Eine Katze schlägt den Takt - Lydia Adamson - E-Book

Eine Katze schlägt den Takt E-Book

Lydia Adamson

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Beschreibung

Alice Nestleton, Schauspielerin, Catsitterin und Amateurdetektivin, hat den Auftrag, die Katze eines Musikers nach Massachusetts aufs Land zu schaffen. Alice leidet noch unter den schlechten Kritiken für ihre letzte Theaterrolle und hofft auf ein erholsames Wochenende. Und wirklich, die Landschaft ist wunderschön. Aber leider muß sie zusammen mit den Musikern - ein Quartett - in einer Künstlerkolonie wohnen, und die Herren sind untereinander ziemlich zerstritten. Als der Pianist, ein gutaussehender Frauenheld, ermordet wird, ist es endgültig vorbei mit ihrer Ruhe.

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Über Lydia Adamson

Lydia Adamson ist das Pseudonym einer bekannten Krimiautorin. Bisher im Aufbau Taschenbuch Verlag erschienen: »Eine Katze kommt selten allein«, »Eine Katze macht Theater«, »Eine Katze im Wolfspelz«, »Eine Katze bittet zum Tee«, »Eine Katze hinter den Kulissen«, »Eine Katze sitzt im Glashaus«, »Eine Katze schlägt den Takt«, »Eine Katze tanzt aus der Reihe«, »Eine Katze ist kein Engel«, »Eine Katze lädt zur Weihnachtsgans«, »Eine Katze auf dem Laufsteg«, »Eine Katze kommt selten allein«.

Informationen zum Buch

Alice Nestleton, Schauspielerin, Catsitterin und Amateurdetektivin, hat den Auftrag, die Katze eines Musikers nach Massachusetts aufs Land zu schaffen. Alice leidet noch unter den schlechten Kritiken für ihre letzte Theaterrolle und hofft auf ein erholsames Wochenende. Und wirklich, die Landschaft ist wunderschön. Aber leider muß sie zusammen mit den Musikern – ein Quartett – in einer Künstlerkolonie wohnen, und die Herren sind untereinander ziemlich zerstritten. Als der Pianist, ein gutaussehender Frauenheld, ermordet wird, ist es endgültig vorbei mit ihrer Ruhe.

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Lydia Adamson

Eine Katze schlägt den Takt

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Christine Pavesicz

Inhaltsübersicht

Über Lydia Adamson

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Impressum

1

Ich kenne einen Schauspieler, der in der Lower East Side von New York City geboren wurde. Jerry hat immer gesagt, die beängstigendste Vorstellung sei für ihn, in einer finsteren Nacht ganz allein auf dem Land zu sein. Ich als Mensch, der auf einer Farm geboren und aufgewachsen ist, habe über seine Großstadtparanoia immer gelacht.

Doch als ich mich in jener Herbstnacht im ländlichen Massachusetts verirrt hatte, verstand ich, was Jerry meinte. Die Finsternis schien alle paar Minuten doppelt so undurchdringlich zu werden, und ich konnte nichts dagegen tun.

Ich bekam nicht heraus, welcher von den vielen Knöpfen auf der Konsole meines Mietwagens für das Fernlicht war. Und zu allem Übel krallte sich jetzt unten, neben dem Gaspedal, Lulu in meine Knöchel. Ich hatte den Verschluß des Katzenkorbs nicht fest genug zugemacht, und sie hatte sich daraus befreit.

Lulu war natürlich nicht meine Katze. Meine waren gesund und munter zu Hause und wurden abwechselnd von meinem Freund Tony und meiner Nachbarin Mrs. Oshrin versorgt. Lulu war eine braungetigerte Scottish-Fold, eine Faltohrkatze mit hinreißenden goldenen Augen und den süßesten Ohren der Welt – sie waren nach vorne gefaltet. Ich betreute sie als Catsitterin. Sie lebte gewöhnlich bei Beth Stimson, einer Frau in meinem Alter, die zweite Geigerin im Riverside Streichquartett war. Beth hatte mich gebeten, Lulu zu nehmen und nach West-Massachusetts hinaufzubringen, wo sie ein paar Wochen auf Urlaub war – oder »im Refugium«, wie sie es genannt hatte. In dem Haus, wo sie wohnte, hatte Beth gesagt, wimmelte es von Feldmäusen, also waren Lulus Fähigkeiten als Mäusefängerin gefragt. Aber mir konnte sie nichts vormachen. Ich wußte, daß sie sich einfach nach ihrem Kätzchen sehnte.

Doch warum hatte ich in ihren Vorschlag, da oben doch auch selbst gleich ein wenig Urlaub zu machen, so begeistert eingewilligt? Weil ich eine kleine Pause brauchte, deshalb. Und zwar ganz dringend. Nicht nur, weil das Stück, in dem ich – weitab vom Broadway – die Hauptrolle gespielt hatte, nach elf Vorstellungen unrühmlich abgesetzt worden war – ich war auch noch ganz speziell hervorgehoben und total verrissen worden. Nicht nur verrissen. Vernichtet. Von einem sehr bekannten Theaterkritiker, der als Gastautor für den New Yorker arbeitete.

Er hatte unter anderem geschrieben:

Alice Nestleton steht in dem wohlverdienten Ruf, eine der besten unterschätzten Schauspielerinnen des amerikanischen Theaters zu sein, doch diese Aufführung trägt nicht dazu bei, diesen Zustand zu ändern.

Zugegeben, es ist sehr schwierig, Henry James auf die Bühne zu bringen (wenngleich es einige brillante Ausnahmen gibt, die diese Regel bestätigen). Zu gegeben, daß James’ Das Tier im Dschungel eines seiner kompliziertesten Spätwerke ist, da es darin um zwei Menschen geht, die in unergründlichen Zwängen befangen sind, die sie daran hindern, sich zu ihrer Liebe zu bekennen. Aber abgesehen von alledem ist Miss Nestletons klaustrophobe, mütterliche Darstellung der zum Scheitern verurteilten Heldin May Bartam tödlich und die sturste Fehlinterpretation einer Hauptrolle, die ich seit vielen Saisonen gesehen habe.

Ich war damit klargekommen. Meine Freunde waren mir eine große Hilfe gewesen. Aber ich brauchte einen Urlaub.

Offenbar hatte ich irgendwo eine Abzweigung verpaßt oder ein Straßenschild falsch gelesen. Die hohen Bäume, die sich auf beiden Seiten über die Straße neigten, schienen mich auf dieser Fahrt ins Nirgendwo zu verfolgen. Und jetzt benahm sich Lulu wirklich schlecht.

Ich fuhr an den Straßenrand und setzte sie wieder in ihren Tragkorb. Ich tastete herum, bis ich die Innenbeleuchtung fand, und sah dann auf den Karten dieser Gegend nach, die Tony in dem Reisebücherladen in der Nähe des Rockefeller Center für mich gekauft hatte.

Es wurde kalt, und ich spürte, wie der Wind durch den Kleinwagen blies. Doch als ich die Karte studierte, erschien mir meine Lage nicht ganz so aussichtslos. Wenn ich dem kleinen weißen Schild glauben sollte, auf dem stand, daß ich jetzt in das Dörfchen Hopewell fuhr, hatte ich mich gar nicht so sehr verirrt. Ich mußte nur zusehen, daß ich nach Northampton kam – das ich anscheinend um ein paar Meilen verfehlt hatte. Beth Stimson hatte Northampton vor meiner Abfahrt sogar erwähnt. Sie wohnte im ’Covington-Zentrum – was immer das war –, das sich am Rand eines kleinen Dorfes namens Covington befand, und dieses war wiederum vierzig Autominuten von dem größeren Northampton entfernt.

Und Northampton kannte ich, weil dort das Smith College beheimatet war, wo ich nicht nur einmal ein Workshop besucht hatte, sondern auch als Gastlektorin für eine Gruppe von Schauspielschülern engagiert worden war – auf freundliche Empfehlung meiner Freundin Amanda Avery, die dort Theaterwissenschaften unterrichtete.

Ich mußte an den Spruch »Da führt kein Weg hin« denken. Anders ausgedrückt, ich fand nicht hin, weil ich nach Covington suchte, doch die einzige Möglichkeit, nach Covington zu gelangen, bestand darin, zuerst Northampton zu finden. Und das tat ich dann auch.

Es war fast zehn, als ich scharf von der Straße abbog und auf das Gelände des Zentrums fuhr. Wie sich herausstellte, war es weder ein Hotel noch eine Privatpension noch eines der exquisiten Landgasthäuser von Neuengland. Auf dem groben, verwitterten Schild an der Eingangstür stand: KUNSTZENTRUM COVINGTON. GEGRÜNDET 1919.

Es gab ein riesiges Haupthaus, in dem Licht brannte. Von den unbeleuchteten kleineren Gebäuden dahinter konnte ich nur die Umrisse sehen. Langsam fuhr ich zum Haus und parkte den Wagen auf einem ehemaligen Rasen, schnappte die Katze und ging auf die Tür zu.

»Wo wollen Sie hin?«

Erschreckt von der Stimme drehte ich mich um und sah mich einer erschöpft wirkenden Frau gegenüber, die gerade eine Plastiktüte mit Müll in einen großen hölzernen Behälter an der Seite des Hauses werfen wollte.

»Ich suche Beth Stimson«, antwortete ich genauso schroff, wie die Frau mit mir gesprochen hatte.

»Oh. Na, dann gehen Sie ’rein«, sagte sie ungeduldig. »Stehen Sie hier nicht ’rum – gehen Sie ’rein.«

Ich klopfte laut und öffnete dann die schwere Tür. Und da kam mir auch schon Beth entgegen. Ihr langes braunes Haar war aus dem Gesicht gekämmt und fiel offen über den Rücken ihres schwarzen Rollkragenpullovers.

»Da sind Sie ja!« rief sie. »Ich habe mir schon Sorgen um Sie gemacht – ich wollte schon die berittene Polizei rufen.«

»Ich hab’ mich nur ein bißchen verirrt, Beth.« Ich beugte mich hinunter, um den Verschluß des Katzenkorbs zu öffnen, und Lulu war wieder mit ihrer Freundin vereint.

Irgendwo im Inneren des Hauses erklang Musik. Schubert. Ich schaute an Beth und Lulu vorbei, durch das dunkle Wohnzimmer in die riesige Küche. Ich konnte die Ecke eines großen Eichentisches sehen, an dem eine Frau mit einem Glas in der Hand saß. Es waren auch noch andere Leute da hinten. Ich konnte leises Stimmgemurmel hören.

»Kommen Sie mit, Alice.« Beth hatte Lulu losgelassen und nahm mich jetzt am Ellbogen. »Ich stelle Sie den anderen Typen vor.«

Die »Typen« waren gar keine Typen. Es waren drei reizende Frauen, Beths Kolleginnen im Riverside Streichquartett. Der Reihe nach wurde ich allen vorgestellt: Roz Polikoff, der ersten Geigerin, Darcy Wilson, der Violaspielerin und Miranda Bly, der Cellistin. Weiterhin war Mathew Hazan zugegen, der engelsgleiche Manager des Ensembles, und Ben Polikoff, dessen Gesicht ich aus den Zeitungen kannte, weil er ein einflußreicher New Yorker Geschäftsmann war.

Als mich Beth auf einen kleinen Erholungsurlaub hierher eingeladen hatte, war ich gar nicht auf die Idee gekommen, daß ihr ganzes Ensemble ebenfalls hier sein würde. Ich fragte mich, was für ein Urlaub das wohl für sie war und was für ein Urlaub das für mich werden würde. Natürlich hatte ich schon von allen Frauen des Ensembles gehört, obwohl ich sie nicht namentlich hätte nennen können. Das Riverside Streichquartett war schließlich eines der ersten erfolgreichen rein weiblichen Ensembles in der Welt der klassischen Musik; es gab sie schon ziemlich lange, seit den späten siebziger Jahren. In gewisser Weise waren sie alle Berühmtheiten.

»Und das ist unsere Köchin, Mrs. Wallace«, sagte Beth und deutete auf die schroffe Frau, die mich draußen angesprochen hatte. In dem beleuchteten Zimmer konnte mich Mrs. Wallace besser von oben bis unten mustern. Sie nickte mir kurz zu und zog sich zurück. Ich war offensichtlich mitten in eine Party geplatzt – oder vielleicht auch in eine Brainstorming-Sitzung –, oder vielleicht saßen sie auch nur alle nach einem späten Abendessen da und entspannten sich. Jedenfalls herrschte auf dem Tisch ein schreckliches Durcheinander: Käserinden, Obstschalen, Dessertteller und Kaffeebecher, und in der Mitte eine riesige Flasche Martell Cognac.

Darcy Wilson, die schwarz und zierlich und ungewöhnlich hübsch war, hob Lulu hoch und sah sie prüfend an. »Ich finde, sie sieht aber nicht aus wie die beste Mäusefängerin von Nordamerika, Beth.«

»Hab’ Vertrauen«, antwortete Beth leichthin, und erst da erinnerte ich mich wieder daran, unter welchem Vorwand Lulu hier war.

»Wir haben noch einen Mann an Bord, Alice«, sagte Beth. »Aber er ist anscheinend im Augenblick nicht an Deck. Wo ist denn eigentlich der liebe Will?«

»Wahrscheinlich steht er irgendwo vor einem Spiegel und bewundert sich«, sagte Miranda, die Cellistin. Sie zündete sich eine Zigarette an.

Diese kryptische Bemerkung bezog sich, wie ich sogleich erfuhr, auf Will Gryder, den Konzertpianisten, der häufig als Gastsolist mit dem Quartett auftrat. Wie mir Roz Polikoff mitteilte, spielte Will das Stück von Schubert. Eine alte Aufnahme von ihm war soeben wieder ausgegraben worden und auf CD herausgekommen.

»Ihr wißt ja, wie Will ist«, schmunzelte Mathew Hazan. »Wahrscheinlich ist er im Studio und brütet vor sich hin.«

»Also, ich führe Alice mal ein wenig herum«, sagte Beth und ging mit mir zur Küchentür, die ins Freie führte.

»Kommen Sie dann auf einen Drink, Alice!« rief Ben.

»Okay, danke.«

»Macht weiter, Kinder«, sagte Beth. Doch bevor wir hinausgingen, nahm sie von einem Haken neben der Speisekammer einen schönen, durch das Tragen noch veredelten Schaffellmantel. »Den werden Sie brauchen«, sagte sie und reichte ihn mir. »Sie sind nicht warm genug angezogen.«

Sie hatte recht. Es war kälter geworden. Aber es war eine wunderschöne, sternklare Nacht. »Morgen werden Sie mehr sehen können«, sagte Beth. »Bei Tageslicht. Es ist sehr schön hier. Gehen wir den Hügel hinauf, ja? Ich stelle Sie Will vor.«

»Gut«, sagte ich. »Was ist das hier, Beth? Werden hier Exerzitien abgehalten oder so was?«

»Wohl kaum. Es ist eine Künstlerkolonie, in der gearbeitet wird. Maler, Schriftsteller, Bildhauer und Komponisten und so weiter – viele von ihnen beziehen irgendeine Form von finanzieller Unterstützung. Aber im Augenblick ist das Geld knapp. Das Zentrum ist nur im Frühling und im Sommer geöffnet; das restliche Jahr über wird es monatsweise an private Gruppen vermietet.«

Langsam gingen wir in der finsteren Nacht den Hügel hinauf; die Steine knirschten unter unseren Füßen. Sie bewegte sich in der Dunkelheit sehr sicher und blickte nicht – wie ich von Zeit zu Zeit – zum raschelnden Wald hinüber, der uns umgab.

»Sie fragen sich wahrscheinlich, was wir alle hier oben tun«, sagte sie nach einer Minute.

»Ich nehme an Sie üben – oder so was.«

»Nicht direkt. Zumindest nicht nur.«

Ihre Bemerkung hatte etwas Kryptisches an sich, und ich wartete darauf, daß sie fortfuhr.

»Unser Aufenthalt hier oben ist für uns … ach, eine Art Heilmittel … eine Art Erholung … nach der Europatournee. Sie war, mit einem Wort, furchtbar. Eine echte Katastrophe. Wir haben scheußlich gespielt. Wir haben uns gestritten. Wir wurden von den Kritikern fast in der Luft zerrissen. Und wir sind total erledigt und erschöpft zurückgekommen. Sie haben gesagt, wir hätten das gewisse Etwas verloren, Alice. Daß wir vielleicht vier gute Musikerinnen seien, aber nichts, was einem Quartett auch nur im entferntesten ähnelt. Keine Einheit. Es tut weh, wenn man solche Kritiken bekommt. Es tut wirklich weh.«

»Oh«, sagte ich, »ich glaube, ich weiß, wie das ist.«

»Hmm. Aber das Traurige daran ist – wer könnte ihnen widersprechen? Wahrscheinlich waren wir einfach ausgebrannt. Und daher sagte Mat nach unserer Rückkehr, es sei Zeit, daß wir wieder zusammenwachsen. Er dachte, es wäre gut, wenn wir eine Zeitlang mal von allem wegkommen, keinem Druck ausgesetzt sind, uns überlegen, wie die nächste Saison aussehen soll, einige Dinge, die uns irgendwie abhanden gekommen sind, wieder perfektionieren. Aber was noch wichtiger ist, er möchte, daß wir einander wieder kennenlernen, daß wir wieder spüren, wie sehr wir einander … brauchen … lieben. Also mietete er dieses himmlische Anwesen und besorgte uns eine Köchin, die uns mit tollen Speisen verwöhnt. Eigentlich war es als eine ganz altmodische Klausur gedacht – ohne Ehemänner, ohne Liebhaber, ohne – nun, auch ohne Haustiere. Wir sollen nur reden und spielen und uns erholen. Aber wie Sie sehen können, holen wir uns allmählich unser Stadtleben hier herauf. Eins nach dem anderen.«

Jetzt brach Beth ihre Erklärung ab und zeigte mir die überwucherten Pfade zu den diversen Hütten und Studios auf dem Grundstück. Irgendwo im Wald hörte ich einen Bach, der den Hügel hinunterplätscherte.

Im Mondlicht konnten wir die Umrisse von Wills Studio sehen. Es war eine große umgebaute Scheune mit Mansardenfenstern, die rund um den ersten Stock verliefen.

Dann kam Beth wieder auf ihr Thema zurück. »Ich glaube, in gewisser Weise war es wirklich als geistige Klausur gedacht. Aber ich weiß nicht, ob es funktioniert. Vielleicht sind wir zu alt, zu zynisch. Jedenfalls, wie ich schon sagte: eins nach dem anderen holen wir her. Zuerst Roz’ Mann, Ben – aber das war ja wohl zu erwarten. Roz hat ein geniales Talent dafür, zu bekommen, was sie will.«

Vor meinem geistigen Auge sah ich Roz, die blasse Geigerin – mit ihrer prächtigen, unglaublich lockigen rotblonden Haarmähne, den unglaublich durchdringenden blauen Augen, dem perfekt geformten, hungrigen Mund mit unglaublich perfekten Zähnen und einer Stimme, von der man sich gerne in den Schlaf singen lassen würde.

»Dann tauchte Will hier auf«, fuhr Beth fort, »und dann Lulu. Darcy wird wahrscheinlich nächste Woche das Kind ihrer Schwester hierher einladen. Na ja … ich glaube, nichts funktioniert immer genau nach Plan, nicht wahr? Außer vielleicht Bach.«

Jetzt standen wir auf dem Gras vor der Scheune. »Sind Sie sicher, daß Will nichts dagegen hat, wenn wir ihn stören?« fragte ich. »Vielleicht möchte er allein vor sich hin brüten.«

Beth lachte. »Das bezweifle ich. Ich habe nie erlebt, daß Will auf die Gelegenheit verzichtet, eine schöne Frau kennenzulernen. Und auch umgekehrt.«

Sie stieß die Tür ins Studio auf und ging hinein. Ich folgte ihr. Das Innere der Scheune war atemberaubend – mit einer hohen Gewölbedecke, von der riesige, üppige Wandteppiche hingen. Die Lampen waren hinter Aufsätzen an der Decke versteckt und von außen nicht zu sehen, doch innen erhellten sie den riesigen Raum mit ihrem indirekten Licht.

»Da ist ja unser Held«, sagte sie und beschleunigte ihre Schritte. »Er schläft bei der Arbeit. Und nicht mal in der Nähe des Klaviers.«

Gryder saß auf einem Lehnsessel in einer Ecke, die durch zwei im rechten Winkel aufgestellte alte Sofas vom Rest des Studios abgetrennt war.

»Will, ich möchte dir meine …«

Die Vorstellung wurde unverständlich. Beth drehte sich zu mir um; ihre Augen waren riesig und schreckerfüllt.

Dann schrie sie. Sie fiel nach vorn und krallte sich an mir fest.

Ich versuchte sie aufzurichten, sie zu stützen, und blickte hilfesuchend zu dem stillen Mann auf dem Sessel hinüber.

Er konnte mir nicht helfen. Ein scharfer Gegenstand mit einem Holzgriff war ihm tief mitten in die Brust gestoßen worden. Sein Flanellhemd war voller Blut. Blut. Blut. Blut.

2

Situationen wie diese sind wirklich seltsam. Sobald der Schock und die Panik und das hysterische Herumgerenne vorbei sind, sobald die Polizei kommt und alles in eine Art klinische Ordnung bringt, kriecht die Zeit nur so dahin.

Meine Beine waren schon ganz steif.

Ich mußte mich wirklich zwingen, nicht immer wieder auf die alte Uhr auf dem Kaminsims zu schauen. Dies war schließlich eine ernste Sache, und ständig die Zeit im Auge zu behalten, wäre das gleiche, als würde man bei einem Begräbnis auf die Uhr schauen. Schließlich ging ich aber doch hinüber und sah nach, nur um festzustellen, daß die Uhr nicht funktionierte.

Aber ich wußte, es mußte mindestens zwei Uhr früh sein.

Der große Beamte der Staatspolizei mit dem energischen Kinn, der die Untersuchung leitete, hatte sich als »Lieutenant Donaldson« vorgestellt. Das war vor einer Ewigkeit gewesen. Inzwischen hatten er und seine Männer den Tatort und das Haupthaus systematisch Zentimeter für Zentimeter abgesucht und durchgekämmt und alles umgedreht und waren fächerförmig auf das finstere Grundstück ausgeschwärmt.

Jetzt saß ich mit Beth und ihren Kolleginnen im herrschaftlichen Wohnzimmer des alten Hauses. Während wir auf weitere Anweisungen – oder vielleicht sogar Befehle – der Polizei warteten, äußerte ab und zu jemand seinen Kummer oder beschwerte sich, daß nichts weiterging. Doch die meiste Zeit schwiegen wir und warteten, und die Minuten schleppten sich dahin.

Ich kam mir sehr als Eindringling vor. Vielleicht lag es daran, daß ich schon immer die größte Ehrfurcht vor Leuten gehabt hatte, die klassische Musik spielten, und diese Frauen gehörten der Weltklasse an. Diese Ehrfurcht hatte mir meine Großmutter eingeimpft. Wie bei vielen Landbewohnern, die sehr isoliert leben, hatten die wöchentlichen Radiokonzerte und ihre Sammlung von alten achtundsiebziger Schallplatten eine zutiefst emanzipatorische Wirkung auf sie. Ich kann mich noch gut daran erinnern, welch reine Freude sich auf dem Gesicht meiner Großmutter spiegelte, wenn sie ihre zerkratzte Lieblingsplatte hörte: Brahms, Opus 67, gespielt vom Londoner Streichquartett. Und ich weiß noch, wie sie mit der gesammelten Ausgabe von Streichquartetten von Beethoven, gespielt vom Budapester Streichquartett, umging. Bevor sie eine der Schallplatten herausnahm, stand sie da und starrte die Box in ihrer Hand an, als enthielte sie das Evangelium.

Ich ertappte mich dabei, wie ich überlegte, wie Officer Donaldson wohl mit Vornamen hieß. Ich wußte, daß das albern war, aber es war eine von vielen Möglichkeiten, die Zeit hinter sich zu bringen. Er sah aus wie ein Lewis, fand ich; vielleicht auch wie ein Calvin – oder möglicherweise sogar wie ein seltsamer, ungewöhnlicher Pete.

Als ich gerade den Namen Aloyisius Donaldson in Betracht zog, kam Miranda Bly von ihrer Sitzung mit dem Lieutenant zurück ins Zimmer. Wahrscheinlich war der Lieutenant mit ihr fertig – für den Augenblick.

Miranda ging schnurstracks auf den Lehnsessel zu, auf dem sie ihre Zigaretten liegengelassen hatte. Wortlos setzte sie sich hin und zündete sich eine an.

Dann brachte Mrs. Wallace diese Riesenflasche Cognac herein. Wir alle stürzten uns darauf. Gott sei Dank war sie mir gegenüber etwas milder geworden; vor einer Stunde hatte sie sich erboten, mir ein Tomaten-Käse-Sandwich zu machen (das Brot hatte sie erst am Morgen gebacken, erzählte sie mir, als ob mich das in jenem Augenblick interessiert hätte). Sie hatte es mir dann mit einem großen Stück hausgemachtem Gewürzkuchen und einem Glas köstlichen Apfelweins serviert. Ich hatte seit dem Mittagessen in New York nichts mehr zu mir genommen.

Darcy hatte die letzte Stunde oder so vor sich hin geschnieft und war nervös auf ihrem Sessel hin- und hergerutscht. Aber jetzt erhob sie sich und ging zum Kamin, um im Feuer herumzustochern. Ihre Bewegungen waren sehr sparsam, als sei sie einmal Tänzerin gewesen. Beth stand auf und ging zu ihr. Ich konnte sehen, daß sie mit Darcy sprach, verstand aber nicht, was sie sagte.

Ben Polikoff, der einen teuren roten Schipullover trug, schenkte seiner Frau noch einmal Cognac ein. Er versuchte ganz offensichtlich Roz zu trösten, doch sie schien sich in anderen Sphären zu befinden. Sie starrte geradeaus ins Feuer, das unter anderen Umständen sehr gemütlich gewesen wäre; sie war eindeutig ganz woanders, total abgekapselt von uns anderen. Ihre Haut war gespenstisch weiß, ihre Augen verschleiert. In ihrem Kummer – oder Schock oder Schmerz, was immer sie bewegte – war Roz sogar noch schöner. Ich sah, wie sie geistesabwesend den tröstenden Arm ihres Mannes abschüttelte. Ben blickte hilflos zu Miranda hinüber, die wegschaute.

In diesem Augenblick kam Mrs. Wallace mit einer Kaffeekanne herein. Als sie sich hinunterbeugte, um unsere Tassen zu füllen, sah ich die Anspannung in ihrem Gesicht.

»Vielen Dank«, sagte ich, als ich an die Reihe kam. »Haben Sie eine Ahnung, wie weit sie da draußen sind?« Damit meinte ich Donaldson und seine Männer.

»Das geht mich nichts an«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. »Aber wenn Sie glauben, Sie können diese dummen Bullen antreiben … nun, dann wünsche ich Ihnen viel Glück.«

Doch ich brauchte nicht lange auf eine richtige Antwort auf meine Frage zu warten. Bald darauf kam Mathew Hazan herein; er wirkte mitgenommen, aber entschlossen. Immer wieder strich er sich zwanghaft über sein langes schwarzes Haar. In seinem grauen Hemd und dem grauen Cordsamtanzug sah er aus wie ein Professor von irgendeiner Prestige-Universität – Wesley oder so –, der soeben eine Vorlesung über die Mehrdeutigkeit in der mittleren Schaffensperiode von Haydn gehalten hatte.

Und mit Hazans Rückkehr waren wir wieder alle beisammen. Jetzt hatte Donaldson in der verstaubten Bibliothek neben dem Wohnzimmer mit jedem einzelnen von uns gesprochen.

Bald darauf erschien der Lieutenant persönlich. Für drei Uhr früh war er wirklich noch frisch – das leicht graumelierte Haar saß perfekt, das rosa Yuppie-Hemd unter seiner wollenen Sportjacke war gestärkt, die Bügelfalten an seiner Hose makellos … ich fragte mich, ob er sich auch noch Zeit genommen hatte, sich zu rasieren.

Donaldson stand da und sah sich im Zimmer um; er taxierte uns, bevor er sprach. Seine Haltung hatte etwas von Gary Cooper in Zwölf Uhr mittags. Als er zu sprechen anfing, beobachtete ich aufmerksam seinen Adamsapfel.

»Es wird noch ein Weilchen dauern, bevor Sie alle schlafengehen können«, begann er. Bestimmt, aber höflich, doch nicht respektvoll. »Ich kann Ihnen inzwischen ein paar vorläufige Informationen geben, aber wir müssen natürlich auf den Bericht des Gerichtspathologen warten, bevor wir eine offizielle Aussage machen können.

Es sieht so aus, als wäre Mr. Gryder etwa um acht Uhr abends gestorben. Aber wie gesagt, das ist keine verbindliche Aussage. Das Opfer … Mr. Gryder wurde anscheinend durch einen Stich in die Brust getötet. Die Tatwaffe ist eine Art Meißel, wie sie von Bildhauern verwendet wird. Sie paßt zu den Werkzeugen, die einige der Künstler verwenden, die einmal in der Scheune gewohnt haben, in der Mr. Gryder sein Studio hatte.

Wir haben keine Kampfspuren gefunden. Wie es scheint, saß Mr. Gryder auf dem Sessel – und war sozusagen ganz entspannt –, als er getötet wurde. Das deutet mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hin, daß er den Angreifer kannte.« Hier machte Donaldson eine Pause – was für ein recht gutes Gefühl für Dramatik sprach – und ließ seinen Blick flüchtig über uns schweifen.

»Doch andererseits fanden wir bei einer Durchsuchung seines Zimmers in diesem Haus hier weder seine Brieftasche noch den Schmuck, den er angeblich trug. Daher ist es auch gut möglich, daß es sich um einen Raubüberfall gehandelt hat.

Im Vorjahr wurden hier in dieser Schule zwei Fälle von Diebstahl oder Vandalismus gemeldet, aber -«

»Das ist eigentlich keine Schule, Lieutenant Donaldson.« Der Einwurf kam von Mat Hazan. »Es ist eine Künstlerkolonie.«

Donaldson warf Hazan einen grimmig-aufmerksamen Blick zu. Er wartete kurz und fuhr dann fort: »Die beiden Vorfälle vom letzten Jahr waren nicht besonders ernst. Doch in jedem Fall kamen die Missetäter zu Fuß auf das Grundstück. Wie Sie wissen, hatten wir hier oben bereits Frost. Der Boden ist zu hart, als daß wir etwas darauf sehen könnten. Das heißt, Fußabdrücke können wir wahrscheinlich vergessen.

Wer immer Mr. Gryder umgebracht hat, war auch im Hinblick auf die Waffe sehr vorsichtig. Wir haben keine –«

In der Tür war plötzlich einer von Donaldsons Untergebenen aufgetaucht, ein kleiner Mann in Uniform. »Ford?« rief er. »Kommst du mal? Nur einen Augenblick.«

Damit war mein albernes Spiel mit dem Vornamen zu Ende. Ich hatte meine Antwort. Ford Donaldson. So richtig schön stoisch. Und sehr amerikanisch. Wie John Ford. Oder Ford Maddox Ford, der Autor von The Good Soldier. Zweifellos war Ford Donaldson ebenfalls ein guter Soldat.

Er ging hinaus, um sich mit seinem Mitarbeiter zu beraten. Und zum ersten Mal, seit die Polizeiautos die Auffahrt heraufgerast waren, wurde diese kultivierte Gruppe von Freunden, Ehepartnern und Kollegen lebhaft.

»So ein eingebildeter, aufgeblasener Wichtigtuer!« fauchte Miranda. »Er glaubt wahrscheinlich, er kann uns mit seiner jämmerlichen Clint-Eastwood-Imitation beeindrucken.«

Ich war etwas überrascht über ihre zornige Reaktion auf Donaldson. Aber andererseits hatte ich schon mit vielen Kriminalbeamten der New Yorker Polizei zu tun gehabt, gegen die sich Donaldson anhörte wie der Direktor einer PR-Firma. Und diese Erfahrung hatte Miranda höchstwahrscheinlich nicht gemacht.

Benjamin Polikoff spazierte im Kreis herum. »Also, beeindrucken will er uns sicher«, sagte er. »Daran besteht kein Zweifel. Er will die cleveren Großstadttypen gleich in ihre Schranken weisen. Wenn er solche Prioritäten setzt, dann -« Irgend jemand im Zimmer lachte über das Wort »Prioritäten«, doch Polikoff fuhr unbeirrt fort. »Wenn er solche Prioritäten setzt, dann weiß ich nicht, wieviel Vertrauen wir in seine Ermittlungen setzen können.«

»Es muß doch irgendeine andere Instanz geben, an die wir uns wenden können«, sagte Mathew Hazan zuversichtlich. »Das FBI oder so was. Ich muß mich schon fragen, ob die Einheimischen hier oben für so einen Fall den … die richtige Ausrüstung haben.«

»Die Ausrüstung oder den Verstand?« fragte ich sanft.

»Bitte mißverstehen Sie mich nicht, Miss Nestleton. Ich will weder der Staatspolizei von Massachusetts als Gesamtes noch einem der Herren auf diesem Grundstück zu nahe treten. Aber Sie müssen verstehen, es ist, als wäre ein Familienmitglied ermordet worden. Will Gryder hat jedem einzelnen von uns viel bedeutet – überaus viel bedeutet. Ganz zu schweigen von seiner Bedeutung für das kulturelle Leben in New York – und auf der ganzen Welt.«

Das hielt ich nun aber für eine Übertreibung. Ich betrachtete mich nicht als Expertin auf dem Gebiet der klassischen Musik, aber ich wußte sehr gut, daß der Name Gryder den Leuten wohl kaum so geläufig war. Horowitz vielleicht, aber nicht Gryder.

»Ich möchte nur dafür sorgen, daß etwas getan wird!« fuhr Hazan fort.

»Natürlich wollen wir, daß etwas getan wird, Mathew«, sagte Beth Stimson. »Aber was bringt es, wenn ihr beide, du und Ben, euch wichtig macht? Damit werdet ihr diesen Donaldson nur noch mehr vor den Kopf stoßen.«

Ich bemühte mich sehr, den richtigen Ton anzuschlagen. Ich wollte ganz vorsichtig sein, niemandem auf die Zehen treten und ebenfalls niemanden vor den Kopf stoßen. »Also«, sagte ich, »Lieutenant Donaldson ist ja vielleicht ein wenig überheblich, aber soviel wir sehen konnten, scheint er sehr kompetent zu sein. Und obwohl er vielleicht nicht so viele Verbrechen sieht wie ein New Yorker Polizist, ist das Niveau der Staatspolizei – besonders der Kriminalbeamten – wahrscheinlich noch höher als in der Stadt. Ihre Ausbildung entspricht wahrscheinlich sogar eher dem Niveau des FBI als der des durchschnittlichen Großstadtpolizisten.« Und warum doziere ich jetzt so?

Miranda schnaubte. »Ach, ich verstehe. Es ist alles unter Kontrolle. Dann können wir uns wahrscheinlich ganz entspannt zurücklehnen – wie Will. Ich hatte ja ganz vergessen, Beeswax«, sagte sie zu Beth Stimson gewandt, »du hast uns ja erzählt, daß deine Katzenbetreuerin auch eine Hobbydetektivin ist. Stimmt’s, Miss Nestleton?«

»Nun, ja«, sagte ich freundlich. »Hobbydetektivin. Amateurdetektivin. Wie auch immer. Aber ehrlich gesagt würde ich niemandem raten, sich entspannt zurückzulehnen, wenn sich hier möglicherweise ein Mörder herumtreibt … Und sagen Sie bitte Alice zu mir«, fügte ich hinzu. Und dann, an die ganze Gruppe gewandt: »Sie alle, sagen Sie bitte einfach Alice zu mir. Ich weiß, ich gehöre nicht wirklich zu Ihnen, aber wir werden vielleicht ziemlich viel Zeit miteinander verbringen.«

Mit amüsierter Miene schlenderte Darcy zu mir herüber. »Noch etwas Brandy, Alice?« fragte sie. Und als ich mein Glas hochhielt, sagte sie: »Bitte, erklären Sie uns das mit der Zeit, die wir alle miteinander verbringen werden.«

Doch in diesem Augenblick kam der Lieutenant zurück.

»Also, ich wollte sagen, der Meißel, mit dem Mr. Gryder getötet wurde, ist abgewischt worden. Etwas können wir über diesen Mörder sagen: Er – oder sie – hatte viel Zeit, seine Spuren zu verwischen, hinter sich aufzuräumen. War es denn üblich, daß Mr. Gryder so lange von Ihrer Gruppe weg war? Laut Ihren Aussagen ist er nach dem Abendessen sehr früh vom Tisch aufgestanden, vielleicht sogar ein wenig abrupt. Er war wohl nicht sehr gesellig? Oder war das nur gestern abend so?«

Mathew Hazan antwortete als erster: »Will war zum Arbeiten hier. Wenn man den Drang, zu arbeiten, beim Abendessen verspürt, dann verspürt man ihn eben beim Abendessen. Es nahm ihm keiner übel, daß er wegging.«

»Aber wenn ich Sie recht verstehe, hat er doch mit Ihnen gearbeitet.«

»Nicht nur. Will tritt – trat – zwar mit dem Riverside Quartett auf, aber als Gastkünstler. Er war kein Mitglied des Ensembles. Er sagte, er arbeite an einer neuen Komposition.«

»Also hat er auch komponiert?«

»Und als Studiomusiker gearbeitet«, warf Beth ein. »Und manchmal auch als Gesangslehrer. Will hat die verschiedensten Sachen gemacht.«

»Manche besser als andere«, fügte Miranda kaum hörbar hinzu. Doch laut genug, um den Hauch einer Drohung – oder von irgend etwas anderem – durchklingen zu lassen.

Jetzt erwachte Roz Polikoff zum Leben. »Mein Gott, Miranda, laß das – bitte! Hör auf damit!«

Schweigen senkte sich über den Raum. Donaldson wartete. Alle Blicke waren auf Roz gerichtet, die flehend in Mirandas Richtung sah.

»Wenn du dich so gemein aufführst, um deine Angst zu überspielen, dann kannst du das sein lassen«, sagte Roz mit belegter, stockender Stimme. »Du erweckst damit bei diesem Mann nur den Eindruck, daß irgend etwas nicht stimmt, daß wir Will nicht alle … geliebt haben.«

»Wir erwecken noch einen ganz anderen Eindruck bei ihm«, murmelte Darcy. »Ganz ruhig, Miran. Komm, gib mir eine Zigarette. Obwohl ich mit dem Rauchen aufgehört habe.«

Als ihr Miranda das Päckchen hinüberreichte, sah ich, daß ihre Wimpern feucht schimmerten.

Ben gab Roz sein Taschentuch. »Hören Sie, Lieutenant Donaldson, kann ich jetzt bitte meine Frau ins Bett bringen?«

Darcy prustete vor Lachen über Bens unbeholfen formulierte Frage. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als wolle sie das Lachen unterdrücken. Ich merkte, daß schön langsam alle durchdrehten.

»O Gott,« sagte Darcy. »Tut mir leid, Leute. Tut mir leid.«

»Das ist ja grotesk«, sagte Miranda.

»Ich habe gesagt, ich lasse Sie bald gehen«, versicherte uns Donaldson. »Und das werde ich auch tun. Sagen Sie mir nur, wer von Ihnen hat die Adresse und Telefonnummer von Carolyn Bakiris?«

»Wer ist Carolyn Bakiris?« fragte Ben.

»Wills Schwester«, seufzte Mat. »Sie ist verheiratet und wohnt in L.A. Ich habe sie. In meinem Adreßbuch – oben.«

»Aber sollte sie nicht einer von uns benachrichtigen?« fragte Beth. »Es wird schrecklich für sie sein, wenn sie es von irgendeinem -« Sie verstummte und warf Donaldson einen schuldbewußten Blick zu. »Ich meine, sie sollte es von jemandem erfahren, mit dem er befreundet war.«

»Und warum solltest das du sein?« Diese Frage kam, wie zu erwarten, von Miranda, doch klang sie erstaunlich wenig gehässig.

»Ich