Eine Katze tanzt aus der Reihe - Lydia Adamson - E-Book

Eine Katze tanzt aus der Reihe E-Book

Lydia Adamson

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Beschreibung

Seine ausgeflippten, "absurden" Musicals haben Krispus einst in New York zu einer Kultfigur werden lassen. Das einzige, was Alice Nestleton, verkannte Schauspielerin und im Nebenjob Catsitterin, heute an dem streitsüchtigen Alten mag, sind seine zwei schönen Katzen. Und nun schleppt sie ihr Freund Tony zu ihrem Ärger auf eine Party bei dem Komponisten mit. Kurz nachdem sie dessen Wohnung betreten haben, fällt ein Schuß, und Alice steht vor der Leiche eines guten Bekannten und ausgewiesenen Katzenliebhabers. Eine höchst mysteriöse Angelegenheit, in die Alice gern Licht bringen möchte.

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Über Lydia Adamson

Lydia Adamson ist das Pseudonym einer bekannten Krimiautorin. Bisher im Aufbau Taschenbuch Verlag erschienen: »Eine Katze kommt selten allein«, »Eine Katze macht Theater«, »Eine Katze im Wolfspelz«, »Eine Katze bittet zum Tee«, »Eine Katze hinter den Kulissen«, »Eine Katze sitzt im Glashaus«, »Eine Katze schlägt den Takt«, »Eine Katze tanzt aus der Reihe«, »Eine Katze ist kein Engel«, »Eine Katze lädt zur Weihnachtsgans«, »Eine Katze auf dem Laufsteg«, »Eine Katze kommt selten allein«.

Informationen zum Buch

Seine ausgeflippten, »absurden« Musicals haben Krispus einst in New York zu einer Kultfigur werden lassen. Das einzige, was Alice Nestleton, verkannte Schauspielerin und im Nebenjob Catsitterin, heute an dem streitsüchtigen Alten mag, sind seine zwei schönen Katzen. Und nun schleppt sie ihr Freund Tony zu ihrem Ärger auf eine Party bei dem Komponisten mit. Kurz nachdem sie dessen Wohnung betreten haben, fällt ein Schuß, und Alice steht vor der Leiche eines guten Bekannten und ausgewiesenen Katzenliebhabers. Eine höchst mysteriöse Angelegenheit, in die Alice gern Licht bringen möchte.

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Lydia Adamson

Eine Katze tanzt aus der Reihe

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Christine Pavesicz

Inhaltsübersicht

Über Lydia Adamson

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Impressum

1

»Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt bereiterklärt habe, zu dieser blöden Party mitzugehen«, rief ich Tony Basillio wütend zu. Er trieb mich zur Eile an. Ich lasse mich beim Ankleiden nicht gerne zur Eile antreiben.

»Erstens … kommen wir bereits zu spät, Madame Nestleton. Und zweitens … ist es keine Party.«

»Was ist es denn?« fragte ich, während ich versuchte, mir vor dem Spiegel darüber klarzuwerden, wie viele Knöpfe ich an meiner Bluse – im Ausschnitt – offenlassen sollte. Es war ein heißer Sommerabend, aber drei Knöpfe waren ein wenig gewagt – in meinem Alter.

»Nun, es ist eher so was wie eine Wohltätigkeitsveranstaltung.«

Spöttisch erwiderte ich: »In einer Mietskaserne im Hell’s-Kitchen-Viertel? Nein! Es ist ganz einfach eine als Party getarnte Kollekte für die Miete.«

»Hör mal, Schwedenmädel! Der Mann ist alt, krank und pleite. Und er ist einer von den unseren.«

»Was meinst du mit ›einer von den unseren‹?«

»Wie wir. Vom Theater.«

Damit hatte Tony wohl recht. Wenn jemand »vom Theater« war, dann Peter Nelson Krispus. In den siebziger Jahren schrieb er das Libretto und die Musik für drei seltsame »Operetten«. Zwei davon waren weitab vom Broadway erfolgreich. Eine wurde nach vier Aufführungen am Broadway abgesetzt. Von den Kritikern wurde er entweder verabscheut oder geliebt. Einer sagte, durch ihn erlebe die musikalische Komödie einen Rückschritt um hundert Jahre. Ein anderer meinte: »Krispus ist von einer fixen Idee besessen: Er glaubt, er kann schmuddeliges Zoten-Varieté zur Kunstform erheben.« Und der angesehene Kritiker der New York Times schrieb: »Krispus hat etwas Erstaunliches vollbracht: Die erfolgreiche Verschmelzung von Gilbert und Sullivan mit Eugene Ionesco.«

Jetzt war von seinem genialen Talent – falls er es wirklich besessen hatte – nichts mehr übrig. Er schrieb keine Stücke mehr. Seine Theaterstücke oder Operetten oder Divertissements (jeder hatte einen eigenen Namen dafür) wurden nicht mehr aufgeführt. Die Erinnerung daran wurde von einer kleinen Gruppe von glühenden Anhängern, meist aus akademischen Kreisen, am Leben gehalten. Wie ich gehört hatte, gab es für seine Art von Stücken sogar einen Namen – »Operette des Absurden.« Ich hatte nur eines seiner Werke gesehen. Wenn ich mich recht erinnere, hieß es Auf einer Dominante endend. Zwölf Minuten nach dem Verlassen des Theaters hatte ich es vergessen. Und die Lieder – schlüpfrige Parodien auf Gilbert und Sullivan – gingen überhaupt nicht ins Ohr.

»Wir bleiben nur eine Stunde oder so. Es wird sehr voll werden«, erklärte Tony.

»Und wann lassen sie den Hut herumgehen?« fragte ich.

»Es gibt keinen Hut, Schwedenmädel. Nur einen großen Blumentopf auf einem Sims über einem zugemauerten Kamin. Man ist da ganz diskret.«

Als krönenden Abschluß legte ich die winzigen Jadeohrringe meiner Großmuttter an und öffnete dann Dosen für Bushy und Pancho, die ob meiner Nachlässigkeit allmählich zornig wurden.

Als sie sahen, daß es bloß ganz normale Katzenfutterdosen waren, wurden sie noch zorniger, weil ich ihnen norwegische Sardinen samt Haut und Gräten versprochen hatte.

»Ihr müßt lernen, daß eure Wünsche nicht immer gleich in Erfüllung gehen, Katzen«, ermahnte ich sie. Bushy sah aus, als schäme er sich für mich, für meinen Verrat. Er wandte den Kopf ab. Pancho verkürzte seine manischen Sprints, in denen er vor eingebildeten Feinden flüchtete, und begann fast gemessenen Schritts dahinzutraben, wobei er mir ab und zu einen bösen Blick zuwarf.

»Schau dir diesen verrückten Kater an«, sagte Tony und schüttelte über Panchos Marotten den Kopf. »Jetzt hält er sich für einen Lippizzaner.«

»Nenne Pancho nicht verrückt. Ich mag das nicht.«

»Man möchte glauben, daß er mit dem Alter ruhiger werden würde. Aber nein. Er läuft den ganzen Tag herum. Er läuft die ganze Nacht herum. Eine Menge Leute hoffen, daß seine Verfolger – wer immer sie sind – ihn irgendwann erwischen werden.«

»Er wurde als Baby mißhandelt.«

Tony fand das sehr lustig. »Wenn ich eines weiß«, sagte er, »dann, daß Pancho niemals ein Baby war. Er ist voll ausgewachsen aus dem Mutterleib herausgeflitzt.«

»Natürlich war er ein Baby … ein knuddeliges kleines graues Fellbündel. Und dann wandte sich die Welt gegen ihn.« Das war ein lächerlich theatralischer Satz. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war, daß ich ihn aussprach.

Tony applaudierte spöttisch und sagte dann: »Ich glaube, er braucht eine Frau.«

»Wer?«

»Pancho.«

»Er lebt enthaltsam.«

»Es würde ihm guttun. Es würde seine volle Aufmerksamkeit erfordern. Er würde stehenbleiben und sich umsehen müssen.«

»Hast du jemanden im Auge?«

»Das, Madame Nestleton, ist tatsächlich der Fall. Ich weiß nicht, wie sie heißt, aber sie wohnt in einem Keller irgendwo an der 29th Street / Ecke Lexington Avenue.«

»In einem Keller?«

»Ja. In einem Keller. Als ich einmal vorbeiging, war die Kellertür offen, und da saß diese Katze, etwa auf der dritten Stufe von oben. Es war so eine mit großen Ohren und dieser seltsamen Körperform.«

»Meinst du eine japanische Bobtail?«

»Möglich. Ich habe sie nicht gefragt. Jedenfalls hatte sie die großen Augen und die gespenstischen schwarzen Pupillen einer Katze, die den Großteil ihres Lebens im Dunkeln verbringt. Und eine wunderschöne schwarzweiße Zeichnung. Und als wir einander so anstarrten, sagte ich mir, also, das ist die perfekte Frau für Pancho. Wirklich, einfach perfekt. Machen wir uns doch nichts vor – Pancho ist nicht gerade ein Adonis, und diese Dame in dem Keller kann bei Tageslicht wahrscheinlich nichts mehr sehen. Sie würde Pancho nur im Finstern zu Gesicht bekommen. Und im Finstern sieht er … mit all seinen Narben … ehrlich gesagt, noch am besten aus.«

»Verkupple sie, Tony«, sagte ich.

Dann stellte ich die Schüsseln mit dem Katzenfutter auf ihren üblichen Platz auf dem Fußboden und wandte mich wieder dem eigentlichen Thema zu.

»Eines verstehe ich nicht, Tony: Warum veranstalten sie so eine Party, bei der sie Geld für die Miete sammeln wollen, im August, wenn alle Theaterleute, die auch nur ein bißchen Geld haben, aus der Stadt weggefahren sind?«

»Ich glaube, das Datum hat irgendeine Bedeutung. Sie ist immer am einundzwanzigsten August. Vielleicht hat da irgend jemand Geburtstag. Oder es ist ein Jahrestag.«

Plötzlich wehte ganz leise eine wundersame Brise durch meinen Loft. Sie war fast kühl und sehr angenehm, da mein erst vor kurzem installierter Deckenventilator total den Geist aufgegeben hatte.

Beide Katzen hatten mir bereits vergeben, ihren Traum von Sardinen vergessen und sich über ihr Futter hergemacht.

»Eigentlich«, meinte Tony, »war es für mich ein Schock, als du sagtest, du würdest mich doch zu der Party bei Krispus begleiten.«

»Du bist aber leicht zu schockieren.«

»Aus welchem Grund kommst du wirklich mit?«

Ich grinste. »Was glaubst du?«

»Aus Liebe zu mir und Mitleid mit mir und dem Wunsch, mich glücklich zu machen«, versetzte er.

»In Wirklichkeit will ich diese Katzen sehen«, korrigierte ich ihn. Ich sprach von George Bernard und Shaw, wie die zwei Katzen von Krispus hießen. Es waren silbergrau getigerte Maine-Coon-Katzen, und ich mußte einfach mit eigenen Augen sehen, ob sie tatsächlich so groß und schön waren, wie Tony behauptete. Tief im Innern wußte ich natürlich, daß mein rot-cremefarbener Bushy der größte und schönste Main-Coon-Kater aller Zeiten war.

Wir fuhren mit dem Bus nach Norden und stiegen an der 49th Street / Ecke 8th Avenue aus. Dann gingen wir Richtung Westen zu Krispus’ Wohnung in der 52nd Street / 10th Avenue. Tony ergriff meine Hand und hielt sie ganz fest.

»Erinnerungen?« fragte ich.

»Genau.«

Das war wirklich unsere alte Wohngegend. Hier wohnten praktisch alle jungen Menschen, die nach New York kamen, um Schauspielunterricht zu nehmen.

Tony und ich hatten uns in einer Schauspielschule über einem Theater in der 52nd Street / Ecke Broadway kennengelernt. Wir hingen in einem griechischen Café in der 47th Street / 9th Avenue herum. Wir tranken Bier in einer Arbeiterkneipe in der 50th Street / 8th Avenue.

Es wurde dunkler und wärmer. Jetzt wurde Tony poetisch: »Nenn es das Theaterviertel, nenn es den Boulevard der Träume, nenn es den Teufel, nenn es Hell’s Kitchen; nenn es, wie du willst, aber es ist noch immer das Viertel mit den meisten Theatern, Münzwäschereien und Junkies im ganzen Land. Und ich liebe es.«

Wir kamen zu dem Haus, in dem Krispus wohnte. Es war ein schmuddeliges fünfstöckiges Sandsteingebäude mit zerbröckelndem Treppenaufgang.

Die Eingangstür wurde mit einem alten Telefonbuch offengehalten – ein kläglicher Versuch, ein wenig Wind von der Straße hineinzulocken.

Das Schloß an der Haustür gab es schon lange nicht mehr.

»Sie wohnen im vierten Stock«, sagte Tony.

Also stapften wir hinauf.

»Ich höre keine Musik«, meinte ich, als wir die Treppe erklommen.

»Wie oft muß ich es dir noch sagen! Es ist keine solche Party.«

Dann küßte er mich auf den Hals und stoppte meinen Aufstieg. Theatralisch flüsterte er: »Ist das nicht wie in einem dieser alten Gangsterfilme? Eine große, schöne Frau mit goldenen Haaren steigt die Treppe eines schäbigen Mietshauses in der West Side hinauf. Mit einem dunklen, häßlichen, auffällig gekleideten Killer.«

»Du bist nicht auffällig gekleidet, Tony«, bemerkte ich und ging weiter.

Wir kamen in den vierten Stock. Tony führte mich zu der straßenseitig gelegenen Wohnung,und klopfte an die Tür.

Ich wußte ganz genau, was ich sehen würde, wenn die Tür aufging: einen Kühlschrank. Diese langgestreckten, schlauchartigen Wohnungen betrat man immer von hinten – durch die Küche. Ich konnte mir sogar die Raumaufteilung vorstellen. Vorne würde es zwei große Fenster geben, die zur Straße hinunterblickten, und dann überhaupt keine Fenster mehr, bis man in den hinteren Teil der Wohnung kam. Dann in der Küche nochmals zwei große Fenster, die auf den Innenhof gingen. Neben der Küche würde sich das Badezimmer befinden, mit einem einzigen, winzigen Fenster. Keine Trennwände. Keine Unterteilungen. Ja, ich kannte diese Art Wohnungen. Ich hatte lange genug in ihnen gelebt.

Die Tür öffnete sich. Ich lächelte. Es war wirklich die Küche.

Im Türrahmen stand eine korpulente Frau von etwa sechzig Jahren mit ausladenden Hüften und rot-grauen, krausen Haaren. Ihr Gesicht war voller Sommersprossen. Sie rauchte eine Zigarette in einer Zigarettenspitze. Sie trug eine Art Kimono und an den Füßen Sandalen.

Tony sagte fröhlich: »Sie sind Mrs. Krispus. Adda Krispus.«

»Was wollen Sie?« erwiderte die Frau.

Dann sah ich die Katzen. Sie waren offensichtlich aus Neugier in die Küche spaziert. Mein Herz machte einen kleinen Sprung. Sie waren prachtvoll. Sie sahen aus, als wäre ihre Mutter ein Luchs und ihr Vater ein Schneeleopard gewesen. Und sie waren riesig.

»Also«, murmelte Tony nervös und etwas verlegen, »es ist immer schwer, auf einer Party als erster Gast zu erscheinen.«

»Die Party ist erst morgen abend«, sagte sie.

»Aber heute ist doch der einundzwanzigste.«

»Stimmt. Das heißt, daß morgen der zweiundzwanzigste ist. Wir geben die Party jedes Jahr am zweiundzwanzigsten August.«

»Nein!« rief Tony stur. »Am einundzwanzigsten. Ich war doch schon auf diesen Partys.«

Adda Krispus sah Tony an wie ein schwieriges Kind. Dann packte sie uns freundlich an den Handgelenken und zog uns in die Wohnung.

»Sehen Sie sich um! Ist hier eine Party im Gange?«

Die Wohnung war praktisch unmöbliert und menschenleer. Im vorderen Teil lag ein Mann in einem Bett auf Rädern. Er wirkte sehr alt und sehr krank.

Tony wurde die Situation immer peinlicher. Er wandte sich hilfesuchend an mich. Ich betrachtete weiterhin die silbergetigerten Maine-Coon-Katzen, damit ich sie Bushy genau beschreiben konnte.

»Es tut mir schrecklich leid, daß ich wie ein Idiot hier hereinplatze«, entschuldigte er sich zerknirscht bei Mrs. Krispus.

Dann packte er meine Hand und zog mich zur Tür.

In diesem Augenblick trat ein Mann in einem eleganten weißen Leinenanzug aus dem Badezimmer.

Er starrte zu uns herüber. Sein Gesicht war markant und eindrucksvoll, aber nicht sofort als männlich oder weiblich erkennbar; es hatte eine Art vornehme Androgynität. Seine gefärbten schwarzen Haare waren straff zurückgekämmt. Er mochte vielleicht vierzig Jahre alt sein. Aber andererseits konnte er genausogut siebzig sein.

Ich brauchte volle zehn Sekunden, bevor mir klar wurde, wen ich da so eingehend betrachtete. Der gutaussehende Mann in dem weißen Anzug war mein alter Freund John Cerise.

Wir hatten uns vor Jahren kennengelernt, als ich zum ersten Mal als Catsitterin für eine reiche Dame am Central Park South arbeitete, deren große Leidenschaft den englischen Kurzhaarkatzen galt. Er war damals Preisrichter bei Katzenausstellungen und selbst Katzenzüchter. Seine Liebe zu Katzen und sein Wissen über sie war sprichwörtlich. Wir sprachen kaum jemals öfter als zweimal im Jahr miteinander, aber zwischen uns bestand eine echte Zuneigung, und er hatte eine spezielle Schwäche für meinen verrückten Kater Pancho, der, wie er behauptete, die Reinkarnation eines der Generäle von Napoleon war.

In gewisser Weise war er mein Katzenguru. Und zwischen uns bestand auch diese distanzierte Intimität, die man gegenüber Gurus entwickelt. Ab und zu schrieb ich ihm und stellte ihm alle möglichen Fragen über Katzen – gesundheitliche Fragen, Fragen über ihr Verhalten und sogar philosophische Fragen. Kurz, ich hatte John gegenüber dieselbe Art von vertrauensvoller Beziehung aufgebaut wie früher zu meinen alten Schauspiellehrern. Und vor allem konnte ich John vertrauen. Er hatte mir schon viele Male in gefährlichen Situationen geholfen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten.

Ich war so fassungslos, ihn hier zu sehen, daß ich nur sagen konnte: »John. Was tun Sie denn hier?«

»John? Ich heiße nicht John.«

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich drehte mich zu Tony um. Er zuckte die Achseln. Ich wandte mich wieder an John Cerise. Was war denn bloß los mit ihm? Hatte er einen Schlag auf den Kopf bekommen?

»John, ich bin’s. Alice Nestleton.«

»Ich heiße nicht John«, wiederholte er.

Tony zog mich am Arm und flüsterte: »Gehen wir.« Er sagte es in einem müden, zynischen Tonfall, als hätten wir uns nun beide blamiert und sollten endlich verschwinden.

Wir gingen zur Tür.

»Warten Sie!« rief Adda Krispus. Wir blieben stehen.

»Schauen Sie!« sagte sie.

Wir schauten. Sie hielt jetzt eine kleine Pistole mit weißem Elfenbeingriff in der Hand.

Sie hob sie hoch, zielte und schoß John Cerise mitten ins Gesicht. Sie feuerte fünfmal. Und dann ließ sie die Waffe auf die Brust des am Boden liegenden Mannes fallen, sah uns mit einem fast liebenswürdigen Lächeln an und fragte: »Sollten Sie nicht die Polizei holen?«

2

Vor gar nicht so langer Zeit hatten Tony und ich eine Szene aus dem alten Theaterstück ›Polizeirevier 21‹ gespielt. Wäre ich Bühnenbildnerin bei diesem Stück, würde ich mich voll ins Zeug legen, um das Bühnenbild so schmuddelig wie möglich zu gestalten.

Also, ich kann bezeugen, daß im Hinblick auf Schmuddeligkeit die existierende Polizeistation an der 54th Street / Ecke 8th Avenue die Vorstellungskraft jedes Bühnenbildners übertrifft.

Wir saßen stundenlang auf der einen oder anderen harten Holzbank herum und warteten darauf, von dem für den Mord an John Cerise zuständigen Polizeibeamten vernommen zu werden.

Basillio ergriff immer wieder meine Hand. Immer wieder nahm er meine Finger in die seinen und versuchte mich zu trösten.

Und jedes Mal schüttelte ich ihn ab.

Schließlich steckte ich meine Hand in die Tasche.

»Was glaubst du, wie lange es noch dauert, Schwedenmädel?« fragte er.

Er stellte diese Frage nicht zum ersten Mal. Ich antwortete nur mit einem Kopfschütteln.

In der Polizeistation war es entweder erstickend heiß oder eiskalt, je nachdem, wo wir saßen. Beim Empfangsschalter, wo ein riesiger Ventilator schwirrte, drohte uns die kalte Luft von unseren Stühlen zu blasen. Im hinteren Teil des Raumes hingegen, bei dem uralten Trinkbrunnen, war es feucht und heiß.

Ich trank einen großen Schluck Wasser und ging im Geist zum hundertsten Mal durch, was an jenem Abend geschehen war.

Was war bloß geschehen? Wenn ich darüber nachdachte, zogen manche Szenen in Zeitlupe, andere wiederum in rasendem Zeitraffertempo an mir vorbei.

Ich sah mich selbst, wie ich Lippenstift auftrug und überlegte, welche Ohrringe ich nehmen sollte.

Ich sah, wie Tony in meinem Loft stand und die Party, zu der wir gehen wollten, scherzhaft als Wohltätigkeitsveranstaltung bezeichnete.

Dann hatte er irgend etwas darüber gesagt, daß er Pancho mit einer zähen kleinen Katze verkuppeln wollte, die irgendwo in einem Keller lebte.

Tony und ich, wie wir die Stufen der Mietskaserne hinaufstiegen und die langgestreckte Wohnung der Familie Krispus betraten.

Falscher Abend. Die Party ist morgen.

Zwei silbergetigerte Katzen, so groß wie Büffel.

John Cerise, der plötzlich im Zimmer auftaucht.

Nein, sagt er, ich heiße nicht John.

»Schauen Sie!«

Peng!

Nachdem Adda Krispus jene zierliche Pistole auf Johns Kopf gerichtet und seinem Leben ein Ende gemacht hatte, begann sich der ganze Raum zu drehen. Vor meinen Augen wurde es weiß, strahlend weiß, und ich konnte erst wieder normal sehen, als ich hörte, wie mich Tony Basillio anschrie.

»Hol Hilfe, Schwedenmädel! Ruf die Polizei! Schnell!« Er beugte sich neben John, der zu Boden gestürzt war, nieder, und seine Hose war am Knie blutbefleckt.

Ich ging zur Tür, blieb dann aber wie angewurzelt stehen. Ich hatte Angst. Obwohl die Pistole auf Johns Brust lag und nicht in Addas Hand, hatte ich Angst, daß sie mich irgendwie in den Rücken schießen könnte, wenn ich weglief. Ich hatte Angst, daß sie Basillio umbringen würde, während ich die Polizei holte. Angst, daß sie aus dem nächsten Fenster springen würde. Einfach Angst.

Es war, als wüßte die Mörderin, was ich dachte. »Sie brauchen sich nicht zu beeilen«, hatte Adda Krispus gesagt. Ihre Stimme klang leicht verärgert. »Holen Sie sie nur. Sie beide. Gehen Sie nur, raus mit Ihnen.«

Tony und ich wechselten fassungslose, verwirrte Blicke. Tony erhob sich, und gemeinsam gingen wir rückwärts aus der Wohnung und liefen die Treppe hinunter zum nächsten Telefon.

Danach herrschte nur noch Lärm und Chaos.

Der Rettungswagen mit quietschenden Reifen. Geschockte Nachbarn. Sogar ein Reporter hatte sich her verirrt.

Und jetzt befanden wir uns in der Dekoration von Die nackte Stadt.

Mir war völlig egal, wie unschicklich es aussah – ich knöpfte meine Bluse fast bis zum Nabel auf.

Basillio griff erneut nach meiner Hand.

»Miss Alice Nestleton?«

Ein kräftiger Mann mittlerer Größe mit hellem Haar rief meinen Namen.

»Ich bin Stoner.« Er streckte mir die Hand hin.

Ich nahm meine aus der Tasche und schüttelte die seine.

»Und Sie sind Basillio, stimmt’s?« Er blickte auf Tony hinab, der noch saß.

»Ja«, antwortete Tony bloß. Und blieb sitzen.

»Schön«, sagte Stoner. »Wir sollten es schaffen, Sie beide bald nach Hause gehen zu lassen. Ich möchte nur noch einmal ein paar Dinge durchgehen, bevor ich den Bericht abschließe.« Dann zögerte er kurz und sah zuerst Tony und dann mich an. »Schauen wir mal … Miss Nestleton, Sie zuerst?«

In Lieutenant Stoners Büro bestätigte ich – erneut – die Einzelheiten der Ermordung von John Cerise.

Er hörte sich meine Zusammenfassung aufmerksam an, ohne einen Muskel zu bewegen, fast ohne zu atmen. Eine solche Konzentration war selten. Ich mußte daran denken, wie oft ich erlebt hatte, daß Schauspiellehrer ihre Schüler anschrien, protestierten, kreischten: »Ihr hört nicht zu! Ihr hört nicht zu! Ihr müßt lernen, zuzuhören!»

Als ich mit den Fakten zu Ende gekommen war, wechselte er zu einer etwas anderen Art der Befragung über.

»Wie gut kannten Sie das Opfer? Haben Sie ihn häufig gesehen? Haben Sie oft miteinander gesprochen?«

Das »Opfer«. Ich haßte dieses Wort. Ich wollte nicht, daß John »das Opfer« genannt wurde – selbst, wenn er genau das war.

»Ich kenne John Cerise seit vielen Jahren, Lieutenant«, sagte ich. »Ich habe immer wieder mit ihm gesprochen – regelmäßig –, aber nicht unbedingt oft. Gesehen habe ich ihn noch seltener. Einmal, vielleicht zweimal im Jahr. Aber ich betrachtete ihn dennoch als Freund.«

»Können Sie sich irgendeinen Grund vorstellen, warum ihn Adda Krispus umbringen wollte?«

»Nein, nein. Ich kann mir nicht vorstellen, warum irgend jemand John hätte umbringen wollen. Aber ich kenne natürlich Adda Krispus nicht.«

»In dem Bericht hier steht, daß Sie und Mr. … Mr. …« Er blätterte die Seiten in der Mappe vor ihm durch.

»Basillio?« half ich ihm weiter.

»Richtig. In dem Bericht steht, daß Sie das Opfer eindeutig erkannt haben und daß Mr. Basillio glaubte, es auch zu erkennen, daß aber Cerise leugnete, Cerise zu sein. Stimmt das?«

»Ja, das stimmt.«

»Sagen Sie mir genau, was er gesagt hat, wenn Sie sich erinnern können.«

»Also, er trat aus dem Badezimmer und blickte uns an. Als ich sah, wer es war, sagte ich so etwas wie ›John, was tust du denn hier?‹, und er antwortete: ›Ich heiße nicht John.‹ Er sagte es zweimal. Einfach nur: ›Ich heiße nicht John.‹«

»Also glauben Sie, daß das Ehepaar Krispus ihn unter einem anderen Namen kannte.«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Können Sie sich einen Grund vorstellen, warum er leugnete, John Cerise zu sein?«

»Nein, Lieutenant«, sagte ich entschieden. »Kann ich nicht.«

Ganz langsam hob sich der Nebel der Verwirrung von mir, und an seine Stelle trat der Zorn. Vielleicht habe ich sogar mit dem Fuß an meine Seite des Schreibtisches geklopft.

»Wir sind hier gleich fertig«, sagte Stoner. Er interpretierte mein Verhalten völlig richtig. »Kann ich Ihnen Kaffee bringen?«

»Okay. Ja.«

Ich dachte, er würde aus dem Zimmer gehen, um einen Kaffeeautomaten zu suchen und mich ein paar Minuten mit meinen Gedanken allein lassen. Aber nein. Er brauchte nirgendwohin zu gehen. Auf dem Sims eines mit Brettern vernagelten Fensters stand eine Kaffeemaschine, die zur Hälfte mit einer übel aussehenden Flüssigkeit gefüllt war.

»Zucker?« fragte Lieutenant Stoner.

»Ja, mehrere Stücke.«

Ich sah ihm zu, wie er Schubladen aufzog und nach Zuckerpäckchen und Plastik-Rührstäbchen suchte. Während er sich im Zimmer bewegte, schienen die Schweißflecken unter seinen Achseln zu wachsen. Oder war das eine optische Täuschung?

Er trug ein altmodisches weißes Sommerhemd mit aufgerollten Ärmeln – vielleicht ein Arrow, die Marke, die der Bankbeamte in der Stadt nahe der Farm, auf der ich aufgewachsen war, bevorzugte. Ja, Arrow-Hemden –

wie gut ich mich an ihre bunte Reklame erinnere –, ich fragte mich, ob die Firma wohl noch existierte.

Stoner mußte etwa fünfzig sein, ein Alter, in dem er schon das Recht auf ein kleines Bäuchlein gehabt hätte. Aber er hatte keines.

Ich trank einen Schluck von dem starken Kaffee.

Stoner hielt Wort, es dauerte nur noch fünfzehn Minuten. Er hatte noch eine letzte Frage: »Als Adda Krispus rief ›Schauen Sie!‹ und dann die Waffe auf Ihren Freund John richtete, warum haben Sie und Mr. Basillio da nichts getan?«

»Etwas getan?« wiederholte ich. »Hätten wir uns etwa auf sie stürzen sollen?«

»Nicht unbedingt. Warum haben Sie nicht geschrien? Oder versucht, es ihr auszureden?«