Eine Insel im Meer - Annika Thor - E-Book

Eine Insel im Meer E-Book

Annika Thor

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Beschreibung

Ein tief berührender Roman über Neuanfang, Schwesternliebe und die unerschütterliche Kraft der Hoffnung

Wien, 1939: Die zwölfjährige Steffi und ihre kleine Schwester Nelli werden von ihren Eltern aus dem bürgerlichen Alltag in Wien auf eine kleine schwedische Schäreninsel geschickt, um dem Terror der Nazis zu entfliehen. Für ein halbes Jahr, dann wollen sie sich alle in Amsterdam wiedersehen. Doch Schweden ist kalt und so anders als Wien. Während Nelli schnell Anschluss findet, fühlt Steffi sich allein. Sie hat Heimweh, sehnt sich nach dem alten Leben, die Sprache ist ihr fremd, ebenso wie die distanzierte Pflegemutter. Jeden Tag wartet sie auf Nachrichten von ihren Eltern – aber der Krieg wirft immer dunklere Schatten. Wird sie jemals nach Hause zurückkehren können? Oder ist diese Insel im Meer das Einzige, was ihnen bleibt?

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Seitenzahl: 251

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

Annika Thor

Eine Insel im Meer

Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch

Illustrationen von Sabine Wilharm

Insel Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die schwedische Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel En ö i havet bei Bonnier Carlsen Bokförlag AB, Stockholm.

eBook Insel Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel VerlagAnton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025© 1996 by Annika Thor

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: formlabor, Hamburg

Illustration: Sabine Wilharm

eISBN 978-3-458-78469-2

www.insel-verlag.de

Widmung

Für Sara und Rebecka

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

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Informationen zum Buch

Eine Insel im Meer

1

Der Zug wird langsamer und steht. Vom Bahnsteig ertönt eine Lautsprecherstimme in unverständlicher Sprache.

Steffi lehnt sich gegen das Fenster. Durch den Qualm aus der Lokomotive sieht sie ein großes Schild und ein Stück entfernt einen Backsteinbau mit Glasdach.

»Sind wir da, Steffi?«, fragt Nelli ängstlich. »Müssen wir hier aussteigen?«

»Ich weiß nicht«, sagt Steffi. »Aber ich glaube.«

Sie klettert auf den Sitz, um an das Gepäcknetz heranzureichen. Zuerst hebt sie Nellis Koffer herunter, dann ihren eigenen. Die Schulranzen stehen auf dem Boden vor ihnen. Nichts darf im Zug vergessen werden. Sie hatten ohnehin nur wenig mitnehmen können.

Eine Dame in hellem Kostüm mit Hut taucht in der Abteiltür auf. Sie spricht deutsch.

»Schnell, schnell«, sagt sie. »Hier ist Göteborg. Ihr müsst aussteigen.« Sie geht weiter zum nächsten Abteil, ohne eine Antwort abzuwarten.

Steffi hilft der kleinen Schwester mit dem Schulranzen und setzt sich ihren eigenen auf.

»Nimm deinen Koffer«, sagt sie.

»Der ist so schwer«, jammert Nelli, aber sie nimmt ihn. Hand in Hand gehen sie hinaus in den Gang, in dem sich schon die Kinder drängen, die aussteigen wollen.

Auf dem Bahnsteig herrscht ein einziges Durcheinander von Kindern und Gepäck. Hinter ihnen setzt sich der Zug in Bewegung. Ratternd und kreischend rollt er aus dem Bahnhof. Einige kleine Kinder weinen. Ein kleiner Junge ruft nach seiner Mama.

»Deine Mama ist nicht hier«, sagt Steffi. »Sie kann nicht kommen. Du kriegst eine andere Mama, eine, die genauso nett ist.«

»Mama! Mama!«, ruft der Junge weiter. Die Dame im hellen Kostüm nimmt ihn auf den Arm.

»Kommt«, sagt sie zu den anderen Kindern. »Folgt mir.«

Wie Entenjunge folgen sie ihr in das Bahnhofsgebäude mit dem hohen gewölbten Glasdach. Jemand kommt ihnen entgegen, ein Mann mit einer großen Kamera. Ein Blitz flammt blendend auf. Einige der Kleinsten fangen an gellend zu schreien.

»Lassen Sie das«, ruft die Dame im Kostüm ärgerlich auf Deutsch. »Sie erschrecken ja die Kinder.«

Der Mann fotografiert weiter.

»Das ist mein Job, werte Dame«, sagt er. »Sie kümmern sich um die kleinen Flüchtlingskinder. Ich mache rührende Bilder von ihnen. Das verschafft Ihnen Geld für Ihre Arbeit.«

Er knipst noch ein paar Bilder.

Steffi wendet das Gesicht ab. Sie will kein Flüchtlingskind auf einem rührenden Bild in einer Zeitung sein. Sie will niemand sein, dem man Geld schenken muss.

Die Dame führt sie in den hinteren Teil des großen Wartesaals. Dort steht eine Gruppe Menschen hinter der Absperrung. Eine ältere Dame mit Brille macht einige Schritte auf sie zu.

Sie spricht auch deutsch, aber mit einem komischen Akzent.

Die jüngere Frau holt eine Liste hervor und beginnt Namen aufzurufen: »Ruth Baumann … Stefan Fischer … Eva Goldberg …«

Bei jedem Namen hält ein Kind die Hand hoch und geht zu der Dame mit der Liste. Die Frau kontrolliert das braune Namensschild, das jedes Kind an einer Schnur um den Hals trägt. Einer der Erwachsenen löst sich aus der Gruppe Wartender, nimmt das Kind mit sich und geht. Die Kleinsten, die nicht antworten können, wenn sie aufgerufen werden, werden dort abgeholt, wo sie sitzen.

Es geht nach dem Alphabet und Steffi weiß, dass sie und Nelli lange warten müssen. Ihr Magen tut weh vor Hunger und ihr ganzer Körper sehnt sich danach, sich in einem Bett ausstrecken zu dürfen. Seit gestern Morgen ist das enge Zugabteil ihr Zuhause gewesen. Die vielen Kilometer von Bahngleisen sind wie ein Band, das bis nach Wien reicht, zu Mama und Papa. Jetzt ist es zerschnitten. Jetzt sind sie allein.

Langsam schrumpft die Gruppe von Kindern, und auch die Gruppe von Erwachsenen lichtet sich. Nelli drückt sich an Steffi.

»Wann sind wir an der Reihe, Steffi? Holt uns niemand ab?«

»Jetzt sind sie bei S«, erklärt Steffi. »Wir müssen noch ein bisschen warten.«

»Ich hab Hunger«, jammert Nelli. »Ich bin müde. Ich hab Hunger.«

»Wir haben nichts«, sagt Steffi. »Die Butterbrote sind schon lange aufgegessen. Du musst warten, bis wir ankommen. Setz dich auf den Koffer, wenn du nicht mehr stehen kannst.«

Nelli setzt sich auf den kleinen Koffer und stützt das Kinn in die Hände. Ihre langen schwarzen Zöpfe reichen fast bis zum Boden.

»Nelli«, sagt Steffi, »du wirst sehen, wir werden in einem richtigen Schloss wohnen. Mit massenhaft Zimmern. Und mit Aussicht übers Meer.«

»Krieg ich dann ein eigenes Zimmer?«, fragt Nelli.

»Ja«, verspricht Steffi.

»Das will ich aber nicht«, sagt Nelli. »Ich will im selben Zimmer wie du wohnen.«

»Eleonore Steiner«, hört Steffi die Dame rufen.

»Melde dich«, flüstert sie Nelli zu. »Das bist du.«

»Eleonore Steiner«, wiederholt die Dame mit der Liste. »Tritt vor!«

Steffi zieht Nelli mit sich und schlängelt sich zwischen den verstreuten Koffern hindurch.

»Hier sind wir«, sagt sie. Die Dame guckt in ihre Liste.

»Stephanie Steiner?«, fragt sie. Steffi nickt.

»Steiner«, wiederholt die Dame laut. »Eleonore und Stephanie Steiner!«

Niemand rührt sich in der Gruppe wartender Menschen.

»Steffi«, sagt Nelli mit zitternder Stimme. »Will uns niemand haben?«

Steffi antwortet nicht. Sie hält Nellis Hand ganz fest. Die Dame mit der Liste wendet sich ihr zu.

»Wartet einen Augenblick«, sagt sie und führt die Mädchen beiseite. »Wartet hier. Ich komme gleich wieder.«

Die ältere Dame übernimmt die Liste und fährt fort Namen aufzurufen. Schließlich sind alle anderen Kinder weg. Nur Steffi und Nelli stehen noch bei ihren Koffern.

»Dürfen wir jetzt nach Hause fahren?«, fragt Nelli. »Nach Hause zu Mama und Papa?«

Steffi schüttelt den Kopf. Da fängt Nelli an zu weinen.

»Sch«, zischt Steffi. »Heul nicht, du bist kein kleines Kind mehr.«

Über den Steinfußboden nähern sich klappernde Schritte. Die jüngere Dame erklärt der älteren hastig etwas. Sie holt einen Stift hervor und schreibt auf Steffis und Nellis Namensschilder: »Die Kinder sprechen kein Schwedisch.«

»Kommt«, sagt sie zu Steffi. »Ich bring euch zum Schiff.«

Steffi nimmt den Koffer in die eine Hand und Nelli bei der anderen. Still folgen sie der Dame aus dem Bahnhofsgebäude.

2

Vor dem Bahnhof steigen sie in ein Taxi. Die Sonne brennt und die Augustwärme ist drückend. Steffi schwitzt in ihrem dicken neuen Mantel. Vor der Reise hat Mama für sie und Nelli bei der Näherin Fräulein Gerlach Mäntel bestellt. Sie hatte Fräulein Gerlach gebeten, ein besonders warmes Futter einzunähen, denn Mama hatte gehört, dass es kalt ist in Schweden.

Die Mäntel sind hellblau, der Kragen ist mit dunklerem blauem Samt abgesetzt. Die Hüte, die dazugehören, sind auch aus dunkelblauem Samt. Steffi hätte sich über den Mantel gefreut, wenn sie ihn nicht für die Reise bekommen hätte.

Endlich hält das Auto an und sie dürfen aussteigen. Am Kai liegen Schiffe, die sind so groß wie Häuser. Neben ihnen wirkt der weiße Dampfer, der am Ende des Piers auf dem Wasser schaukelt, wie ein Spielzeugschiff.

Die Dame bezahlt das Taxi und geht mit Nelli und ihrem Koffer voran. Steffi schleppt ihren schweren Koffer hinterher.

Am Laufgang bleibt die Dame stehen und kauft bei einem Mann von der Besatzung Fahrkarten. Sie sagt etwas auf Schwedisch zu ihm und zeigt auf Steffi und Nelli. Erst schüttelt der Mann den Kopf, aber die Dame redet und redet auf ihn ein und schließlich nickt er.

»Kommt«, sagt er zu den Mädchen und weist ihnen Plätze im Bootssalon an. Nelli sieht enttäuscht aus.

»Ich will da draußen stehen«, sagt sie zu Steffi und zeigt auf das Deck. »Frag, ob wir rausgehen dürfen!«

»Frag doch selbst«, sagt Steffi.

Nelli zuckt mit den Schultern und setzt sich. Erst als der Schiffsmotor unter ihnen zu dröhnen beginnt, fällt Steffi ein, dass sie vergessen haben, sich bei der Dame vom Hilfskomitee zu verabschieden. Sie läuft hinaus aufs Achterdeck, aber die Dame ist schon fort.

Das Schiff hat abgelegt und ist auf dem Weg hinaus in den Fluss. Aus dem Schornstein steigt schwarzer Qualm, der sich bald in dünne Schleier auflöst.

Nelli bleibt an ihrem Platz sitzen, zusammengesunken wie eine Stoffpuppe. Jetzt sieht Steffi, dass ihr Mantel falsch zugeknöpft ist, und auf der einen Wange hat sie einen Fleck. Steffi reibt ihn mit ihrem Taschentuch weg.

»Wohin fährt das Schiff?«, fragt Nelli.

»Dorthin, wo wir hinsollen«, antwortet Steffi.

»Zu dem Urlaubsort am Meer?«

»Ja.«

»Erzähle, wie es dort aussieht«, bittet Nelli.

»Dort gibt es weite Strände mit weichem Sand«, sagt Steffi, »und Palmen, die an der Uferpromenade wachsen. Am Strand liegen die Menschen in Liegestühlen unter bunten Sonnenschirmen. Die Kinder spielen im Wasser und bauen Sandburgen am Ufer. Verkäufer bieten Eis aus Kisten an, die sie vor dem Bauch tragen.«

Steffi ist noch nie am Meer gewesen. Aber Evi, ihre beste Freundin in Wien, ist vor zwei Jahren in einem Badeort in Italien gewesen. Als sie wieder nach Hause kam, erzählte sie vom Strand und den Palmen, von den Liegestühlen und den Eisverkäufern. Steffi und Nelli fuhren mit Mama und Papa in den Ferien immer nur in eine Pension an der Donau. Früher, bevor die Nazis kamen.

Steffi spürt, dass sie jemand beobachtet. Sie schaut auf und sieht zwei alte Männer auf der Bank gegenüber, die sie und Nelli neugierig anstarren.

»Warum gucken die uns so an?«, fragt Nelli besorgt.

»Wahrscheinlich wegen der Namensschilder«, sagt Steffi.

Der eine Mann schiebt sich Kautabak unter die Oberlippe. Aus seinem Mundwinkel sickert ein brauner Spucketropfen. Er sagt etwas zu dem anderen und lacht glucksend.

»Wir nehmen sie ab«, beschließt Steffi und steckt die Namensschilder in ihren Ranzen. »Komm, wir gehen raus.«

Sie stellen sich aufs Vordeck. Vor ihnen öffnet sich die Flussmündung zum Meer. Ein Schlepper zieht ein großes Schiff in die Hafeneinfahrt. Der kleine Dampfer, der den großen schleppt, sieht lustig aus, wie ein Kind, das seine Mama eifrig mit sich zieht, um ihr etwas zu zeigen. Längs der Kais liegen Speicher aus rotem Backstein. Hohe Kräne recken sich wie Giraffenhälse.

Nelli fingert an ihrer Korallenkette. Die Kette hat Mama gehört. Sie wurde auf ihrer Hochzeitsreise vor langer Zeit in Italien gekauft. Nelli hat die kleinen unregelmäßig geformten rosa Stäbchen immer bewundert. Als sie auf die Reise gingen, hat sie sie von Mama bekommen.

»Erzähl mehr, Steffi«, bittet sie. »Kann ich dort schwimmen?«

»Du musst es erst lernen«, sagt Steffi. »Nachmittags gehen alle in ihre Hotels, um sich eine Weile auszuruhen. Nach dem Essen promeniert man im Park und hört der Musikkapelle zu.«

»Werden wir in einem Hotel wohnen?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht haben ja die Leute, bei denen wir wohnen, ein Hotel.«

»Dann kriegen wir alles gratis.«

»Vielleicht haben sie auch eine eigene Villa. Vielleicht sogar einen Privatstrand.«

»Haben sie Kinder?«, will Nelli wissen.

Steffi zuckt mit den Schultern.

»Hoffentlich haben sie einen Hund«, sagt sie.

»Gibt es ein Klavier?«, fragt Nelli zum hundertsten Mal.

»Natürlich haben sie eins«, behauptet Steffi.

Steffi weiß, wie sehr Nelli ihr Klavier vermisst. Sie hatte gerade angefangen zu lernen, als sie die große Wohnung in der Nähe vom Park mit dem Riesenrad verlassen mussten. Wenn Mama hätte bestimmen dürfen, dann hätten sie das Klavier mitgenommen, obwohl es ihr einziges kleines Zimmer von einer Wand zur anderen ausgefüllt hätte. Aber Papa wollte es nicht.

»Wir haben ja kaum Platz für vier Betten«, sagte er. »Meinst du, wir sollen auf dem Klavier schlafen?«

Das Schiff hat die Flussmündung passiert und jetzt das offene Wasser erreicht. Kahle Felsen und Inseln gleiten vorbei. Der Wind frischt auf und draußen über dem Meer türmen sich dunkle Wolken. Nelli reißt Steffi am Mantelärmel.

»Darf ich das, Steffi?«, fragt sie. »Darf ich das ganz bestimmt?«

»Was?«

»Auf dem Klavier spielen«, sagt Nelli. »Darf ich das?«

»Ja, das darfst du«, verspricht Steffi. »Aber jetzt quengel nicht.«

Nelli beginnt ein Kinderlied zu summen, eine von den Melodien, die sie schon auf dem Klavier spielen kann. Nelli hat Mamas schöne Singstimme geerbt; das hat Steffi nicht.

Das Schiff umrundet eine Landzunge. Jetzt nimmt der Wind zu und der Dampfer beginnt zu schaukeln. Steffi hält sich an der Reling fest.

»Mir ist kalt«, sagt Nelli.

»Du kannst reingehen, wenn du willst.«

Nelli zögert. »Gehst du auch rein?«

»Noch nicht«, sagt Steffi. Das Deck schaukelt unter ihren Füßen. Ihr ist schlecht. Der Himmel wird rasch dunkler. In der Ferne ist Donnergrollen zu hören. Nelli entfernt sich ein paar Schritt, überlegt es sich aber anders und kommt zurück.

»Geh du jetzt rein«, sagt Steffi. »Ich komm gleich.«

Sie krampft die Hände um die Reling und schließt die Augen. Das Schiff rollt von der einen zur anderen Seite. Steffi beugt sich über das Wasser und übergibt sich. Es brennt im Hals und sie fühlt sich matt und schwindlig.

»Bist du krank, Steffi?«, fragt Nelli besorgt.

»Seekrank«, sagt Steffi. »Ich glaub, ich bin seekrank.« Sie hat ein Gefühl, als ob die Beine unter ihr nachgeben wollten. Gestützt auf Nelli geht sie zurück in den Salon. Sie legt sich auf die Bank, den Ranzen als Kissen unterm Kopf, und macht die Augen zu. Um sie herum dreht sich alles.

Steffi erwacht, weil sie jemand am Ärmel reißt.

»Lass mich«, murmelt sie. »Ich will schlafen.«

Aber das Reißen wird immer beharrlicher. Sie öffnet die Augen.

»Steffi!«, sagt Nelli eifrig. »Wir sind jetzt da.«

Es dauert einen Augenblick, ehe Steffi sich erinnert, wo sie sind. Nelli steht neben ihr und hüpft vor Aufregung fast auf der Stelle. Ihre Wangen sind rot. Eine ihrer Haarschleifen ist aufgegangen und der Zopf löst sich auf.

»Beeil dich, wir sind jetzt da!«

3

Als Steffi an Deck kommt, schlägt ihr die Luft wie eine unsichtbare Wand entgegen. Es riecht nach Salz und Fisch und nach etwas Ekligem, Verrottetem. Das Würgen kommt wieder. Sie schluckt heftig und schaut sich um.

Der Dampfer hat an einem Anleger aus Holz festgemacht. Entlang des Bootssteges liegen weiß gestrichene Fischerboote mit schwellenden Rümpfen und niedrigen Masten. In den Takelagen heult der Wind. An kleineren Stegen liegen unterschiedlich große Schiffe vertäut. Ein Wellenbrecher, aus großen Steinblöcken errichtet, schützt den Hafen gegen die Brandung.

An Land stehen große Holzgerüste. Manche sind leer, an anderen hängen Fische zum Trocknen. Eins von ihnen ist mit etwas bedeckt, das aussieht wie Fledermäuse mit ausgebreiteten Flügeln.

Längs des Anlegers liegen rote und graue Bootsschuppen, die Giebel zum Wasser gerichtet. Hinter ihnen stehen niedrige Häuser in hellen Farben. Es sieht aus, als ob sie direkt auf den Felsen erbaut wären.

Sie müssen an Bord warten, während ein Junge Kisten und Säcke auf einer Karre mit Gummirädern an Land bringt. Ein Sack geht kaputt und Kartoffeln rollen auf den Anleger. Einige plumpsen ins Wasser. Nelli lacht, verstummt aber, als ein Mann mit hochrotem Gesicht den Jungen anbrüllt.

Schließlich sind sie an der Reihe. Steffi hält Nellis Hand ganz fest, als sie den Laufgang hinuntergehen.

Auf dem Anleger steht eine Frau und wartet. Sie trägt eine Strickjacke über ihrem geblümten Kleid und um den Kopf einen Schal mit Punkten. An den Schläfen gucken graue Löckchen hervor. Sie strahlt über das ganze Gesicht, als sie die Mädchen sieht.

»Eleonore … Stephanie«, sagt sie, obwohl sie die Namen seltsam ausspricht. Stefaanije, klingt das. Sie hockt sich hin, nimmt Nelli in die Arme und küsst sie auf die Wangen.

»Guten Tag«, sagt Steffi und streckt ihre Hand aus. »Ich bin Steffi.«

Die Frau nimmt Steffis Hand und sagt etwas in einer fremden Sprache.

»Was hat sie gesagt?«, fragt Nelli.

»Ich weiß nicht«, sagt Steffi. »Ich glaub, sie spricht schwedisch.«

»Kann sie kein Deutsch?«, fragt Nelli. »Versteht sie nicht, was wir sagen?« Ihre Stimme zittert.

Steffi schüttelt den Kopf. »Wir müssen Schwedisch lernen.«

»Steffi?«, sagt die Frau. »Stefaanije – Steffi?«

»Ja«, sagt Steffi. »Stephanie – Steffi. Nelli«, sagt sie und zeigt auf ihre kleine Schwester. »Eleonore – Nelli.«

Die Frau nickt und lächelt.

»Alma«, sagt sie. »Alma Lindberg. Tante Alma. Kommt.«

An einem der Bootsschuppen lehnt ein Fahrrad. Tante Alma klemmt Nellis Koffer auf dem Gepäckträger fest. Sie nimmt Nellis Hand und schiebt das Fahrrad den schmalen Weg zwischen den Häusern entlang. Steffi folgt ihnen mit ihrem Koffer.

Die Häuser liegen dicht nebeneinander. Sie kriechen auf der Erde entlang und klammern sich an den Abhängen fest. Sie haben kleine Gärten mit gebeugten Büschen und krummen Obstbäumen. In der Nähe vom Hafen sind die Häuser klein und niedrig. Weiter entfernt werden sie größer.

Tante Alma geht schnell mit langen energischen Schritten. Nelli muss fast laufen, um mit ihr Schritt zu halten. Steffi bleibt mehr und mehr zurück. Ihr Hals ist trocken und sie hat einen sauren Geschmack im Mund. Obwohl sie schon mehrere Hundert Kilometer von zu Hause entfernt ist, hat sie ein Gefühl, als ob sie jeder Schritt weiter und weiter wegführt von den Häusern, Straßen und den Menschen zu Hause.

Der Koffer ist schwer wie ein Stein. Schließlich stellt sie ihn ab und zieht ihn hinter sich her, dann wieder schiebt sie ihn mit dem Fuß vor sich her.

Das kratzende Geräusch auf dem Kies bringt Tante Alma dazu, sich umzudrehen. Sie hebt den Koffer auf den Gepäckträger und zeigt Steffi, wie sie nebenhergehen und ihn in der Balance halten soll. Das ist schwer, aber besser als ihn zu tragen.

»Steffi«, piepst Nelli, »wo ist der Sandstrand? Und wo sind die Musikpavillons?«

Steffi tut so, als hätte sie nichts gehört.

»Stell dir vor, wenn es nun mal kein Hotel gibt! Und keine Palmen und keinen Hund und kein Klavier!« Nellis Stimme ist hoch und klagend.

»Sei still«, faucht Steffi sie an. »Wir sind noch nicht da.«

Genau in dem Augenblick bleiben sie vor einem gelben Haus mit Glasveranda stehen. In den Beeten zu beiden Seiten der Vortreppe prangen Blumen in Rot, Gelb und Blau. Zwei kleine blonde Kinder kommen aus dem Haus gestürzt und werfen sich in Almas Arme.

»Sie haben Kinder«, sagt Nelli zufrieden. »Und die sind kleiner als ich.«

Sie lassen das Gepäck im Vorraum stehen und gehen in die Küche. Am Küchentisch sitzt eine Frau mit magerem, strengem Gesicht. Ihr graues Haar ist zu einem strammen Knoten im Nacken hochgesteckt. Die blassen Augen mustern Steffi und Nelli von Kopf bis Fuß.

»Diese armen Kleinen«, sagt sie zu Tante Alma. »Mager und jämmerlich. Hoffentlich können wir sie ein bisschen aufpäppeln.«

»Tante Märta«, sagt Tante Alma mit einer Handbewegung zu der Frau. Steffi gibt ihr die Hand und macht einen Knicks. Tante Märtas Hand ist kalt und hart.

Tante Alma stellt einen großen Teller mit Wecken auf den Küchentisch. Sie gießt Saft in vier Gläser und kocht für sich und Tante Märta Kaffee.

»Bulle«, sagt Tante Alma und zeigt auf die Wecken, als sie sich an den Tisch gesetzt haben. Dann zeigt sie nacheinander auf die Gläser, den Tisch, die Stühle, die Tassen und nennt die schwedischen Wörter: »Glas. Bord. Stol. Kopp.«

Steffi und Nelli versuchen die fremden Wörter nachzusprechen. Manche klingen ähnlich wie Deutsch, andere sind ganz fremd.

»Stol. Stuhl«, sagt Steffi.

»Schtol«, sagt Tante Alma und lacht.

»Schtol, schtol«, wiederholen die Kleinen begeistert. Dann zeigen sie auf sich selbst und rufen: »Elsa! John! Elsa! John!«

Sie schaffen es, zehn schwedische Wörter zu lernen, ehe Tante Märta aufsteht. Sie geht hinaus in den Vorraum, kommt zurück mit Steffis Mantel und reicht ihn ihr.

»Steffi?«, fragt Nelli ängstlich. »Was soll das? Was will sie?«

»Ich weiß nicht«, antwortet Steffi. Langsam knöpft sie den Mantel zu. Tante Alma und die Kinder folgen ihnen hinaus.

»Gehst du weg, Steffi?«, flüstert Nelli. »Bleibst du nicht hier?«

Tante Märta geht zur Tür. Steffi setzt sich den Ranzen auf.

»Geh nicht!«, protestiert Nelli mit schriller Stimme. »Ich will, dass du hierbleibst.«

»Mach jetzt keine Schwierigkeiten«, sagt Steffi. »Wir müssen tun, was sie sagen.«

»Mama hat gesagt, wir dürfen zusammenwohnen. Sie hat gesagt, sie haben es versprochen.«

»Ich weiß. Vielleicht ist es nur für eine Nacht. Hab keine Angst.«

Nelli hält Steffis Hand ganz fest.

»Kommst du morgen hierher?«, fragt sie mit kleiner Stimme.

»Bestimmt«, verspricht Steffi, ohne zu wissen, ob sie ihr Versprechen halten kann. Sie folgt Tante Märta hinaus.

Unten an der Treppe dreht sie sich um. Nelli und Tante Alma stehen in der Tür. Tante Alma hat einen Arm beschützend um Nellis Schultern gelegt.

Tante Märta schiebt ihr Fahrrad durch die Gartenpforte. Draußen auf der Straße klopft sie auf den Gepäckträger. Steffi setzt sich darauf, den Koffer vor sich. Tante Märta steigt auf und strampelt los.

Steffi kann nicht Rad fahren. Sie ist noch nicht einmal auf einem Fahrrad mitgefahren. Auf den Straßen in Wien, zwischen all den Autos und Straßenbahnen, hätte Mama sie niemals auf einem Fahrrad herumfahren lassen. Jetzt klammert sie sich mit der einen Hand am Rad fest und hält mit der anderen den Koffer. Jedes Mal, wenn sie über eine Unebenheit auf der Straße fahren, hat sie Angst, sie könnten umkippen.

Allmählich wird die Bebauung dünner. Sie fahren durch einen niedrigen Buschwald und wieder heraus. Der Weg schlängelt sich zwischen kahlen, grauen Felsen dahin. In den Spalten blüht ein bisschen Heide.

Tante Märta kämpft sich einen langen Hügel hinauf und bleibt auf der Kuppe stehen. Vor ihnen breitet sich das Meer aus, unendlich und blaugrau. Dunkle Wolken liegen wie eine Decke über der Wasseroberfläche. Braungraue Felsen und Inseln ragen heraus. Die Wellen brechen sich an den Felsen und werfen Schleier von weißem Schaum herauf. Weit draußen im Meer zeichnet sich ein rotbraunes Segel gegen den Himmel und das Wasser ab. Der Horizont ist nur ein Lichtstreifen.

Das Ende der Welt, denkt Steffi. Dies ist das Ende der Welt.

Am Fuß des Hügels liegt ein einsames Haus. Es drückt sich eng an den Felsen, als ob es sich vor dem Wind schützen wollte. Unten am Strand steht ein roter Bootsschuppen. An einem Anleger schaukelt ein Boot.

Dumpf grollt ein Gewitter. Ein blendend weißer Blitz erhellt den Himmel. Tante Märta zeigt zu dem Haus und sagt etwas auf Schwedisch. Steffi versteht die Wörter nicht, aber sie begreift, dass sie dort wohnen soll. Hier, am Ende der Welt.

4

Die ersten Regentropfen fallen auf Steffis Stirn, als das Fahrrad den Hügel hinunterrollt. Der Weg endet an der Gartenpforte.

Von der Hügelkuppe hat das Haus klein gewirkt. Jetzt sieht Steffi, dass es einstöckig ist und auf einem hohen Fundament aus Steinblöcken steht. Eine Treppe führt zur Haustür hinauf. Auf beiden Seiten der Treppe starren sie Fenster an. Das Haus sieht streng aus, gerade Linien und glatte Flächen ohne Verzierungen.

Tante Märta lehnt das Fahrrad gegen die Hauswand und geht Steffi voran die Treppe hinauf.

Wenn sie die Tür zu ihrer Wohnung zu Hause in Wien öffnete, konnte sie den Geruch von Papas Zigarren und einen schwachen Duft nach Mamas Parfum wahrnehmen. Nach dem Umzug, als sie in einem einzigen Zimmer wohnten und die Küche mit drei anderen Familien teilen mussten, drängte sich überall der Geruch nach Kohl und nasser Wäsche auf. Jedes Zuhause hat seinen eigenen Geruch. Bei Tante Alma riecht es nach frisch gebackenem Brot. Hier sticht Steffi der Geruch nach starken Putzmitteln in die Nase.

Tante Märta zeigt ihr das Haus. Die Küche ist blitzsauber. Es gibt einen großen Holzofen mit Abzugshaube und einen modernen elektrischen Herd. Das Zimmer vor der Küche ist mit einfachen Holzmöbeln eingerichtet. In einer Ecke steht ein großer Schaukelstuhl. Auf dem bestickten Tischtuch liegt ein dickes Buch. Das muss eine Bibel sein. An den Fenstern hängen blau gestreifte Baumwollgardinen.

Im oberen Stockwerk ist an der Treppe ein vorgeschobenes Dach. Es bildet eine Nische mit einer eingebauten Bank unter dem Fenster. Das ist ein Platz, den Steffi sofort mag: hell, aber trotzdem gemütlich, ein Platz, wo man sitzen und lesen oder nur aus dem Fenster gucken kann. Durch eine offene Tür sieht sie ein Schlafzimmer mit zwei Betten.

Tante Märta geht Steffi voran in ein kleines Zimmer mit schrägem Dach. Die dunklen, braun gemusterten Tapeten lassen das Zimmer noch kleiner wirken. An der Schmalseite ist ein viereckiges Fenster, kaum mehr als eine Luke. Unter dem Fenster steht ein Tisch mit einem einsamen Korbstuhl, an der Längsseite steht ein Bett, bedeckt mit einem gehäkelten Überwurf, und an der anderen Seite der Tür eine braune Kommode mit drei Schubfächern. Das ist alles. Keine Ziergegenstände, keine Bücher, keine Bilder.

Doch, an der Wand über der Kommode hängt ein farbiger Druck. Ein Mann mit langen Haaren und Bart, in ein rosafarbenes knöchellanges Gewand gehüllt, breitet die Arme in einer segnenden Geste aus. Hinter ihm fächern sich breite Strahlen aus einer unsichtbaren Lichtquelle auf.

Jesus, denkt Steffi. Warum muss ich ein Bild mit Jesus drauf haben? Weiß sie nicht, dass ich Jüdin bin?

Tante Märta legt Steffis Koffer auf den Tisch und öffnet den Deckel. Gehorsam beginnt Steffi auszupacken. Tante Märta zeigt ihr, wo sie ihre Kleider aufhängen kann, hinter einem Vorhang draußen auf dem Treppenabsatz. Hinter einem anderen Vorhang verbirgt sich ein Kämmerchen mit einem Waschbecken.

Steffi legt ihre Strümpfe, Unterhöschen und Leibchen in die oberste Kommodenschublade, Jacken und Pullover in die zweite. In die unterste Schublade legt sie ihre Bücher, das Tagebuch, Briefpapier, Bleistifte und das Schmuckkästchen. Ihren zerschlissenen Teddy setzt sie aufs Bett. Sie hat schon lange nicht mehr mit ihm im Bett neben sich geschlafen, aber sie konnte ihn doch nicht einfach zu Hause lassen.

Zum Schluss stellt sie ihre Fotografien auf die Kommode. Ein Porträt von Mama, eins von Papa und ein Bild von der ganzen Familie auf einem Ausflug in den Wienerwald. Papa sitzt auf einem alten Baumstamm. Steffi sitzt auf der Erde und schmiegt sich an sein Bein. Nelli spielt Pferd, sie reitet auf dem Baumstamm, und Mama steht hinter Papa, eine Hand auf seine Schulter gelegt. Sie beugt sich ein wenig vor, als ob sie ihm etwas ins Ohr flüstern wollte.

Das Bild ist vor zwei Jahren aufgenommen worden. Da waren sie noch eine ganz gewöhnliche Familie. Eine Familie, die Ausflüge machen, Straßenbahn fahren, ins Kino und ins Konzert gehen und in Urlaub fahren konnte. Dann übernahmen die Nazis die Macht in Österreich und erklärten ihr Land zu einem Teil Deutschlands. Was früher selbstverständlich gewesen war, war nun verboten. Für solche wie sie. Für die Juden.

Steffi lässt sich aufs Bett sinken. Die Müdigkeit hämmert in ihrem Kopf. Sie möchte schlafen, aber sie bleibt sitzen, bis Tante Märta zurückkommt. Tante Märta zieht die Kommodenschubladen auf und kontrolliert den Inhalt, nimmt einige Kleidungsstücke heraus und faltet sie ordentlich zusammen, ehe sie sie zurücklegt.

Als Steffi sich vom Bett erhebt, glättet Tante Märta den Bettüberwurf, bis nicht die kleinste Falte mehr verrät, dass hier jemand gesessen hat. Dann gibt sie Steffi ein Zeichen, ihr zu folgen, und geht die Treppe hinunter. Steffi folgt ihr mit zögernden Schritten. Sie hat ein Gefühl, als bewege sie sich auf unsicherem Boden.

Der Küchentisch ist für zwei gedeckt. Tante Märta stellt das Essen hin: eine Schüssel mit dampfenden Kartoffeln und einen Teller. Auf dem Teller liegen zwei gebratene Fische. Ganze Fische, mit Kopf.

Nachdem sie sich gesetzt haben, faltet Tante Märta die Hände und murmelt ein paar Worte. Dann legt sie einen der Fische auf Steffis Teller und reicht ihr die Schüssel mit den Kartoffeln.

Steffi starrt den Fisch an und der starrt zurück mit seinen weißen toten Augen. Tante Märta schneidet ihrem Fisch den Kopf ab und zieht die Haut mit Hilfe eines Messers ab. Steffi macht es genauso. Es knirscht unheimlich, als sie den Kopf vom Körper trennt.

Tante Märta gießt Milch in die Gläser und reicht Steffi eine Schüssel mit roter Marmelade. Zu Hause aßen sie Marmelade zu Pfannkuchen und nahmen manchmal Himbeermarmelade in den Tee. Das hatte Papa von seiner Großmutter, der Mutter seines Vaters, gelernt. Sie war in Russland geboren. Aber Marmelade zum Mittagessen? Steffi legt einen Klacks auf ihren Teller und sieht erleichtert, dass Tante Märta es genauso macht.

Sie stochert mit der Gabel im Fisch herum und steckt sich ein kleines Stück in den Mund, trinkt einen Schluck Milch hinterher und schluckt schnell. So schmeckt sie nicht so viel.

Wenn nur der schreckliche Fischkopf nicht auf ihrem Teller läge. Sie versucht ihn nicht anzugucken. Aber wenn sie nicht aufpasst, kriegt sie mit dem Fischfleisch spitze Gräten mit in den Mund, die im Hals stecken bleiben.

Das Glas mit Milch ist fast leer. Ob sie sich traut, um mehr zu bitten? Und wie soll sie das ausdrücken?

Sie trinkt den letzten Tropfen aus und zeigt auf den Milchkrug.

»Bitte«, sagt sie.

Tante Märta nickt und gießt ihr mehr Milch ein. Steffi kaut und schluckt, kaut und schluckt. Sie versucht so viel wie möglich von dem Fischfleisch unter die Haut am Tellerrand zu schieben. Die Milch ist wieder alle und sie wagt nicht noch einmal zu fragen. Den letzten Bissen kriegt sie kaum runter.