer Entdeckung.

Die Geschichte war einfach: Ein Mädchen namens Amanda Pine, die das Essen auf eine Weise genoss, die manche Therapeuten für bedenklich halten, aß Madelines Lunch. Und zwar, weil Madelines Lunch ungewöhnlich war. Während die anderen Kinder ihre Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade mümmelten, öffnete Madeline ihre Lunchbox und fand darin eine dicke Scheibe Lasagne vom Vortag, eine Beilage aus butterigen Zucchini, eine exotische, in Viertel geschnittene Kiwi, fünf glänzende runde Kirschtomaten, einen winzigen Morton-Salzstreuer, zwei noch warme Kekse mit Schokostückchen und eine rot karierte Thermosflasche mit eiskalter Milch.

Dieser Inhalt war der Grund, warum alle es auf Madelines Lunch abgesehen hatten, Madeline eingeschlossen. Aber Madeline bot ihn Amanda an, weil Freundschaft Opfer erfordert, aber auch, weil Amanda die Einzige in der ganzen Schule war, die sich nicht über das seltsame Kind lustig machte, das Madeline war, wie sie selbst bereits wusste.

Erst als Elizabeth bemerkte, dass Madelines Kleidung anfing, an ihrem knochigen Körper herabzuhängen wie schlechte Vorhänge, wurde sie misstrauisch. Ihren Berechnungen nach entsprach Madelines tägliche Nahrungsaufnahme genau dem, was ihre Tochter für eine optimale Entwicklung benötigte, somit war Gewichtsverlust wissenschaftlich unerklärlich. Dann vielleicht ein Wachstumsschub? Nein. Wachstum hatte sie in ihre Berechnungen einkalkuliert. Frühzeitiges Auftreten einer Essstörung? Unwahrscheinlich. Beim Abendessen futterte Madeline wie ein Scheunendrescher. Leukämie? Bestimmt nicht. Elizabeth war keine Schwarzseherin – sie war nicht der Typ Mutter, der nachts wach lag und sich ausmalte, ihre Tochter litte an einer unheilbaren Krankheit. Als Wissenschaftlerin suchte sie stets nach einer vernünftigen Erklärung, und in dem Moment, als sie Amanda Pines tomatensoßenrot verfärbte Lippen sah, wusste sie, dass sie die Erklärung gefunden hatte.

»Mr Pine«, sagte Elizabeth, als sie an einem Mittwochnachmittag in das örtliche Fernsehstudio und an einer Sekretärin vorbeirauschte, »ich versuche seit drei Tagen, Sie telefonisch zu erreichen, und Sie bringen nicht mal die Höflichkeit auf, mich zurückzurufen. Mein Name ist Elizabeth Zott. Ich bin Madeline Zotts Mutter – unsere Kinder gehen gemeinsam auf die Woody Elementary –, und ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass Ihre Tochter meiner Tochter unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Freundschaft vorgaukelt.« Und weil er verwirrt wirkte, schob sie nach: »Ihre Tochter isst den Lunch meiner Tochter.«

»L…Lunch?«, brachte Walter Pine heraus, während er die Frau betrachtete, die eindrucksvoll vor ihm stand und deren weißer Laborkittel eine Aura überirdischen Lichts verbreitete, bis auf eine Kleinigkeit: die aufgestickten roten Initialen »E. Z.« direkt über der Tasche.

»Ihre Tochter Amanda«, klagte Elizabeth erneut an, »isst den Lunch meiner Tochter. Anscheinend geht das schon seit Monaten so.«

Walter konnte sie nur anstarren. Groß und schlank, die Haare in der Farbe von leicht angebranntem gebutterten Toast nach hinten gestrichen und mit einem Bleistift festgesteckt, stand sie da, Hände in den Hüften, der Mund selbstbewusst rot, die Haut leuchtend, die Nase gerade. Sie blickte zu ihm herab wie ein Sanitäter auf einem Schlachtfeld, als würde sie abschätzen, ob es sich lohnte, ihn zu retten.

»Und die Tatsache, dass sie vorgibt, Madelines Freundin zu sein, um an ihren Lunch zu kommen«, fuhr sie fort, »ist absolut verwerflich.«

»W…Wer sind Sie noch mal?«, stammelte Walter.

»Elizabeth Zott!«, blaffte sie zurück. »Madeline Zotts Mutter!«

Walter nickte, versuchte mitzukommen. Als langjähriger Produzent nachmittäglicher Fernsehsendungen war er vertraut mit dramatischen Szenen. Aber das hier? Er starrte sie weiter an. Sie war hinreißend. Er war tatsächlich hingerissen von ihr. Wollte sie für irgendwas vorsprechen?

»Tut mir leid«, sagte er schließlich. »Aber die Krankenschwesterrollen sind schon alle vergeben.«

»Wie bitte?«, fauchte sie.

Es entstand eine lange Pause.

»Amanda Pine«, wiederholte sie.

Er blinzelte. »Meine Tochter? Oh«, sagte er plötzlich nervös. »Was ist mit ihr? Sind Sie Ärztin? Sind Sie von Ihrer Schule?« Er sprang auf.

»Du liebe Güte, nein«, antwortete Elizabeth. »Ich bin Chemikerin. Ich bin in meiner Mittagspause den ganzen Weg vom Hastings hergekommen, weil Sie mich nicht zurückgerufen haben.« Und als er sie weiter ratlos ansah, stellte sie klar. »Forschungsinstitut Hastings? Wo sich bahnbrechende Forschung Bahn bricht?« Der geistlose Slogan ließ sie einmal tief ausatmen. »Es geht darum, dass ich sehr viel Sorgfalt darauf verwende, Madeline einen nahrhaften Lunch zuzubereiten, etwas, worum Sie sich doch gewiss auch für Ihr Kind bemühen.« Und als er sie weiter nur verständnislos anstarrte, schob sie nach: »Weil Ihnen Amandas kognitive und körperliche Entwicklung am Herzen liegt. Weil Sie wissen, dass diese Entwicklung davon abhängt, ihr ein ausgewogenes Gleichgewicht von Vitaminen und Mineralstoffen zu bieten.«

»Das Problem ist, dass Mrs Pine …«

»Ja, ich weiß. Sie steht nicht zur Verfügung. Ich habe versucht, sie zu erreichen, und man sagte mir, dass sie jetzt in New York lebt.«

»Wir sind geschieden.«

»Tut mir leid, das zu hören, aber Scheidung hat wenig mit Lunch zu tun.«

»Das könnte man meinen, aber …«

»Ein Mann kann seinem Kind Lunch machen, Mr Pine. Das ist keine biologische Unmöglichkeit.«

»Völlig richtig«, pflichtete er bei und schob einen Stuhl zurecht. »Bitte, Mrs Zott, bitte, nehmen Sie Platz.«

»Ich hab was im Zyklotron«, sagte sie gereizt mit Blick auf ihre Uhr. »Sind wir uns einig oder nicht?«

»Zyklo…«

»Subatomarer Teilchenbeschleuniger.«

Elizabeth ließ den Blick über die Wände gleiten. Sie waren mit gerahmten Plakaten tapeziert, die Werbung für melodramatische Seifenopern und reißerische Spielshows machten.

»Meine Arbeit«, sagte Walter, der sich plötzlich für die Geschmacklosigkeiten schämte. »Vielleicht haben Sie schon mal eine davon gesehen?«

Sie wandte sich wieder ihm zu. »Mr Pine«, sagte sie in versöhnlicherem Ton. »Ich bedauere, dass ich weder die Zeit noch die Mittel habe, für Ihre Tochter Lunch zu machen. Wir wissen beide, dass Nahrung der Katalysator ist, der unser Gehirn in Gang setzt, unsere Familien zusammenhält und unsere Zukunft bestimmt. Und dennoch …« Sie verstummte, und ihre Augen verengten sich, als sie das Plakat für eine Seifenoper bemerkte, auf dem eine Krankenschwester einem Patienten eine ziemlich ungewöhnliche Pflege angedeihen ließ. »Wer hat denn schon die Zeit, der ganzen Nation beizubringen, wie man Mahlzeiten zubereitet, die wirklich Gehalt haben? Ich wünschte, ich hätte sie, aber ich habe sie nicht. Sie etwa?«

Als sie sich zur Tür wandte, sagte Pine, der sie nicht gehen lassen wollte und selbst nicht recht verstand, was da gerade in ihm vorging: »Warten Sie, bitte, Moment … bitte. Was … was haben Sie da gerade gesagt? Von wegen: der ganzen Nation beibringen, wie man Mahlzeiten zubereitet, die … die wirklich Gehalt haben?«

Essen um sechs ging vier Wochen später auf Sendung. Und obwohl Elizabeth die Idee nicht unbedingt begeisternd fand – sie war schließlich Forschungschemikerin –, nahm sie den Job aus den üblichen Gründen an: Er war besser bezahlt, und sie hatte ein Kind zu versorgen.

Vom ersten Tag an, als Elizabeth sich eine Schürze umband und das Set betrat, war offensichtlich, dass sie »es« hatte, wobei »es« diese schwer fassbare Qualität war, sehenswert zu sein. Aber sie war auch ein Mensch mit Substanz, so direkt, so nüchtern, dass die Menschen nicht wussten, was sie von ihr halten sollten. Während in anderen Kochsendungen gut gelaunte Köche fröhlich ihren Sherry in sich hineinkippten, war Elizabeth Zott ernst. Sie lächelte nie. Sie scherzte nie. Und ihre Gerichte waren ebenso ehrlich und bodenständig wie sie selbst.

Nach nur sechs Monaten war Elizabeths Sendung ein immer größerer Hit. Nach einem Jahr eine Institution. Und nach zwei Jahren war klar, dass sie die verblüffende Wirkung hatte, nicht nur Eltern mit ihren Kindern zu vereinen, sondern Bürger mit ihrem Land. Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass die gesamte Nation am Esstisch Platz nahm, wenn Elizabeth Zott mit dem Kochen fertig war.

Selbst Vizepräsident Johnson verfolgte ihre Sendung. »Sie wollen wissen, was ich denke?«, sagte er, als er einen hartnäckigen Reporter loswerden wollte. »Ich denke, Sie sollten weniger schreiben und mehr fernsehen. Fangen Sie mit Essen um sechs an – diese Zott, das ist eine patente Frau.«

Und das stimmte. Niemals hätte Elizabeth Zott erklärt, wie man winzige Gurkensandwiches oder fluffige Soufflés machte. Ihre Rezepte waren herzhaft: Eintöpfe, Aufläufe, Gerichte, die in großen Metallpfannen zubereitet wurden. Sie legte Wert auf die vier Lebensmittelgruppen. Sie glaubte an anständige Portionen. Und sie betonte, dass jedes Gericht, das die Mühe wert war, weniger als eine Stunde Mühe erfordern sollte. Sie beendete jede Sendung mit ihrem Standardspruch: »Kinder, deckt den Tisch. Eure Mutter braucht einen Moment für sich.«

Doch dann schrieb ein prominenter Reporter einen Artikel mit dem Titel: »Warum wir alles essen, was sie uns auftischt«, und bezeichnete sie beiläufig als »Leckere Lizzie«, ein Spitzname, der sowohl zutreffend als auch alliterativ war und deshalb ebenso schnell an ihr haften blieb wie an dem Papier, auf dem er gedruckt war. Von diesem Tag an nannten Fremde sie Leckere Lizzie, aber ihre Tochter Madeline nannte sie Mom, und obwohl Madeline noch ein Kind war, begriff sie, dass der Spitzname die Fähigkeiten ihrer Mutter schmälerte. Sie war Chemikerin, keine Fernsehköchin. Und Elizabeth, ihrem einzigen Kind gegenüber befangen, schämte sich.

Manchmal lag Elizabeth nachts im Bett und dachte darüber nach, wie ihr Leben diesen Verlauf hatte nehmen können. Doch das Nachdenken währte nie lange, denn in Wahrheit wusste sie es.

Sein Name war Calvin Evans.

Kapitel 3

Forschungsinstitut HastingsZehn Jahre zuvor, Januar 1952

Calvin Evans war ebenfalls am Forschungsinstitut Hastings angestellt, doch im Unterschied zu Elizabeth, die in beengten Verhältnissen arbeitete, hatte er ein großes Labor ganz für sich allein.

Aufgrund seiner Erfolgsbilanz stand ihm das vielleicht auch zu. Mit neunzehn hatte er bereits bedeutsame Forschungsarbeit geleistet, die dazu beitrug, dass der berühmte britische Chemiker Frederick Sanger den Nobelpreis bekam. Mit zweiundzwanzig entdeckte er ein schnelleres Verfahren, um einfache Proteine zu synthetisieren. Mit vierundzwanzig brachte ihn sein Durchbruch in Sachen Reaktivität von Dibenzoselenophen auf das Titelblatt von Chemistry Today. Außerdem hatte er sechzehn wissenschaftliche Aufsätze verfasst, Einladungen zu zehn internationalen Tagungen erhalten und eine Professur in Harvard angeboten bekommen. Die er ablehnte. Zweimal. Zum einen, weil Harvard Jahre zuvor seinen Antrag auf einen Studienplatz abschlägig beschieden hatte, und zum anderen, weil – tja, eigentlich gab es keinen anderen Grund. Calvin war ein Genie, aber wenn er einen Fehler hatte, dann war das seine Neigung, nachtragend zu sein.

Obendrein war er berüchtigt für seine Ungeduld. Wie so viele geniale Menschen konnte Calvin einfach nicht begreifen, warum niemand sonst es kapierte. Er war außerdem introvertiert, was durchaus kein Fehler ist, sich aber häufig als Unnahbarkeit manifestiert. Erschwerend hinzu kam, dass er Ruderer war.

Wie viele Nicht-Ruderer Ihnen versichern werden, sind Ruderer nicht besonders lustig. Das liegt daran, dass Ruderer immer nur übers Rudern reden wollen. Sobald zwei oder mehr Ruderer im selben Raum sind, schweift das Gespräch unweigerlich von so herkömmlichen Themen wie Arbeit oder Wetter ab und kreist nur noch um Boote, Blasen, Riemen, Griffe, Ergos, Blattabdrehen, Training, Setzen, Ausheben, Freilauf, Splits, Sitze, Schläge, Rollschienen, Starts, Schlagzahlen, Sprints und ob das Wasser wirklich »glatt« war oder nicht. Dann geht es meistens damit weiter, was bei der letzten Fahrt falschgelaufen ist und was bei der nächsten falschlaufen könnte und wer daran Schuld hatte beziehungsweise haben wird. Irgendwann strecken die Ruderer ihre Hände aus und machen einen Schwielenvergleich. Und wenn man so richtig Pech hat, schließen sich etliche Minuten andächtiger Ehrfurcht an, in denen einer von ihnen das perfekte Rudererlebnis schildert, bei dem sich alles leicht anfühlte.

Neben der Chemie war Rudern das Einzige, wofür Calvin echte Leidenschaft empfand. Ja, Rudern war der Grund, warum sich Calvin in Harvard überhaupt beworben hatte: Für Harvard rudern hieß 1945, für die Besten rudern. Oder eigentlich die Zweitbesten. Die University of Washington war die beste, aber die University of Washington lag in Seattle, und Seattle war für seinen Regen berüchtigt. Calvin hasste Regen. Deshalb richtete er seinen Blick in die Ferne – auf das andere Cambridge, das in England – und widerlegte damit einen der größten Mythen über Wissenschaftler: dass sie gut recherchieren können.

Als Calvin das erste Mal auf dem Cam ruderte, regnete es. Am zweiten Tag regnete es. Am dritten Tag ebenso. »Regnet’s hier andauernd so?«, maulte Calvin, als er und seine Teamkameraden sich das schwere Holzboot auf die Schultern hievten und hinaus zum Steg schleppten. »Nein, nein, praktisch nie«, beruhigten sie ihn. »Cambridge ist normalerweise ziemlich sonnig.« Und dann sahen sie einander an, als wollten sie sich gegenseitig etwas bestätigen, was sie schon lange vermutet hatten: Amerikaner waren dämlich.

Leider erstreckte sich Calvins Dämlichkeit auch auf seine Kontakte zur Damenwelt – ein großes Problem, weil er sich sehr gern verlieben wollte. In den ganzen sechs einsamen Jahren, die er in Cambridge verbrachte, schaffte er es, sich mit fünf Frauen zu verabreden, von diesen fünf war nur eine zu einem zweiten Rendezvous bereit, und das auch nur, weil sie jemand anders erwartet hatte, als sie ans Telefon ging. Das Hauptproblem war seine Unerfahrenheit. Er war wie ein Hund, der nach jahrelangen vergeblichen Versuchen endlich ein Eichhörnchen erwischt und dann keine Ahnung hat, was er damit anstellen soll.

»Hallo … äh«, hatte er gesagt, mit klopfendem Herzen und feuchten Händen und einem schlagartig leeren Kopf, als die junge Frau die Tür öffnete. »Debbie?«

»Ich heiße Deirdre«, seufzte sie und warf einen ersten Blick auf ihre Uhr, dem noch viele folgen sollten.

Beim Abendessen zog sich die Unterhaltung vom molekularen Abbau aromatischer Säuren (Calvin) hin zu den neusten Filmen (Deirdre), zu der Synthese nicht reaktiver Proteine (Calvin), zu der Frage, ob er gern tanzte oder nicht (Deirdre), zu einem Blick auf die Uhr, es war schon halb neun, und er musste am Morgen rudern, deshalb würde er sie gleich nach Hause bringen (Calvin).

Es versteht sich von selbst, dass es nach diesen Rendezvous zu sehr wenig Sex kam. Genauer gesagt, zu gar keinem.

»Ich versteh gar nicht, dass du da Schwierigkeiten hast«, sagten seine Kameraden im Ruderteam öfter zu ihm. »Mädchen lieben Ruderer.« Was nicht stimmte. »Und du bist zwar Amerikaner, aber du siehst nicht schlecht aus.« Was ebenfalls nicht stimmte.

Ein Teil des Problems war Calvins Körperhaltung. Er war gut einen Meter neunzig groß, schlaksig und hager, und er ließ sich etwas nach rechts hängen – wahrscheinlich, weil er immer auf der Backbordseite ruderte. Aber noch problematischer war sein Gesicht. Er hatte einen verlorenen Ausdruck an sich, wie ein Kind, das sich allein durchschlagen musste, mit großen grauen Augen und zotteligem blonden Haar und leicht violetten Lippen, die fast immer geschwollen waren, weil er die Neigung hatte, auf ihnen zu kauen. Es war die Art von Gesicht, die manche als leicht zu vergessen beschreiben würden, eine unterdurchschnittliche Komposition, die nichts von der dahinterliegenden Sehnsucht oder Intelligenz erahnen ließ, bis auf ein entscheidendes Kriterium – seine Zähne, die gerade und weiß waren und seine gesamte Gesichtslandschaft rehabilitierten, sobald er lächelte. Zum Glück und vor allem, nachdem er sich in Elizabeth Zott verliebt hatte, lächelte Calvin ständig.

Sie begegneten sich – oder besser gesagt, wechselten die ersten Worte – an einem Dienstagmorgen im Forschungsinstitut Hastings, dem privaten Forschungslabor im sonnigen Südkalifornien, in dem Calvin, nachdem er in Cambridge in Rekordzeit promoviert und dreiundvierzig Stellenangebote abgewogen hatte, eine Position teils wegen des guten Rufs, aber hauptsächlich wegen des Niederschlags annahm. In Commons regnete es selten. Elizabeth dagegen nahm das Angebot vom Hastings an, weil sie keine anderen bekommen hatte.

Als sie vor Calvin Evans’ Labor stand, bemerkte sie einige große Warnschilder:

NICHT EINTRETEN

LAUFENDES EXPERIMENT

KEIN EINLASS

DRAUSSEN BLEIBEN

Dann öffnete sie die Tür.

»Hallo«, rief sie über Frank Sinatra hinweg, der aus einer Stereoanlage dröhnte, die seltsamerweise mitten im Raum stand. »Ich muss mit jemandem sprechen, der hier die Verantwortung hat.«

Calvin, überrascht, eine Stimme zu hören, reckte den Kopf über eine große Zentrifuge.

»Entschuldigen Sie, Miss«, sagte er laut und gereizt, auf der Nase eine große Schutzbrille, die seine Augen vor etwas schützten, das rechts von ihm brodelte, »aber Unbefugte haben hier keinen Zutritt. Haben Sie die Hinweisschilder nicht gesehen?«

»Doch«, rief sie zurück, ohne auf seinen Ton zu achten, während sie durch das Labor marschierte, um die Musik auszumachen. »So. Jetzt können wir uns gegenseitig besser hören.«

Calvin kaute auf seinen Lippen und zeigte zur Tür. »Sie dürfen nicht hier sein«, sagte er. »Die Hinweisschilder.«

»Also, mir wurde gesagt, Sie haben in Ihrem Labor einen Überschuss an Bechergläsern, und wir haben unten zu wenig. Steht alles hier drauf«, sagte sie und hielt ihm ein Blatt Papier hin. »Ist von der Materialverwaltung genehmigt.«

»Darüber bin ich nicht informiert worden«, sagte Calvin, der das Blatt überflog. »Aber es tut mir leid, nein. Ich brauche jedes Becherglas. Vielleicht sollte ich lieber mit einem Chemiker unten sprechen. Sagen Sie Ihrem Chef, er soll mich anrufen.« Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu und schaltete im Vorbeigehen die Stereoanlage an.

Elizabeth rührte sich nicht. »Sie wollen mit einem Chemiker sprechen? Mit jemand anderem als MIR?«, rief sie über Frank hinweg.

»Ja«, antwortete er. Und dann wurde er etwas freundlicher. »Hören Sie, ich weiß, es ist nicht Ihre Schuld, aber die sollten keine Sekretärin hier raufschicken, um ihnen die lästige Arbeit abzunehmen. Also, ich weiß, das ist für Sie vielleicht schwer zu verstehen, aber ich bin gerade mit etwas Wichtigem beschäftigt. Bitte. Sagen Sie Ihrem Chef einfach, er soll mich anrufen.«

Elizabeths Augen verengten sich. Sie konnte Leute nicht ausstehen, die aufgrund von ihrer Meinung nach längst überholten optischen Eindrücken voreilige Schlüsse zogen, und selbst wenn sie eine Sekretärin gewesen wäre, so konnte sie ebenso wenig Männer ausstehen, die glaubten, dass eine Sekretärin nicht in der Lage war, Wörter zu verstehen, die über »Tippen Sie das in dreifacher Ausfertigung« hinausgingen.

»So ein Zufall«, schrie sie, steuerte geradewegs auf ein Regal zu und nahm sich einen großen Karton Bechergläser. »Ich bin auch beschäftigt.« Dann marschierte sie hinaus.

Im Forschungsinstitut Hastings arbeiteten über dreitausend Menschen, deshalb brauchte Calvin gut eine Woche, um sie aufzuspüren, und als er sie endlich fand, schien sie sich nicht an ihn zu erinnern.

»Ja?«, sagte sie, als sie sich umdrehte, weil jemand ihr Labor betreten hatte. Eine dicke Schutzbrille vergrößerte ihre Augen, Hände und Unterarme steckten in großen Gummihandschuhen.

»Hallo«, sagte er. »Ich bin’s.«

»Ich?«, fragte sie. »Könnten Sie genauer werden?« Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

»Ich«, sagte Calvin. »Fünf Stockwerke höher? Sie haben meine Bechergläser mitgenommen?«

»Treten Sie bitte zurück, hinter den Vorhang da«, sagte sie und deutete mit dem Kinn nach links. »Wir hatten hier letzte Woche einen kleinen Unfall.«

»Sie sind schwer zu finden.«

»Wären Sie so nett?«, fragte sie. »Jetzt bin ich nämlich mit etwas Wichtigem beschäftigt.«

Er wartete geduldig, während sie ihre Messungen beendete, Notizen in ihrem Heft machte, die Testergebnisse vom Vortag noch einmal überprüfte und dann zur Toilette ging.

»Sie sind noch immer da?«, fragte sie, als sie zurückkam. »Haben Sie nichts zu tun?«

»Jede Menge.«

»Sie können Ihre Bechergläser nicht zurückhaben.«

»Dann erinnern Sie sich also doch an mich.«

»Ja. Aber nicht gern.«

»Ich wollte mich entschuldigen.«

»Nicht nötig.«

»Wie wär’s mit Mittagessen?«

»Nein.«

»Abendessen?«

»Nein.«

»Kaffee?«

»Hören Sie«, erwiderte Elizabeth, die großen Handschuhe in die Hüften gestemmt, »ich muss schon sagen, so allmählich gehen Sie mir auf die Nerven.«

Calvin wandte verlegen den Blick ab. »Ich bitte Sie aufrichtig um Entschuldigung«, sagte er. »Ich geh dann mal.«

»War das Calvin Evans?«, fragte ein Labortechniker, als er sah, wie Calvin sich zwischen den fünfzehn Forschern hindurchschlängelte, die Schulter an Schulter in einem Raum arbeiteten, der ein Viertel so groß war wie Calvins Privatlabor. »Was wollte der denn bei uns?«

»Kleiner Konflikt wegen Bechergläsern«, sagte Elizabeth.

»Bechergläser?« Er zögerte. »Moment mal.« Er nahm eines der neuen Bechergläser in die Hand. »Der große Karton Bechergläser, den Sie letzte Woche angeblich gefunden haben. Das war seiner?«

»Ich habe nie behauptet, ich hätte Bechergläser gefunden. Ich habe gesagt, dass ich sie beschafft habe.«

»Von Calvin Evans?«, fragte er. »Sind Sie verrückt?«

»Eigentlich nicht.«

»Hat er Ihnen erlaubt, seine Bechergläser mitzunehmen?«

»Nicht direkt. Aber ich hatte ein Formular.«

»Was für ein Formular? Sie wissen, dass das über mich laufen muss. Sie wissen, dass ich für die Materialbeschaffung zuständig bin.«

»Das ist mir klar. Aber ich habe über drei Monate gewartet. Ich habe Sie viermal darum gebeten. Ich habe fünf Bestellscheine ausgefüllt. Ich habe Dr. Donatti darauf angesprochen. Ganz ehrlich, ich wusste nicht, was ich sonst noch machen sollte. Für meine Forschung bin ich nun mal auf derlei Material angewiesen. Es sind bloß Bechergläser.«

Der Labortechniker schloss die Augen. »Hören Sie«, sagte er und öffnete die Augen langsam wieder, als wollte er ihre Dummheit mimisch darstellen. »Ich bin schon sehr viel länger hier als Sie, und ich kenne mich aus. Sie wissen doch wohl, wofür Calvin Evans bekannt ist, oder? Abgesehen von Chemie?«

»Ja. Für seine üppige Materialausstattung.«

»Nein«, sagte er. »Er ist bekannt dafür, nachtragend zu sein. Nachtragend!«

»Tatsächlich?«, sagte sie interessiert.

Elizabeth Zott war ebenfalls nachtragend. Doch sie war das hauptsächlich in Bezug auf eine patriarchalische Gesellschaft, die auf der Idee fußte, Frauen seien weniger. Weniger fähig. Weniger intelligent. Weniger schöpferisch. Eine Gesellschaft, die es für richtig hielt, dass Männer arbeiten gingen und wichtige Dinge taten – Planeten entdecken, Produkte entwickeln, Gesetze verfassen –, während Frauen zu Hause blieben und Kinder großzogen. Sie wollte keine Kinder – das wusste sie –, aber sie wusste auch, dass viele andere Frauen Kinder haben und berufstätig sein wollten. Und was war daran falsch? Nichts. Es war genau das, was Männer ganz selbstverständlich bekamen.

Sie hatte kürzlich etwas über ein Land gelesen, in dem beide Eltern arbeiteten und gemeinsam die Kinder großzogen. Wo war das noch mal? Schweden? Sie hatte es vergessen. Aber das Fazit lautete, dass es sehr gut funktionierte. Die Produktivität war höher, die familiäre Bindung stärker. Sie konnte sich vorstellen, in einer solchen Gesellschaft zu leben. Wo man sie nicht automatisch für eine Sekretärin hielt, wo sie sich, wenn sie ihre Ergebnisse in einer Besprechung vorstellte, nicht gegen die Männer wappnen musste, die unweigerlich über sie hinwegredeten oder, schlimmer noch, den Erfolg ihrer Arbeit für sich selbst beanspruchten. Wenn es um Gleichberechtigung ging, war 1952 eine echte Enttäuschung.

»Sie müssen sich bei ihm entschuldigen«, verlangte der Labortechniker. »Wenn Sie diese verdammten Bechergläser zurückbringen, kriechen Sie zu Kreuze. Sie haben unser gesamtes Labor aufs Spiel gesetzt und mich in ein schlechtes Licht gerückt.«

»Alles wird gut«, sagte Elizabeth. »Es sind doch bloß Bechergläser.«

Doch am nächsten Morgen waren die Bechergläser weg, und stattdessen erntete sie böse Blicke von ihren Chemiker-Kollegen, die nun ebenfalls glaubten, sie habe den Groll des legendär nachtragenden Calvin Evans auf sie gelenkt. Sie versuchte, mit ihnen zu reden, doch jeder zeigte ihr auf seine eigene Art die kalte Schulter, und später, als sie am Aufenthaltsraum vorbeikam, schnappte sie auf, wie dieselben paar Männer über sie lästerten – sie würde sich selbst so ernst nehmen, sie würde denken, sie wäre besser als die anderen, sie würde mit keinem von ihnen ausgehen wollen, nicht mal mit den unverheirateten Männern. Und sie hätte ihren Master in organischer Chemie an der UCLA garantiert nur auf die harte Tour geschafft, wobei das Wort »hart« von zotigen Gesten und gepresstem Lachen begleitet wurde. Was bildete sie sich überhaupt ein?

»Jemand sollte der mal zeigen, wo’s langgeht«, sagte einer.

»Dabei ist sie nicht mal besonders intelligent«, behauptete ein anderer.

»Sie ist eine Fotze«, erklärte eine vertraute Stimme. Ihr Chef, Donatti.

Elizabeth, an die ersten Bemerkungen gewöhnt, aber von der letzten geschockt, drückte sich gegen die Wand und kämpfte gegen eine plötzliche Übelkeit an. Es war das zweite Mal, dass sie mit diesem Wort bezeichnet wurde. Das erste Mal – das erste schreckliche Mal – war an der UCLA gewesen.

Es war vor fast zwei Jahren passiert. Damals stand sie zehn Tage vor ihrem Masterabschluss und war abends um neun noch im Labor, weil sie sicher war, auf ein Problem im Testprotokoll gestoßen zu sein. Als sie mit ihrem frisch angespitzten HB-Bleistift aufs Papier klopfte und über ihren Verdacht nachdachte, hörte sie die Tür aufgehen.

»Hallo?«, rief sie verwundert.

»Sie sind ja noch da«, sagte eine Stimme ohne jede Überraschung. Ihr akademischer Betreuer.

»Ach. Hallo, Dr. Meyers«, sagte sie und blickte auf. »Ja. Ich gehe nur noch mal die Testprotokolle für morgen durch. Ich glaube, da gibt’s ein Problem.«

Er machte die Tür etwas weiter auf und trat ein. »Darum hatte ich Sie nicht gebeten«, sagte er mit gereizter Stimme. »Ich hab doch gesagt, es ist alles in Ordnung.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Aber ich wollte noch einen letzten Blick draufwerfen.« Die Ein-letzter-Blick-Methode war nichts, was Elizabeth gern machte, aber sie wusste, dass sie es machen musste, um ihren Platz in Meyers’ rein männlichem Forschungsteam zu behalten. Dabei war ihr seine Forschung nicht besonders wichtig. Er machte nur relativ beliebigen Kram, nichts Bahnbrechendes. Aber trotz eines beachtlichen Mangels an Kreativität gepaart mit einem alarmierenden Ausbleiben neuer Entdeckungen galt Meyers als einer der besten DNA-Forscher der Vereinigten Staaten.

Elizabeth mochte Meyers nicht, niemand mochte ihn. Außer vielleicht die UCLA, die ihn liebte, weil der Mann mehr Aufsätze als alle anderen in seinem Fachgebiet veröffentlichte. Meyers’ Geheimnis? Nicht er schrieb die Aufsätze, sondern seine Doktoranden. Aber er strich die Lorbeeren für jedes Wort ein, änderte manchmal bloß den Titel und ein paar Formulierungen hier und da, ehe er das Ganze als völlig anderen Aufsatz ausgab, was er ohne Weiteres machen konnte, denn wer liest schon einen wissenschaftlichen Aufsatz bis zum Ende durch? Keiner. Folglich wuchs die Zahl seiner Aufsätze und mit ihnen sein Ruf. So wurde Meyers zum Top-DNA-Forscher: Quantität.

Meyers hatte nicht nur Talent für überflüssige Aufsätze, sondern war auch bekanntermaßen ein Lüstling. In der naturwissenschaftlichen Fakultät der UCLA gab es nicht viele Frauen, aber die wenigen, die dort arbeiteten – hauptsächlich als Sekretärinnen –, rückten in den Fokus seiner unerwünschten Aufmerksamkeit. Normalerweise warfen sie nach sechs Monaten mit erschüttertem Selbstvertrauen und verquollenen Augen das Handtuch und gaben private Gründe für ihre Kündigung an. Aber Elizabeth warf nicht das Handtuch – sie konnte nicht –, sie brauchte ihren Masterabschluss. Deshalb ließ sie die tagtäglichen Demütigungen, die Berührungen, die zotigen Kommentare, die vulgären Andeutungen über sich ergehen, während sie gleichzeitig deutlich machte, dass sie kein Interesse hatte. Bis zu dem Tag, als er sie in sein Büro rief, angeblich, um mit ihr über die Aufnahme in sein Promotionsprogramm zu reden, aber stattdessen die Hand unter ihren Rock schob. Wütend riss sie sie weg und drohte, sich über ihn zu beschweren.

»Bei wem denn?«, sagte er lachend. Dann warf er ihr vor, sie sei »verklemmt«, schlug ihr auf den Hintern und verlangte, dass sie ihm seinen Mantel aus dem Büroschrank holte, wohl wissend, dass sie auf der Innenseite der Tür Fotos barbusiger Frauen entdecken würde, von denen einige mit ausdruckslosen Gesichtern auf allen vieren hockten, während ein Mann ihnen triumphierend einen Schuh auf den Rücken stellte.

»Sehen Sie«, sagte sie zu Dr. Meyers. »Schritt 91 auf Seite 232. Die Temperatur. Ich bin mir ziemlich sicher, die ist zu hoch, was bedeutet, dass die Enzyme inaktiv werden und die Ergebnisse verzerren.«

Dr. Meyers betrachtete sie von der Tür aus. »Haben Sie das schon jemandem gezeigt?«

»Nein«, sagte sie. »Ist mir gerade erst aufgefallen.«

»Dann haben Sie also nicht mit Philipp gesprochen.« Philipp war Meyers’ wichtigster Forschungsassistent.

»Nein«, sagte sie. »Er ist eben gegangen. Bestimmt kann ich ihn noch einholen, wenn ich …«

»Nicht nötig«, unterbrach er sie. »Ist sonst noch jemand hier?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Das Protokoll ist korrekt«, sagte er barsch. »Sie sind hier nicht die Expertin. Hören Sie auf, meine Autorität infrage zu stellen. Und erwähnen Sie das niemandem gegenüber. Ist das klar?«

»Ich wollte nur helfen, Dr. Meyers.«

Er sah sie an, als würde er den Wahrheitsgehalt ihrer Aussage abschätzen. »Und ich brauche Ihre Hilfe«, sagte er. Dann drehte er sich um und schloss die Tür ab.

Sein erster Schlag war eine wuchtige Ohrfeige, die ihren Kopf nach links schleuderte. Sie schnappte erschrocken nach Luft. Ihr Mund blutete, ihre Augen waren vor Fassungslosigkeit weit aufgerissen, aber sie setzte sich wieder gerade hin. Er verzog das Gesicht, als wäre er unzufrieden mit seinen Ergebnissen, dann schlug er erneut zu, und diesmal fiel sie vom Hocker. Meyers war ein dicker Mann – gut hundertzehn Kilo schwer. Seine Stärke war eine Folge von Körperfülle, nicht von Fitness. Er bückte sich, packte sie an den Hüften, hob sie vom Boden auf wie ein Kran, der eine nachlässig verschnürte Holzladung hochzieht, und knallte sie wieder auf den Hocker wie eine Stoffpuppe. Dann drehte er sie um, trat den Hocker beiseite und rammte ihren Oberkörper mit dem Gesicht voran auf den Arbeitstisch aus Edelstahl. »Halt still, du Fotze«, befahl er, als sie sich wehrte und seine fetten Finger unter ihren Rock griffen.

Elizabeth keuchte, Metallgeschmack erfüllte ihren Mund, während er sie begrapschte, mit einer Hand ihren Rock bis über die Taille hochzerrte, mit der anderen in die Haut innen an ihren Schenkeln kniff. Ihr Gesicht war flach auf den Tisch gedrückt, und sie konnte kaum atmen, geschweige denn schreien. Sie trat wild nach hinten wie ein Tier in der Falle, aber ihr Widerstand machte ihn nur noch wütender.

»Wehr dich nicht«, warnte er, und Schweiß tropfte von seinem Bauch auf ihre Oberschenkel. Aber durch eine Bewegung von ihm bekam sie einen Arm frei. »Halt still«, befahl er zornig, als sie sich hin und her wand, um Luft rang, weil sein wulstiger Torso ihren Körper flach presste wie einen Pfannkuchen. In einem letzten Versuch, ihr zu zeigen, wer hier die Kontrolle hatte, packte er ihr Haar und riss daran. Dann stieß er in sie hinein wie ein Sturzbetrunkener und stöhnte vor Lust, bis das Stöhnen von einem gequälten Schrei abgeschnitten wurde.

»Gottverdammt!«, brüllte Meyers und hob sein Gewicht von ihr. »Großer Gott, verdammt! Was war das?« Er stieß sich von ihr weg, verwirrt von dem Schmerz, der über die rechte Seite seines Körpers ausstrahlte, konnte aber lediglich ein kleines rosa Radiergummi sehen, das aus seiner rechten Leistengegend ragte und von einem kleinen Burggraben aus Blut eingefasst wurde.

Der HB-Bleistift. Elizabeth hatte ihn mit ihrer freien Hand ertastet, umklammert und ihn genau in Meyers’ Seite gestoßen. Nicht bloß ein Stück davon – den ganzen Stift. Seine angespitzte Bleimine, das freundlich gelbe Holz, das glänzende Goldband – die ganzen siebzehn Zentimeter gegen Meyers’ ganze siebzehn Zentimeter. Und damit hatte sie nicht nur seinen Dick- und Dünndarm durchlöchert, sondern auch ihre akademische Karriere.

»Studieren Sie wirklich hier?«, sagte der Officer der Campus-Polizei, nachdem ein Krankenwagen Dr. Meyers abtransportiert hatte. »Dann muss ich Ihren Studentenausweis sehen.«

Elizabeth, Kleidung zerrissen, Hände zittrig, einen anschwellenden dunklen Bluterguss auf der Stirn, sah ihn ungläubig an.

»Die Frage ist berechtigt«, sagte der Officer. »Was macht eine Frau so spätabends noch in einem Labor?«

»Ich … ich mache hier meinen M…Master«, stotterte sie und hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. »In Chemie.«

Der Officer seufzte, als hätte er keine Zeit für so einen Unsinn, dann zückte er einen kleinen Notizblock. »Dann erzählen Sie mir mal, was aus Ihrer Sicht passiert ist.«

Elizabeth schilderte ihm den Ablauf der Ereignisse, mit vom Schock gedämpfter Stimme. Es sah aus, als mache er sich Notizen, aber als er sich umdrehte, um einem anderen Officer zu sagen, er habe »alles im Griff«, fiel ihr auf, dass der Block leer war.

»Bitte. Ich … ich brauche einen Arzt.«

Er klappte den Block zu. »Möchten Sie eine Erklärung des Bedauerns abgeben?« Dann warf er einen Blick auf ihren Rock, als wäre schon allein der Stoff eine offensichtliche Aufforderung. »Sie haben den Mann niedergestochen. Es wäre besser für Sie, wenn Sie etwas Reue zeigen würden.«

Sie sah ihn hohläugig an. »Sie … verstehen das falsch, Officer. Er hat mich angegriffen. Ich … habe mich verteidigt. Ich brauche einen Arzt.«

Der Officer seufzte erneut. »Also keine Erklärung des Bedauerns?«, sagte er und steckte seinen Kuli weg.

Sie starrte ihn mit leicht geöffnetem Mund an, am ganzen Körper zitternd. Sie blickte nach unten auf ihren Oberschenkel, wo sich Meyers’ Handabdruck hellviolett abzeichnete. Sie unterdrückte den Brechreiz.

Als sie wieder aufschaute, sah er auf seine Uhr. Diese kleine Bewegung genügte. Sie streckte den Arm aus und riss ihm ihren Studentenausweis aus den Fingern. »Ja, Officer«, sagte sie, ihre Stimme gespannt wie Stacheldraht. »Jetzt, wo ich drüber nachdenke, bedaure ich doch etwas.«

»Schon besser«, sagte er. »Jetzt kommen wir weiter.« Er griff wieder nach seinem Kuli. »Ich höre.«

»Bleistifte«, sagte sie.

»Bleistifte«, wiederholte er und schrieb es auf.

Sie hob den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen, während Blut von ihrer Schläfe tropfte. »Ich bedaure, nicht noch mehr zu haben.«

Der Angriff oder »unglückliche Vorfall«, wie der Zulassungsausschuss ihn nannte, bevor er ihre Zulassung zum Promotionsprogramm offiziell widerrief, war ihre Schuld gewesen. Dr. Meyers hatte sie bei dem Versuch ertappt, heimlich ein Testprotokoll zu ändern, um die Ergebnisse des Experiments zu verfälschen – den Beweis konnte er prompt vorlegen –, und als er sie deshalb zur Rede stellte, hatte sie sich an ihn rangemacht und ihm Sex angeboten. Als das nicht fruchtete, attackierte sie ihn körperlich, und ehe er wusste, wie ihm geschah, hatte er einen Bleistift im Bauch. Er konnte von Glück sagen, dass er noch lebte.

Praktisch niemand glaubte diese Version. Dr. Meyers war berüchtigt. Aber er war auch wichtig, und die UCLA hatte nicht die Absicht, jemanden von seinem Format zu verlieren. Elizabeth war raus. Sie hatte ihren Master in der Tasche. Ihre Prellungen würden heilen. Jemand würde ihr ein Empfehlungsschreiben ausstellen. Na, dann.

So landete sie am Forschungsinstitut Hastings. Und jetzt stand sie hier, vor dem Hastings-Aufenthaltsraum, den Rücken gegen die Wand gepresst, und ihr war schlecht.

Als sie aufblickte, stand der Labortechniker vor ihr. »Alles klar, Zott?«, fragte er. »Sie sehen irgendwie komisch aus.«

Sie antwortete nicht.

»Ist meine Schuld, Zott«, gab er zu. »Ich hätte nicht so einen Aufstand wegen der Bechergläser machen sollen. Und was die da angeht«, er nickte Richtung Aufenthaltsraum – es war klar, dass er das Gespräch mitgehört hatte –, »das sind eben bloß Männer. Ignorieren Sie die einfach.«

Aber sie konnte sie nicht ignorieren. Schon am nächsten Tag wies ihr Chef, Dr. Donatti – derjenige, der sie als Fotze bezeichnet hatte –, sie einem neuen Projekt zu. »Das ist sehr viel einfacher«, sagte er. »Entspricht eher Ihrem intellektuellen Niveau.«

»Warum, Dr. Donatti?«, fragte sie. »Gab es an meiner Arbeit etwas auszusetzen?« Sie war die treibende Kraft hinter ihrem aktuellen Gruppenforschungsprojekt gewesen, weshalb es ihr zu verdanken war, dass sie jetzt kurz davorstanden, Ergebnisse zu veröffentlichen. Aber Donatti zeigte bloß zur Tür. Am nächsten Tag wurde sie mit einer unbedeutenden Aminosäure-Untersuchung beauftragt.

Der Labortechniker, der ihre wachsende Unzufriedenheit spürte, fragte sie, warum sie überhaupt Wissenschaftlerin werden wollte.

»Ich will keine Wissenschaftlerin werden«, fauchte sie. »Ich bin Wissenschaftlerin.« Und sie würde sich auf keinen Fall von irgendeinem Fettsack an der UCLA oder von ihrem Chef oder von einer Handvoll kleingeistiger Kollegen davon abhalten lassen, ihre Ziele zu erreichen. Sie hatte früher schon harte Zeiten durchgestanden. Sie würde sich auch jetzt nicht unterkriegen lassen.

Aber es kostet Kraft, sich nicht unterkriegen zu lassen. Im Laufe der Monate wurde ihre Standhaftigkeit wieder und wieder auf die Probe gestellt. Das Einzige, das ihr überhaupt noch eine gewisse Erholung verschaffte, war das Theater, und selbst das war manchmal enttäuschend.

Es war an einem Samstagabend, etwa zwei Wochen nach der Bechergläseraffäre. Sie hatte sich eine Karte für die vermeintlich amüsante Operette Der Mikado gekauft und sich sehr darauf gefreut. Doch im Verlauf der Handlung musste sie einsehen, dass sie das Stück überhaupt nicht lustig fand. Die Texte waren rassistisch, die Schauspieler ausnahmslos Weiße, und es war nicht zu verkennen, dass die weibliche Hauptrolle für die Missetaten aller anderen verantwortlich gemacht werden würde. Es erinnerte sie stark an ihre eigene Situation bei der Arbeit. Sie beschloss, sich nicht weiter zu ärgern und in der Pause zu gehen.

Wie es der Zufall wollte, sah sich Calvin Evans dieselbe Vorstellung an, und wenn er in der Lage gewesen wäre, das Bühnengeschehen zu verfolgen, hätte er sich vermutlich Elizabeths Urteil angeschlossen. Aber er verbrachte den Abend erstmals mit einer Sekretärin aus dem Fachbereich Biologie, und er hatte sich den Magen verdorben. Ersteres war ein Irrtum: Die Sekretärin hatte ihn nur deshalb in die Operette eingeladen, weil sie aufgrund seiner Bekanntheit annahm, er sei reich, und er hatte in Reaktion auf ihr penetrantes Parfüm mehrmals geblinzelt, was sie als »furchtbar gern« fehlgedeutet hatte.

Die Übelkeit begann im ersten Akt, doch am Ende des zweiten Aktes hatte sie sich zu einem brodelnden Brechreiz gesteigert. »Tut mir leid«, flüsterte er, »aber ich fühle mich nicht gut. Ich gehe.«

»Was soll das heißen?«, fragte sie argwöhnisch. »Ich finde, Sie sehen ganz gesund aus.«

»Mir ist furchtbar schlecht«, murmelte er.

»Tja, wie Sie meinen, aber ich habe das Kleid extra für heute Abend gekauft«, sagte sie, »und ich gehe erst, wenn ich es die vollen vier Stunden getragen habe.«

Calvin hielt etwas Taxigeld vage in die Richtung ihres verblüfften Gesichts, dann hastete er hinaus ins Foyer, eine Hand auf den Bauch gedrückt, während er schnurstracks zu den Toiletten strebte und versuchte, jede Erschütterung seines verkrampften Magens zu vermeiden.

Wie es der Zufall außerdem wollte, hatte Elizabeth das Foyer im selben Moment erreicht, und wie Calvin war auch sie auf dem Weg zu den Toiletten. Aber als sie die lange Warteschlange sah, drehte sie sich frustriert um und prallte dabei ungebremst mit Calvin zusammen, der sich prompt auf sie erbrach.

»O Gott«, sagte er und würgte noch einmal, »ogottogott.«

Elizabeth war im ersten Moment sprachlos, nahm sich dann aber zusammen und legte, ohne auf die von ihm angerichtete Sauerei auf ihrem Kleid zu achten, eine tröstende Hand auf seinen vorgebeugten Torso. »Der Mann hier ist krank«, rief sie der Warteschlange vor den Toiletten zu. »Würde jemand bitte einen Arzt rufen?«

Aber niemand tat es. Als Reaktion auf den Gestank und das Geräusch heftigen Erbrechens suchten sämtliche Theatertoilettengänger schleunigst das Weite.

»O Gott«, sagte Calvin immer wieder und hielt sich den Bauch, »ogottogott.«

»Ich besorg Ihnen ein paar Papierhandtücher«, sagte Elizabeth sanft. »Und ein Taxi.« Und dann schaute sie sich sein Gesicht genauer an und fragte: »Sagen Sie, kennen wir uns?«

Zwanzig Minuten später half sie ihm in sein Haus. »Ich denke, die Aerosoldispersion von Diphenylaminarsin können wir ausschließen«, sagte sie, »da sonst niemand betroffen war.«

»Chemische Kampfstoffe?«, keuchte er, beide Hände auf dem Bauch. »Das will ich doch hoffen.«

»Wahrscheinlich haben Sie bloß irgendwas Schlechtes gegessen«, sagte sie. »Lebensmittelvergiftung.«

»Ah«, stöhnte er. »Das ist mir furchtbar peinlich. Es tut mir wirklich leid. Ihr Kleid. Ich bezahl natürlich die Reinigung.«

»Ist nicht schlimm«, sagte sie. »Sind nur Spritzer.« Sie half ihm zum Sofa, auf das er sich kraftlos fallen ließ.

»Ich … ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal übergeben hab. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit.«

»So was kann passieren.«

»Ich war auf einer Verabredung«, sagte er. »Können Sie sich das vorstellen? Ich hab sie einfach da sitzen lassen.«

»Nein«, sagte sie und versuchte sich zu erinnern, wann sie überhaupt das letzte Mal eine Verabredung gehabt hatte.

Sie schwiegen einen Moment, dann schloss er die Augen. Sie fasste das als Signal auf zu gehen.

»Noch mal, tut mir furchtbar leid«, flüsterte er, als er hörte, dass sie zur Tür ging.

»Bitte. Sie müssen sich nicht entschuldigen. Es war eine Reaktion, eine chemische Unverträglichkeit. Wir sind Wissenschaftler. Wir verstehen so etwas.«

»Nein, nein«, sagte er schwach, versuchte, sich klarer auszudrücken. »Ich meine, dass ich neulich einfach angenommen habe, Sie wären eine Sekretärin … dass ich gesagt habe, Ihr Chef soll mich anrufen«, murmelte er. »Das tut mir ehrlich leid.«

Darauf hatte sie keine Antwort.

»Wir sind einander nie richtig vorgestellt worden«, sagte er. »Ich bin Calvin Evans.«

»Elizabeth Zott«, sagte sie, während sie ihre Sachen zusammensuchte.

»Nun, Elizabeth Zott«, sagte er und brachte ein kleines Lächeln zustande, »Sie sind meine Rettung.«

Aber es war klar, dass sie das nicht mehr mitbekommen hatte.

»Meine DNA-Forschung hat sich auf Polyphosphorsäuren als Kondensationsmittel konzentriert«, erklärte sie Calvin einige Tage später bei einer Tasse Kaffee in der Cafeteria. »Und bis vor Kurzem lief es gut. Seit letztem Monat bin ich einer Aminosäure-Untersuchung zugeteilt.«

»Aber wieso?«

»Donatti … Sie arbeiten doch auch für ihn, oder? Jedenfalls, er meinte, meine Arbeit wäre überflüssig.«

»Aber Kondensationsmittelforschung ist entscheidend für das weitere Verständnis der DNA …«

»Ja, ich weiß, ich weiß«, bestätigte sie. »Ich hatte vor, das für meine Promotion weiterzuverfolgen. Aber mein eigentliches Interesse ist Abiogenese.«

»Abiogenese? Die Theorie, dass Leben aus einfachen anorganischen Formen entstanden ist? Faszinierend. Aber Sie sind nicht promoviert.«

»Nein.«

»Abiogenese ist aber ein Forschungsgebiet für Promovierte.«

»Ich habe meinen Master in Chemie gemacht. An der UCLA.«

»Die akademische Welt«, er nickte verständnisvoll. »Die wurde langweilig. Sie wollten raus.«

»Nicht direkt.«

Es folgte ein langer Moment unbehaglichen Schweigens.

»Wissen Sie«, begann sie erneut und holte tief Luft, »meine Hypothese zu Polyphosphorsäuren lautet folgendermaßen.«

Ehe sie sich’s versah, hatte sie über eine Stunde auf ihn eingeredet, und Calvin hatte genickt und sich Notizen gemacht und gelegentlich detaillierte Fragen gestellt, die sie mühelos beantwortete.

»Ich wäre schon weiter«, sagte sie, »aber wie gesagt, ich wurde anderweitig eingesetzt. Und davor war es nahezu unmöglich, die einfachsten Materialien zu bekommen, um meine eigentliche Arbeit fortzusetzen.« Deshalb, so erklärte sie, war sie gezwungen gewesen, Ausrüstung und Material aus anderen Labors zu entwenden.

»Aber wieso war es so schwer, an Materialien zu kommen?«, fragte Calvin. »Das Hastings hat jede Menge Geld.«

Elizabeth sah ihn an, als hätte er sie gerade gefragt, wie es denn möglich sei, dass in China Kinder hungerten, wo es da doch so viele Reisfelder gab. »Sexuelle Diskriminierung«, antwortete sie, nahm den HB-Bleistift, den sie immer entweder hinterm Ohr oder im Haar trug, und klopfte damit resolut auf den Tisch. »Aber auch Politik, Vetternwirtschaft, Benachteiligung und allgemeine Ungerechtigkeit.«

Er kaute auf seinen Lippen.

»Aber hauptsächlich sexuelle Diskriminierung«, sagte sie.

»Was ist sexuelle Diskriminierung?«, fragte er arglos. »Wieso sollten wir keine Frauen in der Wissenschaft haben wollen? Das ergibt keinen Sinn. Wir brauchen alle wissenschaftlichen Köpfe, die wir kriegen können.«

Elizabeth sah ihn verwundert an. Sie hatte Calvin für intelligent gehalten, erkannte aber jetzt, dass er vielleicht zu den Menschen gehörte, die nur in einem speziellen Gebiet intelligent sind. Sie musterte ihn genauer, als überlegte sie, wie sie vorgehen sollte, um zu ihm durchzudringen. Sie nahm ihr Haar in beide Hände und drehte es zweimal, bevor sie es mit ihrem Bleistift in einem Knoten auf dem Kopf feststeckte. »Als Sie in Cambridge waren«, sagte sie vorsichtig und legte die Hände wieder auf den Tisch, »wie viele Wissenschaftlerinnen kannten Sie da?«

»Keine. Aber an meinem College waren nur Männer zugelassen.«

»Aha, verstehe«, sagte sie. »Aber anderswo haben Frauen doch bestimmt dieselben Möglichkeiten wie Männer, oder? Also wie viele Wissenschaftlerinnen kennen Sie? Und sagen Sie jetzt nicht Madame Curie.«

Er erwiderte ihren Blick, witterte Ärger.

»Calvin, das Problem ist«, sagte sie mit Nachdruck, »dass die Hälfte der Bevölkerung missachtet wird. Es geht nicht nur darum, dass ich nicht die nötigen Materialien bekomme, um meine Arbeit zu machen, es geht darum, dass Frauen nicht die nötige Ausbildung bekommen, um das zu tun, was sie tun sollten. Und wenn sie doch studieren, dann niemals an einer berühmten Uni wie Cambridge. Was wiederum bedeutet, dass man ihnen weder dieselben Möglichkeiten bieten noch denselben Respekt entgegenbringen wird. Sie fangen ganz unten an und bleiben auch da. Von der Bezahlung will ich gar nicht erst reden. Und das alles, weil sie nicht auf eine Universität gegangen sind, die sie erst gar nicht aufgenommen hätte.«

»Sie meinen also«, sagt er langsam, »dass mehr Frauen tatsächlich in der Forschung arbeiten wollen.«

Ihre Augen wurden groß. »Natürlich wollen wir das. In der Forschung, der Medizin, der Wirtschaft, der Musik und der Mathematik. Überall.« Und dann stockte sie kurz, denn in Wahrheit hatte sie nur eine Handvoll Frauen kennengelernt, die in der Wissenschaft oder irgendeinem anderen Bereich arbeiten wollten. Die meisten Kommilitoninnen auf dem College behaupteten, sie wären nur da, um angemessen unter die Haube zu kommen. Es war befremdlich, als hätten sie alle etwas genommen, das sie vorübergehend unzurechnungsfähig gemacht hatte.

»Doch stattdessen«, fuhr sie fort, »sind Frauen zu Hause, machen Babys und reinigen Teppiche. Das ist legale Sklaverei. Selbst diejenigen, die tatsächlich Hausfrauen sein wollen, müssen erleben, dass ihre Arbeit völlig unterschätzt wird. Männer denken offenbar, die wichtigste Entscheidung des Tages, die eine Mutter von fünf Kindern zu treffen hat, ist die, in welcher Farbe sie sich die Nägel lackieren soll.«

Calvin stellte sich fünf Kinder vor und schauderte.

»Zu Ihrer Arbeit«, sagte er, um die Schlacht möglichst in eine andere Richtung zu lenken. »Ich glaube, ich kann das in Ordnung bringen.«

»Sie müssen nichts in Ordnung bringen«, entgegnete sie. »Ich bin durchaus in der Lage, meine Situation selbst in Ordnung zu bringen.«

»Nein, das sind Sie nicht.«

»Wie bitte?«

»Sie können sie nicht in Ordnung bringen, weil die Welt so nicht funktioniert. Das Leben ist nicht fair.«

Das machte sie wütend – dass er die Dreistigkeit besaß, ihr etwas von Unfairness zu erzählen. Er hatte doch keine Ahnung. Sie wollte etwas erwidern, aber er kam ihr zuvor.

»Hören Sie«, sagte er, »das Leben war noch nie fair, aber Sie verhalten sich noch immer so, als wäre es das, als müssten Sie nur ein paar Ungerechtigkeiten beseitigen, und der Rest würde sich dann von selbst ergeben. Falsch gedacht. Wollen Sie einen Rat von mir?« Und ehe sie Nein sagen konnte, schob er nach: »Lassen Sie sich nicht auf das System ein. Überlisten Sie es.«

Sie schwieg, ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Auf eine ärgerliche und furchtbar unfaire Weise ergaben sie Sinn.

»Und ein glücklicher Zufall will es, dass ich mich das ganze letzte Jahr damit beschäftigt habe, Polyphosphorsäuren neu zu durchdenken, und einfach nicht weiterkomme. Ihre Forschung könnte das ändern. Wenn ich Donatti sage, dass ich mit Ihren Ergebnissen arbeiten muss, setzt er Sie morgen wieder darauf an. Und selbst wenn ich Ihre Arbeit nicht bräuchte – was ich aber tue –, bin ich Ihnen was schuldig. Erstens für die Sekretärin-Bemerkung und zweitens für das Erbrechen.«

Elizabeth schwieg weiter. Wider besseres Wissen merkte sie, dass sie sich für die Idee erwärmte. Sie wollte das nicht: Sie lehnte die Vorstellung ab, dass Systeme überlistet werden mussten. Warum konnten sie nicht von vornherein intelligent sein? Und Gefälligkeiten mochte sie schon gar nicht. Gefälligkeiten hatten so einen Beigeschmack von Betrügerei. Aber sie hatte nun mal Ziele, und verdammt, wieso sollte sie den anderen bloß zuschauen? Zuschauen brachte niemanden weiter.

»Hören Sie«, sagte sie spitz, während sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. »Ich hoffe, Sie denken nicht, dass ich Ihnen irgendwas unterstelle, aber ich habe in der Vergangenheit Schwierigkeiten gehabt und möchte eines klarstellen: Ich werde nicht mit Ihnen ausgehen. Es geht um die Arbeit, ausschließlich. Ich bin nicht an einer wie auch immer gearteten Beziehung interessiert.«

»Ich auch nicht«, beteuerte er. »Es geht um die Arbeit. Nichts anderes.«

»Nichts anderes.«

Und dann nahmen sie ihre Tassen und Unterteller und spazierten in entgegengesetzte Richtungen davon, und beide hofften inständig, dass der andere es nicht so gemeint hatte.

Kapitel 4

Einführung in die Chemie

Etwa drei Wochen später gingen Calvin und Elizabeth laut debattierend hinaus auf den Parkplatz.

»Ihre Idee ist völlig unsinnig«, sagte sie. »Sie übersehen den grundlegenden Charakter der Proteinsynthese.«

»Ganz im Gegenteil«, sagte er und dachte, dass noch niemand eine seiner Ideen je als unsinnig bezeichnet hatte und es ihm jetzt, da das jemand getan hatte, nicht besonders gefiel. »Sie dagegen ignorieren komplett die Molekularstruk…«

»Ich ignoriere keineswegs …«

»Sie vergessen, die zwei kovalenten …«

»Es sind drei kovalente Bindungen …«

»Ja, aber nur, wenn …«

»Hören Sie«, unterbrach sie ihn jäh, als sie vor ihrem Wagen stehen blieben. »Das ist ein Problem.«

»Was ist ein Problem?«

»Sie«, sagte sie nachdrücklich und deutete mit beiden Händen auf ihn. »Sie sind das Problem.«

»Weil wir verschiedener Meinung sind?«

»Das ist nicht das Problem«, sagte sie.

»Was denn dann?«

»Das Problem ist …« Sie winkte vage ab, blickte dann in die Ferne.

Calvin seufzte und legte eine Hand auf das Dach ihres alten blauen Plymouth, machte sich auf die unvermeidliche Zurückweisung gefasst.

In den vergangenen Wochen hatten er und Elizabeth sich sechsmal getroffen – zweimal zum Lunch und viermal zum Kaffee –, und jedes Mal war es zugleich der Höhepunkt und der Tiefpunkt seines Tages gewesen. Der Höhepunkt, weil sie die intelligenteste, verständnisvollste, faszinierendste und, ja, die beängstigend attraktivste Frau war, die er in seinem Leben kennengelernt hatte. Der Tiefpunkt: Sie hatte es anscheinend immer eilig, wieder zu gehen. Und sobald sie gegangen war, fühlte er sich den Rest des Tages deprimiert und niedergeschlagen.

»Die neusten Forschungsergebnisse zu Seidenspinnern«, sagte sie jetzt. »In der letzten Ausgabe des Science Journal. Das meine ich mit kompliziert.«

Er nickte, als verstünde er, was sie meinte, aber er verstand sie nicht, und nicht bloß das mit den Seidenraupen. Bei jedem ihrer Treffen hatte er sich alle Mühe gegeben, ihr zu zeigen, dass er absolut kein Interesse an ihr hatte, das über den beruflichen Aspekt hinausging. Er hatte nicht angeboten, ihren Kaffee zu bezahlen, er hatte nicht vorgeschlagen, ihr Lunchtablett zu tragen, er hatte keine Tür für sie aufgehalten – selbst dann nicht, als sie die Arme so voller Bücher hatte, dass er nicht mal ihren Kopf sehen konnte. Er war auch nicht ohnmächtig geworden, als sie von der Kaffeemaschine zurücktrat und versehentlich mit ihm zusammenstieß und er den Duft ihres Haars roch. Er wusste nicht mal, dass Haar so riechen konnte – als wäre es in einer Schüssel voller Blumen gewaschen worden. Würde sie ihm wirklich keine Anerkennung für sein Arbeit-und-sonst-nichts-Benehmen geben? Das alles machte ihn schier wahnsinnig.

»Das mit dem Bombykol«, sagte sie. »Bei Seidenspinnern.«

»Klar«, antwortete er matt und dachte, wie dumm er doch bei ihrer ersten Begegnung gewesen war. Hatte sie als Sekretärin bezeichnet. Sie aus seinem Labor geworfen. Und später dann? Er hatte sie vollgekotzt. Sie sagte, das spiele keine Rolle, aber hatte sie das gelbe Kleid je wieder getragen? Nein. Ihm schien offensichtlich, dass sie zwar behauptete, nicht nachtragend zu sein, es aber trotzdem war. Als Meister im Nachtragen wusste er, wie das ging.

»Das ist ein chemischer Botenstoff«, sagte sie. »Bei weiblichen Seidenspinnern.«

»Insekten«, sagte er sarkastisch. »Toll.«

Überrascht von seiner Schnodderigkeit trat sie einen Schritt zurück. »Sie sind nicht interessiert«, sagte sie, und ihre Ohrspitzen liefen rot an.

»Überhaupt nicht.«

Elizabeth holte kurz Luft und begann, in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln zu kramen.

Was für eine Riesenenttäuschung. Da hatte sie endlich jemanden kennengelernt, mit dem sie tatsächlich reden konnte – jemanden, den sie intelligent fand, verständnisvoll, faszinierend (und beängstigend attraktiv, wenn er lächelte), und er hatte kein Interesse an ihr. Null. In den letzten Wochen hatten sie sich sechsmal getroffen, und immer war sie rein sachlich geblieben und er auch – obwohl er dabei schon fast unhöflich wirkte. Der Tag, an dem sie die Tür nicht sehen konnte, weil sie die Arme voller Bücher hatte? Er hatte sich nicht dazu herabgelassen, ihr zu helfen. Und dennoch empfand sie immer, wenn sie zusammen waren, den nahezu unwiderstehlichen Drang, ihn zu küssen. Was extrem untypisch für sie war. Und dennoch fühlte sie sich nach jeder Begegnung – die sie beendete, sobald sie konnte, weil sie Angst hatte, dass sie ihn tatsächlich küssen würde – den Rest des Tages deprimiert und niedergeschlagen.

»Ich muss los«, sagte sie.

»Wie üblich«, erwiderte er zynisch. Aber beide rührten sich nicht, sondern blickten nur in entgegengesetzte Richtungen, als hielten sie Ausschau nach der Person, die sie eigentlich auf dem Parkplatz hatten treffen wollen, obwohl es fast sieben Uhr an einem Freitagabend war und nur noch zwei Autos auf dem Südparkplatz standen: ihres und seines.

»Große Pläne fürs Wochenende?«, fragte er schließlich vorsichtig.

»Ja«, log sie.

»Viel Spaß«, erwiderte er knapp. Dann drehte er sich um und ging.

Sie sah ihm einen Moment nach, stieg dann in ihr Auto und schloss die Augen. Calvin war nicht dumm. Er las das Science Journal. Er musste verstanden haben, was sie meinte, als sie Bombykol erwähnte, das Pheromon, das Seidenspinnerweibchen absondern, um Männchen anzulocken. Insekten, hatte er beinahe gemein gesagt. Was für ein Idiot. Und wie blöd war sie selbst gewesen – das Thema Liebe auf einem Parkplatz so aufdringlich anzusprechen, nur um zurückgewiesen zu werden.

Sie sind nicht interessiert, hatte sie gesagt.

Überhaupt nicht, hatte er erwidert.

Sie öffnete die Augen und rammte den Schlüssel ins Zündschloss. Wahrscheinlich hatte er ohnehin vermutet, sie wollte nur noch mehr Laborzubehör abstauben. Denn im Kopf eines Mannes gab es ja wohl keine andere Erklärung dafür, warum eine Frau an einem Freitagabend auf einem leeren Parkplatz Bombykol erwähnen sollte, wenn ein leichter Wind aus Westen den Duft ihres extrem teuren Shampoos direkt in seine Nasenhöhle trug, außer, das alles diente nur dazu, noch mehr Bechergläser zu bekommen. Sie konnte sich keinen anderen Grund denken. Außer den wahren. Sie war dabei, sich in ihn zu verlieben.

Just in dem Moment hörte sie links von sich ein lautes Klopfen. Als sie aufblickte, sah sie Calvin, der ihr signalisierte, das Seitenfenster herunterzukurbeln.

»Mir geht’s nicht um Ihre blöden Laborgeräte!«, fauchte sie, als sie die Scheibe herabließ, die sie beide trennte.

»Und ich bin nicht das Problem«, zischte er. Er bückte sich, um ihr auf Augenhöhe ins Gesicht zu sehen.

Elizabeth starrte ihn an, wutschnaubend. Was bildete er sich ein?

Calvin starrte sie an. Was bildete sie sich ein?

Und dann überkam sie wieder dieses Gefühl, das sie jedes Mal hatte, wenn sie mit ihm zusammen war, aber diesmal handelte sie danach, hob beide Hände, um sein Gesicht an ihres zu ziehen, und ihr erster Kuss zementierte eine dauerhafte Verbindung, die nicht mal die Chemie erklären konnte.

Kapitel 5

Familienwerte

Ihre Laborkollegen gingen selbstverständlich davon aus, dass Elizabeth nur aus einem einzigen Grund mit Calvin Evans zusammen war: sein Ruhm. Mit Calvin in der Tasche war sie unantastbar. Doch der Grund war sehr viel einfacher: »Weil ich ihn liebe«, hätte sie gesagt, wäre sie von jemandem gefragt worden. Aber es fragte niemand.

Für ihn galt dasselbe. Wäre er gefragt worden, hätte Calvin gesagt, dass Elizabeth Zott für ihn das Kostbarste auf der Welt war, und zwar nicht, weil sie hübsch war, und nicht, weil sie klug war, sondern weil sie ihn und er sie mit einer besonderen Ausschließlichkeit liebte, einer besonderen Überzeugung und Treue, was ihre Hingabe zueinander vertiefte. Sie waren mehr als Freunde, mehr als Vertraute, mehr als Verbündete und mehr als Liebhaber. Wenn Beziehungen ein Puzzle sind, dann war ihres von Anfang an vollständig – als hätte jemand den Karton ausgeschüttet und zugeschaut, wie die einzelnen Teilchen genau dort landeten, wo sie hingehörten, sich nahtlos zu einem Bild ineinanderfügten, das absolut Sinn ergab. Sie machten andere Paare regelrecht krank.