Eine Liebe von Swann - Marcel Proust - E-Book

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Marcel Proust

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Beschreibung

Eine Geschichte von Begehren, Zurückweisung, Eifersucht und Erfüllung – reich an dramatischen Wendungen und überraschenden Verwicklungen. "Eine Liebe von Swann" ist der mittlere Teil des ersten Bandes von Marcel Prousts gewaltigem Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Innerhalb dieses literarischen Kosmos ist es ein Roman für sich, der exemplarisch Prousts Kunst der feinen Beobachtung und der psychologischen Analyse zeigt. Im Mittelpunkt steht Charles Swann, eine der Zentralfiguren der "Suche nach der verlorenen Zeit", und seine Liebe zu Odette, die er im Salon der Verdurins kennenlernt ...

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Seitenzahl: 404

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Marcel Proust

Eine Liebe von Swann

Ein Kapitel aus der Suche nachder verlorenen Zeit

Aus dem Französischen übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer

Reclam

»Eine Liebe von Swann« ist das 2. Kapitel des 1. Bandes von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer, 7 Bände und Handbuch, Stuttgart: Reclam, 2013–17. Französischer Originaltitel: Un amour de Swann.

 

2013, 2018 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: AMMA Kommunikationsdesign

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2018

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961380-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020543-3

www.reclam.de

Inhalt

Eine Liebe von Swann

 

Um zum »kleinen Kern«, zur »kleinen Gruppe«, zum »kleinen Clan« der Verdurins gehören zu dürfen, war eine Bedingung hinreichend, aber auch notwendig: man musste sich stillschweigend zu einem Glauben bekennen, dessen einziger Grundsatz besagte, dass der junge Pianist, den Madame Verdurin in diesem Jahr förderte und von dem sie sagte: »Es gehörte verboten, Wagner so spielen zu können«, gleichzeitig Planté und Rubinstein »in die Tasche stecke«, und dass der Doktor Cottard ein besserer Diagnostiker sei als Potain. Jeder »Neuling«, den die Verdurins nicht davon zu überzeugen vermochten, dass die Abendgesellschaften jener Leute, die nicht zu ihnen kamen, so langweilig seien wie sieben Tage Regenwetter, sah sich unverzüglich ausgeschlossen. Da die Frauen in dieser Hinsicht aufsässiger waren als die Männer und weder ihre weltliche Neugier noch das Bedürfnis, sich persönlich von den Annehmlichkeiten der anderen Salons zu überzeugen, hintanstellen mochten, und da auf der anderen Seite die Verdurins spürten, dass dieser Geist der Nachprüfung und dieser Teufel der Leichtherzigkeit im Wege der Ansteckung lebensgefährlich für die Rechtgläubigkeit der kleinen Gemeinde werden könnten, sahen sie sich gezwungen, nach und nach alle »Getreuen« weiblichen Geschlechts auszusondern.

Abgesehen von der jungen Frau des Doktors waren sie in diesem Jahr beinahe gänzlich (obwohl Madame Verdurin selbst tugendhaft war und aus einer außerordentlich reichen, völlig unbedeutenden, jedoch angesehenen bürgerlichen Familie stammte, zu der sie nach und nach von sich aus alle Beziehungen eingestellt hatte) auf eine weibliche Person angewiesen, die fast der Halbwelt angehörte, Madame de Crécy, die von Madame Verdurin bei ihrem Vornamen Odette genannt und als ein »Schatz« apostrophiert wurde, sowie auf die Tante des Pianisten, die Logenschließerin gewesen sein dürfte; Leute, die von der Welt nichts wussten und denen man in ihrer Ahnungslosigkeit leicht weismachen konnte, die Prinzessin von Sagan oder die Herzogin von Guermantes müssten arme Unglückliche anheuern, damit sie überhaupt jemanden bei ihren Abendgesellschaften hätten, und dass die ehemalige Por-tiersfrau und die Kokotte ein Angebot, ihnen eine Einladung bei den beiden großen Damen zu verschaffen, verächtlich würden ablehnen müssen.

Die Verdurins luden nicht ein zum Essen: Man hatte bei ihnen »seinen gedeckten Tisch«. Abends gab es kein Programm. Der junge Pianist spielte, doch nur, wenn »ihm das zusagte«, denn man wollte niemanden zwingen, und wie sagte Monsieur Verdurin: »Alles für die Freunde, die Kameraden sollen leben!« Wenn der Pia-nist den Walkürenritt oder das Vorspiel zum Tristan spielen wollte, erhob Madame Verdurin Einspruch, nicht etwa, weil die Musik ihr nicht gefiele, sondern im Gegenteil, weil sie ihr Gemüt zu sehr bewegte. »Wollen Sie, dass ich meine Migräne bekomme? Sie wissen doch, dass es immer das gleiche ist, wenn er das spielt. Ich weiß doch, was mich erwartet! Wenn ich morgen früh aufstehen will – dann gut’ Nacht, liebe Leute!« Wenn er nicht spielte, unterhielt man sich, und einer der Freunde, meist der gerade in Gunst stehende Maler, ließ dann, wie Monsieur Verdurin sich ausdrückte, »einen derben Schwank vom Stapel, dass allen das Maul offenstand«, besonders Madame Verdurin, die sich einmal – da sie die Gewohnheit hatte, die bildlichen Redeweisen für Gefühle, die sie empfand, allzu wörtlich zu nehmen – von Doktor Cottard (damals noch ein junger Neuling) den Kiefer wieder einrenken lassen musste, weil sie ihn durch übermäßiges Lachen ausgerenkt hatte.

Frack war verpönt, denn man war unter »Genossen« und wollte nicht den »Langweilern« gleichen, vor denen man sich hütete wie vor der Pest und die man nur zu den großen Empfängen einlud, welche man freilich so selten wie nur möglich veranstaltete, und dann auch nur dem Maler zu Gefallen oder um den Musiker bekannt zu machen. Den Rest der Zeit begnügte man sich damit, Scharaden aufzuführen oder kostümiert zu essen, nur ganz unter sich, und ohne irgendwelche Fremden in den »kleinen Kern« zu mengen.

Doch in dem Maße, in dem die »Kameraden« zunehmend Raum im Leben der Madame Verdurin einnahmen, so auch die Langweiler, die Verstoßenen, alles, was ihre Freunde von ihr fernhielt, alles, was diese zuweilen daran hinderte, für sie frei zu sein, sei es die Mutter des einen, der Beruf des anderen, das Haus auf dem Land oder die schlechte Gesundheit eines dritten. Wenn Doktor Cottard meinte, nach Tisch aufbrechen zu müssen, um zu einem gefährlich Kranken zurückzukehren, sagte Madame Verdurin zu ihm: »Wer weiß, vielleicht ist es besser für ihn, wenn Sie ihn heute Abend nicht mehr stören; er wird auch ohne Sie eine ruhige Nacht verbringen; morgen früh gehen Sie recht zeitig zu ihm, und Sie werden ihn geheilt finden.« Vom Beginn des Dezembers an war sie ganz krank bei dem Gedanken, dass die Getreuen sie an Weihnachten oder Neujahr »hängenlassen« würden. Die Tante des Pianisten verlangte, dass er an diesem Tag in der Familie bei seiner Mutter zu Abend esse: »Sie glauben wohl, sie würde sterben, Ihre Mutter«, rief Madame Verdurin schroff, »wenn Sie nicht mit ihr am Neujahrstag essen, wie in der Provinz!«

Ihre Besorgnisse erstanden in der Karwoche wieder auf: »Sie, Doktor, ein Gelehrter und Freigeist, Sie kommen doch natürlich am Karfreitag, wie an einem ganz gewöhnlichen Tag?«, sagte sie im ersten Jahr zu Cottard, in einem so selbstgewissen Ton, als könne an der Antwort kein Zweifel bestehen. Aber sie zitterte bei der Vorstellung, was er sagen könnte, denn wenn er nicht käme, würde sie womöglich ganz allein bleiben. »Ich komme am Karfreitag … um mich zu verabschieden, denn wir wollen die Ostertage in der Auvergne verbringen.« – »In der Auvergne? Damit Flöhe und Ungeziefer Sie auffressen? Das geschähe Ihnen recht!« Und dann, nach einer Pause: »Wenn Sie uns das wenigstens gesagt hätten, dann hätten wir versuchen können, die Sache zu organisieren, damit wir die Reise gemeinsam und in aller Annehmlichkeit würden unternehmen können.«

Wenn ein »Getreuer« einen Freund oder eine »Angestammte« einen Flirt hatte, der sie dazu veranlassen könnte, die Verdurins ab und zu »hängen zu lassen«, sagten sie, da sie nichts Schreckliches daran fanden, dass eine Frau einen Liebhaber haben sollte, solange sie ihn bei ihnen hatte, ihn in ihnen liebte und ihn ihnen nicht vorzog: »Nun gut! bringen Sie Ihren Freund mit.« Man lud ihn dann versuchsweise ein, um zu sehen, ob er es fertigbrächte, keine Geheimnisse vor Madame Verdurin zu haben, ob er geeignet sei, in den »kleinen Clan« aufgenommen zu werden. Wenn nicht, nahm man den Getreuen, der den Gast eingeladen hatte, beiseite und erwies ihm den Dienst, einen Krach zwischen ihm und seinem Freund beziehungsweise seiner Geliebten herauf-zu-be-schwören. Im anderen Fall wurde der »Neuling« seinerseits ein Getreuer. Als in jenem Jahr die Halbweltdame Monsieur Verdurin erzählte, dass sie die Bekanntschaft eines charmanten Mannes, eines Monsieur Swann, gemacht habe und hartnäckig behauptete, dass dieser überglücklich wäre, wenn er bei ihnen empfangen werden würde, gab Monsieur Verdurin das Gesuch unverzüglich an seine Frau weiter. (Er hatte niemals ein eigenes Urteil, bevor diese nicht das ihre geäußert hatte, seine besondere Aufgabe bestand darin, ihre Wünsche und insbesondere die Wünsche der Getreuen mit großem Aufwand an Einfallsreichtum zu verwirklichen.)

»Madame de Crécy hat eine Bitte an dich. Sie möchte dir einen ihrer Freunde vorstellen, einen Herrn Swann. Was sagst du dazu?« – »Aber ich bitte dich, kann man solch einer perfekten Kleinen etwas abschlagen? Schweigen Sie, man hat Sie nicht nach Ihrer Meinung gefragt, ich habe gesagt, dass Sie eine perfekte Kleine sind.« – »Ganz wie Sie wollen«, antwortete Odette im gezierten Ton Marivaux’ und fügte hinzu: »Sie wissen ja, ich bin nicht fishing for compliments.« – »Also schön, bringen Sie Ihren Freund mit, wenn er erträglich ist.«

Der »kleine Kern« hatte natürlich nicht die geringsten Verbindungen mit der Gesellschaft, in der Swann verkehrte, und wahre Leute von Welt hätten es kaum der Mühe wert befunden, darin eine derart herausragende Stellung einzunehmen wie er, um bei den Verdurins vorgestellt zu werden. Aber Swann liebte die Frauen so sehr, dass er von dem Tage an, als er so ziemlich alle in der Aristokratie kennengelernt hatte und sie ihn nichts mehr lehren konnten, an diesen Einbürgerungsbriefen, Adelsprädikaten schon fast, die ihm der Faubourg Saint-Germain aufgenötigt hatte, höchstens noch Interesse als einer Art von Tauschwährung, von Kreditbriefen hatte, die selbst nichts mehr wert waren, es ihm aber gestatteten, sich in irgendeinem Provinznest oder fragwürdigen Milieu in Paris, in der ihm die Tochter eines Krautjunkers oder eines Gerichtsschreibers aufgefallen war, eine Sonderstellung zu verschaffen. Denn das Verlangen oder die Liebe erweckten in ihm ein Gefühl der Eitelkeit, dessen er sich im gewöhnlichen Leben schon entledigt hatte (obgleich genau dies es war, was ihn einst in die Richtung der großen Welt gelenkt hatte, in der er seine Geistesgaben in oberflächlichen Vergnügungen und seine Kunstkenntnisse damit vergeudete, Damen der Gesellschaft beim Kauf von Bildern oder der Einrichtung ihrer Stadtvillen zu beraten) und das ihn wünschen ließ, in den Augen einer Unbekannten, von der er ergriffen war, mit einer Vornehmheit zu glänzen, die aus dem Namen Swann allein nicht hervorging. Ganz besonders verlangte ihn danach, wenn die Unbekannte von geringer Herkunft war. Ebenso wie ein intelligenter Mensch keine Angst hat, von einem anderen intelligenten Menschen für dumm gehalten zu werden, so wird auch ein vornehmer Mann nicht von einem Edelmann, sondern nur von einem Bauerntölpel fürchten, seine Vornehmheit verkannt zu sehen. Drei Viertel der geistigen Unkosten und der Lügen aus Eitelkeit, die seit Bestehen der Welt von Leuten verschwendet wurden, die sich damit nur selbst herabsetzen, erfolgten für Leute geringeren Standes. Und Swann, der schlicht und lässig mit einer Herzogin umging, zitterte davor, von einem Zimmermädchen verkannt zu werden und warf sich vor ihr in die Brust.

Er war nicht wie so viele Leute, die sich aus Trägheit oder dem gottergebenen Pflichtgefühl, das eine gehobene gesellschaftliche Position hervorbringt, an einem bestimmten Gestade vor Anker bleiben zu müssen, von den Vergnügungen, die die Wirklichkeit ihnen jenseits ihrer weltlichen Stellung anbietet, in der sie bis zu ihrem Tod verschanzt leben, fernhalten und sich schließlich, nachdem es ihnen gelungen ist, sich daran zu gewöhnen, damit begnügen, die mittelmäßigen Unterhaltungen und die öden Verpflichtungen, die zu ihr gehören, in Ermangelung von etwas Besserem als Vergnügen zu bezeichnen. Swann jedoch versuchte nicht, die Frauen hübsch zu finden, mit denen er seine Zeit verbrachte, sondern seine Zeit nur mit Frauen zu verbringen, die er von vornherein hübsch gefunden hatte. Und das waren manchmal Frauen von ziemlich vulgärer Schönheit, denn die körperlichen Vorzüge, nach denen er suchte, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, standen in krassem Gegensatz zu denjenigen, die er an weiblichen Skulpturen oder in den Bildern seiner bevorzugten Meister bewunderte. Die Tiefe, die Schwermut des Ausdrucks kühlten seine Sinne ab, die aufzumuntern hingegen ein gesundes, schwellendes, rosiges Fleisch genügte.

Wenn er auf Reisen einer Familie begegnete, für die er zu vornehm gewesen wäre, um mit ihr Bekanntschaft zu schließen, in der ihm jedoch eine Frau als mit einem Reiz geschmückt erschien, den er noch nicht kannte, so wäre es ihm als eine ebenso feige Absage an das Leben, als ein ebenso törichter Verzicht auf ein neues Glück erschienen, »seinen Stolz herauszukehren« und das Verlangen, das sie hervorgerufen hatte, zu verleugnen, ein anderes Vergnügen an die Stelle dessen zu setzen, das er mit ihr kennenlernen könnte, indem er etwa an eine ehemalige Geliebte schriebe, dass sie zu ihm kommen solle, wie wenn er sich etwa, statt das Land zu bereisen, in seinem Zimmer eingeschlossen hätte, um Ansichten von Paris zu betrachten. Er schloss sich nicht im Gebäude seiner Beziehungen ein, sondern hatte daraus eines jener leicht abzubauenden Zelte gemacht, wie sie Forschungsreisende mit sich führen, um es an Ort und Stelle, wo eine Frau ihm gefallen hatte, ganz neu wieder aufbauen zu können. Und das, was daran nicht transportabel war oder austauschbar gegen ein neues Vergnügen, hätte er umsonst weggegeben, so begehrenswert es anderen auch erscheinen mochte. Wie oft hatte er auf einen Schlag seinen Kredit bei einer Herzogin verspielt, der sich über Jahre in ihrem Wunsch angesammelt hatte, ihm einen Gefallen zu tun, ohne dass sie dazu Gelegenheit gehabt hätte, indem er sie in einem taktlosen Telegramm um eine telegraphische Empfehlung bat, mit der er sich auf der Stelle mit einem ihrer Verwalter in Verbindung setzen könnte, dessen Tochter ihm auf dem Land aufgefallen war, wie ein Verhungernder, der einen Diamanten gegen ein Stück Brot eintauschen würde. Und danach machte er sich noch darüber lustig, denn ihm wohnte, wiewohl ausgeglichen durch ein einzigartiges Feingefühl, auch eine gewisse Flegelhaftigkeit inne. Außerdem gehörte er zu jener Sorte intelligenter Männer, die im Müßiggang gelebt haben und Trost und vielleicht auch eine Entschuldigung in der Vorstellung suchen, dass dieser Müßiggang ihrem Verstand ebenso des Interesses würdige Gegenstände biete, wie es die Kunst oder die Wissenschaft tun würden, dass das »Leben« viel interessantere und romantischere Momente enthalte als alle Romane zusammengenommen. Das behauptete er wenigstens, und überzeugte davon auch mit Leichtigkeit die kultiviertesten seiner Freunde in der Lebewelt, insbesondere den Baron von Charlus, den er mit Vergnügen durch die Erzählung der pikanten Abenteuer, die ihm zugestoßen waren, erheiterte, etwa, dass er in der Eisenbahn eine Frau kennengelernt habe, von der er, nachdem er sie zu sich mitgenommen hatte, entdeckte, dass sie die Schwester eines Herrschers war, in dessen Händen zu der Zeit alle Fäden der europäischen Politik zusammenliefen, über deren weiteren Gang er sich fortan aufs angenehmste auf dem laufenden halten konnte, oder etwa, wie es dank des seltsamen Zusammenspiels der Zufälle von der Papstwahl abhing, ob er der Geliebte einer Köchin würde werden können oder nicht.

Übrigens war es nicht allein die glänzende Phalanx tugendhafter Witwen von Stand, von Generälen und von Mitgliedern der Akademie, mit denen Swann ganz besonders verbunden war, die er mit so viel Zynismus als Kuppler einspannte. Alle seine Freunde waren es gewohnt, von Zeit zu Zeit Briefe von ihm zu bekommen, in denen er sie mit einer diplomatischen Geschmeidigkeit um Empfehlungs- oder Einführungsschreiben bat, die in ihrer Unveränderlichkeit durch alle Liebesaffären und alle Vorwände hindurch, mehr noch als es Ungeschicklichkeiten hätten tun können, einen gleichbleibenden Charakter und stets dieselben Ziele zu Tage treten ließ. Man hat mir viele Jahre später, als ich begann, mich für seinen Charakter zu interessieren, weil er mit dem meinigen, wenn auch in anderen Bereichen, Ähnlichkeiten aufwies, wiederholt erzählt, wie mein Großvater, wenn er an diesen schrieb (der das damals noch nicht war, denn die große Leidenschaft von Swann, die für lange Zeit diese Praktiken unterbrach, begann in der Zeit vor meiner Geburt), ausrief, sobald er die Handschrift seines Freundes auf dem Briefumschlag erkannte: »Hier ist Swann, der etwas will: Seid auf der Hut!« Und sei es nun aus Misstrauen oder sei es aus jenem unbewussten teuflischen Trieb heraus, der uns dazu reizt, eine Sache nur solchen Leuten anzubieten, die sie nicht haben wollen, setzten meine Großeltern auch den mit Leichtigkeit zu erfüllenden Gesuchen, die er an sie richtete, einen uneingeschränkt abweisenden Bescheid entgegen, wie etwa, ihn einem jungen Mädchen vorzustellen, das jeden Sonntag bei ihnen zum Abendessen zu Gast war und von dem sie, wann immer Swann wieder davon anfing, so tun mussten, als sähen sie es gar nicht mehr, obwohl die ganze Woche über die Rede davon gewesen war, wen man mit ihr zusammen einladen könnte, wobei man oft genug schließlich niemanden fand, statt demjenigen, der darüber nur allzu glücklich gewesen wäre, ein Zeichen zu geben.

Manchmal kam es vor, dass irgendein mit meinen Großeltern befreundetes Ehepaar, das sich bis dahin darüber beschwert hatte, dass sie Swann niemals zu Gesicht bekämen, ihnen mit Befriedigung und vielleicht auch der Hoffnung, Neid erregen zu können, verkündete, dass er neuerdings ganz außerordentlich zuvorkommend zu ihnen sei und nicht mehr von ihrer Seite weiche. Mein Großvater wollte ihnen die Freude nicht rauben, sah nur meine Großmutter an und summte dabei:

Welch tief Geheimnis birgt sich hier?

Ich kann es nicht begreifen.

oder

Flüchtige Schatten …

oder auch

In einem solchen Fall

Sieht man am besten nichts.

Einige Monate später, wenn dann mein Großvater den neuen Freund von Swann fragte: »Und Swann, sehen Sie den immer noch so viel?«, zog sich das Gesicht des Befragten in die Länge: »Erwähnen Sie nie wieder diesen Namen in meiner Gegenwart!« – »Aber ich dachte, Sie seien so eng befreundet …« Beispielsweise hatte er über einige Monate hinweg mit der Familie von Verwandten meiner Großmutter auf vertrautem Fuß gestanden, war fast täglich bei ihnen zu Gast gewesen. Schlagartig hörte er auf zu kommen, ohne das auf irgendeine Weise anzukündigen. Man glaubte, er sei krank, und die Cousine meiner Großmutter wollte gerade jemanden losschicken, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, als sie einen Brief von ihm fand, der versehentlich im Haushaltsbuch der Köchin lag. Darin teilte er dieser Frau mit, dass er Paris verlassen wolle und nicht mehr kommen könne. Sie war seine Geliebte gewesen, und als er die Beziehung abbrach, war sie die einzige, der davon Mitteilung zu machen er für nötig befunden hatte.

Wenn dagegen seine derzeitige Geliebte eine Dame von Welt war oder doch wenigstens eine Person, bei der nicht eine niedrige Abkunft oder undurchsichtige Verhältnisse verhinderten, dass sie von der großen Welt empfangen würde, so kehrte er um ihretwillen in sie zurück, doch nur in den speziellen Kreis, in dem sie verkehrte, oder besser, in den er sie entführt hatte. »Heute abend brauchen wir auf Swann nicht zu zählen«, sagte man, »Sie wissen ja, heute ist der Operntag seiner Amerikanerin.« Er führte sie in die besonders exklusiven Salons ein, in denen er seinen Gewohnheiten nachging, seine wöchentlichen Abendessen und seine Pokerpar-tien hatte; jeden Abend, nachdem er mit einer nur leichten Kräuselung in der Bürste seiner roten Haare die Lebhaftigkeit seiner grünen Augen mit einer gewissen Weichheit abgemildert hatte, wählte er eine Blume für sein Knopfloch aus und machte sich auf, seine Geliebte beim Abendessen bei der einen oder anderen Frau seines Bekanntenkreises zu treffen; und wenn er an die Bewunderung und die Freundschaft dachte, die diese exklusiven Leute, für die er den Unterschied zwischen Regen und Sonnenschein bedeutete, ihm, wenn er sie dann dort traf, vor der Frau, die er liebte, entgegenbringen würden, so fand er wieder Gefallen an diesem mondänen Leben, über das er sich erhaben gedünkt hatte und dessen Stoff ihm nun, seit er eine neue Liebschaft hineingeflochten hatte, wieder kostbar und schön erschien, von einer nur angedeuteten Leidenschaft warm getönt und durchdrungen, die in ihm ihr Spiel trieb.

Doch während alle diese Beziehungen, oder alle diese Flirts, mehr oder weniger gelungene Verwirklichungen eines Traumes waren, der dem Anblick eines Gesichts oder eines Körpers entstammte, den Swann spontan, ganz zwanglos, reizend gefunden hatte, war umgekehrt Odette de Crécy, als sie ihm von einem Freund aus alten Tagen im Theater vorgestellt wurde, der von ihr als einer hinreißenden Frau gesprochen hatte, mit der man vielleicht etwas anfangen könnte, wobei er sie aber als schwerer zu erobern darstellte, als sie in Wirklichkeit war, um sich den Anschein zu geben, mit der Vorstellung eine große Gunst erwiesen zu haben, Swann gewiss nicht als aller Schönheit bar, aber als von einer Schönheit erschienen, gegen die er gleichgültig war, die kein Verlangen in ihm weckte, die in ihm sogar eine Art körperlicher Abstoßung auslöste, wie es aller Welt bei gewissen Frauen ergeht, nur jeweils verschiedenen, weil sie das Gegenteil des Typus sind, nach dem unsere Sinne verlangen. Um ihm gefallen zu können, hatte sie ein zu scharfes Profil, eine zu spröde Haut, zu vorspringende Wangenknochen, zu welke Züge. Ihre Augen waren schön, doch so groß, dass sie unter ihrem eigenen Gewicht niedersanken, den Rest ihres Gesichts überanstrengten und ihm stets den Anstrich einer grimmigen Miene oder schlechter Laune verliehen. Einige Zeit nach diesem Zusammentreffen im Theater schrieb sie ihm, um ihn zu bitten, seine Sammlungen ansehen zu dürfen, für die sie sich, »sie, die sie, obgleich unwissend, doch Genuss an schönen Dingen habe«, so sehr interessiere, und dabei auch erwähnte, dass es ihr scheine, als würde sie ihn besser verstehen lernen, wenn sie ihn in »seinem home« gesehen habe, wo sie ihn sich »so behaglich mit seinem Tee und seinen Büchern« vorstelle, wenn sie auch ihre Verwunderung darüber nicht verhehlen könne, dass er in jenem Viertel wohne, das doch so düster sein müsse und das doch »so wenig smart sei für einen, der es selbst in so hohem Maße sei«. Und nachdem er sie hatte kommen lassen, drückte sie ihm im Gehen ihr Bedauern darüber aus, dass sie nur so kurz in dieser Wohnung habe bleiben können, in die eingedrungen zu sein sie sich glücklich schätze, und sprach zu ihm, als sei er für sie mehr als alle anderen Wesen, die sie kannte, und schien dabei zwischen den beiden eine Art von romantischem Bund aufzurichten, über den er lächeln musste. Doch in dem schon etwas desillusionierten Alter, dem Swann sich näherte, in dem man sich damit zu begnügen weiß, verliebt zu sein um des Verliebtseins willen, ohne allzu sehr auf Gegenseitigkeit zu dringen, bleibt ein solcher Zusammenklang der Herzen, wenn auch nicht mehr wie in der frühen Jugend das Ziel, zu dem die Liebe notwendigerweise drängt, so doch mit ihr durch eine so starke Gedankenkette vereint, dass er umgekehrt zu ihrem Ausgangspunkt werden kann, wenn er einem begegnet. Einstmals träumte man davon, das Herz der Frau zu besitzen, in die man verliebt war; später dann merkt man, dass es genügt, das Herz einer Frau zu besitzen, um verliebt zu sein. In dem Alter also, in dem es, da man ja in der Liebe ein ganz persönliches Vergnügen sucht, so scheinen müsste, als sei der Genuss an der Schönheit einer Frau das Ausschlaggebende, kann die Liebe – die höchst körperliche Liebe – geboren werden, ohne dass ihr ein vorheriges Verlangen zugrunde läge. In diesem Lebensabschnitt ist man von der Liebe schon öfter ereilt worden; sie entwickelt sich nicht mehr von allein vor unseren erstaunten und tatenlosen Herzen nach ihren eigenen unbekannten und Verderben bringenden Regeln. Wir kommen ihr zu Hilfe, wir verfälschen sie durch Erinnerung und Suggestion. Sobald wir eines ihrer Merkmale erkennen, erinnern wir uns und bringen die übrigen zum Vorschein. Da uns ihr Lied, zutiefst in uns eingeschrieben, schon vertraut ist, brauchen wir – von der Bewunderung erfüllt, die die Schönheit erzeugt – nicht mehr als eine Frau, die uns die Anfangszeile singt, um mit ihr einzufallen. Und wenn sie in der Mitte beginnt – da, wo unsere Herzen sich nähern, wo man davon spricht, der eine sei nur für den anderen da –, so kennen wir diese Musik schon gut genug, um unsere Begleitung ohne Zögern an der Stelle einholen zu können, an der sie uns erwartet.

Odette de Crécy kam Swann abermals besuchen, und dann wiederholten sich ihre Besuche immer häufiger; und offenbar erneuerte jeder die Enttäuschung, die er erfuhr, wenn er sich wieder diesem Gesicht gegenüber befand, dessen Einzelheiten ihm in der Zwischenzeit fast entfallen waren und das er weder als so ausdrucksvoll noch als trotz seiner Jugend so verwelkt erinnert hatte; während er sich mit ihr unterhielt, bedauerte er es, dass ihre große Schönheit nicht zu jener Art gehörte, die er spontan vorgezogen hätte. Man muss dazu noch anmerken, dass Odettes Gesicht besonders mager und hervorstechend erschien, weil die einheitliche, glatte Fläche der Stirn und der oberen Wangenpartien von einer dichten Schicht von Haaren überdeckt war, die man damals lang »nach vorn« trug, durch eine »Kräuselwelle« aufgebauscht und entlang der Ohren in ungeordnete Locken übergehend; und es fiel schwer, die Gestalt ihres Körpers, der bewundernswert gewachsen war, in seiner Gesamtheit wahrzunehmen (infolge der Mode jener Zeit, und obwohl sie zu den bestangezogenen Frauen von Paris gehörte), denn ihre Bluse sprang auf einmal vor, scheinbar wie über einem Mutterleib, und endete dann plötzlich in einer Spitze, unter der sich ein Ballon von Überröcken entfaltete, was den Eindruck erzeugte, die Frau sei aus verschiedenen schlecht miteinander verbundenen Stücken zusammengesetzt; all die Rüschen, die Besätze und das Westchen folgten in völliger Unabhängigkeit voneinander, gemäß den Launen des Entwurfs und der Beschaffenheit ihres Materials, einer Linie, die sie in Schlangenwindungen, in Aufwallungen von Spitzen, in Fransengehänge von Jett führte, oder sie an der Büste entlangführte, ohne sich dabei auch nur im geringsten um die lebende Person zu kümmern, die sich, je nachdem, ob sich die Architektur dieses Flittergebildes zu sehr der ihrigen näherte oder sich zu sehr davon entfernte, darin eingeschnürt oder verloren fand.

Wenn Odette dann wieder gegangen war, musste Swann bei dem Gedanken lächeln, dass sie ihm gesagt hatte, wie lang ihr die Zeit werden würde, bis er ihr erlauben würde, ihn ein nächstes Mal zu besuchen; er gedachte der beunruhigten und schüchternen Miene, mit der sie ihn einmal gebeten hatte, damit nicht allzu lange zu warten, und der in diesem Augenblick in ängstlichem Flehen auf ihn gerichteten Blicke, die sie unter ihrem runden Strohhut, auf dem ein Strauß künstlicher Veilchen mit einem schwarzen Samtband befestigt war, so rührend erscheinen ließen. »Und Sie«, hatte sie gesagt, »würden Sie nicht einmal zu mir zum Tee kommen?« Er hatte dringende Arbeiten vorgeschützt, eine – in Wirklichkeit schon seit Jahren aufgegebene – Studie über Vermeer van Delft. »Ich sehe schon, dass ich nichts an der Seite so großer Gelehrter wie euch ausrichten kann, ich Geringe«, hatte sie ihm geantwortet. »Ich wäre wie der Frosch vor dem Areopag. Und dabei würde ich mich doch so gerne sachkundig machen, wissen und angeleitet werden. Welche Freude muss es doch bereiten, Bücher zu wälzen und seine Nase in alten Dokumenten zu vergraben!«, hatte sie noch mit der selbstzufriedenen Miene einer vornehmen Frau hinzugefügt, die versichert, sich auch ohne die Befürchtung, sich zu beschmutzen, mit Freuden niedrigeren Aufgaben hinzugeben, wie zum Beispiel beim Kochen »selbst mit Hand anzulegen«. »Sie machen sich über mich lustig, von diesem Maler, der Sie daran hindert, mich zu besuchen (sie meinte Vermeer), habe ich noch nie reden hören; lebt er noch? Kann man seine Werke in Paris sehen? Dann könnte ich mir vor Augen führen, was Sie so sehr schätzen, ein wenig erahnen, was hinter dieser so beschäftigten Stirn vorgeht, in diesem Kopf, der stets in Nachdenken versunken zu sein scheint, und mir sagen: ›Da sieh, das ist es, worüber er gerade nachdenkt.‹ Es wäre doch traumhaft, so in Ihre Arbeiten eingebunden zu sein.« Er hatte sich mit seiner Angst vor neuen Freundschaften entschuldigt, mit dem, was er aus Höflichkeit seine Angst, unglücklich zu sein, nannte. »Sie haben Angst vor Zuneigung? Wie seltsam, wo ich selbst doch nichts anderes suche, ja mein Leben hingäbe, um sie zu finden«, hatte sie mit so natürlicher Stimme und so überzeugend hinzugefügt, dass er davon gerührt war. »Sicher hat eine Frau Sie leiden lassen. Und Sie glauben, alle anderen seien wie sie. Sie hat Sie nicht verstehen können; Sie sind ein so ganz besonderer Mensch. Das ist es, was ich gleich an Ihnen geliebt habe, ich habe gleich gespürt, dass Sie nicht wie alle anderen sind.« – »Und außerdem«, hatte er gesagt, »weiß ich ja, wie das mit den Frauen ist, Sie haben gewiss Verpflichtungen und sind nur selten frei.« – »Ich, ich habe niemals etwas zu tun! Ich bin immer frei und würde es für Sie immer sein. Es spielt keine Rolle, um welche Tages- oder Nachtzeit es Ihnen gelegen sein würde, mich zu besuchen, lassen Sie nach mir rufen, und ich werde glücklich sein, herbeizueilen. Werden Sie es tun? Wissen Sie, es wäre nett, wenn Sie mir erlauben würden, Sie mit Madame Verdurin bekannt zu machen, bei der ich die Abende verbringe. Stellen Sie sich vor, wenn wir uns dort träfen und ich mir einbilden könnte, Sie -seien auch ein wenig um meinetwillen gekommen!«

Wenn er sich so an ihre Zusammenkünfte erinnerte und an sie dachte, wenn er allein war, ließ er in seinen romantischen Träumereien ihr Bild zweifellos nur unter vielen anderen Bildern von Frauen auftreten; doch wenn dank irgendeines zufälligen Umstandes (oder vielleicht auch gar nicht dank seiner, denn ein Umstand, der sich in einem Augenblick einstellt, in dem ein bis dahin nur verborgen wirkender Zustand offenkundig wird, kann auf diesen keinerlei Einfluss nehmen) das Bild von Odette de Crécy alle seine Träumereien einnahm, so dass diese von seiner Erinnerung nicht mehr zu unterscheiden waren, dann spielten ihre äußerlichen Mängel keine Rolle mehr, noch ob ihr Körper mehr oder weniger als ein anderer dem Geschmack Swanns entspreche, denn er war zu dem Körper geworden, den Swann liebte, er würde fortan der einzige sein, der in der Lage wäre, ihn Freuden und Qualen erleben zu lassen.

Mein Großvater hatte, was man von keinem ihrer gegenwärtigen Freunde hätte sagen können, die Familie der Verdurins sehr gut gekannt. Aber er hatte mit demjenigen, den er »den jungen Verdurin« nannte und trotz seiner etlichen Millionen in Bausch und Bogen für unter die Boheme und das Lumpenpack gefallen ansah, völlig den Kontakt verloren. Eines Tages erhielt er einen Brief von Swann, in dem dieser ihn fragte, ob er ihn nicht in Verbindung mit den Verdurins bringen könne: »Seid auf der Hut, seid auf der Hut!«, rief mein Großvater aus, »das überrascht mich gar nicht, so weit hatte es mit Swann kommen müssen. Reizende Gesellschaft! Erstens kann ich nicht tun, worum er mich bittet, denn ich kenne diesen Herrn nicht mehr. Und da dahinter eine Frauengeschichte stecken dürfte, mische ich mich auch nicht in diese Sache ein. Na, da werden wir ja viel Freude haben, wenn sich Swann mit den jungen Verdurins einlässt!«

Und nach der ablehnenden Anwort meines Großvaters hatte dann Odette selbst Swann bei den Verdurins eingeführt.

An dem Tag, an dem Swann seinen ersten Besuch machte, hatten die Verdurins den Doktor und Madame Cottard zu Tisch, den jungen Pianisten und seine Tante, sowie den Maler, der gerade in Gunst stand, zu denen sich im Laufe des Abends noch einige weitere Getreue gesellten.

Doktor Cottard wusste nie sicher, in welchem Ton er jemandem antworten sollte, ob sein Gesprächspartner ernsthaft war oder wollte, dass man lachte. Auf gut Glück fügte er allen Gesichtsausdrücken das Angebot eines vorläufigen und bedingten Lächelns hinzu, dessen erwartungsvolle Raffinesse ihn vor dem Vorwurf der Leichtgläubigkeit schützte, falls sich die Bemerkung, die man an ihn gerichtet hatte, als scherzhaft gemeint herausstellen sollte. Um aber auch für den entgegengesetzten Fall gewappnet zu sein, wagte er es nicht, dieses Lächeln sich klar auf seinem Gesicht ausdrücken zu lassen, man sah darin ständig eine Unsicherheit schwanken, aus der man die Frage ablesen konnte, die er nicht zu stellen wagte, »Sagen Sie das jetzt im Ernst?«. Er war sich der Weise, wie er sich verhalten sollte, auf der Straße und sogar allgemein im Leben ebenso wenig sicher wie in einem Salon, und man sah ihn Passanten, Fahrzeugen und Ereignissen mit einem schalkhaften Lächeln begegnen, das im voraus seinem Verhalten alle Ungebührlichkeit benahm, da es nun einmal bewies, dass er, falls es nicht angebracht gewesen sein sollte, das auch wusste und es nur aus Liebenswürdigkeit aufgesetzt hatte.

Bei allen Themen, die ihm eine offene Frage zuzulassen schienen, ließ der Doktor keine Gelegenheit aus, den Bereich seiner Ungewissheit einzuschränken und seine Gelehrsamkeit zu vervollkommnen.

So ließ er, auf den Rat einer vorausschauenden Mutter hin, den diese ihm, als er seine Provinz verließ, mitgegeben hatte, keine Redewendung und keinen Eigennamen, die ihm unbekannt waren, durchgehen, ohne den Versuch zu unternehmen, Genaueres über sie herauszufinden.

In Bezug auf Redewendungen war er unersättlich nach Erläuterung, denn da er in ihnen zuweilen einen viel exakteren Sinn vermutete, als sie tatsächlich hatten, hätte er gern gewusst, was genau man mit denjenigen sagen wollte, die am häufigsten gebraucht wurden: »die Schönheit des Teufels«, »das blaue Blut«, »das Leben einer Sänftenstange«, »die Viertelstunde des Rabelais«, »der Fürst aller Vornehmheit sein«, »die weiße Karte geben«, »aufs Quia beschränkt sein«, usw., und in welchen bestimmten Fällen er sie in seinen Äußerungen würde auftreten lassen können. Wenn es dazu nicht kam, brachte er Wortspiele an, die er aufgelesen hatte. Hinsichtlich neuer Personennamen, die an sein Ohr fielen, begnügte er sich damit, sie lediglich in fragendem Tonfall zu wiederholen, was er für ausreichend hielt, dass man ihm zu Erklärungen verhelfe, nach denen er nicht direkt gefragt hatte.

Da ihm der kritische Sinn, mit dem er alles zu betrachten glaubte, völlig fehlte, war die ausgesuchte Höflichkeit, mit der man jemandem, dem man einen Gefallen getan hat, versichert – ohne zu erwarten, dass einem geglaubt wird –, man selbst habe zu danken, an ihn völlig verschwendet, denn er nahm alles wörtlich. Mit der Verblendung der Madame Verdurin über seine Person war es vorbei, auch wenn sie ihn weiterhin für einen klugen Kopf hielt, nachdem sie ihn in eine Proszeniumsloge eingeladen hatte, um Sarah Bernhardt zu hören, und zu dem Doktor, der mit einem Lächeln in die Loge trat, das darauf wartete, deutlicher zu werden oder zu verschwinden, sobald ein Kenner ihn über den Wert der Aufführung in Kenntnis setzen würde, um das Maß ihrer Güte voll zu machen sagte: »Es ist zu liebenswürdig von Ihnen, Doktor, dass Sie gekommen sind, besonders, wo ich sicher bin, dass Sie Sarah Bernhardt schon öfter gehört haben und wir außerdem womöglich zu dicht an der Bühne sitzen«, und sich empfindlich von der Antwort berührt sah: »In der Tat ist es viel zu nah, und man beginnt auch, der Bernhardt überdrüssig zu werden. Aber Sie haben den Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass ich kommen möge. Ihre Wünsche sind Befehle für mich. Ich bin überglücklich, Ihnen diesen kleinen Dienst erweisen zu können. Was täte man nicht, um Ihnen zu gefallen, da Sie so gütig sind!« Dann fügte er noch hinzu: »Sarah Bernhardt, das ist doch die ›Stimme von Gold‹, nicht wahr? Man schreibt auch zuweilen, sie spiele alle an die Wand. Eine eigenartige Ausdrucksweise, nicht wahr?« in der Hoffnung auf eine Erklärung, die jedoch ganz und gar ausblieb.

»Weißt du«, hatte Madame Verdurin danach zu ihrem Mann gesagt, »ich glaube, wir liegen ganz falsch, wenn wir gegenüber dem Doktor aus Bescheidenheit abwerten, was wir ihm bieten. Das ist ein Gelehrter, der jenseits der praktischen Wirklichkeit lebt, er kann selbst den Wert der Dinge nicht einschätzen und nimmt sie für das, als was wir sie ausgeben.« – »Ich mochte es dir nur nicht sagen, aber es ist auch mir schon aufgefallen«, antwortete Monsieur Verdurin. Und am nächsten Neujahrstag schickte man dem Doktor nicht einen Rubin im Wert von dreitausend Franc mit der Bemerkung, das sei doch nur eine Kleinigkeit, sondern Monsieur Verdurin kaufte für dreihundert Franc einen aufgearbeiteten Stein und ließ durchblicken, dass man wohl schwerlich einen ähnlich schönen finden werde.

Als Madame Verdurin ankündigte, dass man für den Abend Monsieur Swann zu Gast haben werde, rief der Doktor: »Swann?« mit einer vor Überraschung übersteigerten Betonung, denn schon die kleinste Neuigkeit überfiel diesen Mann, der sich stets auf alles vorbereitet dünkte, so unversehens wie nur sonst jemanden. Und als er sah, dass man ihm nicht antwortete, stieß er am Gipfelpunkt seiner Aufgeregtheit hervor: »Swann?, wie das, Swann!«, die sich aber ganz schnell wieder legte, als Madame Verdurin erklärte: »Aber der Freund, von dem Odette uns erzählt hat.« – »Ah!, ja gut, das ist in Ordnung«, antwortete der Doktor beruhigt. Der Maler freute sich über die Einführung von Swann bei Madame Verdurin, weil er annahm, dieser sei in Odette verliebt, und weil er es liebte, Affären zu fördern. »Nichts macht mir mehr Spaß als Ehen einzufädeln«, bekannte er dem Doktor flüsternd, »ich hatte dabei schon viel Erfolg, sogar bei Frauen!«

Als Odette den Verdurins sagte, Swann sei sehr »smart«, fürchteten diese, es handle sich um einen »Langweiler«. Er machte jedoch ganz im Gegenteil einen ausgezeichneten Eindruck auf sie, wofür, ohne dass sie es merkten, sein Umgang mit der vornehmen Gesellschaft einer der indirekten Gründe war. Er besaß nämlich gegenüber Leuten, selbst intelligenten Leuten, die nicht in der feinen Welt verkehrten, die Überlegenheit derjenigen, die ein wenig darin gelebt haben, die sie deshalb nicht mehr durch das Verlangen oder den Abscheu, den sie in ihrer Vorstellung auslöst, verklären, sondern sie als völlig belanglos betrachten. Ihre Liebenswürdigkeit, die fern war von Snobismus oder der Angst, zu freundlich zu erscheinen, hatte ganz von sich aus jene Leichtigkeit, jene Anmut der Bewegung derer entwickelt, deren geschmeidige Glieder genau das ausführen, was sie wollen, ohne störende oder unangebrachte Einmischung des restlichen Körpers. Die einfache grundlegende Leibesübung des Weltmannes, der wohlwollend einem unbekannten jungen Mann, den man ihm vorstellt, die Hand reicht und gegenüber dem Botschafter, dem er vorgestellt wird, eine zurückhaltende Verbeugung macht, war schließlich, ohne dass es ihm bewusst geworden wäre, in alle sozialen Verhaltensweisen Swanns eingegangen, der sich gegenüber Leuten aus einer niedrigeren Schicht als der seinigen, wie etwa den Verdurins und ihren Freunden, instinktiv beflissen zeigte und auf ihre Annäherungsversuche einging, was, nach deren Meinung, einem Langweiler ferngelegen hätte. Nur gegenüber dem Doktor Cottard kam es zu einem kurzen Moment der Frostigkeit: Als er ihn mit dem Auge zwinkern und sein doppeldeutiges Lächeln aufsetzen sah, bevor sie noch miteinander gesprochen hatten (eine Mimik, die Cottard »kommen lassen« nannte), nahm Swann an, dass der Doktor ihn kennen müsse, und das ganz sicherlich, weil er ihm in einem Amüsierlokal begegnet sein dürfte, obwohl er solche selbst nur selten aufsuchte und nicht an zweifelhaften Orten verkehrte. Da er diese Anspielung geschmacklos fand, noch dazu vor Odette, die sich daraus falsche Vorstellungen von ihm machen könnte, setzte er eine eisige Miene auf. Als er aber feststellte, dass eine Dame, die sich in seiner Nähe befand, Madame Cottard war, dachte er sich, dass ein noch derart junger Ehemann wohl kaum vor seiner Frau Anspielungen auf Vergnügungen dieses Schlages machen würde; er unterstellte nun der verständnisinnigen Miene des Doktors nicht mehr die befürchtete Bedeutung. Den Maler, der Swann sofort einlud, einmal mit -Odette in sein Atelier zu kommen, fand er sehr nett. »Vielleicht wird man Sie ja besser behandeln als mich«, sagte Madame Verdurin in einem gespielt beleidigten Ton, »und Ihnen das Porträt von Cottard zeigen (das sie bei dem Maler in Auftrag gegeben hatte). Passen Sie nur gut auf, ›Herr‹ Biche«, erinnerte sie den Maler, den »Herr« zu nennen zu den üblichen kleinen Scherzen gehörte, »dass sie den unartigen Blick, dieses etwas Durchtriebene und Lustige im Auge herausbringen. Sie wissen ja, was ich vor allem sehen will, ist sein Lächeln, was ich von Ihnen verlangt habe, ist ein Porträt seines Lächelns.« Und da ihr diese Wendung besonders gelungen erschien, wiederholte sie sie laut, damit auch möglichst viele der Geladenen sie hören würden, und veranlasste sogar unter einem Vorwand einige, näher zu treten. Swann wünschte alle Anwesenden kennenzulernen, sogar einen alten Freund der Verdurins, Saniette, dessen Schüchternheit, Schlichtheit und gutes Herz ihn überall die Achtung gekostet hatten, die ihm seine Gelehrsamkeit als Archivar, sein großes Vermögen und seine Herkunft aus einer guten Familie eingebracht hatten. Seine Aussprache hatte etwas Breiiges, das ihn umso anziehender machte, da man spürte, dass es weniger dem Versuch entsprang, einen Sprachfehler zu verdecken, als einer Eigenschaft seiner Seele, wie ein Rest kindlicher Unschuld, den er niemals verloren hatte. Alle Konsonanten, die er nicht aussprechen konnte, wirkten wie Gefühllosigkeiten, zu denen er nicht imstande war. Als Swann darum bat, Monsieur Saniette vorgestellt zu werden, kam das Madame Verdurin wie eine Verkehrung der Rollen vor (was so weit ging, dass sie, als sie seiner Bitte nachkam, den Unterschied hervorhob und sagte: »Monsieur Swann, würden Sie wohl so liebenswürdig sein, mir zu gestatten, Ihnen unseren Freund Saniette vorzustellen«), rief aber bei Saniette eine heftige Zuneigung hervor, von der die Verdurins Swann allerdings niemals etwas sagten, denn Saniette ging ihnen etwas auf die Nerven, und sie legten keinen Wert darauf, ihm zu Freundschaften zu verhelfen. Auf der anderen Seite waren sie aber höchst angenehm berührt, als Swann dem Wunsch Ausdruck gab, unverzüglich auch die Bekanntschaft der Tante des Pianisten zu machen. Wie an jedem Tag im schwarzen Kleid, denn sie meinte, Schwarz passe immer und sei überhaupt die vornehmste Farbe, hatte sie ein übermäßig gerötetes Gesicht, wie jedesmal, wenn sie gegessen hatte. Sie verbeugte sich mit Respekt vor Swann, richtete sich aber voller Würde wieder auf. Da sie völlig ungebildet war und Angst hatte, Fehler im Französischen zu begehen, sprach sie sehr schnell und verworren, in der Hoffnung, dass, wenn ihr ein Schnitzer unterliefe, dieser von der Undeutlichkeit überdeckt werden würde, so dass man ihn nicht mehr mit Gewissheit würde erkennen können, weshalb ihre Sprache kaum mehr als ein unbestimmtes Gegurgel war, aus dem von Zeit zu Zeit die wenigen Wörter herausragten, deren sie sich sicher fühlte. Als Swann glaubte, sich gegenüber Monsieur Verdurin ein wenig über sie lustig machen zu können, nahm dieser das im Gegenteil recht übel.

»Sie ist eine ganz vortreffliche Frau«, antwortete er. »Ich stimme Ihnen zu, sie ist nicht überwältigend; aber ich versichere Ihnen, dass sie äußerst angenehm ist, wenn man sich allein mit ihr unterhält.« – »Da habe ich keinen Zweifel«, beeilte sich Swann einzulenken. »Ich hatte sagen wollen, dass sie mir nicht hervorragend erschien«, fügte er hinzu, wobei er das Adjektiv hervorhob, »und letzten Endes ist das sogar ein Kompliment!« – »Denken Sie nur«, sagte Monsieur Verdurin, »Sie werden überrascht sein, aber sie schreibt einen ganz reizenden Stil. Haben Sie schon einmal ihren Neffen gehört? Er ist bewundernswert, nicht wahr, Doktor? Möchten Sie, dass ich ihn bitte, etwas zu spielen, Herr Swann?« – »Es wäre ein Glück …«, hob Swann an zu antworten, als ihn der Doktor mit spöttischem Gesicht unterbrach. Da er der Auffassung war, dass in der Konversation jeglicher Gefühlsausdruck und der Gebrauch feierlicher Ausdrücke überholt seien, glaubte er, wenn er ein bedeutsames Wort ernsthaft ausgesprochen hörte, wie eben das Wort »Glück«, dass derjenige, der es benutzt hatte, sich damit als ein Spießer zu erkennen gegeben habe. Und wenn sich das Wort obendrein noch zufällig in etwas vorfand, das er als abgenutzte Redensart ansah, so glaubte er, wie geläufig das Wort auch immer sein mochte, dass der begonnene Satz scherzhaft gemeint sein müsse, und beendete ihn ironisch mit dem Gemeinplatz, den benutzt haben zu wollen er seinem Gesprächspartner unterstellte, auch wenn dieser nicht andeutungsweise daran gedacht hatte.

»Ein Glück für Frankreich!«, rief er schelmisch und hob hochtrabend die Arme. Monsieur Verdurin konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Was haben denn all die guten Leute dort zu lachen, es sieht so aus, als würde man in Ihrem kleinen Winkel da hinten keineswegs Trübsal blasen«, rief Madame Verdurin. »Glauben Sie denn, es macht mir Spaß, ganz allein im Büßereck zu bleiben«, fügte sie im Ton eines nörgelnden Kindes hinzu. Madame Verdurin saß auf einem hohen schwedischen Stuhl aus gewachstem Tannenholz, den ihr ein Violinist aus jenem Land geschenkt hatte und den sie in Ehren hielt, obwohl er der Form nach eher an einen Schemel erinnerte und nicht zu ihren schönen antiken Möbeln passte, denn sie bewahrte die Geschenke, die die Getreuen ihr gelegentlich machten, gut sichtbar auf, damit die Geber bei späteren Besuchen das Vergnügen hätten, sie bei ihr wiederzusehen. Sie versuchte sie dazu zu überreden, dass man sich an Blumen und Bonbons hielt, die wenigstens wieder verschwanden; aber sie hatte damit keinen Erfolg, und so wucherte bei ihr eine Sammlung von Fußwärmern, Kissen, Pendeluhren, Wandschirmen, Barometern und Übertöpfen in einer Ansammlung sich wiederholender und bunt zusammengewürfelter Geschenke.

Von dieser erhöhten Warte aus nahm sie eifrig am Gespräch der Getreuen teil und erheiterte sich an ihren »Kalauern«, doch seit dem Unfall, der ihrem Kiefer widerfahren war, entsagte sie der Anstrengung, wirklich laut loszulachen, und befleißigte sich stattdessen einer einstudierten Mimik, die ohne Mühe und Gefahr für sie zu verstehen gab, dass sie Tränen lache. Bei der kleinsten Bemerkung, die ein Angestammter gegen einen Langweiler oder gegen einen ehemaligen Angestammten, der ins Lager der Langweiler verstoßen worden war, fallen ließ, stieß sie – übrigens zur großen Verzweiflung von Monsieur Verdurin, der lange Zeit danach gestrebt hatte, ebenso liebenswürdig wie seine Frau zu sein, jedoch, wenn er lachte, schnell aus der Puste kam und so durch diese List einer immerwährenden und vorgetäuschten Heiterkeit übertrumpft und besiegt wurde – einen kleinen Schrei aus, kniff ihre Vogelaugen, die eine Hornhauttrübung zu überschleiern begann, fest zu und verbarg ihr Gesicht so ruckartig, als hätte sie kaum mehr die Zeit gefunden, einen unanständigen Anblick zu verhüllen oder einem lebensgefährlichen Anfall zu begegnen, in den Händen, die es vollständig bedeckten und nichts mehr sehen ließen, und gab sich damit den Anschein, als kämpfe sie darum, ein Lachen zurückzuhalten, es niederzuringen, das, wenn sie sich ihm hingäbe, zu einer Ohnmacht führen müsste. Und so wirkte Madame Verdurin, hoch oben auf ihrem Nistplatz thronend, schwindelig vom Frohsinn der Getreuen, trunken von Kameraderie, Klatsch und Beifall, wie ein Vogel, dessen Keks man in Glühwein getaucht hat, und schluchzte vor Liebenswürdigkeit.

Derweilen bat Monsieur Verdurin, nachdem er Swann um Erlaubnis gebeten hatte, seine Pfeife anzustecken (»Hier ziert man sich nicht, wir sind unter Kameraden«), den jungen Künstler, sich ans Klavier zu setzen. »Ich bitte dich, so lass doch, geh ihm nicht auf die Nerven, er ist doch nicht hier, um gequält zu werden«, rief -Madame Verdurin, »ich will nicht, dass man ihn quält, ich jedenfalls nicht!« – »Aber wieso meinst du denn, dass ihm das auf die Nerven geht?«, erwiderte Monsieur Verdurin, »Herr Swann kennt vielleicht die Sonate in Fis noch nicht, die wir entdeckt haben, er wird uns das Arrangement für Klavier vorspielen.« – »Oh! Nein, nein, nicht meine Sonate!«, rief Madame Verdurin, »ich lege keinen Wert darauf, mir durch Weinen einen Nasenkatarrh und dazu eine Neuralgie der Gesichtsnerven zuzuziehen, wie das letzte Mal; ich danke bestens, das will ich nicht noch einmal erleben; Sie sind wirklich gut, Sie alle, man merkt, dass nicht Sie es sind, der dann acht Tage das Bett wird hüten müssen!«

Dieser kleine Auftritt, der sich jedesmal wiederholte, wenn der Pianist etwas spielen sollte, entzückte die Freunde noch genauso, als wäre es das erste Mal, als ein Beweis der unwiderstehlichen Originalität der »Padrona« und ihrer musikalischen Empfindsamkeit. Diejenigen, die in der Nähe standen, gaben den anderen, die weiter entfernt rauchten oder Karten spielten, Zeichen, näher zu kommen, dass etwas im Gange sei, und sagten zu ihnen, wie es im Reichstag in interessanten Augenblicken geschieht: »Hört, hört«. Und am nächsten Tag bedauerte man diejenigen, die nicht hatten kommen können, und erzählte ihnen, dass der Auftritt diesmal noch amüsanter gewesen sei als sonst.

»Also gut, wir haben verstanden«, sagte Monsieur Verdurin, »er wird nur das Andante spielen.« – »Nur das Andante, was fällt dir ein!«, rief Madame Verdurin aus. »Es ist doch gerade das Andante, das mir Arm und Bein bricht. Der ist ja gut, der Padrone! Das ist ja, wie wenn er sagen würde, wir hören von der Neunten nur das Finale, oder von den Meistersingern nur das Vorspiel.«

Der Doktor redete inzwischen Madame Verdurin zu, den Pianisten spielen zu lassen, nicht weil er die Verstörung, in die die Musik sie versetzte, für vorgetäuscht hielt – er erkannte darin gewisse Zustände einer Neurasthenie –, sondern aus der Gewohnheit vieler Ärzte, die Strenge ihrer Verschreibungen sofort zu lockern, sobald es, was ihnen wichtiger erscheint, um irgendein gesellschaftliches Ereignis geht, an dem sie teilnehmen möchten und für das die Person, der sie raten, dieses eine Mal ihre schlechte Verdauung oder ihre Grippe zu vergessen, einen unverzichtbaren Bestandteil bildet.

»Sie werden dieses Mal nicht krank werden, glauben Sie mir«, sagte er und versuchte dabei, sie mit seinem Blick zu hypnotisieren. »Und falls Sie krank werden, werden wir uns um Sie kümmern.« – »Ganz bestimmt?«, antwortete Madame Verdurin, als ob sie bei der Aussicht auf eine solche Gunst nur noch kapitulieren könnte. Vielleicht gab es auch Augenblicke, in denen sie, weil sie ja gesagt hatte, dass sie krank werden würde, vergaß, dass das nur eine Erfindung war, und tatsächlich das Erscheinungsbild einer Kranken annahm. Nun lieben es diese, da sie es leid sind, in Anbetracht der Seltenheit ihrer Anfälle tagtäglich auf ihre eigene Vernunft angewiesen zu sein, sich in dem Glauben zu wiegen, sie könnten straflos alles tun, was ihnen gefällt und ihnen für gewöhnlich schlecht bekommt, sofern sie sich nur in die Hände eines übermächtigen Wesens begeben, das sie, ohne selbst irgendwelche Mühe aufbringen zu müssen, mit einem Wort oder einer Pille wieder auf die Beine bringt.