Eine Leiche riskiert Kopf und Kragen - Jeff Cohen - E-Book

Eine Leiche riskiert Kopf und Kragen E-Book

Jeff Cohen

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Beschreibung

»Wo ist der Kopf von Mrs. Masters-Powell?«

Samuel Hoenig ist ein ungewöhnlicher Mann, und er hat einen ungewöhnlichen Job: Er beantwortet Fragen jeglicher Art. Seine spezielle Persönlichkeit hilft ihm dabei, nahezu jede Antwort zu finden. Doch die Frage eines neuen Kunden entpuppt sich als besonders knifflig: »Wo ist der Kopf von Mrs. Masters-Powell?« Samuels Ehrgeiz ist geweckt. Gemeinsam mit seiner neuen Assistentin Ms. Washburn macht er sich auf die Suche. Als dann auch noch ein Mord geschieht, befindet sich Samuel plötzlich inmitten einer verzwickten Verschwörung …

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Seitenzahl: 428

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Buch

Samuel Hoenig ist kein Mann wie jeder andere: Er steht alle 23 Minuten auf, um zu joggen und sein Trainingsprogramm zu absolvieren, dann trinkt er genau einen halben Liter Wasser. Er kennt jede Vorwahl des Landes auswendig und erfasst Situationen auf einen Blick. Er merkt sich die Gesichtsausdrücke bei seinen Mitmenschen, um sie seiner Mutter nachzuahmen und von ihr zu erfahren, was diese zu bedeuten haben – Samuel hat das Asperger-Syndrom. Und er hat einen ungewöhnlichen Job: Er beantwortet Fragen jeglicher Art. Seine spezielle Persönlichkeit hilft ihm dabei, nahezu jede Antwort zu finden. Doch die Frage eines neuen Kunden entpuppt sich als besonders knifflig: »Wo ist der Kopf von Ms. Masters-Powell?« Samuels Ehrgeiz ist geweckt. Gemeinsam mit seiner neuen Assistentin Ms. Washburn macht er sich auf die Suche. Als dann auch noch ein Mord geschieht, befindet sich Samuel plötzlich inmitten einer verzwickten Verschwörung …

Autor

Jeff Cohen, aufgewachsen in New Jersey, ist ein schriftstellerischer Tausendsassa. Als Reporter schrieb er u. a. für die New York Times, Entertainment Weekly und USA Today, er arbeitete als Lehrer, Redakteur und Drehbuchautor und veröffentlichte zwei Sachbücher über das Asperger-Syndrom. In seinen Kriminalromanen, die sich in den USA bereits über 100000-mal verkauften, bringt Jeff Cohen seine Leser gern zum Lachen, während er ihnen reihenweise Verdächtige präsentiert und sie auf falsche Fährten lockt.

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Jeff Cohen

Eine Leiche riskiert Kopf und Kragen

Kriminalroman

Deutsch von Bernd Stratthaus

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Question of the Missing Head« bei Midnight Ink, Woodbury.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2014 by E. J. Copperman und Jeff Cohen

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

WR · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18645-6V001

www.blanvalet.de

Für alle, die ein kleines bisschen anders sind.

Und ihr wisst schon, für wen.

1

Das Telefon klingelte.

Es hatte wohl schon zwei- oder dreimal geklingelt, ohne dass ich es bemerkt hatte. Für mich ist es nicht ungewöhnlich, in Gedanken versunken zu sein und währenddessen alle Ablenkungen zu ignorieren, auch wenn andere diese für wichtige Signale halten.

Um ehrlich zu sein, verstehe ich nicht, warum ein klingelndes Telefon wichtiger sein sollte als eine Frage, die zu beantworten man mich gebeten hat, aber das Ganze hat natürlich eine praktische Seite – ich biete eine Dienstleistung an und werde sicherlich nicht viele neue Kunden finden, wenn ich das Telefon nicht abnehme. Es fällt mir jedoch schwer, mich darauf zu konditionieren, dass ich solche Dinge bemerke, wenn meine Gedanken ganz von einem faszinierenden Thema in Beschlag genommen werden.

Ich hatte mich für den Großteil der vergangenen zwei Stunden auf die Beantwortung einer Frage konzentriert. Als das Klingeln des Telefons zu mir durchdrang, sah ich auf die Rufnummernidentifikation. Da stand Taylor und darunter eine Telefonnummer. Ich griff mir den Hörer.

»Fragen beantworten«, sagte ich in die Sprechmuschel. Diese Begrüßung widerspricht dem, was ich mir zu sagen antrainiert habe, wenn ich den Hörer abnehme, nämlich »Hallo«. Doch in Geschäftsdingen ist es notwendig, den Anrufenden die Sicherheit zu geben, dass sie bei dem von ihnen gewünschten Unternehmen gelandet sind. Ich hatte nur drei Wochen benötigt, um mich umzugewöhnen. Das hielt ich für ziemlich fix. Ich arbeitete noch immer an meinem Tonfall. Manche Leute sagen, dass meine Stimme am Telefon nicht sehr modulationsreich ist. Ich selbst höre kein Problem.

»Hallo?«, sagte eine weibliche Stimme. Sonst sagte sie nichts, das fand ich eigenartig.

Nach einer kleinen Pause erwiderte ich: »Ja?«

»Ich habe eine Frage«, entgegnete sie.

»Das habe ich mir schon gedacht«. Schließlich lautet der Name meiner Agentur ja Fragen Beantworten. Manche »gewöhnlichen« Menschen übersehen das Offensichtliche zugunsten der Nebensächlichkeiten, von denen sie glauben, dass sie Menschen wie mir nicht auffallen.

»Wie teuer ist eine Antwort?«

»Ist das Ihre Frage?«

»Nein.«

Wieder sagte sie aus irgendeinem Grund nichts weiter.

Mir kam in den Sinn, sie könnte vielleicht ein wenig Ermunterung wünschen. Ich selbst würde keine brauchen, wenn ich eine Agentur anriefe, die meine Fragen beantworten sollte, aber ich habe begriffen, dass nicht jeder so denkt wie ich.

»Wie lautet denn Ihre Frage?«, entgegnete ich also.

»Nun, es ist ein bisschen kompliziert«, antwortete die Frau. Ich sah erneut auf die Rufnummernidentifikation des Telefons. Nach ihrer Telefonnummer zu urteilen, rief sie aus Cranford, New Jersey, an, was ungefähr siebzehn Meilen von meinem Büro entfernt ist. »Wissen Sie, ich habe vor Kurzem meinen Job verloren. Ich war Fotografin für die Home News Tribune, doch die musste die Zahl ihrer Angestellten reduzieren. Also verbringe ich gerade viel Zeit zu Hause, und da saß ich eben gerade und machte das Kreuzworträtsel der New York Times.«

Ich hatte schon vor acht Sekunden aufgehört zuzuhören. »Sie sind Fotografin?«, fragte ich. Eine Fotografin konnte bei der Aufgabe, an der ich mich den ganzen Morgen über abgearbeitet hatte, hilfreich sein.

Die Frau, die nach ihrer Stimme zu urteilen in ihren frühen Dreißigern war, klang überrascht.

»Ja«, antwortete sie. »Das ist mein Job. Was kostet es denn jetzt, meine Frage zu beantworten?«

»Ich werde Ihre Frage kostenlos beantworten, wenn Sie zu unserem Büro in Piscataway in der Stelton Road 735 kommen«, erklärte ich und legte auf. Dann fiel mir auf, dass ich mich vielleicht hätte verabschieden sollen, bevor ich auflegte. Manchmal vergesse ich das.

Von Cranford braucht man bis hierher zweiundzwanzig Minuten mit dem Auto. Ich konnte also nichts weiter tun, als zu warten.

Ich hatte Fragen Beantworten vor drei Monaten gegründet, bisher aber nur eine Handvoll Kunden gehabt. Online hatte ich ein paar Werbeanzeigen geschaltet, doch die Nutzer der meisten sozialen Netzwerke oder Webseiten für Kleinanzeigen schienen vor allem daran interessiert zu sein, dass man ihnen Fragen über Sex beantwortete – Fragen also, für die ich nicht der qualifizierteste Ansprechpartner bin. Eine kleine Werbeanzeige im Kulturteil der New York Times – der ist weniger teuer als der Nachrichtenteil – hatte mir drei oder vier Kunden beschert, doch ich glaube inzwischen, dass eine Lokalzeitung geeigneter ist, um für Aufträge zu sorgen.

Leider lese ich die New York Times und habe offline sonst keine anderen Informationsquellen, also werde ich wohl meine Mutter fragen müssen, welche Zeitungen in unserer Gegend sich für meine Zwecke eignen könnten.

Mutter unterstützte mich bei der Gründung meines Unternehmens, ich glaube, sie war glücklich, dass ich noch etwas anderes tat, außer den ganzen Tag in meiner Dachwohnung Internetrecherchen auszuführen. Und ich musste zugeben, dass das Beantworten der Fragen anderer Leute mir interessantere neue Herangehensweisen für meine eigene Forschung eröffnete.

Ich erhob mich, weil ich seit dreiundzwanzig Minuten nicht mehr gestanden war, mich aber dazu entschlossen hatte, das grundsätzlich dreimal pro Stunde zu tun. Der Anruf hatte meinen Zeitplan durcheinandergebracht. Ich ging durchs Büro, wobei ich die Muskeln meiner Oberschenkel anspannte und die Arme über den Kopf streckte. Es ist wichtig, von Zeit zu Zeit die Herzfrequenz zu erhöhen und den Kreislauf auf Touren zu bringen.

Mein Büroraum ist vergleichsweise groß, wenigstens wirkt es so, weil er fast vollkommen leer ist. Ich habe ein ehemaliges Pizzarestaurant namens San Remo angemietet, nachdem sich die Besitzer in eben diese Gegend Italiens zurückgezogen hatten, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Da sie sich zur Ruhe gesetzt hatten, hatten sie keine Verwendung für den Großteil des Inventars in dem Gebäude, also standen im hinteren Teil des Raumes immer noch ein großer, unbenutzter Pizzaofen sowie ein Getränkeautomat, den ich ungefähr ein Mal in der Woche von einem Mann namens Les mit grünem Tee und Quellwasser befüllen ließ.

Als ich sechs Runden im Zimmer gelaufen war, was genau einer Drittelmeile entspricht, griff ich in die Tasche meiner grauen Hose, in die ich immer das Wechselgeld stecke, und fand darin fünf Vierteldollar, sodass ich mir eine Flasche Wasser aus meinem Getränkeautomaten kaufen konnte. Ich würde fünfzig Cent zurückbekommen, wenn Les das Geld abholen würde.

Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch und blickte auf die Zeitanzeige meines Mac Pro. Es war siebenundzwanzig Minuten her, dass ich aufgelegt hatte.

Die Frau kam zu spät.

Da mich das betrübte, achtete ich nicht darauf, in welcher Geschwindigkeit ich das Wasser trank, also leerte ich die Flasche in nur vier Minuten. Das war nicht gut. Ich konnte mir für die nächsten zwanzig Minuten keine weitere Flasche kaufen und würde vielleicht früher auf die Toilette müssen als vorgesehen, was mich allerdings nicht allzu sehr beunruhigte. Cranford war mit dem Auto nur zweiundzwanzig Minuten entfernt, es gab für sie keinen Grund, sich derart zu verspäten.

Hatte es einen Unfall gegeben? Hatte sie sich vielleicht verfahren? Eventuell hätte ich ihr bei unserem Telefonat den Weg erklären sollen. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, dass jemand vielleicht den Weg zu einer Büroräumlichkeit nicht finden würde, bei der er zuvor angerufen hatte.

Möglicherweise hatte sie sich einfach dazu entschlossen, nicht zu kommen. Sollte ich sie zurückrufen? Ich wollte, dass sie nun bald ankam.

Ich entschied mich dagegen, die Nummer zu wählen, die mir die Rufnummernidentifikation angezeigt hatte. Früher wäre das meine erste Wahl gewesen, aber Mutter hatte mir erklärt, dass Menschen sich manchmal unwohl dabei fühlten, wenn Unbekannte sie anriefen oder sie sogar zu Hause besuchten. Sie nannte es »Stalking«. Ich für meinen Teil hatte geglaubt, es wäre nur der Versuch, miteinander in Kontakt zu treten.

Doch meine Mutter versteht von diesen Dingen im Allgemeinen mehr als ich.

Es vergingen allerdings weitere zehn Minuten, und ich verlor langsam die Geduld. Entweder war diese Frau unhöflich, oder ich hatte etwas getan, um sie vom Herkommen abzubringen. Ich würde das Gespräch im Geist noch einmal rekapitulieren müssen, um herauszufinden, ob ich etwas gesagt hatte, das man als seltsam empfinden konnte.

Um 8.57 Uhr hielt schließlich ein sechs Jahre alter blauer Kia Spectra auf dem eingezeichneten Parkplatz vor meinem Schaufenster. Die Eigentümer der Ladenzeile, in der sich mein Büro befindet, hatten jedem Unternehmen vier Parkplätze zugewiesen, außerdem gab es noch die vorgeschriebene Menge an Behindertenparkplätzen. Doch die Geschäfte hier hatten nicht viel Kundschaft, sodass es immer leicht war, einen freien Parkplatz zu ergattern. Das hatte Mutter mir erzählt, als sie mich eines Morgens hergefahren hatte.

Eine Frau im Alter von etwa einunddreißig Jahren stieg aus dem Spectra und schien meinen Laden zu mustern. Ich hatte auf eine große Leinwand den Schriftzug Fragen Beantworten geschrieben und sie im Schaufenster aufgehängt, denn ein größeres Schild über der Tür wäre viel zu teuer gewesen. Ich erwartete nicht allzu viel Laufkundschaft, also betrachtete ich ein professionelles Schild als einen Luxus, der noch eine geraume Zeit aufgeschoben werden konnte.

Die Frau drehte sich um und öffnete die Wagentür wieder, doch dann sah es aus, als würde sie es sich anders überlegen. Ich fragte mich, ob ich nach draußen gehen und sie hereinbitten sollte, doch das hätte man eventuell auch als »Stalking« auslegen können. Außerdem war es vielleicht gar nicht die Frau, die vorhin angerufen hatte. Jedenfalls schien sie keine Kamera bei sich zu haben.

Endlich klimperte die Glocke über meiner Eingangstür, doch die Frau trat nicht ein, sondern lehnte sich eher über die Schwelle.

»Hallo?«, rief sie. Ich erkannte die Stimme vom Telefon wieder.

»Wir haben vor achtunddreißig Minuten miteinander gesprochen«, bemerkte ich. »Es sollte von Cranford bis hierher mit dem Auto nicht länger als zweiundzwanzig Minuten dauern. Sie sind zu spät.«

Sie zog die Augenbrauen hoch, dann senkte sie sie wieder. Diesen Gesichtsausdruck hatte ich zuvor schon einmal gesehen. Er scheint zum Ausdruck zu bringen, dass ich etwas Verwirrendes von mir gegeben habe. »Ich habe vorher noch geduscht«, erklärte die Frau.

Ich kannte sie noch nicht gut genug, um mit einem Verweis auf die Beatles zu antworten. Auch diesbezüglich hat mir Mutter gesagt, dass manche Menschen mein Interesse an dieser Band ungewöhnlich oder gar »obsessiv« finden könnten, wo ich doch nur Informationen über Dinge sammle, die mich interessieren. Wenn ich diese Frau besser gekannt hätte, hätte ich sicher eine Bemerkung über »A Day in the Life« zum Besten gegeben, in dessen Text sich morgens jemand fertig macht.

»Sind Sie Ms. Taylor?«, fragte ich.

Die Frau blickte zur Tür, vielleicht zog sie in Erwägung, lieber wieder zu gehen. »Nein. Taylor ist der Name meines Mannes. Ich bin hier doch richtig bei Fragen Beantworten?«

Ich brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass sie mich etwas fragte und nicht einfach etwas feststellte. »Ja.«

Die Frau schien darüber nachzudenken, doch irgendwann holte sie erkennbar Luft und sagte: »Ich heiße Janet Washburn. Woher wissen Sie, dass ich aus Cranford bin?«

»Ich habe eine Rufnummernidentifikation«, erklärte ich ihr. »Ihren ungefähren Standort kann ich von Ihrer Nummer ablesen.« Mir fiel auf, dass ich sie nicht ansah – ich hatte die ganze Zeit entweder auf den Computerbildschirm oder die Tür geblickt –, also zwang ich mich dazu, das jetzt nachzuholen.

»Sie haben nach meinem Verteilerknoten im Netz recherchiert?«, fragte sie. Sie war von durchschnittlicher Körpergröße, hatte blonde Haare und braune Augen. Ich glaubte nicht, dass sie sich die Haare färbte, doch möglich war es schon.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann sie auswendig.«

»Sie kennen jeden Verteilerknoten in den örtlichen Telefonnummern?« Menschen finden das oft verblüffend. Für mich ist es eine Begabung wie die Fähigkeit zu jonglieren. Ich kann nicht jonglieren, doch ich kann mir mathematische Muster merken, wenn ich möchte.

»Nein«, gab ich zur Antwort. »Alle Knoten im ganzen Land. Im Moment lerne ich gerade ein paar aus Westeuropa.«

Ms. Washburn wirkte davon außerordentlich beeindruckt; ihr Mund schien Worte zu formen, sie aber wieder zu verwerfen, bevor sie sie äußern konnte. »Wer … sind Sie?«, brachte sie beim dritten Versuch hervor.

Hier war ich auf vertrautem Terrain – ich streckte die rechte Hand aus und sagte: »Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Samuel Hoenig.«

Sie zögerte, nahm aber schließlich meine Hand. »Angenehm. Nennt man Sie Sam?«

Was hatte das zu bedeuten? »Wer?«

»Keine Ahnung. Ihre Freunde.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich heiße Samuel.« Ich fand es unnötig, ihr zu erzählen, dass ich nur wenige Freunde hatte.

Ms. Washburn nickte. »Ich habe eine Frage.«

»Sie haben aber keine Kamera«, erwiderte ich. Hatte sie gelogen, als sie behauptet hatte, Fotografin zu sein?

Da war wieder das Zucken der Augenbrauen, diesmal etwas schneller. »Ich habe sie im Auto gelassen.«

»Da nützt sie uns nichts«, stellte ich fest. »Holen Sie sie.«

Sie wirkte überrascht, ging dann aber hinaus und holte ein Behältnis für eine Kamera aus dem Kofferraum ihres Wagens. Sie kam zurück ins Büro und blieb in einiger Entfernung vor meinem Schreibtisch stehen, als fürchtete sie, ich könnte sie wie ein Tiger anfallen.

Bevor ich noch dazu kam, ihr zu erklären, was ich von ihr wollte, stellte Ms. Washburn eine weitere Frage: »Entschuldigung, ich möchte nicht neugierig sein, aber haben Sie das Asperger-Syndrom?«

Verdammt. Sie wusste Bescheid.

2

Ich schäme mich nicht für mein Asperger-Syndrom. Warum sollte ich? Es hat meiner Persönlichkeit Aspekte verliehen, die ich sehr nützlich finde. Es ist mir dennoch lieber, selbst zu entscheiden, wann ich jemandem, den ich gerade kennengelernt habe, davon erzähle – falls ich es überhaupt tue. Und wenn mich irgendwer mit der Frage konfrontiert, wie Janet Washburn es gerade getan hatte, geht mir das unmittelbar auf die Nerven.

Das Asperger-Syndrom ist definiert als eine Störung autistischer Art (obwohl ich es selbst eher für einen Charakterzug halte). Leute, die es nicht haben – und manche, die es haben –, glauben, es wäre ein Defekt, der zu Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit anderen Menschen führt und das Verhältnis zu ihnen beeinträchtigt. Um genau zu sein, denken sie, dass wir seltsam sind.

Ich für meinen Teil halte die meisten »gewöhnlichen« Menschen für seltsam, mein eigenes Handeln hingegen für ziemlich vernünftig. Doch wir sind nicht zahlreich genug, als dass wir diese Sichtweise mehrheitlich durchsetzen könnten, und außerdem verhalten wir uns auch nicht alle gleich. Wenn man sechs Menschen mit dem Asperger-Syndrom in Kontakt bringt, verstehen sie sich untereinander nicht notwendigerweise besser als mit anderen Fremden.

»Entschuldigung«, fügte Ms. Washburn an, als ich nicht antwortete. »Habe ich Sie verlegen gemacht?«

Das ist ein gutes Beispiel für die Art von Vorurteilen, die ich meine. Weil ich nicht so bin wie sie, glaubte Ms. Washburn, dass ich an meiner Persönlichkeit irgendetwas auszusetzen hätte, und schloss daraus, dass sie mir peinlich wäre.

»Nein«, versicherte ich ihr. »Sie haben mich einfach nur überrascht. Ja, bei mir wurde das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Es wundert mich, dass Sie das so schnell erkannt haben.«

Nun wirkte sie gebauchpinselt, als hätte ich ihr ein Kompliment gemacht. »Ich habe mal als Aushilfslehrerin gearbeitet«, erklärte sie. »Zur Vorbereitung hatten wir auch einen Kurs über die verschiedenen Formen des Autismus, sodass wir sie erkennen und den Kindern in der Schule helfen konnten.«

Bei mir wurde das Asperger-Syndrom im Alter von sechzehn Jahren festgestellt, sodass mir viele der Techniken und Therapien nicht mehr offenstanden, die man heutzutage bei kleinen Kindern anwendet. Meine Mutter bat bei meiner Highschool dennoch um Unterstützung, was aber rundheraus abgelehnt wurde. Sie schickte mich zu Dr. Mancuso und bezahlte es aus ihrer eigenen Tasche. Der Rechtsstreit mit dem Schulsystem dauerte über Jahre hinweg an, und am Ende gewann Mutter ihn noch nicht einmal.

»Wie schnell ist die Blende an Ihrer Kamera?«, fragte ich Ms. Washburn und war froh, das Thema wechseln zu können. »Ich brauche Fotografien eines Körpers in Bewegung.«

»Was für ein Körper denn?«

»Meiner.«

Ms. Washburn schaute mich einen Moment lang schräg an. Ich nahm mir vor, Mutter später deshalb zu befragen. Mir war nicht bewusst, irgendetwas getan oder gesagt zu haben, was solch eine Reaktion gerechtfertigt hätte.

»Was wollen Sie denn tun?«, fragte sie mich nach einer kurzen Pause.

»Ah.« Ich streckte einen Finger in die Höhe und ging dann zum Schreibtisch hinüber, bückte mich und hob einen Baseballschläger auf, den ich dort heute Morgen auf den Boden gelegt hatte. Ich zeigte ihn ihr.

»Easy, Reggie«, sagte sie und machte einen Schritt nach hinten.

»Ich heiße Samuel«, erinnerte ich sie. Doch mir fiel auf – dank langer Übung –, dass sie den Schläger fixierte. Sie musste sich wohl auf den berühmten Baseballspieler Reggie Jackson beziehen, Mitglied der Hall of Fame. »Oh. Dachten Sie, ich wolle Sie damit schlagen?«

»Ich habe mich bemüht, das nicht zu denken.«

Wie seltsam. Menschen schlagen andere Menschen nicht mit Baseballschlägern. Sie schlagen Bälle mit Baseballschlägern. »Das müssen Sie auch nicht«, beruhigte ich sie. »Ich möchte, dass Sie mich fotografieren, während ich diesen Schläger schwinge.«

Noch ein schräger Seitenblick. »Warum das denn?«

»Das ist tatsächlich sehr interessant«, erwiderte ich. »Kommen Sie mit.« Ich gestikulierte in Richtung des Computerbildschirms, und Ms. Washburn ging zum Schreibtisch und sah sich an, was ich ihr zeigte, nachdem sie zunächst ein wenig zu zögern und ihren nächsten Schritt zu überdenken schien. »Ihnen ist doch sicher bekannt, dass die Yankees ein neues Stadion haben?«

»Dasjenige, das an der Stelle von The House that Ruth built errichtet wurde? Die aufgepimpte Version, die einen sechsundachtzig Jahre alten Baseballtempel ersetzen soll, der eine Legende wie Babe Ruth beherbergt hat? Die Hutschachtel mit eingebautem Hard-Rock-Café? Meinen Sie das neue Yankee-Stadion?«

Es ist stets ein Fehler anzunehmen, dass sich die Menschen Stereotypen entsprechend benehmen. Ich habe Jahre gebraucht, um das zu begreifen, doch Mal um Mal hat sich gezeigt, dass man eindeutige Beweise haben sollte, bevor man irgendeine Annahme trifft. Die meisten Frauen interessieren sich nicht für Sportarten wie Baseball, aber manche eben schon. Man kann eine statistische Aussage machen, doch das ist eben kein verlässlicher Weg, um im Zweifel auf dessen Basis zu entscheiden.

»In Ordnung«, entgegnete ich. »Sie wissen dann wahrscheinlich auch, dass im alten Yankee-Stadion nie ein Home Run gelungen ist, bei dem der Ball ganz aus dem Stadion geschlagen wurde. Und zwar in den ganzen fünfundachtzig Jahren, in denen es stand.«

»Sechsundachtzig«, verbesserte sie mich. »Ja, das ist mir bekannt. Mir ist auch bekannt, dass Mickey Mantles Batting Average über seine gesamte Karriere hinweg bei .298 lag. Was hat das damit zu tun, dass ich Bilder von Ihnen mit einem Baseballschläger machen soll?«

Ich musste zugeben, dass ihre Antwort in mir den Verdacht erzeugte, Ms. Washburn könnte ein »spezielles Interesse« an den New York Yankees haben, das meinem eigenen Interesse an polizeilichen Ermittlungsmethoden, Baseball insgesamt und den Beatles stark ähnelte.

»Ich habe einen Kunden, dessen Frage sich um Änderungen in Baseballstadien dreht«, erklärte ich. »Er denkt darüber nach, eine Wette darauf abzuschließen, dass Änderungen in der Luftzirkulation, die von einer etwas anderen Positionierung herrühren, es möglich machen, dass jemandem im neuen Stadion schon in den ersten zwanzig Jahren endlich ein Home Run gelingt, bei dem er den Ball aus dem Stadion schlägt. Das wäre eine ziemlich lukrative Wette.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Also …«

»Also habe ich mir die wissenschaftlichen Gegebenheiten angeschaut und daraus geschlossen, dass er unrecht hat. Mein Kunde ist jedoch die Sorte Mann, die nicht an Statistiken glaubt; er vertraut mehr auf die Dinge, die er mit eigenen Augen sehen kann. Ich möchte also, dass Sie mich fotografieren, während ich den Schläger schwinge, damit ich diese Bilder dann in die Computersimulation hochladen kann, die ich von dem neuen Bauwerk angefertigt habe. Daran kann ich dann zeigen, dass die Luftströme – die tatsächlich an bestimmten Stellen des Stadions mehr Home Runs begünstigen – die Größe des Bauwerks und die physikalischen Gesetzmäßigkeiten in seinem Inneren nicht aufwiegen können.«

Ms. Washburns Blick wurde sanfter. Sie nickte zustimmend. »Ich kann sogar etwas Besseres tun. Ich kann ein kurzes Video aufnehmen, sodass Sie einen vollständigen Bewegungsablauf des Schlagvorgangs haben, den Sie an jeder beliebigen Stelle Ihrer Simulation anhalten können.«

»Wie gut ist die Qualität der Videoaufnahme?«, fragte ich.

»HD«, erwiderte Ms. Washburn.

»Ausgezeichnet.«

Wir verbrachten mehrere Minuten damit, den besten Aufnahmewinkel zu finden, und Ms. Washburn schlug schließlich vor, dass ich mich in der Nähe des Schaufensters aufstellen solle. Sie erklärte mir, dass sie meinen Umriss zwar digital vom Hintergrund lösen könne, dass aber das Licht beim Fenster am natürlichsten wirken und so das Bild, das wir erzeugten, nicht verwirrend anders als der Rest aussehen würde.

Sie nahm Videos von fünf unterschiedlichen Schlagbewegungen auf. Ich achtete auf meine Aufwärtsbewegung, um einen Batter zu simulieren, der versucht, den Ball hoch und weit zu schlagen. Beim fünften Versuch waren wir beide der Meinung, dass wir ein verwendbares Video hatten.

Das Video luden wir auf meinen Mac Pro hoch, doch gerade als wir es untersuchen wollten, öffnete sich die Eingangstür, die Glocke klimperte, und ein etwa fünfzigjähriger Mann betrat das Büro. Ich vermochte seinen ursprünglichen Gesichtsausdruck zwar nicht zu lesen – die Nasenflügel bebten, und seine Oberlippe war zurückgezogen –, doch ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht positiv zu deuten war.

»Das hier ist nicht Fragen Beantworten«, sagte er, als spräche er mit sich selbst.

Wieder brauchte ich einen Moment, bis ich etwas erwidern konnte, denn dies hier war nun einmal Fragen Beantworten, und der Mann hatte also ganz offensichtlich unrecht. Während ich noch überlegte, stellte sich Ms. Washburn vor mich und sagte: »Oh doch, das ist es. Haben Sie denn nach Fragen Beantworten gesucht?«

Das erschien mir nicht weniger seltsam, denn der Mann war demnach in einen Laden eingetreten, von dem er annahm, er beherberge nicht mein Unternehmen. Warum sollte er das tun? Doch nachdem er seine Stirn krausgezogen hatte, nickte er: »Ja. Ich habe ein Problem, das gelöst werden muss.«

»Wir lösen keine Probleme«, erwiderte ich, denn ich hatte dieses Gespräch bereits mit vielen Kunden zu unterschiedlichen Gelegenheiten geführt. »Wir beantworten Fragen.« Mutter hatte vorgeschlagen, dass ich eher wir als ich sagen solle. Sie erklärte, es erscheine professioneller, wenn ich den Eindruck erweckte, über einen Stab an Experten zu verfügen. Ich hielt das zwar für unehrlich, doch ich fügte mich ihrer Einschätzung, wie ich es häufig tue.

Der Mann schien sich zu sammeln, obgleich seine Glatze schweißnass glänzte. Er war entweder nervös, oder er hatte Fieber. Ich entschied mich für nervös.

»Sie sind mir von meiner Freundin Ellen Crenshaw empfohlen worden«, sagte er und trat auf mich zu. »Ich bin Dr. Marshall Ackerman.«

Wie ich es gelernt habe, erwiderte ich den Gruß und streckte meine Hand aus. »Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Samuel Hoenig.«

»Ja.« Ackerman schien enttäuscht darüber zu sein, dass ich ich war, was überhaupt keinen Sinn ergab. Ich hatte solche Reaktionen vorher schon erlebt, doch sie verblüfften mich noch immer.

»Ich erinnere mich an Ms. Crenshaw«, sagte ich und hoffte, dass er sich dadurch wohler fühlen würde. »Wenn ich mich recht entsinne, fragte sie mich, wo ihre vermisste Boa Constrictor sein könne.«

Ms. Washburns Augen weiteten sich etwas.

Ich erinnerte mich wirklich an Ms. Crenshaw. Unsere Geschäftsbeziehung war leicht unharmonisch verlaufen – sie wollte lieber die Versicherungssumme kassieren, statt ihr seltsames Haustier wiederzubekommen, doch ich hatte ihre Pläne durchkreuzt, indem ich die Schlange tatsächlich gefunden hatte.

»Ja«, wiederholte Ackerman. »Ellen erwähnte, Ihre Dienstleistung sei effizient und diskret.«

»Sie hatte eine ungewöhnliche Frage«, sagte ich. »Woher kennen Sie Ms. Crenshaw denn?«

»Wir saßen vor ein paar Jahren gemeinsam in einem Stiftungsbeirat«, antwortete Ackerman. »Seitdem sind wir befreundet, und anlässlich eines Gesprächs vor ein paar Wochen erwähnte sie Ihre Dienstleistung. Sie erzählte mir, Ihre Methoden seien sehr beeindruckend, wenn auch ein bisschen … ungewöhnlich.«

»Für eine gewöhnliche Dienstleistung könnten Sie ja auch überall hingehen«, warf Ms. Washburn ein. Ihr Gesichtsausdruck wirkte für mein Empfinden ein wenig verärgert, vielleicht auch genervt. »Für besondere Dienstleistungen brauchen Sie Mr. Hoenig.« Ich fand das sehr großzügig von ihr, vor allem weil ich ja noch gar keine Frage für Ms. Washburn beantwortet hatte. Ihre Anwesenheit erwies sich schon jetzt als ziemlich hilfreich.

»Entschuldigen Sie«, entgegnete Ackerman, »doch was ich mit Mr. Hoenig zu besprechen habe, ist privater Natur.« Seinem Habitus nach war er offenbar daran gewöhnt, dass Menschen sich so verhielten, wie er es wünschte, und kein bisschen anders.

Ich bemerkte, dass ich aufgewühlt war. Ich mochte die Art und Weise nicht, in der Ackerman Ms. Washburn abfertigte, vor allem, da sie so nett gewesen war, meine Dienstleistungen in solch ein gutes Licht zu rücken. »Alles, was Sie mir zu sagen haben, können Sie auch vor Ms. Washburn sagen«, teilte ich ihm mit. »Sie ist die Geschäftspartnerin, der ich am meisten traue.« Ich weiß nicht genau, warum ich das sagte, doch es war nicht gelogen – schließlich hatte ich mit Ms. Washburn zusammengearbeitet, bevor Ackerman eingetreten war, und da ich keine anderen Geschäftspartner hatte, war sie automatisch diejenige, der ich am meisten traute. Sie war auch diejenige, der ich am wenigsten traute, doch ich sah keinen Grund, warum ich das hätte erwähnen sollen.

Ms. Washburn hüstelte, nachdem sie meine Aussage gehört hatte, sah mir in die Augen – ich achtete darauf, den Blick zu erwidern – und nickte mir zu. Ich hielt das für eine Geste der Anerkennung.

»Natürlich unterliegt alles, was Sie uns sagen, strengster Geheimhaltung«, fügte sie hinzu. Ich nickte ebenfalls. »Wollen Sie sich nicht setzen?« Sie wies auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch, auf dem Ackerman Platz nahm. Ich blieb hinter meinem Schreibtisch und nahm mir vor, einen weiteren Stuhl von zu Hause ins Büro mitzubringen, denn Ms. Washburn musste nun stehen und stützte sich neben dem Schreibtisch auf den Baseballschläger. Ich fragte mich, ob ich ihr wohl meinen Stuhl anbieten sollte oder ob das eine sexistische Geste gewesen wäre. Das ist manchmal schwer abzuschätzen.

»Lassen Sie mich Ihnen zunächst erklären, weshalb ich hier bin«, fing Ackerman an. »Ich bin der Direktor des Garden State Cryonics Institute.«

Aus einer Laune heraus hatte ich eines Tages vor ungefähr vier Jahren über dieses Thema recherchiert, als in der New York Times ein Bericht über eine solche Einrichtung in Kalifornien erschienen war. »Sie haben also mit den Leichen von kürzlich Verstorbenen zu tun, die sich in der Hoffnung einfrieren lassen, dass es eines Tages einen Weg geben wird, sie wieder aufzuwecken und ihre Krankheiten zu heilen, richtig?«

»Ich erwarte nicht, dass jeder mit dem einverstanden ist, was wir tun«, antwortete Ackerman.

»Ich bin weder einverstanden, noch bin ich es nicht«, erklärte ich ihm. »Ich denke nicht, dass eine der beiden Positionen bis jetzt wissenschaftlich belegt ist. Ich wollte nur sichergehen, dass darin auch tatsächlich Ihr Geschäftsmodell besteht.«

Ackerman nickte und schien zufrieden mit meinem Kenntnisstand bezüglich seiner Arbeit zu sein. »Wir tun genau das«, bestätigte er. »Wir verschaffen Menschen die Chance auf ein neues Leben, falls die Medizin sich irgendwann bis zu diesem Punkt entwickelt.«

»Und Sie verlangen dafür eine Unkostenpauschale beziehungsweise eine Aufbewahrungsgebühr, bis es so weit ist, richtig?« Es war vielleicht ein Fehler gewesen, mich hinter den Schreibtisch zu setzen. Ich war durch den Anblick des Yankee-Stadions auf meinem Computerbildschirm abgelenkt und schweifte gedanklich zur endgültigen Präsentation für meinen glücksspielbegeisterten Freund Joseph Teradino ab. Mir fiel auf, dass die unterschiedliche Beschilderung des neuen Yankee-Stadions eine leichte Veränderung in Bezug auf die Flugkurve der Bälle erzeugen konnte, doch dass sie wohl nicht groß genug wäre, um für die Beantwortung der Frage relevant zu sein.

»Wir verlangen eine Gebühr«, gab Ackerman zu, worauf ich meine Aufmerksamkeit wieder ihm zuwandte. »Wir sind ja kein Wohltätigkeitsverein, und die Regierung unterstützt unsere Forschung weder finanziell noch in sonst irgendeiner Weise. Ohne die Gebühr könnten wir nicht gewährleisten, dass diese Menschen über Jahre, Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte hinweg sicher aufbewahrt werden und die Kosten dabei selbst tragen. Schon nach einem Monat würde uns das Geld für die Lagerung ausgehen.«

»Noch einmal, ich mache Ihnen keine Vorwürfe«, sagte ich. »Ich versuche nur, die Grundlage Ihrer Frage zu verstehen.« Ich machte eine Handbewegung, die ihn dazu animieren sollte fortzufahren.

»Sie würden sich wundern, wie viele Leute uns für Scharlatane halten«, sagte Ackerman, der die Sache anscheinend nicht auf sich beruhen lassen konnte. »Man sagt mir ins Gesicht, dass ich die Menschen bestehle und ihren Familien falsche Hoffnungen mache, und zwar öfter, als Sie sich vorstellen können.«

Vielleicht benötigte er einen kleinen Stoß in Richtung seines geschäftlichen Anliegens. Jedenfalls war ich ungeduldig und wollte mit der Arbeit fortfahren, die Ms. Washburn und ich vor seiner Ankunft verrichtet hatten. »Wie lautet denn nun Ihre Frage?«

»Nun, Mr. Hoenig, wir vermissen einen unserer Köpfe.«

3

»Das ist ein Problem, keine Frage«, korrigierte ich Ackerman.

Er brauchte einen langen Moment, um darüber nachzudenken, doch schließlich gab er sich einen Ruck und ergänzte sehr bedächtig: »Wer hat einen unserer Köpfe gestohlen, Mr. Hoenig?«

»Das ist nun wirklich eine interessante Frage!« Das war sie tatsächlich. Ich hatte mein Büro eröffnet, weil ich hoffte, durch ungewöhnliche Fragen herausgefordert zu werden, und diese war tatsächlich eine, die in einem gewöhnlichen Gespräch selten gestellt wurde. »Warum glauben Sie, dass der Kopf gestohlen wurde, Dr. Ackerman?«, fragte ich.

Ackerman wirkte verblüfft. »Ähm … weil er nicht mehr da ist«, entgegnete er. »Und normalerweise laufen die ja nicht von alleine weg.«

»Das nicht«, stimmte ich zu, »aber er könnte falsch abgelegt, katalogisiert oder identifiziert worden sein. Der fragliche Schädel könnte unabsichtlich zerstört worden sein. Man könnte ihn vielleicht einfach am falschen Ort eingelagert haben. Warum glauben Sie, dass er gestohlen wurde?«

»Es gibt ein Protokoll, das wir für jeden unserer Gäste einhalten«, erläuterte Ackerman. Ich ging davon aus, dass sie das Wort Gast für jeden gebrauchten, dessen Überreste in die Einrichtung zur kryonischen Aufbewahrung gebracht wurden, sei es die ganze Leiche oder nur der Schädel. »So ist gewährleistet, dass nichts schiefgehen kann. Es garantiert, dass wir zu jeder Minute an jedem Tag wissen, wo sich jeder einzelne unserer Gäste befindet. Und doch ist dieser Gast, Ms. Rita Masters-Powell, deren Position zu jeder Zeit aufgezeichnet wurde und die seit vier Monaten unverändert gewesen ist, plötzlich und ohne jegliche Vorankündigung verschwunden. Es ergibt keinen Sinn. Sie sollte nicht gerade erst eingelagert und auch nicht umgelagert werden. Es gibt keine andere Erklärung.«

Es wurmt mich, wenn Menschen Schlüsse ziehen, ohne vorher alle Tatsachen berücksichtigt zu haben, doch diesen Ärger brachte ich Ackerman gegenüber nicht zum Ausdruck. Nach meiner Erfahrung führt das zu keinem irgendwie nützlichen Ende. Ich hielt mich dazu an, ihm in die Augen zu blicken, und sagte: »Es gibt jede Menge Erklärungen, Dr. Ackerman, doch bevor ich die Einrichtung nicht gesehen, Ihre Sicherheitsvorkehrungen untersucht und das zuständige Personal befragt habe, kann ich Ihre Frage nicht vollumfänglich beantworten.«

»Würden Sie dann bitte mitkommen und einen Blick darauf werfen?«

Ich zögerte. Es gab da ja immer noch die Frage des Yankee-Stadions, und auch Ms. Washburns Frage, wie auch immer sie lauten mochte, musste beantwortet werden. Ackerman hatte wohl den Widerwillen in meinem Blick bemerkt, denn er fügte schnell hinzu: »Ich verdopple gern Ihre übliche Gebühr.«

Die Büromiete belief sich monatlich auf 2479 Dollar. Nebenkosten schlugen mit 862 Dollar zu Buche, ganz nach der Ratenzahlung, für die ich mich entschieden hatte und bei der jeden Monat ein von der Versorgungsgesellschaft errechneter Pauschalbetrag fällig wird. Der Getränkeautomat kostete keine Miete, doch jede Flasche grüner Tee oder Wasser belief sich unter dem Strich auf 75 Cent, und da ich normalerweise wenigstens acht Getränke pro Tag erstand, erzeugte das weitere monatliche Kosten von ungefähr 132 Dollar. Aus Gründen der Wirtschaftlichkeit hatte ich mich entschlossen, weniger Wasserflaschen zu kaufen und vielmehr die gebrauchten wieder aufzufüllen, obwohl der Gedanke daran in mir einen leichten Ekel erzeugte.

Trotzdem antwortete ich Ackerman nicht sofort, da ich damit beschäftigt war, all das im Kopf durchzurechnen. Stattdessen schaltete sich Ms. Washburn ein: »Verdreifachen Sie sie, und wir kommen ins Geschäft.«

Ich fühlte mich von ihrem forschen Auftreten zwar überrumpelt, doch ich versuchte, meinen Kopf nicht allzu rasch zu Ms. Washburn zu drehen. Man hat mir erklärt, dass solche plötzlichen Bewegungen Menschen oft stören, also habe ich über den Großteil meines Lebens hinweg geübt, meine Reaktionen zu kontrollieren. Ganz davon abgesehen erschien es mir das Beste, Ackerman nicht von meiner Überraschung in Kenntnis zu setzen.

»Einverstanden«, willigte Ackerman ein. Er lächelte komisch. »Mr. Hoenig?« Er gestikulierte in Richtung der Eingangstür. Es war bemerkenswert, dass er den Bedingungen zugestimmt hatte, ohne überhaupt zu fragen, wie hoch meine übliche Gebühr war.

»Wir folgen Ihnen«, erklärte ich, und Ackerman nickte. Er ging zur Tür und trat ins Freie.

Ms. Washburn wartete, bis er außer Hörweite war, bevor sie sagte: »Was meinen Sie mit ›Wir folgen Ihnen‹? Eigentlich arbeite ich ja nicht hier.«

»Sie haben doch gesagt, dass Sie Ihren Job bei der Zeitung verloren haben«, erinnerte ich sie. »Dies ist eine Gelegenheit, ein bisschen zu arbeiten und sich ein Gehalt zu verdienen. Es ist nur für heute.«

Sie sah mich aus zusammengekniffenen Augen an, als wäre ich weit weg. »Was soll ich denn tun?«, fragte sie.

»Erst einmal müssen Sie mich zu Ackermans Büro fahren. Ich fahre nicht Auto.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit – ich habe einen gültigen Führerschein, doch ich mache von ihm beinahe nie Gebrauch. Ich fahre sicher, aber weder schnell, noch macht es mir Spaß. Ich war seit Monaten nicht mehr Auto gefahren.

Ms. Washburn schüttelte ganz leicht den Kopf, während sie zur Tür ging und dabei ihre Autoschlüssel hervorzog.

4

Das Garden State Cryonics Institute hatte seinen Sitz in North Brunswick in einem kleinen grauen Gebäude am U.S. Highway 1 in unmittelbarer Nachbarschaft einer Bowlingbahn und eines Autohauses. Ms. Washburn benötigte für die Fahrt sechzehn Minuten, wobei sie einfach Ackermans Wagen folgte.

Sobald wir einen Parkplatz gefunden hatten und aus dem Auto ausgestiegen waren, betrachtete sie das Gebäude so, wie man ein geschmackloses Foto ansieht.

»Das gefällt mir nicht«, bemerkte sie. »Es ist zu gewöhnlich für einen Ort, an den die Leute sich wenden, um im sechsunddreißigsten Jahrhundert wieder auferweckt zu werden.«

»Es beherbergt eine Einrichtung, die die geeigneten Temperaturen, die Notfallvorrichtungen und andere Erfordernisse gewährleistet, um die Bedingungen der Tiefkühlung aufrechtzuerhalten, die kryonische Verfahren ermöglicht«, erklärte ich ihr. »Tatsächlich kümmert die Leute, die hierherkommen, die Ästhetik des Gebäudes nur am Rande.« Ich hielt das für eine launige Bemerkung, doch Ms. Washburn starrte mich nur einen Moment lang an und folgte mir dann zum Haupteingang des Instituts, wo Marshall Ackerman uns bereits erwartete.

»Willkommen beim Garden State Cryonics Institute«, sagte er. Mir schien, er gab dem Satz eine Opulenz, die dem Anlass nicht angemessen war, doch manchmal tue ich mich schwer mit Tonlagen, also ging ich davon aus, dass ich ihn missinterpretierte, auch weil ich Ms. Washburns unbeeindruckten Gesichtsausdruck wahrnahm.

»Danke«, erwiderte ich, denn das ist die angemessene Antwort, wenn jemand einen willkommen heißt, auch wenn man die Umgebung nicht als sonderlich einladend empfindet.

Wir betraten das Institut, und Ackerman führte uns durch die Türen in einen kleinen, unpersönlichen Empfangsbereich. Im Inneren wirkte das Gebäude imposanter als von außen – es war hell erleuchtet, machte den Eindruck, kürzlich renoviert worden zu sein, und war geräumiger, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. In der Lobby befand sich außerdem ein Empfangstresen, hinter dem eine junge Frau Mitte zwanzig saß, die besorgt dreinblickte. Ackerman lotste uns an ihr vorbei in den hinteren Teil des Raumes.

Dort funkelte uns ein stämmiger, kahlköpfiger Mann finster an, den Ackerman uns als Commander Johnson vorstellte und der ausschließlich mit ihm sprach. Neben ihm standen zwei Männer des Sicherheitsdienstes, die offenbar die institutseigene Uniform trugen. Sie waren unbewaffnet.

»Wir sollten Außenstehende nicht nach unten lassen«, wandte Johnson ein. Diese Bemerkung fand ich bemerkenswert, vor allem wenn Commander Johnson tatsächlich eine Art Armeeoffizier war. Falls dem so war, würde er wahrscheinlich korrekte Verfahrensweisen über alles stellen, und ich fragte mich, warum er dann nicht darauf bestand, die Polizei zu alarmieren.

»Sie sind hier, um zu helfen«, blaffte Ackerman zurück, und mir wollte scheinen, dass es ihm lieber gewesen wäre, wenn Commander Johnson leiser gesprochen hätte, etwas, worum meine Mutter auch mich oft bittet, wenn ich mich in Rage rede, zum Beispiel, wenn jemand behauptet, U2 sei eine bessere Band als die Beatles. Ackerman wandte sich uns zu. »Commander Johnson ist unser Sicherheitschef.«

»Dann vermute ich, dass er für das Verschwinden die Verantwortung trägt.« Das schien mir eine logische Annahme zu sein – der Sicherheitschef ist für jeden Verstoß, der unter seiner Aufsicht geschieht, verantwortlich –, doch sowohl Ackerman als auch Commander Johnson rissen erschrocken die Augen auf, und Ackerman beeilte sich, uns am Sicherheitspersonal vorbei durch eine Tür hindurch und einen Korridor entlang zu schleusen. Am Ende des Korridors lotste er uns in einen Fahrstuhl.

»Wir sehen uns nun den Bereich an, in dem Ms. Masters-Powell – Rita – aufbewahrt wurde«, sagte er, nachdem sich die Fahrstuhltüren geschlossen hatten. Ackerman teilte uns damit offenbar etwas Vertrauliches mit, denn er hatte mit seiner Äußerung gewartet, bis wir außer Sicht- und Hörweite aller anderen Angestellten waren, bevor er den Grund unseres Hierseins erneut aussprach. »Sie können die Sicherheitsvorkehrungen selbst begutachten.«

Ich sagte nichts zur Redundanz dieses Satzes und konzentrierte mich stattdessen auf die gestellte Frage. Wie konnte ich herausfinden, ob Ms. Masters-Powells Kopf gestohlen, verlegt oder zerstört worden war?

Die Antwort lag zweifelsohne in den Aufzeichnungen und den Sicherheitsapparaturen. Falls es zum Beispiel eine dauerhafte Videoüberwachung gab, hätte sie den Punkt aufgezeichnet, an dem die Überreste bei ihrer Ankunft eingelagert worden waren. Wenn man weiterhin davon ausging, dass das System ordentlich gesteuert und überwacht wurde, war von da an auch jede weitere Minute bis zum Verschwinden des Kopfes gespeichert worden. Die Frage wäre dann eine relativ einfache nach Zugangsberechtigungen, Motiven sowie den Fähigkeiten, das Sicherheitssystem zu manipulieren.

»Wer hat alles Zugang zu den Sicherheitsapparaturen?«, fragte ich, als sich die Fahrstuhltüren auf Ebene B öffneten, was wahrscheinlich für Basement, also das tiefste Kellergeschoss stand. Die anderen Stockwerke waren mit Zahlen markiert, während das, von dem wir gekommen waren, mit G für Ground bezeichnet wurde und demnach ebenerdig lag.

Ackerman blickte mich an, als hätte ich ihm ins Kreuz geschlagen. Er wirbelte herum und sagte: »Bitte, Mr. Hoenig, sprechen Sie doch leise. Ich möchte noch nicht, dass die Belegschaft über den … Vorfall Kenntnis erlangt.«

»Sie hören uns, wenn wir einfach in normaler Lautstärke sprechen?«, warf Ms. Washburn ein, während wir in den Flur traten. Ich war beeindruckt, da ich als Nächstes genau dieselbe Frage gestellt hätte, obwohl ich die Antwort bereits kannte. Ich wollte sehen, wie Ackerman darauf reagierte.

»Ja, es gibt an den meisten Stellen hier eine Audio- sowie eine ständige Videoüberwachung«, räumte er ein und deutete auf die Kameras, die an den Wänden knapp unterhalb der Decke montiert waren, um so jeden möglichen Blickwinkel abzudecken. Über der Linse jeder einzelnen Kamera war außerdem ein Richtmikrofon eingebaut.

Er sah, dass Ms. Washburn ihr Handy hervorangelte, und sagte: »Machen Sie sich gar nicht erst die Mühe. Hier unten haben Sie keinen Empfang. Handys funktionieren in diesem Gebäudetrakt nur intern, Sie können nur von jemandem angerufen werden, der sich ebenfalls in den Untergeschossen befindet.«

»Ich muss aber meinen Ehemann anrufen.«

Ackerman nickte. »Unten gibt es Festnetztelefone, die können Sie benutzen.«

»Ich nehme an, die Festplatten mit den Videoaufzeichnungen haben Sie überprüft, und sie sind nicht manipuliert worden«, vermutete ich und schwenkte so wieder auf das infrage stehende Thema zurück.

»Richtig«, bestätigte Ackerman. »Ich habe keinen Schimmer, wie er … wie sie hier herausgeschmuggelt werden konnte.«

»Vielleicht sollte jemand das Sicherheitssystem überprüfen, der nicht dem Institut angehört«, schlug ich vor. »Wenn der Dieb jemand ist, der hier arbeitet, könnte er oder sie sehr leicht jede Art der Manipulation vertuschen.«

»Ich glaube nicht, dass irgendeiner meiner Mitarbeiter verantwortlich sein könnte«, widersprach Ackerman in harschem Ton.

»Ich halte es für weniger wahrscheinlich, dass es jemand anders war«, konterte ich, doch er räusperte sich daraufhin nur und sagte nichts weiter.

Ackerman führte uns nach rechts, dann an einer Reihe unbeschrifteter Stahltüren vorbei.

»Sind Sie wegen einer Lösegeldforderung kontaktiert worden?«, fragte ich.

»Nein. Ich hoffe entgegen aller Wahrscheinlichkeit, dass wir Ms. Masters-Powells Kopf wiederfinden, bevor irgendein Kontakt hergestellt wird.« Ackerman zog ein Taschentuch hervor und wischte sich damit über die Stirn, obwohl es im Keller des Gebäudes überhaupt nicht warm war. Ich vermutete, dass hier bei jedem Wetter die Klimaanlage laufen musste.

»Natürlich wollen Sie ihn bald finden«, äußerte Ms. Washburn verständnisvoll, »aber warum ist es denn so dringend?«

Ackerman setzte zu einer Antwort an, doch ich hielt es für nützlich, ihn erneut zu beeindrucken, also unterbrach ich ihn: »Weil Dr. Ackerman Ms. Masters-Powells Familie noch nicht informiert hat und hofft, das auch niemals tun zu müssen.«

Ackerman starrte mich an. »Woher wissen Sie das?«

»Obwohl Sie so gut wie gar keine Konkurrenz haben, ist diese Einrichtung dennoch sehr abhängig von ihrem Ruf«, erläuterte ich. »Sie haben ja schon einige der Argumente erwähnt, die gegen Ihre Art von Dienstleistung in Stellung gebracht werden. Ein Vorfall wie dieser könnte beträchtlichen öffentlichen Aufruhr erzeugen, und Ihr Unternehmen könnte deshalb von den zuständigen Behörden überprüft oder durch einen Vertrauensverlust unter Ihren Kunden vollständig diskreditiert werden. Sie könnten dadurch gezwungen sein, Ihr Unternehmen ganz aufzugeben.«

Marshall Ackerman schien diese Aussicht fast schon Übelkeit zu bereiten. »Der Schaden für unseren Ruf könnte enorm sein«, stimmte er mir zu. »Diese Angelegenheit muss deshalb von mir … von uns schnellstmöglich aufgeklärt werden. Außerdem gibt es noch praktische physikalische Gründe, warum Eile geboten ist.«

»Das kann ich mir denken«, sagte ich so leise wie möglich, während wir uns den Flur entlangbewegten. »Wenn Ms. Masters-Powells Kopf tatsächlich aus der Lagerung entfernt worden und nicht richtig behandelt worden ist, können Sie ihn sehr wahrscheinlich nicht mehr in einen akzeptablen Zustand bringen, selbst wenn er zurückgegeben wird. Ich schätze, Sie müssten ihn innerhalb der nächsten zehn Stunden finden, es sei denn, Sie nehmen an, dass jemand mit Zugang zu sehr ausgefeilter Technik ihn in Geiselhaft genommen hat.«

Wir kamen an eine Tür, die direkt im Aufnahmebereich dreier verschiedener Kameras an den Wänden und der Decke lag. An der Tür war ein Schild mit der Aufschrift Aufbewahrungsraum D angebracht. Ackerman nahm eine Codekarte aus seiner Brieftasche und zog sie durch ein Lesegerät rechts neben der Tür.

Eine Tonaufnahme, die im Flur widerhallte, erklang: »Stimmerkennungsmuster, bitte.«

»Marshall Ackerman«, sagte er in leichtem Plauderton.

»Erkennung durchgeführt. Daumenabdruck, bitte«, antwortete ihm die Aufzeichnung. Ackerman streckte die rechte Hand aus und legte den Daumen auf einen Scanner unterhalb des Kartenlesegeräts.

»Akzeptiert«, sagte die Aufzeichnung. Man hörte das Klicken der Türschlösser, die sich öffneten, und ein Summton erklang. Bei diesem Geräusch zog sich alles in mir zusammen, doch ich bemühte mich, mein Unwohlsein nicht offen zu zeigen – für uns Menschen mit Asperger-Syndrom ist es nicht ungewöhnlich, empfindlich auf laute Geräusche zu reagieren. Ackerman öffnete die Tür und ließ Ms. Washburn und mir den Vortritt. Wir gingen hinein.

Der Raum ähnelte einem Arztlabor mit Seziertischen aus rostfreiem Stahl und einem Computerarbeitsplatz daneben. Eine Seite des Zimmers war mit Fenstern statt Wänden ausgestattet, und auch wenn sie aus Glas zu sein schienen, legten Stärke und Farbe des Materials nahe, dass es sich dabei um etwas viel Dauerhafteres und Widerstandsfähigeres als eine gewöhnliche Fensterscheibe handelte.

»Das hier ist der Aufbewahrungsbereich«, erläuterte Ackerman. »Wie Sie sehen, Mr. Hoenig, sind die Sicherheitsmaßnahmen, die den Zugang zu diesem Gebäudeabschnitt regeln, außergewöhnlich hoch.«

Das war eine kühne Behauptung, die ich als haltlos erachtete.

»Das kann man wohl kaum sagen«, widersprach ich ihm also. »Ich finde, die Maßnahmen sind ziemlicher Standard und werden von vielen ähnlichen Einrichtungen, die auf ihre Sicherheit bedacht sind, ebenfalls verwendet. Die Anzahl der Maßnahmen ist vielleicht ungewöhnlich hoch, aber keine von ihnen ist idiotensicher. Das gilt ohnehin für nichts.«

Ackerman presste die Lippen aufeinander, doch er bemühte sich, nicht mit mir zu streiten.

»Wenn Sie mir nun folgen wollen, Mr. Hoenig, zeige ich Ihnen unsere Lagerräume.« Obwohl er Ms. Washburn nicht ausdrücklich einlud, folgte sie uns.

Er wies uns an, Schutzanzüge anzulegen, die an Haken neben der Tür hingen. Sie bestanden aus einem gelben Polymer und hatten Kapuzen mit einem Sichtfenster darin, sodass man hindurchsehen konnte. Ich wollte nachfragen, ob die Anzüge schon vor mir von jemandem getragen worden waren, was ich vermutete, und falls dem so war, wie sie gereinigt worden waren, doch ich hielt mich zurück. Ich weiß nicht, warum. Auch Ms. Washburn zögerte für einen Moment, vielleicht aus demselben Grund, vielleicht aber auch wegen Klaustrophobie oder sonst irgendeiner Überempfindlichkeit, doch sie atmete ein Mal kurz durch und zog dann den Anzug über ihre Kleidung.

Ackerman tat es ihr gleich, jedoch ohne zu zögern; das hier war für ihn offenbar keine ungewöhnliche Situation. Es dauerte keine zwei Minuten, bis wir alle ordnungsgemäß gekleidet waren und er zu einem computerisierten Tastenfeld hinüberlangte. Selbst mit den Handschuhen, die zur Schutzausstattung gehörten, konnte er die richtige Zahlenkombination eingeben, und auf dem Bildschirm erschien der Schriftzug Zugang gewährt.

Über der inneren Tür leuchtete ein rotes Licht auf, und Ackerman ging auf die Tür zu. »Drinnen dürfen Sie nichts anfassen«, warnte er uns vor. »Alles ist extrem kalt und empfindlich. Jede unerwartete Temperaturänderung in einem der Behälter könnte diese Leute ihr Leben kosten.« Da sie alle bereits klinisch tot waren, schien mir das eine ziemlich übertriebene Aussage zu sein, doch ich nickte, und er streckte die Hand nach dem Knauf an der inneren Tür aus.

Dieser ließ sich zwar drehen, doch die Tür bewegte sich nicht, wie sehr er auch dagegendrückte.

»Ich begreife das nicht«, sagte Ackerman. »Könnten Sie mir bitte helfen, Mr. Hoenig?«

Ich wollte eigentlich nicht. Gegen eine Tür zu drücken, die sich nicht öffnen ließ, schien mir ein fruchtloses Unterfangen zu sein, und es so nah bei Ackerman zu tun (oder wem auch immer) bereitete mir leichte Übelkeit. Doch die einzige Möglichkeit, die mir gestellte Frage zu beantworten, ergab sich dadurch, dass ich mir die Einrichtung ansah; und der einzige Weg, wie ich die Einrichtung würde ansehen können, bestand darin, die Tür zu öffnen. Also stellte ich mich neben ihn.

»Könnte sie eingefroren sein?«, fragte Ms. Washburn.

Ich wusste, dass die Konstruktion einer solchen Kammer so etwas unmöglich machte, doch ich fand den herablassenden Ton Ackermans unnötig, als er erwiderte: »Nein, Ms. Washburn. Sie kann nicht einfrieren.« Ich hatte gleich vermutet, dass er nicht begeistert war, dass sie uns bei der gesamten Besichtigung der Anlage begleitete.

»Bei drei«, sagte er zu mir. Ich habe keine Ahnung, warum es die Körperkraft erhöhen soll, bis drei zu zählen. Warum sagt man nicht einfach jetzt? Warum zählt man nicht bis fünf oder bis sieben? Oder drückt einfach drauflos und nimmt an, dass der Nebenmann schon in die Anstrengung einsteigen wird? Doch ich entgegnete nichts, und Ackerman wertete das anscheinend als Zustimmung. »Eins … zwei … drei!«

Wir drückten mit den Schultern gegen die Tür, und sie bewegte sich ein paar Zentimeter, allerdings nicht genug, um wenigstens einen Fuß hineinzubekommen.

Man konnte durch die dicke Stahltür nicht hindurchsehen, doch zu beiden Seiten waren kleine Glasfenster in die Wand eingelassen.

»Ms. Washburn«, bat ich sie, »schauen Sie doch mal da durch und sagen mir, was Sie sehen.« Später fiel mir auf, dass ich nicht »bitte« gesagt hatte, doch Ms. Washburn schien deswegen nicht beleidigt zu sein.

Sie nickte und quetschte sich an mir vorbei, um an das Fenster zu gelangen, das rechts neben der Tür lag. Sie blickte geradeaus hindurch, und ihre Stimme hallte von der Glasscheibe wider. »Ich sehe Metallzylinder und große Maschinen, eventuell Lagereinheiten. Ich kann nichts erkennen, das irgendwie komisch aussieht.«

Ackerman und ich hatten die Position unserer Füße gewechselt, um einen besseren Hebel zu erzeugen, und drückten weiter gegen die Tür. »Schauen Sie nach unten«, sagte ich zu Ms. Washburn. »Sehen Sie nach, was die Beweglichkeit der Tür einschränkt.«

Sie tat es und schnappte nach Luft. »Oh mein Gott«, rief sie. »Da liegt eine Frau auf dem Boden.«

Ackerman erblasste und drückte noch fester. Die Tür bewegte sich ein paar Zentimeter weiter, sodass ich meinen Fuß in die Öffnung stemmen konnte. Auf diese Weise war der Hebel groß genug, und ich bekam die Tür so weit auf, dass ich mich trotz meiner Schutzkleidung durch den Spalt hindurch und in den Raum hinein zwängen konnte. Dort sah ich, dass Ms. Washburn recht gehabt hatte: Tatsächlich lag eine Frau auf dem Boden.

Soweit ich das beurteilen konnte, war sie mausetot.

5

»Fassen Sie nichts an«, wies ich Ackerman und Ms. Washburn an, nachdem sie sich durch den engen Spalt gequetscht hatten. Es war nun deutlich, dass die Leiche der unbekannten Frau so hinter die Tür geklemmt worden war, dass es für uns schwierig wurde hineinzugelangen. Immerhin hatte das Drücken an der Tür dem Körper keinen größeren Schaden zugefügt.

Ihre Anwesenheit in der Kammer, während dort flüssiger Stickstoff ausgetreten war, hatte das bereits erledigt.

»Mein Gott«, sagte Ackerman und legte sich instinktiv die Hand vor den Mund, obwohl sein Gesicht ja von dem Plastikfenster bedeckt war. »Das ist Rebecca.«

»Wie spät ist es?«, fragte ich ihn drängend. Wegen meines Tons versteifte Ackerman sich, doch Ms. Washburn sah auf eine Wanduhr.

»10.56 Uhr.«

»Danke.« Anders als bei anderen Menschen mit Asperger-Syndrom hatte es bei mir keines speziellen Trainings der sozialen Fähigkeiten bedurft, damit ich daran dachte, mich bei Menschen zu bedanken. Ich hatte das bereits gelernt, als ich noch sehr jung gewesen war. Dafür hatte meine Mutter schon gesorgt.

»Warum fragen Sie?«, warf Ackerman ein. »Können Sie herausfinden, wann sie gestorben ist?«

»Nein. Ich esse jeden Tag um halb eins mit meiner Mutter zu Mittag und wollte sichergehen, dass ich mich nicht verspäte.«

Ackerman starrte mich wieder an.