Eine Geschichte, dem Dunkel erzählt - Rainer Maria Rilke - E-Book

Eine Geschichte, dem Dunkel erzählt E-Book

Rainer Maria Rilke

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Beschreibung

Die Prosawerke von Rainer Maria Rilke (1875-1926) sind – gleich seinen dramatischen Arbeiten – weniger bekannt, dafür jedoch ebenso zahlreich wie vielseitig. Sich mit ihnen zu befassen stößt die Tür zur Vertiefung in sein Schaffen auf. In den hier vorgestellten Texten geht es um Historisches, Schulisches, Russisches und um die Künstlerkolonie Worpswede, wo Rilke die Nachfolgerin von Lou Andreas-Salomé kennenlernte. Man spürt in diesen Erzählungen deutlich die Beobachtungs- und Beschreibungsgabe des genialen Lyrikers und Überwinders der romantischen Tradition. Ergänzt werden sie durch eine Auswahl der schönsten seiner Neuen Gedichte, die während seiner Zeit als Sekretär von Auguste Rodin in Paris entstanden sind.

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Seitenzahl: 107

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…Nam qui dabat olim imperium, fasces, legiones, omnia, nunc se continet atque duas tantum res anxius optat: panem et circenses.

– Juvenal, Satura X, Versus 78-81

Rainer Maria Rilke –

Eine Geschichte, dem Dunkel erzählt

EINE GESCHICHTE, DEM DUNKEL ERZÄHLT

Rainer Maria Rilke

Prosa und Lyrik

ausgewählt und herausgegeben von

Max Haberich

www.brotundspieleverlag.net

ISBN: 978-3-903406-24-7

© 2023 Brot und Spiele Verlag e.U., Wien

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Max Haberich

Inhaltsverzeichnis

Prosa

Die Turnstunde

Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke

Geschichten vom lieben Gott

Wie der Verrat nach Rußland kam

Eine Geschichte, dem Dunkel erzählt

Einleitung zu Worpswede

Neue Gedichte

Der neuen Gedichte anderer Teil

Editorische Notiz

Gedichtverzeichnis

Die Turnstunde

In der Militärschule zu Sankt Severin. Turnsaal. Der Jahrgang steht in den hellen Zwillichblusen, in zwei Reihen geordnet, unter den großen Gaskronen. Der Turnlehrer, ein junger Offizier mit hartem braunen Gesicht und höhnischen Augen, hat Freiübungen kommandiert und verteilt nun die Riegen. „Erste Riege Reck, zweite Riege Barren, dritte Riege Bock, vierte Riege Klettern! Abtreten!“ Und rasch, auf den leichten, mit Kolophonium isolierten Schuhen, zerstreuen sich die Knaben. Einige bleiben mitten im Saale stehen, zögernd, gleichsam unwillig. Es ist die vierte Riege, die schlechten Turner, die keine Freude haben an der Bewegung bei den Geräten und schon müde sind von den zwanzig Kniebeugen und ein wenig verwirrt und atemlos.

Nur Einer, der sonst der Allerletzte blieb bei solchen Anlässen, Karl Gruber, steht schon an den Kletterstangen, die in einer etwas dämmerigen Ecke des Saales, hart vor den Nischen, in denen die abgelegten Uniformröcke hängen, angebracht sind. Er hat die nächste Stange erfaßt und zieht sie mit ungewöhnlicher Kraft nach vorn, so daß sie frei an dem zur Übung geeigneten Platze schwankt. Gruber läßt nicht einmal die Hände von ihr, er springt auf und bleibt, ziemlich hoch, die Beine ganz unwillkürlich im Kletterschluß verschränkt, den er sonst niemals begreifen konnte, an der Stange hängen. So erwartet er die Riege und betrachtet – wie es scheint – mit besonderem Vergnügen den erstaunten Ärger des kleinen polnischen Unteroffiziers, der ihm zuruft, abzuspringen, Aber Gruber ist diesmal sogar ungehorsam und Jastersky, der blonde Unteroffizier, schreit endlich: „Also, entweder Sie kommen herunter oder Sie klettern hinauf, Gruber! Sonst melde ich dem Herrn Oberleutnant ...“ Und da beginnt Gruber, zu klettern, erst heftig mit Überstürzung, die Beine wenig aufziehend und die Blicke aufwärts gerichtet, mit einer gewissen Angst das unermeßliche Stück Stange abschätzend, das noch bevorsteht. Dann verlangsamt sich seine Bewegung; und als ob er jeden Griff genösse, wie etwas Neues, Angenehmes, zieht er sich höher, als man gewöhnlich zu klettern pflegt. Er beachtet nicht die Aufregung des ohnehin gereizten Unteroffiziers, klettert und klettert, die Blicke immerfort aufwärts gerichtet, als hätte er einen Ausweg in der Decke des Saales entdeckt und strebte danach, ihn zu erreichen. Die ganze Riege folgt ihm mit den Augen. Und auch aus den anderen Riegen richtet man schon da und dort die Aufmerksamkeit auf den Kletterer, der sonst kaum das erste Drittel der Stange keuchend, mit rotem Gesicht und bösen Augen erklomm. „Bravo, Gruber!“ ruft jemand aus der ersten Riege herüber. Da wenden viele ihre Blicke aufwärts, und es wird eine Weile still im Saal, – aber gerade in diesem Augenblick, da alle Blicke au der Gestalt Grubers hängen, macht er hoch oben unter der Decke eine Bewegung, als wollte er sie abschütteln; und da ihm das offenbar nicht gelingt, bindet er alle diese Blicke oben an den nackten eisernen Haken und saust die glatte Stange herunter, so daß alle immer noch hinaufsehen, als er schon längst, schwindelnd und heiß, unten steht und mit seltsam glanzlosen Augen in seine glühenden Handflächen schaut. Da fragt ihn der eine oder der andere der ihm zunächst stehenden Kameraden, was denn heute in ihn gefahren sei. „Willst wohl in die erste Riege kommen?“ Gruber lacht und scheint etwas antworten zu wollen, aber er überlegt es sich und senkt schnell die Augen. Und dann, als das Geräusch und Getöse wieder seinen Fortgang hat, zieht er sich leise in die Nische zurück, setzt sich nieder, schaut ängstlich um sich und holt Atem, zweimal rasch, und lacht wieder und will was sagen ... aber schon achtet niemand mehr seiner. Nur Jerome, der auch in der vierten Riege ist, sieht, daß er wieder seine Hände betrachtet, ganz darüber gebückt wie einer, der bei wenig Licht einen Brief entziffern will. Und er tritt nach einer Weile zu ihm hin und fragt: „Hast du dir weh getan?“ Gruber erschrickt. „Was?“ macht er mit seiner gewöhnlichen, in Speichel watenden Stimme. „Zeig mal!“ Jerome nimmt die eine Hand Grubers und neigt sie gegen das Licht. Sie ist am Ballen ein wenig abgeschürft. „Weißt du, ich habe etwas dafür,“ sagt Jerome, der immer Englisches Pflaster von zu Hause geschickt bekommt, „komm dann nachher zu mir.“ Aber es ist, als hätte Gruber nicht gehört; er schaut geradeaus in den Saal hinein, aber so, als sähe er etwas Unbestimmtes, vielleicht nicht im Saal, draußen vielleicht, vor den Fenstern, obwohl es dunkel ist, spät und Herbst.

In diesem Augenblick schreit der Unteroffizier in seiner hochfahrenden Art: „Gruber!“ Gruber bleibt unverändert, nur seine Füße, die vor ihm ausgestreckt sind, gleiten, steif und ungeschickt, ein wenig auf dem glatten Parkett vorwärts. „Gruber!“ brüllt der Unteroffizier und die Stimme schlägt ihm über. Dann wartet er eine Weile und sagt rasch und heiser, ohne den Gerufenen anzusehen: „Sie melden sich nach der Stunde. Ich werde Ihnen schon ...“ Und die Stunde geht weiter. „Gruber,“ sagt Jerome und neigt sich zu dem Kameraden, der sich immer tiefer in die Nische zurücklehnt, „es war schon wieder an dir, zu klettern, auf dem Strick, geh mal, versuch’s, sonst macht dir der Jastersky irgend eine Geschichte, weißt du ...“ Gruber nickt. Aber statt aufzustehen, schließt er plötzlich die Augen und gleitet unter den Worten Jeromes durch, als ob eine Welle ihn trüge, fort, gleitet langsam und lautlos tiefer, tiefer, gleitet vom Sitz, und Jerome weiß erst, was geschieht, als er hört, wie der Kopf Grubers hart an das Holz des Sitzes prallt und dann vornüberfällt ... „Gruber!“ ruft er heiser. Erst merkt es niemand. Und Jerome steht ratlos mit hängenden Händen und ruft: „Gruber, Gruber!“ Es fällt ihm nicht ein, den anderen aufzurichten. Da erhält er einen Stoß, jemand sagt ihm: „Schaf“, ein anderer schiebt ihn fort, und er sieht, wie sie den Reglosen aufheben. Sie tragen ihn vorbei, irgend wohin, wahrscheinlich in die Kammer nebenan. Der Oberleutnant springt herzu. Er gibt mit harter, lauter Stimme sehr kurze Befehle. Sein Kommando schneidet das Summen der vielen schwatzenden Knaben scharf ab. Stille. Man sieht nur da und dort noch Bewegungen, ein Ausschwingen am Gerät, einen leisen Absprung, ein verspätetes Lachen von einem, der nicht weiß, um was es sich handelt. Dann hastige Fragen: „Was? Was? Wer? Der Gruber? Wo?“ Und immer mehr Fragen. Dann sagt jemand laut: „Ohnmächtig.“ Und der Zugführer Jastersky läuft mit rotem Kopf hinter dem Oberleutnant her und schreit mit seiner. boshaften Stimme, zitternd vor Wut-. „Ein Simulant, Herr Oberleutnant, ein Simulant!“ Der Oberleutnant beachtet ihn gar nicht. Er sieht geradeaus, nagt an seinem Schnurrbart, wodurch das harte Kinn noch eckiger und energischer vortritt, und gibt von Zeit zu Zeit eine knappe Weisung. Vier Zöglinge, die Gruber tragen, und der Oberleutnant verschwinden in der Kammer. Gleich darauf kommen die vier Zöglinge zurück. Ein Diener läuft durch den Saal. Die vier werden groß angeschaut und mit Fragen bedrängt: „Wie sieht er aus? Was ist mit ihm? Ist er schon zu sich gekommen?“ Keiner von ihnen weiß eigentlich was. Und da ruft auch schon der Oberleutnant herein, das Turnen möge weitergehen, und übergibt dem Feldwebel Goldstein das Kommando. Also wird wieder geturnt, beim Barren, beim Reck, und die kleinen dicken Leute der dritten Riege kriechen mit weitgekrätschten Beinen über den hohen Bock. Aber doch sind alle Bewegungen anders als vorher; als hätte ein Horchen sich über sie gelegt. Die Schwingungen am Reck brechen so plötzlich ab und am Barren werden nur lauter kleine Übungen gemacht. Die Stimmen sind weniger verworren und ihre Summe summt feiner, als ob alle immer nur ein Wort sagten: „Ess, Ess, Ess ...“ Der kleine schlaue Krix horcht inzwischen an der Kammertür. Der Unteroffizier der zweiten Riege jagt ihn davon, indem er zu einem Schlage auf seinen Hintern ausholt. Krix springt zurück, katzenhaft, mit hinterlistig blitzenden Augen. Er weiß schon genug. Und nach einer Weile, als ihn niemand betrachtet, gibt er dem Pawlowitsch weiter: „Der Regimentsarzt ist gekommen.“ Nun, man kennt ja den Pawlowitsch; mit seiner ganzen Frechheit geht er, als hätte ihm irgendwer einen Befehl gegeben, quer durch den Saal von Riege zu Riege und sagt ziemlich laut: „Der Regimentsarzt ist drin. „Und es scheint, auch die Unteroffiziere interessieren sich für diese Nachricht. Immer häufiger wenden sich die Blicke nach der Tür, immer langsamer werden die Übungen; und ein Kleiner mit schwarzen Augen ist oben auf dem Bock hocken geblieben und starrt mit offenem Mund nach der Kammer. Etwas Lähmendes scheint in der Luft zu liegen. Die Stärksten bei der ersten Riege machen zwar noch einige Anstrengungen, gehen dagegen an, kreisen mit den Beinen; und Pombert, der kräftige Tiroler, biegt seinen Arm und betrachtet seine Muskeln, die sich durch den Zwillich hindurch breit und straff ausprägen. Ja, der kleine, gelenkige Baum schlägt sogar noch einige Armwellen, und plötzlich ist diese heftige Bewegung die einzige im ganzen Saal, ein großer flimmernder Kreis, der etwas Unheimliches hat inmitten der allgemeinen Ruhe. Und mit einem Ruck bringt sich der kleine Mensch zum Stehen, läßt sich einfach unwillig in die Knie fallen und macht ein Gesicht, als ob er alle verachte. Aber auch seine kleinen stumpfen Augen bleiben schließlich an der Kammertür hängen.

Jetzt hört man das Singen der Gasflammen und das Gehen der Wanduhr. Und dann schnarrt die Glocke, die das Stundenzeichen gibt. Fremd und eigentümlich ist heute ihr Ton; sie hört auch ganz unvermittelt auf, unterbricht sich mitten im Wort. Feldwebel Goldstein aber kennt seine Pflicht. Er ruft. „Antreten!“ Kein Mensch hört ihn. Keiner kann sich erinnern, welchen Sinn dieses Wort besaß, – vorher. Wann vorher? „Antreten!“ krächzt der Feldwebel böse und gleich schreien jetzt die anderen Unteroffiziere ihm nach: „Antreten!“ Und auch mancher von den Zöglingen sagt wie zu sich selbst, wie im Schlaf: „Antreten! Antreten!“ Aber im Grunde wissen alle, daß sie noch etwas abwarten müssen. Und da geht auch schon die Kammertür auf; eine Weile nichts; dann tritt Oberleutnant Wehl heraus und seine Augen sind groß und zornig und seine Schritte fest. Er marschiert wie beim Defilieren und sagt heiser: „Antreten!“ Mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit findet sich alles in Reihe und Glied. Keiner rührt sich. Als wenn ein Feldzeugmeister da wäre. Und jetzt das Kommando: „Achtung!“ Pause und dann, trocken und hart: „Euer Kamerad Gruber ist soeben gestorben. Herzschlag. Abmarsch!“ Pause.

Und erst nach einer Weile die Stimme des diensttuenden Zöglings, klein und leise: „Links um! Marschieren: Compagnie, Marsch!“ Ohne Schritt und langsam wendet sich der Jahrgang zur Tür. Jerome als der letzte. Keiner sieht sich um. Die Luft aus dem Gang kommt, kalt und dumpfig, den Knaben entgegen. Einer meint, es rieche nach Karbol. Pombert macht laut einen gemeinen Witz in Bezug auf den Gestank. Niemand lacht. Jerome fühlt sich plötzlich am Arm gefaßt, so angesprungen. Krix hängt daran. Seine Augen glänzen und seine Zähne schimmern, als ob er beißen wollte. „Ich hab ihn gesehen“, flüstert er atemlos und preßt Jeromes Arm und ein Lachen ist innen in ihm und rüttelt ihn hin und her. Er kann kaum weiter: „Ganz nackt ist er und eingefallen und ganz lang. Und an den Fußsohlen ist er versiegelt ...“

Und dann kichert er, spitz und kitzlich, kichert und beißt sich in den Ärmel Jeromes hinein.

Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke

„... den 24. November 1663 wurde Otto von Rilke /auf Langenau / Gränitz und Ziegra / zu Linda mit seines in Ungarn gefallenen

Bruders Christoph hinterlassenemAntheile am Gute Linda beliehen; doch mußteer einen Revers aufstellen / nach welchem dieLehensreichung null und nichtig sein sollte /im Fall sein Bruder Christoph (der nachbeigebrachtem Totenschein als Cornetin der Compagnie des Freiherrn von Pirovanodes kaiserl. oesterr. Heysterschen Regimentszu Roß.... verstorben war) zurückkehrt ...“

REITEN, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten.

Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß. Es gibt keine Berge mehr, kaum einen Baum. Nichts wagt aufzustehen. Fremde Hütten hocken durstig an versumpften Brunnen. Nirgends ein Turm. Und immer das gleiche Bild. Man hat zwei Augen zuviel. Nur in der Nacht manchmal glaubt man den