Eine Katze lädt zur Weihnachtsgans - Lydia Adamson - E-Book

Eine Katze lädt zur Weihnachtsgans E-Book

Lydia Adamson

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Beschreibung

Das Verwaltungskomitee eines New Yorker Obdachlosenheims wartet kurz vor Weihnachten vergeblich auf die jährliche Spende eines unbekannten Wohltäters. Ist der Scheck in der Post verlorengegangen? Oder hat der anonyme Gönner kein Interesse mehr an der Arbeit der karitativen Einrichtung? Der tragische Selbstmord Will Hollands, Mitglied des Komitees, läßt auf ein Verbrechen schließen. Katzenliebhaberin Alice Nestleton macht sich mit Freunden auf die Suche nach dem mysteriösen Spender und kommt dabei einem tödlichen Komplott auf die Spur...

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Über Lydia Adamson

Lydia Adamson ist das Pseudonym einer bekannten Krimiautorin. Bisher im Aufbau Taschenbuch Verlag erschienen: »Eine Katze kommt selten allein«, »Eine Katze macht Theater«, »Eine Katze im Wolfspelz«, »Eine Katze bittet zum Tee«, »Eine Katze hinter den Kulissen«, »Eine Katze sitzt im Glashaus«, »Eine Katze schlägt den Takt«, »Eine Katze tanzt aus der Reihe«, »Eine Katze ist kein Engel«, »Eine Katze lädt zur Weihnachtsgans«, »Eine Katze auf dem Laufsteg«, »Eine Katze kommt selten allein«.

Informationen zum Buch

Das Verwaltungskomitee eines New Yorker Obdachlosenheims wartet kurz vor Weihnachten vergeblich auf die jährliche Spende eines unbekannten Wohltäters. Ist der Scheck in der Post verlorengegangen? Oder hat der anonyme Gönner kein Interesse mehr an der Arbeit der karitativen Einrichtung? Der tragische Selbstmord Will Hollands, Mitglied des Komitees, läßt auf ein Verbrechen schließen. Katzenliebhaberin Alice Nestleton macht sich mit Freunden auf die Suche nach dem mysteriösen Spender und kommt dabei einem tödlichen Kompott auf die Spur.

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Lydia Adamson

Eine Katze lädt zur Weihnachtsgans

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Christine Pavesicz

Inhaltsübersicht

Über Lydia Adamson

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Impressum

Kapitel 1

Der Schnee kam am 7. Dezember. Kurz nach sieben Uhr abends.

Ich war hingerissen von den weißen Flocken – sie fielen dick, lautlos, geheimnisvoll und, wie es schien, ohne Ende.

Du meine Güte! dachte ich. Das ist ja wie damals als Kind in Minnesota, als ich zusah, wie die Farm meiner Großmutter in eine weiße Decke gehüllt wurde: der Hof, die Felder, das Haus, der Kuhstall, das Auto, der Lastwagen. Alles weiß.

Ich hob meine Katzen hoch, Bushy auf den rechten Arm, Pancho auf den linken.

Wir standen an dem riesigen Loftfenster, durch das man einen Blick auf das nächtliche Manhattan hatte.

»Schaut doch, ihr dummen Dinger!« sagte ich zu den beiden. »Wie könnt ihr bloß so blasiert sein? Das ist echter Schnee. Und wenn ihr euch nicht anständig benehmt, dann werfe ich euch hinein. Verstanden?«

Bei meinen Drohungen gähnten sie nur, aber schließlich starrten sie doch hinaus auf die fallenden Flocken. Dann küßte ich meine beiden Tiere auf die Nase und ließ sie wieder hinunter.

Ich fühlte mich recht gut. Nur noch siebzehn Tage bis Weihnachten. Und dieses Jahr würde ich einen Baum kaufen. Sollten die Katzen daran herumknabbern soviel sie wollten. Ich würde auf jeden Fall einen Baum besorgen. Aber es war noch viel zu früh. Die Preise waren zu hoch. Ich wußte, ich würde den Baum erst kaufen, wenn die Verkäufer auf den Gehsteigen sie zu Schleuderpreisen abgaben, achtundvierzig Stunden vor Weihnachten. Und auch meine Geschenke würde ich erst am Vierundzwanzigsten kaufen. Ich beschloß einfach, an diesem Weihnachtsfest Chaos und Anarchie herrschen zu lassen.

Ja, ich fühlte mich recht gut. Obwohl man mir seit fast sechs Monaten keine Rolle angeboten hatte. Obwohl meine Arbeit als Catsitterin in den letzten Zügen zu liegen schien. Obwohl ich mich derzeit nicht allzu gut mit meinem ehemaligen und zukünftigen Lover verstand – Anthony »Mr. Bühnenbild« Basillio. Und obwohl meine gesamte Barschaft ganze 131 Dollar 61 Cent betrug.

Ich machte mir eine Tasse extrastarken Pfefferminztee.

Da läutete das Telefon. Ich war sicher, daß der Anrufer Tony war.

Er war es nicht.

In mein Ohr dröhnte laut eine barsche Stimme: »Ist dort die Schauspielerin Alice Nestleton? Die anno ’86 in Die Troierinnen gespielt hat – im Public?«

Also, dachte ich, wer immer dieser Verrückte ist, zumindest kennt er eine jener Produktionen, in denen ich – Sie verzeihen, daß ich prahle – eine Glanzleistung erbracht habe.

»Ja«, sagte ich nach einer ziemlich langen Pause, während der der Anrufer wiederholt geschnauft und sich geräuspert hatte. »Ich bin diese Alice Nestleton.«

»Super. Alice, hier ist Jack Rugow. Wie geht es dir, verdammt noch mal?«

Ich war sprachlos. Jack Rugow? Mit dem hatte ich seit gut fünf Jahren nicht mehr gesprochen. Er war Produzent, Regisseur, Direktor und Mädchen für alles der letzten echten Repertoiretheatergruppe in Manhattan. Das Theater hieß schlicht ›das Rep‹, und es brachte jedes Jahr vier Stücke heraus: einen Shakespeare, einen amerikanischen Klassiker (gewöhnlich O’Neill), eine europäische Komödie und stets auch ein Erstlingswerk eines Unbekannten. Alles am Rep war erstklassig, und der Grund dafür war der unverwüstliche Jack Rugow.

Er ließ mir keine Zeit für Konversation. »Ich weiß, es ist etwas kurzfristig«, sagte er. »Und es schneit wie verrückt. Aber ich bin in einer Kneipe in der Jane Street, dem Corner Bistro, und ich möchte dich auf einen Drink einladen.«

»Jetzt?«

»Jetzt!«

Vor meinem geistigen Auge erstanden Visionen eines phantastischen Rollenangebots. Ich sagte nur: »Ich bin in zwanzig Minuten da.«

Ich schaffte es in fünfzehn. In der Kneipe herrschte nicht das übliche Gedränge von Stammgästen, Collegestudenten und Angestellten. Auf dem Fußboden waren unzählige Pfützen von tropfenden Stiefeln. Ich schüttelte den Schnee von meiner Mütze und hielt Ausschau nach Jack.

Vorne an der Theke war er nicht. Er saß an einem Tisch im hinteren Teil des Lokals und spielte mit der Ketchup-Flasche.

Dann entdeckte er mich und winkte heftig. Ich nahm ihm gegenüber Platz. Der gute alte Jack! Er trug einen altmodischen Pullover mit Schneeflocken- und Schlittenmotiven.

»Du siehst wunderbar aus, Alice!« sagte er fröhlich.

»Vielen Dank.«

»Was willst du trinken?«

»Danke, gar nichts.«

»Nichts? Nun, ich werde das Leben genießen, auch wenn du es nicht tust.« Er ging an die Bar und kam mit einem Bourbon pur in der einen Hand und einem Glas Wasser in der anderen zurück.

Ich betrachtete sein Gesicht. Seit wir uns zum letzten Mal gesehen hatten, schien er etwas ruhiger geworden zu sein, etwas weniger manisch. Sein Haar war nach wie vor streng zurückgekämmt, und mit seiner Kleidung sah er noch immer aus wie ein frecher verhinderter Marlon Brando. Das war er aber nicht. Er war überhaupt kein Schauspieler.

»Eigentlich sollte es ja erst zu Weihnachten schneien«, sagte Jack. Dann griff er über den Tisch, nahm meine Hand und sagte: »Danke, daß du dich so kurzfristig mit mir triffst. Du warst schon immer ein patentes Mädel, Alice.«

Er ließ meine Hand los, lehnte sich zurück, und sagte recht ernst: »Ich möchte mit dir über Sustenance reden.«

Wellen der Hoffnung und des Verlangens erfaßten mich.

Eine Rolle! Ja! Dieser Mann hier wird mir jetzt gleich eine Rolle in einem neuen Stück mit dem Titel Sustenance anbieten.

»Das ist ein schöner Titel«, sagte ich beiläufig. »Wer hat es geschrieben?«

»Was geschrieben?«

»Sustenance … das Stück.«

»Nein, meine Liebe. Sustenance ist kein Stück. Es ist ein Gebäude. Sustenance House. Es ist eine karitative Einrichtung. Es gibt dort Essen für die Armen, Unterkunft für die Obdachlosen und einen billigen Second-Hand-Laden. Solche Sachen. Hast du noch nie davon gehört?«

»Nein.«

»Es ist berühmt für den Gänsebraten, den es am ersten Weihnachtsfeiertag für die Obdachlosen gibt. Siebenhundert Mahlzeiten, mit allem Drum und Dran. Kannst du dir das vorstellen?«

»Nein«, antwortete ich wieder.

Allmählich kam mein Blut in Wallung. Hatte er mich wirklich in den Schnee hinausgelockt, nur um mich um eine Spende für sein karitatives Lieblingsprojekt anzugehen? Mich, mit meinen hunderteinunddreißig Dollar auf der Bank?

Er schien in Gedanken versunken zu sein. Ich wurde noch wütender. Ich verspürte den Drang, ihm mit der Ketchup-Flasche eins überzubraten.

Doch dann fragte er ganz leise: »Ist es wahr, was man von dir erzählt?«

»Was erzählt man denn?« fragte ich mit großen Augen.

»Daß du ein sehr ›interessantes‹ Hobby hast.«

»Was denn?«

»Nun, nicht Modelleisenbahnen. Ich meine ein Interesse an … Verbrechen.«

»Bist du in Schwierigkeiten, Jack?«

»Nein. Nicht ich persönlich. Aber das Sustenance House. Und wir brauchen dringend Hilfe, Alice.«

»In welcher Beziehung stehst du zu diesem Haus?«

»Ich sitze im Vorstand. Wenn ich nicht im Rep bin, bin ich dort. Es ist inzwischen ein wichtiger Teil meines Lebens. Kannst du das verstehen? Ich möchte mehr tun, als nur die Menschen unterhalten. Ich möchte ihnen helfen.«

»Ja, Jack, natürlich kann ich verstehen, daß man anderen Menschen helfen will.« Plötzlich war mein ganzer Zorn auf ihn verraucht.

»Ich will dir etwas erklären«, sagte er in traurigem Tonfall. »Wir brauchen deine Hilfe jetzt – sofort. Es geht um folgendes: Jedes Jahr um diese Zeit erhalten wir eine überaus großzügige anonyme Spende – genau gesagt 81.000 Dollar. Eine ziemlich beeindruckende Summe, nicht wahr?«

»Das kann man wohl sagen.«

»Zwölf Jahre lang ist dieser Betrag pünktlich wie die Uhr eingetroffen. Wir verwenden das Geld für unser mittlerweile berühmtes Weihnachtsmahl, aber wir bezahlen damit auch die Hypothek auf das alte Haus für das folgende Jahr, unterstützen Leute, die dringend ärztliche Behandlung benötigen und so weiter.«

Er drehte die Handflächen nach oben und fuhr fort: »Aber dieses Jahr … kein Geschenk. Keine 81000 Dollar.«

»Warum?«

»Wir wissen es nicht. Möglicherweise wurde die Spende ja sogar wie üblich geschickt, aber wir haben sie einfach nicht erhalten.«

Jack trank seinen Whiskey aus.

»Das klingt verrückt, nicht wahr, Alice? Nun, es ist verrückt. Das Geld wird als normale, bevorzugt beförderte Post an uns gesandt. Unser anonymer Spender gibt das Päckchen nicht einmal eingeschrieben auf. Schlimmer noch, er oder sie schickt keinen Verrechnungsscheck. Das Geld kommt in Form von Postschecks und Bankschecks. Es ist ein dickes Bündel, weil Postschecks mit je 700 Dollar limitiert sind und Bankschecks mit 1.000 Dollar.

Natürlich könnte der Spender einen einzigen Verrechnungsscheck über die Gesamtsumme ausstellen, doch dann müßte sein Name darauf aufscheinen. Jedenfalls gibt es unserer Meinung nach drei Möglichkeiten: Erstens, er hat vielleicht einfach beschlossen, keine Spende mehr zu schicken. Richtig?«

»Sicher«, sagte ich.

»Oder, zweitens, die Person ist vielleicht gestorben. Richtig?«

»Richtig.«

»Oder, drittens, vielleicht haben wir nach zwölf Jahren schlicht und einfach Pech, und das Päckchen ist bei der Post verlorengegangen.«

»Stellt er die Schecks auf das Sustenance House aus, bevor er das Päckchen aufgibt?«

»Nein. Es sind ausnahmslos Blankoschecks. Es ist weder ein Auftraggeber angeführt noch ein Empfänger. Einfach Blankoschecks. Der Leiter des Sustenance House läßt sie dem Konto des Hauses gutschreiben.«

»Wie kann ich euch helfen, Jack?«

»Wir müssen den anonymen Spender ausfindig machen. Wenn er oder sie am Leben ist und einfach seine Unterstützung einstellen will, okay. Aber wenn das Päckchen bei der Post gestohlen wurde oder verlorengegangen ist, hilft er uns vielleicht dieses eine Mal aus und handelt in Zukunft vernünftiger. Wir haben schon mit der Polizei gesprochen. Die können nichts tun. ›Wo ist das Verbrechen?‹ haben sie gesagt. Man kann nicht einmal eine Abgängigkeitsanzeige erstatten. Irgend jemand hat vorgeschlagen, Anzeigen in Zeitungen zu setzen. Aber was soll das bringen? Unser Spender will nicht, daß wir ihn finden.«

Er ging noch einmal zur Bar und kam mit zwei Bourbons zurück, einer davon für mich, vermutete ich. Aber ich trank ihn nicht.

»Hör zu, Alice. Heute abend findet im Sustenance House eine Vorstandssitzung statt.«

»Bei diesem Wetter?«

»Ja. Es werden alle ein bißchen zu spät kommen, aber was soll’s? Ich habe dem Leiter von dir erzählt. Er hat gesagt, ich soll mit dir reden. Kommst du zu der Sitzung mit? Er wird dir gefallen, wirklich. David Devries ist ein faszinierender Mann. Er war Pilot in Vietnam, ein Kriegsheld. Nach dem Krieg machte er eine Bombenkarriere in der Werbebranche. Dann wurde er gläubig und trat der Gemeinschaft der Christian Brothers bei. Als er seinen Glauben verlor, trat er der Gemeinschaft der Trinker bei und landete in der Gosse. Als er wieder nüchtern wurde, gründete er das Sustenance House.«

Jack trank seinen zweiten Bourbon aus und leerte dann in einem einzigen Zug das Glas Wasser. Er gab der Bedienung ein Zeichen, daß er mit seinem Gelage fertig war. Wie ein Leopard auf dem Sprung lauerte er auf meine Antwort.

Doch ich zögerte.

»Wir können mit dem Taxi fahren«, sagte er.

»Bei diesem Schnee kriegt man kein Taxi«, antwortete ich.

»Ich schon«, versprach er.

Also willigte ich ein. Er behielt recht. Er bekam tatsächlich ein Taxi. Doch wir brauchten eine Stunde, um im Schneckentempo zu dem dreistöckigen Gebäude in einem verwahrlosten Häuserblock zwischen der First und der Second Avenue zu gelangen, direkt unter einer Ausfahrrampe der Fifty-ninth Street Bridge.

Von außen sah es aus wie ein gewöhnliches Wohnhaus, doch sobald man drinnen war, merkte man, daß es eine öffentliche Einrichtung war. Es gab Klassenzimmer, Cafeterias, Versammlungsräume und Schwarze Bretter – und einige sehr seltsam aussehende Leute, die in den Gängen herumspazierten.

»Wir können nur siebzehn Obdachlose pro Nacht unterbringen, aber wir geben hier über hundert Mahlzeiten aus und liefern jeden Abend mindestens ebensoviele außer Haus«, sagte Jack stolz.

Er schloß eine Tür auf. »Sieh mal, Alice. Eine Bühne! Dachtest du, ich würde zulassen, daß es hier kein Theater gibt?« Er lachte herzlich.

Ich schaute hinein. Die Bühne war sehr klein. »Es ist schön, Jack. Was für Sachen spielt ihr?«

»Bis jetzt gar nichts.«

Dann fuhren wir mit einem winzigen, langsamen Aufzug hinauf in den dritten Stock. »Wir sind auf dem Weg zu den Luxusbüros in der Chefetage«, sagte er spöttisch. »Bist du nicht begeistert von unserem Hochgeschwindigkeits-Aufzug?«

Die Türen öffneten sich in einen Sitzungssaal. Es gab einen langen, einfachen Tisch, um den Klappstühle standen, eine Tafel auf einem Ständer, ein paar Aktenschränke und einen Bücherschrank.

Wir setzten uns. Ich sah eine kleine Pfütze auf dem Fußboden und merkte, daß ich vergessen hatte, meine Stiefel auszuziehen.

Hinter uns fiel eine Tür ins Schloß. Ein großer, gebeugter, extrem dünner Mann in schäbiger Kleidung huschte herein und nahm am Kopfende des Tisches Platz. Sein Kopf war kahlrasiert, und er wirkte gestreßt, aber freundlich. Nein, fast wie ein Heiliger.

Jack stellte mich David Devries vor.

»Es freut mich, daß Sie heute abend gekommen sind«, sagte der Leiter des Sustenance House, »und ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie uns helfen wollen.«

Er begann die Unterlagen in der Mappe auf dem Tisch zu ordnen.

Dann trudelten nach und nach die übrigen Vorstandsmitglieder ein. Einer nach dem anderen traten sie in Abständen von fünf Minuten aus dem Aufzug und zogen beim Gehen ihre schneebedeckten Jacken und Mäntel aus.

Jack flüsterte mir bei jedem ins Ohr, wer das war: Samuel Mortimer, Krankenhausverwalter; Raya Lambert, Hutdesignerin; Will Holland, Reiseschriftsteller; Ishmael Rood, Restaurantbesitzer.

Sie nickten einander zu, doch keiner sagte ein Wort. Jedes Vorstandsmitglied setzte sich hin und nahm einen Block, Unterlagen und Schreibgeräte heraus.

David Devries räusperte sich und erklärte damit die Versammlung für eröffnet. »Wie Sie sehen«, begann er, »haben wir einen Gast: Alice Nestleton, eine gute Bekannte von Jack. Ich werde nach der Versammlung den Grund ihrer Anwesenheit erklären.«

Die Hutdesignerin schenkte mir ein freundliches Lächeln.

Aus dem Hintergrund tauchte eine weitere Person auf, eine Frau mit zerzausten strohblonden Haaren. Sie nahm sich einen Stuhl und setzte sich direkt hinter Devries.

»Unsere Stenographin«, erklärte mir Jack flüsternd. »Daisy Eidan. Eine ehemalige Obdachlose. Darvonsüchtig. Sie wohnt hier. Führt Protokoll.«

Devries starrte auf seine elegante Füllfeder, klopfte damit einmal leicht auf den Tisch und sagte: »Was wir im Augenblick brauchen, sind Ideen, wie wir für die kurzfristige Finanzierung rasch Geld auftreiben können. Es sind nur noch siebzehn Tage bis Weihnachten.«

Er sprach mit einem knappen, vornehmen Neuengland-Akzent, der fast britisch klang. Er hatte etwas Hartes, Asketisches an sich, das Aufmerksamkeit erregte und … nun, Respekt gebot.

Samuel Moritmer, der einen gutgeschnittenen italienischen Anzug trug, fragte: »Können Sie uns einen Betrag in Dollar und Cent nennen? Ich meine, wieviel brauchen wir im Augenblick?«

Bevor Davies antworten konnte, begann Will Holland, der Reiseschriftsteller, zu lachen.

Erschreckt starrten ihn alle an.

Er beugte sich hinunter, öffnete seine Aktentasche, faßte hinein, holte ein paar Gegenstände heraus und warf sie auf den Tisch. Es waren kleine, in durchsichtiges Zellophan verpackte Bischofsstäbe aus Zucker.

»Ich dachte, wir sollten die Versammlung mit einem kleinen Imbiß beginnen«, verkündete er und schob jedem am Tisch einen Nikolostab zu.

Keiner machte Anstalten, die Süßigkeit zu nehmen.

»Ist er betrunken?« fragte Jack Devries besorgt.

»Ich finde, es ist vielleicht noch etwas früh für eine Weihnachtsfeier«, sagte Devries bestimmt, als hätte er langjährige Erfahrung mit Leuten, die unter zeitweiliger Umnachtung litten.

Holland lachte wieder; er hörte sich wirklich an wie ein Geistesgestörter. »Oh, nein! Es ist nie zu früh für eine Weihnachtsfeier, meine Freunde«, krähte er. »Aber wenn ihr keine Zuckerstäbe wollt, habe ich noch etwas anderes für euch.«

Wieder griff er in seine Aktentasche, und jetzt zog er eine Anzahl von kleinen Wasserpistolen heraus, die er genau wie die Zuckerstäbe auf den Tisch warf.

»Sie sind alle geladen … spritzbereit«, rief er und verteilte die Spielzeugpistolen an die Vorstandsmitglieder.

Wieder saßen alle Anwesenden wie erstarrt da, ohne die Wasserpistolen zu berühren.

»Was ist los? Ihr glaubt nicht, daß sie funktionieren?« fragte Holland.

Er nahm er die Pistole vor sich, setzte sie an seine Schläfe und drückte ab.

Die Kugel, die in seinen Schädel eindrang, warf ihn samt seinem Klappstuhl um.

Ich erinnere mich ganz genau, daß ich mich am längsten von allen weigerte, den toten Mann auf dem Fußboden anzusehen.

Statt dessen starrte ich auf den Nikolostab aus Zucker und auf die Wasserpistole vor mir auf dem Tisch.

Kapitel 2

Am nächsten Tag – fünfzehn Stunden nach der Tragödie – trat der Vorstand des Sustenance House erneut zusammen.

Am selben Ort. Mit derselben Besetzung. Mit Ausnahme von Will Holland natürlich.

Wir waren alle noch immer benommen. Nervös sahen wir einander an, und dann suchten unsere Blicke rasch die Tischfläche nach unerwünschten Gegenständen ab. Es waren keine da.

Ich wollte gar nicht hier sein, aber mein Gewissen gebot es. Und um die Weihnachtszeit meldet sich das Gewissen gerne mit ungewohnter Kraft.

Der Leiter des Sustenance House handelte die Tragödie rasch, teilnahmsvoll und fachmännisch ab. »Ich war heute bis zwei Uhr früh auf der Polizei. Ich werde Ihnen alles berichten, was ich erfahren habe. Die Kriminalbeamten haben sich mit dem Co-Autor von Will Holland in Verbindung gesetzt, einem Mann, der ihn sehr viel besser kannte als wir. Wie es scheint, litt Will seit drei Jahren, seit dem Tod seines jüngeren Bruders, an einer schweren Depression. In diesen drei Jahren nahm er immer wieder Medikamente, und die ständig wechselnden Antidepressiva haben dazu geführt, daß er häufig die Kontrolle verlor.

Das hat man mir jedenfalls gesagt, und ich gebe es so, wie ich es gehört habe, an Sie weiter. Ich habe seiner Familie Beileidswünsche von uns allen hier im Sustenance House übermittelt. Das Begräbnis findet im engsten Kreis statt.«

Lange Zeit herrschte Schweigen. Dann sagte Samuel Mortimer: »Das ist merkwürdig. Auf mich hat er nie depressiv gewirkt, nur nachdenklich.«

Raya Lambert sagte: »Was mir nicht in den Kopf will, sind diese Wasserpistolen. Dieses ganze Ritual war so bizarr. Und glauben Sie mir, ich dachte, die Pistole, die er in die Hand nahm, sei auch eine Wasserpistole.«

Devries nickte.

»Ich habe die Waffe bei der Polizei wiedergesehen. Sie sieht wirklich wie eine Wasserpistole aus. Aber sie wirkt offenbar doch tödlich. Einer der Kriminalbeamten sagte mir, es ist eine französische Pistole, Kaliber.25 – in den USA sehr selten.«

Jack Rugow trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. Als Devries verstummte, sah Jack Raya an und nickte heftig.

»Wissen Sie, was Sie da gerade gesagt haben? Von einem Ritual? Das stimmt genau. Ich habe gestern, nachdem es passiert war, einen befreundeten Psychiater angerufen. Er sagte, viele Selbstmörder vollführen eine Art Ritual, bevor sie sich umbringen. Das Problem ist, dieses Ritual hat nur für sie selbst eine Bedeutung. Zum Beispiel nimmt jemand alle Münzen aus der Tasche und stapelt sie auf. Oder er baut ein Kartenhaus. Oder er holt alle Socken aus der Schublade und faltet sie sorgfältig zusammen. Bei Will waren es Bischofsstäbe aus Zucker und Wasserpistolen. Wie in einem japanischen No-Drama. Wissen Sie, was ich meine?«

Ungeduldig brach Devries diesen theoretischen Diskurs über die Beziehung zwischen präsuizidalen Ritualen und einer Form des asiatischen Theaters ab.

»Kommen wir jetzt zu Miss Nestleton«, sagte er. Er gab Daisy, der Stenographin, ein Zeichen, daß das folgende nicht ins Protokoll aufgenommen werden sollte. Daisy mit ihren nach wie vor wild zerzausten Haaren nahm diese Anweisung stoisch hin. Betroffen stellte ich fest, daß ich nicht einmal bemerkt hatte, daß sie wieder im Raum war. Bei genauerer Überlegung wurde mir klar, daß sie viel jünger war, als sie auf den ersten Blick wirkte. Wie zum Teufel sieht eine ehemalige Darvon-Süchtige denn eigentlich aus? Und warum Darvon?

Devries sagte: »Ich möchte Ihnen sagen, wer Miss Nestleton ist und warum sie hierher eingeladen wurde. Sie ist eine Freundin von Jack. Sie ist eine sehr gute New Yorker Schauspielerin. Aber was für uns das Wichtigste ist, sie ist eine Frau mit einem einzigartigen Talent, bestimmte Probleme zu lösen, gewöhnlich krimineller Natur. Sie hat sich bereiterklärt, zu versuchen, die Identität und den Aufenthaltsort unseres plötzlich verschwundenen Wohltäters herauszufinden. Ich möchte ihr versichern, daß wir alle ihr auf jede nur mögliche Art behilflich sein werden.«

Raya lachte und meinte: »Wir würden Miss Nestleton ja gerne helfen. Aber wir wissen nichts von ihm … oder ihr, je nachdem. Absolut nichts.«

»Nicht absolut nichts«, korrigierte sie Devries. Er gab der Stenographin ein Zeichen; sie stand auf, verschwand im hinteren Teil des Zimmers und kam mit einem Aktenkoffer zurück.

Devries nahm den Koffer, stellte ihn auf den Tisch und klappte den Verschluß auf.

»Aus irgendeinem Grund«, sagte er, »habe ich die äußere Verpackung der Schecks aufbewahrt. Die ganzen zwölf Jahre lang.«

Dann sah er mich an und lächelte matt. »Hier ist sie, Miss Nestleton. Es ist nicht viel, aber mehr haben wir nicht.«

Er nahm ein Bündel brauner Briefumschläge heraus, die mit einem Gummiring zusammengehalten wurden.

»Das waren die äußeren Kuverts. Jedes Jahr die gleichen. Alle zwölf.«

Er legte die Umschläge zurück in den Aktenkoffer und nahm ein anderes Päckchen heraus.

»Wie Sie wissen«, erklärte er, »waren in jedem Kuvert Bündel mit Schecks. Und jedes Bündel war in einen Plan der New Yorker Buslinien gewickelt. Hier sind diese Pläne – etwa dreißig.«

Er hielt sie einen Augenblick hoch. Jack Rugow stöhnte auf. Devries legte sie wieder zurück in den Koffer.

Schließlich nahm er ein sehr kleines Päckchen heraus, das aus Zetteln bestand, die mit einer Büroklammer zusammengehalten wurden.

»Und hier sind die kurzen Botschaften, die er jeder Sendung beigelegt hat. Kryptische kleine Einzeiler. Als ich sie erhielt, wußte ich nicht, was sie bedeuten, und ich weiß es auch jetzt nicht.« Er lächelte mich an. »Deshalb ist Miss Nestleton hier. Wenn es jemand herausfinden kann, dann sie.«

Er legte die Zettel mit den Botschaften zurück in den Aktenkoffer, klappte schwungvoll den Deckel zu und schob ihn über den Tisch zu mir.

Aller Augen richteten sich auf mich. Ich merkte, daß man auf irgendeine enthusiastische Reaktion warteten. Ich warf Jack einen schnellen, giftigen Blick zu. Waren diese Leute hier noch ganz bei Trost? Glaubten sie wirklich, daß ich mit ein paar Bündeln anonymem Trödel ihren verschollenen Andrew Carnegie finden könne?

Ich starrte auf die Wand. Zum ersten Mal fiel mir auf, daß zwar das ganze Sustenance House weihnachtlich geschmückt war – in einer schrillen Mischung aus von den Obdachlosen gebastelten Kränzen, Zeichnungen und verrückt aussehenden Strümpfen –, im Besprechungszimmer jedoch nur eine einzige Dekoration an der Wand hing. Es war eine große, schwarze Silhouette des Weihnachtsmannes und seiner Rentiere. Donner. Blitz. Prancer. Dancer … äh … ich versuchte mich an die Namen der übrigen Rentiere zu erinnern. Es gelang mir nicht. Ich wandte mich zu David Devries und schenkte ihm mein schönstes geheucheltes Lächeln.

»Ich werde mein Bestes tun«, sagte ich.

»Und jetzt wollen wir uns darüber unterhalten, wie wir Geld beschaffen können«, sagte Devries zu seinen Vorstandsmitgliedern. Ich nahm meinen neuen Aktenkoffer, verabschiedete mich vom Weihnachtsmann und seinen Rentieren und fuhr mit dem Aufzug nach unten.

Ein paar Stunden später saß ich im winzigen Büro meiner Freundin Nora im hinteren Teil des Pal Joey, ihres Bistros im Theaterviertel. Nora hatte sich hinter ihrem hoffnungslos überladenenen Schreibtisch niedergelassen. Sie machte eine Verschnaufpause zwischen dem Mittags- und dem Abendgeschäft. Wie üblich war sie erschöpft. Schließlich war sie Empfangsdame, Oberkellnerin, Teilzeit-Küchenchefin und notfalls auch Serviererin in einem. Eigentlich gab es keinen Bereich ihres Lokals, in dem sie nicht ständig mitmischte, selbst wenn es auch ohne sie recht gut lief. Das Pal Joey war ein Erfolg. Die Lage war perfekt, das Essen ziemlich gut – wenn Nora kochte, sogar fast großartig. Die Bar war gemütlich. Das Restaurant schummrig genug für ein Rendezvous, freundlich genug für Familien, und es hatte sowohl für Theaterbesucher als auch für Darsteller genug »Broadway-Flair«.

»Mit diesem Aktenkoffer siehst du aus wie eine Diplomatin«, sagte Nora. »Weißt du nicht, daß Schauspielerinnen solche Dinger nicht verwenden? Sie wirken plump, Al.«

»Tony kommt in ein paar Minuten«, antwortete ich.

»Ach ja? Warum? Ist irgendwas?«