Eine Katze bittet zum Tee - Lydia Adamson - E-Book

Eine Katze bittet zum Tee E-Book

Lydia Adamson

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Beschreibung

Warum nicht nur Katzen auf Katzenminze fliegen ... Alice Nestleton, die Amateur-Detektivin, hat ein neues Hobby. Mit drei anderen Katzenliebhaberinnen baut sie mitten in Manhattan Kräuter an. Als die Damen ihren ersten eigenen Tee trinken, geschieht das Unglück: Barbara Roman stürzt von der Dachtertasse. Niemand vermag sich das Geschehen zu erklären. Da bringt Swampy, Barbaras Katze, Alice auf eine Spur. Sie entdeckt, daß Barbara jeden Morgen für zwei Stunden regelrecht verschwand. Und sie erfährt, daß Barbaras Mann seit Jahren eine verhängnisvolle Affäre hat ... eben jener Mann, der plötzlich auch Alice umgarnt.

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Über Lydia Adamson

Lydia Adamson ist das Pseudonym einer bekannten Krimiautorin. Bisher im Aufbau Taschenbuch Verlag erschienen: »Eine Katze kommt selten allein«, »Eine Katze macht Theater«, »Eine Katze im Wolfspelz«, »Eine Katze bittet zum Tee«, »Eine Katze hinter den Kulissen«, »Eine Katze sitzt im Glashaus«, »Eine Katze schlägt den Takt«, »Eine Katze tanzt aus der Reihe«, »Eine Katze ist kein Engel«, »Eine Katze lädt zur Weihnachtsgans«, »Eine Katze auf dem Laufsteg«, »Eine Katze kommt selten allein«.

Informationen zum Buch

Warum nicht nur Katzen auf Katzenminze fliegen ...

Alice Nestleton, die Amateur-Detektivin, hat ein neues Hobby. Mit drei anderen Katzenliebhaberinnen baut sie mitten in Manhattan Kräuter an. Als die Damen ihren ersten eigenen Tee trinken, geschieht das Unglück: Barbara Roman stürzt von der Dachtertasse. Niemand vermag sich das Geschehen zu erklären. Da bringt Swampy, Barbaras Katze, Alice auf eine Spur. Sie entdeckt, daß Barbara jeden Morgen für zwei Stunden regelrecht verschwand. Und sie erfährt, daß Barbaras Mann seit Jahren eine verhängnisvolle Affäre hat ... eben jener Mann, der plötzlich auch Alice umgarnt.

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Lydia Adamson

Eine Katze bittet zum Tee

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Julia Schade

Inhaltsübersicht

Über Lydia Adamson

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Impressum

1

Ava hatte drei Siamkatzen. Zwinker saß auf meinem Kopf, Blinker spielte mit meinem rechten Daumen und die dritte, Nick, saß vor mir auf dem Teppich und schaute mit grenzenlos traurigen Augen zu mir auf.

Eine Sekunde später hatten sie alle drei ihre Position gewechselt, und ich konnte sie nicht mehr unterscheiden.

Es war ein warmer Abend. Die Glastüren, die auf den Balkon führten, waren geöffnet, und die Aussicht reichte weit über den East River bis zu den Lichtern der Queensboro Bridge. Ava Fabers Wohnung am Sutton Place war wunderbar, ein kleines Juwel in einem efeubewachsenen Gebäude, dreiundzwanzig Stockwerke über dem Fluß.

Es hatte Ente mit Orangensauce gegeben, und jetzt warteten wir auf den großen Augenblick. Wir, das waren Ava und ihr Mann Les, Barbara Roman und ihr Mann Tim, Sylvia Graff und ihr Mann Pauly, ein gutmütiger Alkoholiker, und schließlich Renée Lupo und ich.

Und worauf warteten wir so gespannt?

Auf den Pfefferminztee.

Das war natürlich nicht irgendein Tee! Es war der Aufguß der ersten Ernte, die wir in unserem gemeinsamen Kräutergarten in der Lower East Side in Manhattan gezogen hatten. Fünfzehn winzige Pfefferminzblätter.

Vor drei Monaten hatte eine meiner Catsitting-Kundinnen mir von vier Frauen berichtet, allesamt Katzenfans, die auf einem ziemlich erbärmlichen Stückchen Land voller Müll an der Avenue B einen Kräutergarten anlegen wollten.

Diese Frauen planten, so hatte meine Kundin mir erzählt, Basilikum, Koriander, Dill, Thymian, Kamille und Pfefferminze anzupflanzen. Und vor allem natürlich Katzenminze und Bergminze.

Dann wollten sie, zusammen mit den Schulkindern aus dem Viertel, die Kräuter ernten, trocknen, abpacken und an Bioläden verkaufen, und der gesamte Gewinn sollte dem Tierschutzverein zugute kommen.

Das schien mir ein ziemlich weltfremdes, romantisches Unterfangen zu sein. Ein Kräutergarten mitten in New York City?

Aber warum eigentlich nicht? Ich hatte keine Erde mehr umgegraben, seit ich die Milchfarm meiner Großmutter verlassen hatte und in die Großstadt gekommen war, und das war fast fünfundzwanzig Jahre her. Und in meinem Leben mußte sich irgend etwas ändern. Ich wollte etwas Neues machen, etwas, das nichts mit dem Theater zu tun hatte, irgend etwas Natürliches.

Also rief ich die Frauen an, und sie nahmen mich sehr freundlich in ihren Kreis auf. Die vergangenen drei Monate, in denen wir alles geplant und das jämmerliche Stückchen Großstadterde bepflanzt und gedüngt hatten, waren wundervoll gewesen.

Barbara Roman setzte sich neben mich auf das Sofa. Zwinker, Blinker und Nick ließen sofort von mir ab und stürzten sich auf sie. Sie lachte schallend.

Mit einer Hand nahm sie Blinker hoch und hielt das Kätzchen nah an ihr Gesicht.

»Ich frage mich«, sagte sie, »was Swampy wohl mit dir anstellen würde.«

Swampy war ihr alter grauer Kater. Dann küßte sie Blinker auf die Nase. Das war zuviel, das Kätzchen ergriff die Flucht, und die anderen Katzen folgten. Fünf Sekunden später war keines mehr zu sehen.

Aus Avas riesiger Küche war eine angeregte Diskussion über den Aufbrühprozeß zu vernehmen.

»Es gibt nichts Schlimmeres als Kräuterweiblein mittleren Alters«, meinte Barbara.

Ich lachte. Ein kaum wahrnehmbarer Duft nach Pfefferminz stieg mir in die Nase. Ich wollte Barbara darauf hinweisen, aber sie hatte es schon selbst gerochen und nickte zufrieden. Wir waren sehr gut aufeinander eingespielt.

Barbara war die erste Frau seit zwanzig Jahren, die mir eine wirklich gute Freundin geworden war. Wir telefonierten manchmal stundenlang miteinander. Sie interessierte sich für mich: für meine Schauspielerei, für mein Catsitting, für meine kriminalistischen Abenteuer und für die Männer, die mein Leben geteilt hatten. Barbara war belesen, geistreich und eine gute Seele, was sie aber besonders auszeichnete war ihr großes Einfühlungsvermögen. Und ich war nicht die einzige, die so dachte. Jeder, der diese kleine Frau mit den braunen Haaren und einer Vorliebe für weite Blusen kannte, mochte sie sehr. Aber auch wer sie nicht mochte, hörte ihr zu, denn was sie sagte, hatte immer Hand und Fuß. Vielleicht war sie in einem gewissen altmodischen Sinn einfach weise.

Sie beugte sich zu mir herüber. »Guck mal, die arme Renée.« Ich schaute hinüber in die andere Ecke des Zimmers, wo Sylvia Graffs Mann, Pauly, Renée irgendeine zusammenhanglose Geschichte erzählte.

»Sie tut so, als würde sie zuhören, dabei denkt sie nur an den Pfefferminztee«, meinte Barbara.

Ein Triumphschrei erklang aus der Küche, und Ava kam mit einem Tablett in der Hand herein. Auf dem Tablett standen acht wunderschöne kleine japanische Teetassen.

»Einen Tusch bitte!« rief Ava ihrem Mann Les zu, der sein Bestes tat, indem er mit einer Gabel auf ein Möbelstück trommelte.

Ava schritt vorsichtig, als würde sie einen Schatz von unermeßlichem Wert tragen, zu ihrem rustikalen französischen Eßtisch und stellte das Tablett ab.

Alle Anwesenden drängten sich um den Tisch. Jeder nahm eine Tasse und hielt sie hoch.

»Moment!« rief Les. »Möchte jemand Zucker?« Er erntete dermaßen vernichtende Blicke, daß er in den Teppich zu versinken schien.

»Aber einen Toast können wir ausbringen«, sagte Sylvia.

»Auf die Pflanze, die ihre kostbaren Blätter geopfert hat«, sagte Renée.

Wir tranken. In jeder Tasse waren höchstens zwei Schluck Tee. Als der große Augenblick vorüber war, stellten wir die Tassen wieder auf das Tablett. Niemand wußte, was er sagen sollte.

»Na ja«, meinte Ava schließlich, »meiner hat jedenfalls wie Pfefferminztee geschmeckt.«

Alle brachen in Gelächter aus. Es gibt wirklich nichts Alberneres, als nach einem Superlativ zu suchen, wenn er einfach nicht angebracht ist.

Nach dem Tee aßen wir eine köstliche Zitronencreme, gefolgt von scharf geröstetem französischen Kaffee und Brandy.

Die Zeit verging wie im Flug. Niemand machte Anstalten zu gehen. Gegen halb zwölf unterhielt ich mich mit Renée. Neben mir nippte Barbara an ihrem Brandy. Hinter ihr stand Ava mit einer Kaffeetasse in der Hand.

»Ich habe da einen hochinteressanten Artikel über integrierten Pflanzenanbau und Köderpflanzen gelesen«, sagte Renée.

»Was sind Köderpflanzen?« fragte Ava und fügte hinzu: »Das hört sich ja ziemlich grausam an.«

Barbara gab mir ihr Brandyglas zum Halten. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie. »Ich will nur kurz frische Luft schnappen.«

»Also«, fuhr Renée fort, »stellt euch vor, ihr baut zum Beispiel Kartoffeln an. Aber jedes Jahr wird die Ernte geringer, wegen der Kartoffelkäfer. Und was macht man, wenn man organischen Anbau betreiben will und Pestizide ablehnt?«

»Beten?« fragte Ava.

»Nein. Man pflanzt Auberginen an.«

»Statt der Kartoffeln?« fragte ich ein wenig irritiert.

»Nein. Zusätzlich zu den Kartoffeln. Es ist nämlich so: Die einzige Pflanze, auf die Kartoffelkäfer noch schärfer sind als auf Kartoffeln, ist die Aubergine. Sie ist die Köderpflanze. Die Käfer werden die Auberginen befallen und die Kartoffeln in Ruhe lassen.« Renées dunkle Augen blitzten. Sie war Schriftstellerin und sehr sensibel. Manchmal schien sie in den alltäglichsten Dingen eine kosmische Bedeutung zu entdecken.

»Was ist das für ein Lärm?« fragte Ava. Ja, plötzlich war von der Straße ein immer lauter werdendes Martinshorn zu hören.

Les rief vom anderen Ende des Zimmers: »Da ist wahrscheinlich auf dem East River Drive ein Unfall passiert. Schau doch mal nach, Ava.«

Ava gab mir ihre Kaffeetasse. Jetzt hatte ich Barbaras Brandyglas in der einen Hand und Avas Tasse in der anderen. Ava ging auf den Balkon. Ich suchte nach einem Plätzchen, wo ich das Geschirr abstellen konnte.

Dann hörten wir einen furchtbaren, gellenden Schrei.

Der Schrei kam vom Balkon.

Wir rannten hinaus und sahen Ava am Geländer stehen. Sie hielt ihr Gesicht in den Händen vergraben. Sie schrie immer noch, aber jetzt leiser, es war eher ein Gurgeln aus der Kehle.

Ich schaute über die Brüstung. In beide Richtungen stauten sich die Autos, so weit man sehen konnte. Die Scheinwerfer leuchteten wie eben entzündete Kerzen.

Ganz unten auf der Straße lag ein kleines schwarzes Etwas. Es war ein Körper.

Wir schauten uns alle um, erst flüchtig, dann mit zunehmender Verzweiflung.

Barbara Roman war nicht mehr unter uns.

Ich blickte auf meine zitternde Hand. Ich hielt das Brandyglas immer noch. Ich ging langsam zu der Hauswand und lehnte mich gegen den Backstein.

Barbara hatte mir ihr Glas in die Hand gedrückt, war auf den Balkon gegangen und in den Tod gestürzt.

2

Drei Tage später war die Beerdigung, wenn man diese merkwürdige Zeremonie überhaupt so nennen konnte. Barbara hatte keine schriftlichen Verfügungen hinterlassen, aber sie hatte vor sehr langer Zeit zu Tim gesagt, daß sie eingeäschert werden wolle. Also leitete Tim alles Nötige für eine Feuerbestattung in die Wege und beschloß, ihre Asche im Kräutergarten zu verstreuen.

Wie abgemacht trafen wir uns um zehn Uhr morgens im Garten. Wir standen alle noch unter Schock. Es waren auch ein paar Leute da, die ich nicht kannte. Freunde von Barbara? Verwandte? Eigentlich interessierte mich das überhaupt nicht. Im Grunde war es doch wirklich egal.

Der Morgen war bewölkt, aber warm. Die Pflanzen schienen sich ehrfürchtig zu verneigen. Ein paar Leute aus der Nachbarschaft standen vor dem provisorischen Zaun und schauten zu uns herüber – unsicher und ein bißchen mitfühlend. Sie konnten sich wohl keinen Reim darauf machen, was hier vor sich ging. Ich sah ein paar von den Kindern, die uns beim Pflanzen geholfen hatten, und ein paar von den Obdachlosen, die vom Tompkins Square Park herübergekommen waren.

Niemand sprach ein Wort. Wir standen nur da und schauten einander an, dann auf die Beete, dann hinauf zu den umstehenden Gebäuden, die sich als schmutzige Flecken von dem aufgewühlten Himmel abhoben.

Tim war schon früher gekommen, und jetzt stand er an der äußersten Seite des Gartens, bei der Katzenminze. Er trug einen grauen Anzug, ein graues Hemd und eine schwarze Krawatte. Im Arm hielt er eine merkwürdige Schachtel. Neben Tim war Ava Faber, die mitfühlend seinen Arm berührte, ihre Hand dann aber wieder zurückzog. Der Rest von uns hatte sich in den verschiedenen Ecken des Gartens verteilt.

Neben mir befand sich Renée Lupo. Sie wechselte ununterbrochen das Standbein, wahrscheinlich, weil sie so aufgeregt war. Links von mir hatte sich ein junger Mann postiert, den ich nicht kannte. Er fixierte entschlossen einen Punkt auf einer nahen Backsteinmauer. Er hatte unruhige blaue Augen und einen Dreitagebart.

Aus irgendeinem Grund – ich nehme an, nur um meine Fassung nicht zu verlieren – fing ich an, mit dem jungen Mann über die Geschichte des Gebäudes zu sprechen, das einmal auf dem Grundstück gestanden hatte, auf dem wir jetzt versammelt waren. Ich sprach ziemlich leise und erzählte ihm, daß es zuerst eine Synagoge gewesen war, dann eine Kirche, danach ein Tanzstudio beherbergt hatte und anschließend von einer Entziehungsklinik für Drogenabhängige übernommen worden war, der eine Theatertruppe gefolgt war. Kurz bevor es durch einen Brand zerstört wurde, war es eine sehr laute, heruntergekommene Bar gewesen. Ich erzählte ihm sogar, wie ich, zu der Zeit, als die Theatertruppe dort hauste, einmal für eine Rolle in einem Stück mit dem Titel Wo ist Emma jetzt? vorgesprochen hatte. Ich hatte keine Ahnung, warum der Mann mir überhaupt zuhörte. Er wandte seinen Blick nicht von dem Haus auf der anderen Straßenseite und nickte lediglich ab und zu. Ich brach meinen Monolog genauso abrupt ab, wie ich ihn begonnen hatte. Renée Lupo hatte meine Hand ergriffen. Wir fingen beide an zu weinen.

Die erste Welle echter Trauer über den Tod meiner Freundin traf mich genau in diesem Augenblick. Mir wurde plötzlich klar, daß ich sie mein ganzes Leben lang nie wiedersehen und nie wieder ihre Stimme am Telefon hören würde, und diese Erkenntnis fuhr mir in den Körper wie ein Rammbock. Ich hatte solche Angst umzukippen, daß ich mit meiner freien Hand nach dem jungen Fremden griff und ihn am Arm zu mir heranzog, so daß ich mich auf ihn und Renée stützen konnte.

Plötzlich schämte ich mich. Scham hatte die Angst abgelöst. Ich fühlte mich wie eine große Lumpenpuppe, die nicht ausgestopft ist. Sylvia Graffs Mann Pauly und Avas Mann Les kamen zu mir herüber, nahmen jeder einen meiner Arme und führten mich weg. Wir gingen und gingen, nirgendwohin. Die beiden sagten nichts. Ich versuchte zu sprechen, aber es war unmöglich – mein Atem ging in kurzen, abgehackten kleinen Zügen.

Allmählich ließ diese betäubende Panik nach. Pauly und Les versuchten, ihren Griff etwas zu lockern. Ich lächelte sie an, um ihnen zu bedeuten, daß wieder alles in Ordnung war, und ging allein auf meinen Platz im Kreis der Trauernden zurück.

Als ich da so stand, nachdem ich mich von diesem plötzlichen Anfall von Trauer und Angst erholt hatte und darauf wartete, daß die Zeremonie anfangen würde, dachte ich aus irgendeinem Grund wieder an das Theaterstück, das ich vor ein paar Minuten dem jungen Mann gegenüber erwähnt hatte: Wo ist Emma jetzt?

Es war eine dieser modernistischen, pseudo-philosophischen Mordgeschichten gewesen. Emma war auf der Bühne nie erschienen, weil sie wegen Mordes an ihrer dreijährigen Tochter eine lebenslange Gefängnisstrafe verbüßte.

Das Stück selbst bestand aus Interviews mit Leuten, die Emma geliebt oder gehaßt hatten, oder deren Monologen. Das Ganze wurde von einem an Pirandello erinnernden Erzähler zusammengehalten, der sich direkt an die Zuschauer wandte, wenn er nicht gerade die Leute befragte.

Ich hatte mich um die Rolle der Anya, Emmas Psychotherapeutin, beworben. Es war eine schöne Rolle, und ich war sehr enttäuscht gewesen, als ich sie nicht bekommen hatte.

Aber meine Gedanken an diesem Vormittag in dem traurigen Kräutergarten drehten sich nicht um meinen Mißerfolg bei der Vergabe dieser Rolle. Statt dessen fiel mir der Erzähler wieder ein, der nach jedem Gespräch mit einem von Emmas Freunden oder Liebhabern dem Publikum in flammenden Worten erläutert hatte, daß das Leben immer das Theater imitiert, während das Theater mit dem Leben gar nichts zu tun hat.

Damals war mir das wirklich als Blödsinn erschienen. Aber jetzt, angesichts der Asche meiner Freundin und der Trauergäste, kam es mir gar nicht mehr so unsinnig vor.

Und zum ersten Mal verstand ich, was der Erzähler in dem Stück gemeint hatte, nämlich daß das Theater die Logik menschlichen Handelns enthüllt. Im weiteren Verlauf von Wo ist Emma jetzt? stellt sich nämlich heraus, daß Emma ihre Tochter vielleicht gar nicht umgebracht hat. Und nachdem das Publikum diese Wendung verkraftet hat, muß es erfahren, daß es gar nicht sicher ist, daß Emma überhaupt eine Tochter gehabt hat.

Die Logik des Theaters besteht darin, all das, was selbstverständlich als Wahrheit angenommen wird, in Frage zu stellen – zu zeigen, daß Fakten auch Tarnkappen sein können.

Ich sah mich im Garten um und betrachtete die Gesichter der Trauergäste.

Meine Hände wurden kalt. Mir wurde bewußt, daß ich zum ersten Mal seit der Tragödie die Schwelle der Trauer überschritten hatte und in eine andere Realität eingetreten war.

Ich konnte einfach nicht glauben, daß das, was geschehen war, wirklich geschehen war. O ja, mir war klar, daß Barbara in den Tod gestürzt war. Und ich wußte, daß auch Menschen, die einen durchaus glücklichen Eindruck machen, Selbstmord begehen können. Und mir war bewußt, daß auch gute Menschen ein schlimmes Schicksal ereilen kann.

Nein, es war die Abfolge der Ereignisse, die außergewöhnlich war – von der Anlage des Kräutergartens über die Teeparty bis zu dieser Beerdigung. Irgend etwas stimmte hier nicht.

Plötzlich schämte ich mich wegen all dieser sonderbaren Gedanken. Abfolge der Ereignisse? Theater? Unsinn! Ich war hier, um meiner besten Freundin die letzte Ehre zu erweisen. Und abgesehen davon war Wo ist Emma jetzt? nach elf Vorstellungen abgesetzt worden.

Ich schloß die Augen und betete zu meinem ganz persönlichen Gott, daß, welcher Teil von Barbara auch immer noch am Leben war, er seinen Frieden finden möge.

In diesem Moment trat Tim Roman vor. Er sagte mit lauter Stimme: »Ich freue mich, daß ihr alle heute gekommen seid. Barbara hätte sich bestimmt gewünscht …« Plötzlich versagte ihm die Stimme, und er fing an, ganz schrecklich zu weinen. Wir wußten nicht, was wir tun sollten, also standen wir einfach da und sahen zu, wie sein Schmerz aus ihm herausbrach.

Es dauerte nicht lange. Tim hob die Hand, und diese Geste schien ihm dabei zu helfen, seine Beherrschung wiederzuerlangen. Gefaßt begann er abermals mit seiner Ansprache, dieses Mal leiser.

»Ich weiß, daß sie sich gewünscht hätte, daß ihre Asche an diesem Ort … äh … gepflanzt wird.« Er hielt inne und lachte ein wenig hysterisch. »Ich weiß nicht … was macht man denn mit Asche? Setzen? Pflanzen? Vergraben? … Ausstreuen, glaube ich.« Eine Minute lang starrte er abwesend auf die Schachtel in seiner Hand. Dann seufzte er tief. »Oh, Barbara hat sehr … nein, ich glaube nicht, daß ich euch erklären muß, wie sehr Barbara an diesem Garten gehangen hat. Sie hat sich sehr intensiv mit diesem Projekt beschäftigt. Aber auch mit euch hat sie sich immer beschäftigt. Sie hat euch alle sehr gern gehabt.«

Ohne weitere Worte öffnete er die Schachtel und drehte sie schnell um. Eine pudrige weiße Substanz fiel heraus. Es war überraschend wenig. Aber wir konnten sehen, wie die Asche durch die Luft flog und sich verlor, als ob jemand eine riesige Zigarette abgestreift hätte.

Tim klappte den Deckel der Schachtel zu. Alles war jetzt ganz still. Sogar die allgegenwärtigen Geräusche der Großstadt schienen leiser zu werden, wie die letzten Takte der Musik am Ende eines Films.

Einige der Gäste brachen auf, gingen zu Tim hinüber und sprachen ihm ihr Beileid aus. Ich hörte, wie eine Frau zu einer anderen sagte, daß sie überrascht sei, daß es keine kirchliche Zeremonie gegeben habe, und daß doch zumindest ein Pfarrer hätte da sein sollen oder irgend jemand, um ein paar Worte zu sagen. Oder daß Tim doch wenigstens ein Gebet hätte sprechen können.

Plötzlich drehte sich Renée um und blickte hinaus auf die Straße.

»So sinnlos … so unerklärlich«, sagte sie bitter zu mir.

Ich schaute auf ihr Profil, ihr schmales, dunkles Gesicht, das an einen eng sitzenden Handschuh erinnerte.

»Verstehst du, was ich sagen will, Alice? Sie hatte doch allen Grund zu leben. Allen Grund. Sie wurde geliebt. Und sie hat geliebt. Es ist so dumm, so dumm, so dumm. Es ergibt keinen Sinn, überhaupt keinen Sinn. Sie ist hier mit uns zusammen, hört zu, lacht, erzählt. Und im nächsten Augenblick ist sie nicht mehr. Sie hatte keinen Grund, das zu tun, Alice. Warum hat sie das gemacht? O Gott, manchmal hasse ich diese Welt.«

Ich konnte Renée nichts entgegenen, und ich wußte nicht, wie ich sie trösten sollte. Also sagte ich gar nichts.

Renée wandte sich wieder zum Garten. »Asche!« stieß sie hervor. »Wie passend: Winzige Stäubchen landen auf mickrigen kleinen Pflanzen in dem gottverlassensten Teil der Stadt.« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.

Ich wußte nur noch eines: Ich mußte jetzt unbedingt allein sein. Ich wollte nach Hause zu meinen Katzen. Das war alles. Ich sagte Renée, daß ich jetzt gehen müsse. Sie nickte zustimmend unter Tränen. Ich verließ entschlossenen Schrittes den Garten und ging in Richtung Second Avenue. Dabei lief ich immer schneller, als ob ich mit der Geschwindigkeit der Erinnerungen, die mir durch den Kopf schossen, Schritt halten wollte.

In Gedanken war ich wieder in Avas Wohnung, und Barbara hatte mir gerade ihr Brandyglas in die Hand gedrückt, weil sie etwas frische Luft schnappen wollte, wie sie gesagt hatte.

»Alice!«

Zuerst dachte ich, daß der Ruf meines Namens Teil der Erinnerungen wäre.

»Alice! Warte!«

Als ich stehenblieb und mich umschaute, sah ich einen Mann auf mich zurennen. Es war Tim Roman.

Er kam mit besorgniserregender Geschwindigkeit und Entschlossenheit näher – so schien es mir wenigstens. Er rannte mit Hingabe, völlig verzweifelt, als ob es das Wichtigste in seinem Leben überhaupt sei, mich einzuholen, als ob ich etwas von ihm hätte, daß er zurückholen müsse, koste es, was es wolle.

Anderthalb Meter vor mir blieb er stehen und versuchte, zu Atem zu kommen. Er hielt immer noch die Schachtel in den Händen.

Schwer atmend fragte er: »Warum gehst du schon?«

»Ich brauche ein bißchen Ruhe, Tim.«

»Hast du wenigstens die Zeremonie mitbekommen?«

Ich wußte nicht, was er meinte. Hatte ich nicht gerade eine Bemerkung über das beklagenswerte Fehlen jeglicher Zeremonie aufgeschnappt? Dann begriff ich, daß er wohl das Verstreuen der Asche meinte.

»Ja, ich war da, Tim. Hast du mich nicht gesehen? Ich stand neben Renée.«

Er schaute mich ganz sonderbar an, als ob er erst über die Bedeutung meiner einfachen Worte nachdenken müsse.

Dann sagte er etwas, das ich akustisch nicht verstand. Ich trat näher. »Was hast du gesagt, Tim?«

»Ich hab gesagt, ich weiß … nicht … was … ich … machen … soll.« Er hatte sehr langsam und deutlich gesprochen, und ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie rührendere Worte gehört.

»Tim«, fing ich an, aber dann ließ ich es bleiben. »Armer Tim.«

Ich küßte ihn vorsichtig auf die Wange, ging ein paar Schritte, drehte mich um und wollte die Straße überqueren.

»Einen Moment noch!« brüllte er. »Alice, ich möchte dir etwas geben!«

»Was willst du mir denn geben?«

»Ich möchte dir etwas geben«, wiederholte er, ohne auf meine Frage zu antworten.

Ich wartete eine Minute, dann sagte ich: »Ich muß jetzt gehen, Tim. Ruf mich an, okay?«

In diesem Moment wurde die Ampel grün, und ich ergriff die Gelegenheit und überquerte die Straße. Als ich auf der anderen Seite war, schaute ich zurück. Er stand immer noch da, die Schachtel in der Hand.

3

Tim rief mich nicht an. Statt dessen stand er eines nachmittags einfach vor der Tür. Diesmal hatte er zwei Schachteln dabei.

Sein Auftauchen war die Krönung eines sowieso schon ziemlich unerfreulichen Vormittags. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Tag damit verbracht, zu versuchen, Bioläden und den vornehmeren Gemüsehändlern in meiner Nachbarschaft Päckchen mit getrockneter Katzenminze zu verkaufen. Wir standen alle immer noch unter dem Eindruck von Barbaras Tod, aber wir hatten beschlossen, mit dem Kräutergarten weiterzumachen, weil das Barbaras Wunsch gewesen wäre. Wir behielten die alte Arbeitsteilung bei: Wir ernteten alle zusammen, dann trockneten Sylvia und Ava die Pflanzen, Renée verpackte sie und ich sollte die Päckchen verkaufen. Das war eine Aufgabe, um die ich mich niemals gerissen hätte. Aber meine Gärtnerschwestern waren irgendwie zu dem im Grunde ziemlich logischen Schluß gekommen, daß eine Schauspielerin sich hervorragend zur Verkäuferin eigne.

Um halb elf an diesem Vormittag war ich schon in vier Geschäften gewesen, ohne auch nur ein Päckchen losgeworden zu sein.

Der fünfte Laden war ein ganz neues, recht vornehmes Geschäft für Produkte aus biologischem Anbau auf der Second Avenue. Es hieß Nature & Nuture. Ich trat selbstbewußt ein und dachte an Ava Fabers Vortrag, mit dem sie mich davon hatte überzeugen wollen, daß ich eine höchst erfolgreiche Verkäuferpersönlichkeit sei. »Alice, du bist doch schließlich Schauspielerin. Du weißt doch, wie man einen Raum betreten muß. Und du weißt, wie man überzeugt, vertrauenswürdig wirkt, charmant ist. Du trittst ganz groß auf, und dann machst du einfach so weiter. Du wirst die Konkurrenz nur so hinwegfegen.«

»Was für eine Konkurrenz?« fragte ich.

»Du wirst unwiderstehlich sein«, versicherte sie mir.

Leider vermasselte ich meinen großen Auftritt bei Nature & Nuture. Es war nämlich keine Menschenseele da. Das Geschäft machte einen gutsortierten Eindruck: Regale voller Gläser organischer, pestizidfreier Marmeladen und Brotaufstriche, Dosen mit sorgfältig zubereiteten vegetarischen Suppen, Flaschen mit gewaltigen Vitamintabletten und reihenweise Bücher über gesunde Ernährung, Körperbewußtsein und ganzheitliche Medizin. Ein kleiner Kühlschrank war vollgestopft mit Ziegenmilch in Flaschen und Behältern mit wenig vertrauenerweckenden, trüben Flüssigkeiten, die farbenfrohe Etiketten mit japanischen Aufschriften trugen.

Ich ging zu der verlassenen Theke. Wie komisch, da war ein kleiner Klingelknopf. Ich drückte vorsichtig darauf, aber das Geräusch war zu leise, um eine Maus aufzuschrecken. Also klingelte ich energischer. Sobald der Besitzer kommt, kann ich ja wieder charmant sein, sagte ich mir.

»Ich komme, ich komme«, hörte ich jemand aus dem Hinterzimmer grummeln. Eine Minute später kam ein Mann. Er trug ein schwarzes T-Shirt und Jeans und war staubbedeckt. Er hatte eine Zange und eine Glühbirne in der Hand. Offenbar war er gerade dabei gewesen, im Hinterzimmer irgend etwas zu reparieren. Und er schien keineswegs begeistert über den Anblick einer Frau, die er für eine zahlende Kundin halten mußte.

»Was kann ich für Sie tun?« Er fuhr sich mit der Hand durch das strähnige, leicht ergraute rote Haar, das sein rundes Gesicht umgab.

Anstelle einer Antwort holte ich eines der kleinen Päckchen aus meiner Schultertasche und hielt es hoch. »Ich möchte Sie gern für unsere wunderbare biologisch-dynamische Katzenminze begeistern, die sehr gut in Ihr Sortiment passen würde. Sie ist selbstgezogen, hier in der Stadt, in einem reizenden Kräutergarten in Manhattan. Ein Päckchen kostet Sie nur fünfundsiebzig Cents, und Sie können ohne weiteres einen Dollar fünfzig oder sogar zwei Dollar dafür nehmen.«

Ich glaube, meine Taktik funktionierte nicht, denn er gab keine Antwort. Er schaute von meinem Gesicht auf das Päckchen Katzenminze und dann wieder auf mich. Aber bevor ich mit meiner Vorstellung fortfahren konnte, fing er an zu lachen. Es war nicht nur ein Kichern, sondern ein richtiges, herzhaftes Lachen, ein Lachen, das mich sehr gefreut hätte, wenn dies hier beispielsweise eine Folge der Golden Girls gewesen wären.

Ich verstand seine Reaktion nicht. Was hatte ich falsch gemacht?

Nach einer Minute hatte er sich wieder in der Gewalt. »Es tut mir leid, Sie müssen entschuldigen. Es ist nur so: Ich komme hier heraus wie der Butler, weil Madam geklingelt haben, und dann stehe ich einer großen, prachtvollen Frau gegenüber, die eine Anzugjacke aus den Vierzigern trägt, für die meine Mutter ihre Seele verkauft hätte, und dann fangen Sie hier mit Ihrer Vorstellung über Katzenminze an, und mir wird klar, daß Sie die Kate in dem letzten Theaterstück waren, das ich mit meiner Mutter besucht habe. Das ist doch alles wirklich komisch.«

»Sie haben mich in Der Widerspenstigen Zähmung gesehen?«

»Ja, in der Cherry Lane. Das war 1971. Sie waren großartig.«

»Na, Sie sind ja wirklich nett. Und meine Klamotten gefallen Ihnen auch.«

Er lachte wieder. »Da sieht man mal wieder, wie das Leben so spielt. Ich manage hier ein Karnickelfutter-Imperium, und Sie wollen mir dieses Zeug da andrehen, also …«

»Genau«, unterbrach ich ihn. »Das ist wirklich ein Qualitätsprodukt. Würden Sie in Erwägung ziehen können, ein paar Päckchen zu nehmen?«

»Nein, aber trotzdem vielen Dank. Wir haben leider keine Verwendung dafür. Aber um die Ecke ist eine Zoohandlung. Warum versuchen Sie’s nicht dort?«

»Ich könnte Ihnen ein paar in Kommission hierlassen«, insistierte ich, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte, als diesen Laden endlich zu verlassen. »Sie zahlen erst, wenn Sie sie verkauft haben.«

»Ich bin mir sicher, daß bei uns keinerlei Nachfrage besteht.« Er schüttelte den Kopf und machte Anstalten zu gehen. Er war mir durch die Lappen gegangen.

»Noch eine Minute bitte!« rief ich, und plötzlich erkannte ich die ganze Bedeutung des Satzes: Nehmen Sie nie ein Nein als Antwort hin. »Sie wissen doch bestimmt, daß Katzenminze nicht nur für Katzen ist?«

»Was soll denn das heißen?«