Eine Lüge, die Liebe, meine Familie und ich - Miriam Covi - E-Book
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Eine Lüge, die Liebe, meine Familie und ich E-Book

Miriam Covi

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Beschreibung

Lügen haben runde Bäuche! - Ein witziges, aber auch berührendes Verwirrspiel in den kanadischen Wäldern. Weil ihre Cousine heiratet, reist Nina Behringer nach Rocky Harbour an der kanadischen Atlantikküste. Früher hat sie hier oft ihre Sommerferien verbracht – bis Matt ihr das Herz brach. Vierzehn Jahre ist das nun her. Vierzehn Jahre und zehn Kilogramm. Wieso muss ihr da als allererstes nach ihrer Ankunft Matt über den Weg laufen, der zu allem Überfluss noch attraktiver ist als damals - und kein bisschen zugenommen hat? Und warum muss ihre reizende Cousine auf Ninas Bauch starren und entzückt fragen, ob sie schwanger sei? Kurzerhand bejaht Nina die indiskrete Frage. Diese kleine Bauchlüge erweist sich aber als äußerst unpraktisch, als ihr klar wird, dass ihre Gefühle für ihre erste große Liebe alles andere als erkaltet sind. Dumm nur, dass ihr Ex nichts mehr hasst als Lügner. Als auch noch der Rest von Ninas exzentrischer Familie auftaucht, nimmt das Chaos in den kanadischen Wäldern seinen Lauf ... Begeisterte Leserstimmen: »Was für ein toller Roman - romantisch, lustig und trotz allem auch nachdenklich - ich bin völlig begeistert!« »Wunderschöner flapsiger humorvoller Schreibstil.« »Unbedingt kaufen, lesen und nach Kanada träumen - es lohnt sich!«

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Miriam Covi

Eine Lüge,die Liebe,meine Familieund ich

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Lügen haben runde Bäuche!

Weil ihre Cousine heiratet, reist Nina Behringer nach Rocky Harbour an der kanadischen Atlantikküste. Früher hat sie hier oft ihre Sommerferien verbracht – bis Matt ihr das Herz brach. Vierzehn Jahre ist das nun her. Vierzehn Jahre und zehn Kilogramm. Wieso muss ihr da als Allererstes nach ihrer Ankunft Matt über den Weg laufen, der zu allem Überfluss noch attraktiver ist als damals – und kein bisschen zugenommen hat? Und warum muss ihre reizende Cousine auf Ninas Bauch starren und entzückt fragen, ob sie schwanger sei? Kurzerhand bejaht Nina die indiskrete Frage. Diese kleine Bauchlüge erweist sich aber als äußerst unpraktisch, als ihr klarwird, dass ihre Gefühle für ihre erste große Liebe alles andere als erkaltet sind. Dumm nur, dass ihr Ex nichts mehr hasst als Lügner. Als auch noch der Rest von Ninas exzentrischer Familie auftaucht, nimmt das Chaos in den kanadischen Wäldern seinen Lauf …

Inhaltsübersicht

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Epilog
[home]

Kapitel 1

Ich habe mir oft vorgestellt, wie es sein würde, Matt wiederzusehen. Aber bestimmt nicht so.

Ja, ich habe zu viel Phantasie. Das hat schon mein Mathelehrer bemängelt, wenn ich Elfen und Eichhörnchen gemalt habe statt gleichschenkliger Dreiecke. Aber stellt sich nicht jeder hin und wieder vor, wie es sein würde, die erste große Liebe wieder zu treffen? Ich habe es auf jeden Fall getan. Mehr als einmal. Schließlich war Matt der erste Mann, der mich je geküsst hat. Und zwar verdammt gut geküsst hat. Okay, ich hatte damals keine Vergleichsmöglichkeiten, aber rückblickend kann ich sagen: verdammt gut. Ach ja, und außerdem war er der erste Mann, der mein unerfahrenes Herz gebrochen hat.

Zugegeben, meine Träume von einem Wiedersehen mit ihm waren nie realistisch. In diesen Träumen war ich schlank, vorteilhaft angezogen und hatte wunderbar sitzendes Haar. Ich bin nicht rot wie ein gekochter Hummer geworden und habe etwas Intelligentes gesagt.

Die Wirklichkeit sieht so aus: Ich habe gerade einen siebenstündigen Flug von Berlin nach Ostkanada in einer engen Chartermaschine hinter mir, und das sieht man mir an. Ich habe mir an der Passkontrolle auf dem Flughafen in Halifax die Beine in den Bauch gestanden und schließlich am Kofferband vergeblich auf meinen Koffer gewartet. Gefühlte Stunden später, nachdem mir eine Dame der Fluggesellschaft versichert hatte, dass man versuchen würde, meinen Koffer möglichst schnell aufzutreiben und mir zukommen zu lassen, stand ich nochmals Schlange. Diesmal am Mietwagenschalter. Da ich keinen Koffer hatte, konnte ich mein verschwitztes T-Shirt mit dem Tomatensaftfleck nicht wechseln, bevor ich endlich nach Rocky Harbour aufbrach. Während der Fahrt schaute ich ständig besorgt in den Rückspiegel, um zu sehen, wie sich die Situation auf meinem Kopf entwickelte. Und ich muss leider sagen: Sie entwickelte sich nicht gut. Schließlich war ich seit drei Stunden in Nova Scotia, der südöstlichsten Provinz Kanadas; hier ist die Luftfeuchtigkeit meistens genauso hoch wie die Dichte an Eichhörnchen pro Quadratkilometer Wald. Hohe Luftfeuchtigkeit und Naturkrause, eine fatale Kombination. Wenn ich nicht in den Rückspiegel oder auf die Straße schaute, versuchte ich, die handschriftlichen Notizen zu entziffern, die ich mir in Berlin gemacht hatte. Doch was bei Google Maps so simpel ausgesehen hatte, war es in Wirklichkeit nicht. Eigentlich hätte ich die Strecke vom Flughafen nach Rocky Harbour kennen müssen, schließlich bin ich sie schon so oft gefahren. Doch das ist lange her, und mein Orientierungssinn ist noch schwächer ausgeprägt als mein Selbstbewusstsein. Außerdem lenkten mich die Sorgen um mein Haar stärker ab, als sie das beim Autofahren wohl tun sollten, denn ich wusste genau: Bald würde ich Matt wiedersehen. Und von meinen Vorstellungen von einem würdevollen Zusammentreffen mit meinem Ex-Freund war ich ziemlich weit entfernt. Aber vielleicht würde ich ja Glück haben und durch den Wald bis zur Blueberry Lodge fahren können, ohne Matt zu begegnen?

Nach zwei Stunden Fahrt erreichte ich endlich Rocky Harbour, dank des freundlichen Mannes in Lunenburg, der mir noch einmal ausführlich erklärt hatte, wie ich den kleinen Fischerort finden würde. Ich hätte mir wohl doch ein Navi mieten sollen, dachte ich, als ich mit einer Mischung aus Erleichterung und Sentimentalität meinen Chevrolet durch den Ort lenkte, in dem ich als Kind jeden Baum, jedes Boot, jeden Briefkasten kannte. Ich starrte aus dem Autofenster, sah die bunten Holzhäuser entlang der Küstenstraße, die aufgestapelten Hummerkörbe im Hafen, die schroffen Felsen am Meeresufer, die Fischernetze, die zum Trocknen über der Leitplanke am Straßenrand hingen. Ich hatte das Gefühl, nach Hause zu kommen.

Doch erst, als ich den Ort hinter mir gelassen hatte und nach einem weiteren Kilometer entlang der Küste nach links in einen Waldweg eingebogen war, ging es richtig los mit meinem emotionalen Ausnahmezustand. Ich holperte in meinem Mietwagen durch den Wald meiner Kindheit, wo jedes Schlagloch und jeder Felsbrocken mich freudig zu begrüßen schienen. Die hohen Kiefern und Tannen neigten ihre Wipfel und begutachteten mich wohlwollend. Durch das Meer aus Farn am Straßenrand ging ein aufgeregtes Wispern, eine junge Birke winkte mir zu. Ein Eichhörnchen sprang auf einen Baumstumpf und rief: »Herzlich willkommen, Nina!«

Dann trat ich auf die Bremse und wurde schnell in die Realität zurückgeholt. Sie stand in Form eines rostig blauen Pick-up-Trucks mitten auf der Straße und versperrte mir den Weg. Eine böse Vorahnung beschlich mich. Und sie bewahrheitete sich, als ein Mann um den Truck herumkam und wie angewurzelt stehen blieb. Er sah aus, wie Kanadier in kitschigen Fernsehfilmen auszusehen pflegen: Baseballmütze, Holzfällerhemd, abgewetzte Jeans, Arbeitsstiefel. Und, um dem Klischee ganz und gar gerecht zu werden, eine Säge in der Hand.

 

War ja klar, dass ich die Blueberry Lodge und eine rettende Dusche nicht erreichen würde, ohne ihm über den Weg zu laufen. Schließlich wohnt er hier, in diesem Wald, an diesem See, wo ich die glücklichsten Sommer meiner Kindheit und Jugend verbracht habe. Wo ich ein paar Wochen lang mit diesem Mann zusammen war, der nun wenige Meter von meinem Mietwagen entfernt steht und mich anstarrt. So, wie man eben jemanden anstarrt, den man das letzte Mal vor 14 Jahren gesehen hat. Jemanden, den man zum Abschied am Flughafen um den Verstand geküsst hat. Und bei dem man sich dann, einen kurzen Brief später, einfach nicht mehr gemeldet hat.

 

Noch während ich überlege, ob ich unauffällig nach meiner Umhängetasche tauchen kann, in deren Tiefen sich irgendwo meine Bürste versteckt, legt Matt die Säge auf die Ladefläche seines Pick-ups. Oh. Mein. Gott. Er kommt auf mein Auto zu.

Meine Hände werden schweißnass. Soll ich den Motor abstellen und aussteigen? Nein, im Sitzen sehe ich eindeutig vorteilhafter aus, weil der Sitzgurt genau über dem Tomatensaftfleck auf meinem T-Shirt liegt und ich meine Speckrolle auf Bauchhöhe durch geeignete Armhaltung zumindest teilweise kaschieren kann. Außerdem haben sich meine Knie dazu entschlossen, plötzlich sehr weich zu werden. Ich glaube nicht, dass Aussteigen und vor Matt Stehen eine Option ist.

Während er sich langsam nähert, erkenne ich genauer, wie er aussieht. Wie kann es sein, dass mein Ex-Freund mit den Jahren immer attraktiver geworden ist, während ich mindestens zehn Kilogramm mehr auf die Waage bringe als bei unserem letzten Treffen? Okay, vermutlich ist es normal, dass man mit 30 Jahren mehr wiegt als mit 16. Und er sieht schließlich auch kräftiger aus als damals, oder nicht? Allerdings kräftig im Sinne von muskulös, nicht mollig.

Ich versuche, nicht zu starren wie ein hypnotisierter Teenager. Das habe ich schließlich lange genug getan. Und trotzdem starre ich wieder. Sein Gesicht sieht männlicher aus. Was wohl zu erwarten ist, wenn man nicht mehr 18, sondern 32 ist. Er trägt jetzt einen Bart. Keinen dieser dichten Vollbärte, eher einen – hmm, sagen wir Fünf-Tage-Bart. Sein Haar ist kürzer als damals, er hat keinen Pferdeschwanz mehr. Doch die Strähnen, die unter der Baseballmütze hervorlugen, haben dieselbe Farbe wie in meiner Erinnerung – Dunkelbraun. Allerdings mit einem Anflug von Grau an den Schläfen. Ich schlucke und zwinge mich, etwas anderes zu tun, als ihn nur anzuglotzen, so, als wäre ich immer noch 16 und er Mark Wahlberg persönlich.

Ich lasse das Fahrerfenster herunter, denn Matt hat mein Auto erreicht. Die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, schaut er mich an. Er lächelt nicht, aber er sieht auch nicht unfreundlich aus. Eher – neugierig?

»Hey, Nina«, sagt er.

Mein Herz macht das, was ich im Sportunterricht nie hinbekommen habe: Es schlägt ein Rad.

Sag etwas, Nina!, zischt »Kleine Bärin«.

Wer »Kleine Bärin« ist? Dazu komme ich später – ich muss mich jetzt wirklich auf Matt konzentrieren.

Mein Mund will ebenfalls ein »hey« formen. Und er formt es auch. Nur leider verpasst meine Stimme ihren Einsatz, so dass ich lautlose Lippenbewegungen mache. Kleine Bärin rollt mit den Augen. Der Hauch von einem Grinsen lässt Matts linken Mundwinkel zucken. Was meine Knie zum Anlass nehmen, noch weicher zu werden. Diese blöden Knie. Haben sie etwa nicht mitbekommen, dass sie nicht mehr zum Körper einer 16-Jährigen gehören?

»Long time no see«, sagt Matt. Über diesen drolligen Ausdruck für »lange nicht gesehen« musste ich immer schon lachen. Leider entschließt sich mein Lachen im letzten Augenblick dazu, als albernes Kichern hervorzuschießen. Unter anderem deshalb, weil seine Stimme so tief ist. Sie ist noch tiefer als damals, ganz sicher. Und sie verursacht eine Gänsehaut auf meinen Armen.

Ich räuspere mich, um Zeit zu gewinnen, denn mein Kopf ist wie leer gefegt. Nicht ein einziges sinnvolles Wort will mir einfallen.

Hallo? Kleine Bärin wird ruppiger. Du bist eine reife 30-Jährige, Nina! Jetzt reiß dich doch mal zusammen!

Doch bevor ich mich zusammenreißen kann, lässt mich ein Hupen herumfahren. Hinter mir hält ein schwarzer Mercedes-Geländewagen mit New Yorker Nummernschild. Die Fahrertür fliegt auf, und eine Frau schießt förmlich heraus und auf meinen Wagen zu.

Meine Cousine Isabel. Rocky Harbours Next Topmodel.

Einfach sitzen bleiben ist jetzt keine Option mehr. Ich stelle den Motor ab und bitte meine Knie, mit den Albernheiten aufzuhören, als meine Fahrertür von außen aufgerissen wird.

»Nina!«, juchzt Isa.

Ich schnalle mich ab und versuche, möglichst elegant auszusteigen. Kaum stehe ich mit beiden Füßen auf dem unebenen Waldweg, als ich schon Isas Arme um meinen Hals spüre. Ihre Umarmung ist so überschwenglich, dass ich rückwärts wanke und beinahe wieder ins Wageninnere geplumpst wäre. »Uff. Hallo, Isa«, japse ich und suche Halt an der Fahrertür.

»Oh, ich freue mich so, dich zu sehen!« Isa strahlt mich an und hüpft auf der Stelle auf und ab, wobei sie meine Schultern nach wie vor umfasst hält, so dass auch ich zwangsläufig mithüpfe. Ich versuche zurückzustrahlen. Was schwer genug ist, wenn man weiß, wie bescheiden man gerade aussieht. Noch schwerer allerdings fällt es, wenn man den lebenden Beweis vor sich hat, dass im Genpool der eigenen Verwandtschaft durchaus mehr drin ist als ein dicker Hintern und Naturkrause. Nämlich eine Modelfigur und glattes goldblondes Haar, für das Barbie morden würde.

»Ich freue mich auch«, sage ich atemlos, als meine Cousine mich loslässt und wir endlich nicht mehr hüpfen. Und ich freue mich wirklich, sie zu sehen. Wieder hier zu sein, in Rocky Harbour. Am Blueberry-See. Sehr sogar.

»Ich dachte, du wärst schon längst am See! Du bist doch schon vor Stunden gelandet, oder?«

Ich will meiner Cousine erklären, dass mich die Koffersache eine zusätzliche Stunde gekostet hat. Meine Umwege wegen mangelnder Orientierung werde ich auf keinen Fall erwähnen. Doch Isa hat sich schon Matt zugewandt und stupst ihn in die Seite. »Wie lustig, Cousinchen, dass du als Erstes ausgerechnet Matt über den Weg läufst!«

Sie strahlt ihn an. Aber Matt schaut nicht sie an, sondern mich. Mir ist bewusst, was er sieht und womöglich denkt: Hatte Nina damals auch schon so eine unmögliche Frisur? Ich kichere. Schon wieder. Es zuckt erneut an seinem linken Mundwinkel. Kann dieser Mundwinkel nicht damit aufhören? Er gehört schließlich zu einem verflucht schönen Mund, und ich möchte jetzt nicht an diesen Mund denken und daran, wie er sich angefühlt hat und was er alles …

Hör sofort auf, seinen Mund anzustarren!

Hastig wende ich den Blick ab. Doch die Erinnerungen reichen aus, um meine Arme schon wieder in ein Meer aus Gänsehaut zu verwandeln. Damit Matt und Isa das nicht bemerken, verschränke ich sie hinter dem Rücken. Allerdings hat jetzt der Tomatensaftfleck unterhalb meiner rechten Brust seinen großen Auftritt. Verdammt. Ich spüre, wie die vertraute Hummerröte mein Gesicht überzieht. Gerade, als ich glaube, dass es nicht schlimmer werden kann, höre ich ein Quieken. Fragend schaue ich Isa an. Isa schaut auf meinen Bauch.

»Nina!«, juchzt sie und fällt mir erneut um den Hals. Ich halte mich erneut an der Fahrertür fest.

»Uff. Was denn?«

»Du bist schwanger, oder?«

Sie löst sich von mir und starrt mich aus weit aufgerissenen himmelblauen Augen an. Ich starre zurück. Sprachlos. Verzweifelt versuche ich, meinen Bauch einzuziehen. Vergeblich. Warum musste ich bloß diese Kombination aus Hüftjeans und zu engem T-Shirt anziehen? Ich wage einen Blick auf Matt. Auch er starrt auf meinen Bauch. Wenn ich gehofft hatte, seine Deutschkenntnisse würden das Wort »schwanger« nicht einschließen, habe ich mich wohl geirrt.

Ich sehe wieder Isa an. Ihr Lächeln lässt so schnell nach, als hätte sie einen eingebauten Zeitraffer. »Oh nein.« Sie schlägt sich eine Hand vor den Mund. »Es tut mir leid, Nina. Ich dachte …«

Ich sehe wieder Matt an. Er erwidert meinen Blick. Mein Gott, diese Augen. Dunkelbraun, wie Zartbitterschokolade. Moment mal. Sehe ich da etwa Mitleid? Mitleid mit der Ex-Freundin, die nicht nur unmögliches Haar und ein bekleckertes T-Shirt, sondern noch dazu eine Speckrolle hat, die mit einem Babybäuchlein verwechselt wird? Ja, da liegt eindeutig Bedauern in seinem Blick. Tja, du Idiot, ich konnte Schokolade halt noch nie widerstehen. Weder in der Form deiner Augen noch in der Form von Tafeln.

Mein Blick schweift zurück zu Isa. Auch sie trägt Hüftjeans und ein figurbetontes T-Shirt mit »I ♥ NY«-Aufdruck. Der Unterschied ist, dass unterhalb der Buchstaben »NY« ein flacher Bauch zu finden ist; nicht die Spur einer Speckrolle. Kein Wunder, sie joggt ja nach eigenen Angaben jeden Tag eine Stunde lang durch den Central Park. Joggen kann ich leider nicht, weil ich Knieprobleme habe. Und für ein teures Berliner Fitnessstudio reicht mein mickriges Gehalt nicht.

Ich zupfe mein T-Shirt zurecht und hole tief Luft. Kleine Bärin fällt schier in Ohnmacht, als sie mich sagen hört: »Ja. Ich bin schwanger.«

[home]

Kapitel 2

Es ist zwanzig Minuten her, seit ich das Ortseingangsschild mit der Aufschrift »Willkommen in Rocky Harbour! Einwohner: Nicht viele« passiert habe. In zwanzig Minuten habe ich es geschafft, beim Anblick meines Ex-Freundes in sabbernde Ekstase zu verfallen und zu behaupten, ich sei schwanger.

Warum um alles in der Welt hast du das gesagt? Kleine Bärin kann es nach wie vor nicht fassen.

»Was hätte ich denn machen sollen?«, murmele ich, während ich meinen Chevy den Waldweg entlanglenke. Matts Pick-up hinterher, gefolgt von Isas Mercedes.

Wie wäre es mit »Nein, ich bin nicht schwanger« gewesen?

»Dann hätte Matt gewusst, dass ich einfach nur dick geworden bin.«

Toll. Jetzt glauben Isa und er, dass du ein Kind bekommst. Kannst du mir bitte mal erklären, wie du aus der Nummer wieder rauskommen willst?

»Nein, kann ich nicht. Hör endlich auf mit deinem Genörgel!«

Ja, ich führe Selbstgespräche. Nein, ich bin nicht bekloppt. Auch wenn mein Bruder Hendrik Zeit meines Lebens das Gegenteil behauptet. Ich bin phantasievoll. Schon als Kind fing ich an, mir Geschichten auszudenken, sie in Worten und Bildern auf Papier festzuhalten. Doch die Figuren dieser Geschichten blieben nicht nur auf dem Papier, sie begleiteten mich durch meinen Alltag. Im Kindergarten hatte ich Beistand von Möhre, dem magischen Meerschweinchen, das in Gefahrensituationen Zauberkräfte entwickelte. In der Grundschule kamen weitere Figuren hinzu, die mir zur Seite standen und mich immer wieder in peinliche Situationen brachten, wenn eine Lehrerin oder ein Mitschüler oder Hendrik mich bei gemurmelten Selbstgesprächen erwischten. Schließlich wurden die kleine Hexe Polly, Elfenprinzessin Rosa und der Troll Hugo in den wohlverdienten Ruhestand geschickt, als ich im Alter von acht Jahren nach Kanada kam.

Es war der erste von neun Sommern, den meine Eltern, Hendrik, meine kleine Schwester Leonie und ich am Blueberry-See verbrachten, zusammen mit Papas Bruder, seiner Frau und ihrer Tochter Isabel. In einem Blockhaus am Seeufer, das »Blueberry Lodge« getauft worden war.

Meine Cousine und ich sind gleichaltrig, und da wir uns in Deutschland nicht so oft sahen, genossen wir die gemeinsamen Ferien am See in vollen Zügen. Obwohl wir in der Blueberry Lodge keinen Fernseher hatten, wurde uns nie langweilig, denn dank meiner blühenden Phantasie gab es Tag für Tag neue Spiele, die wir um das Blockhaus herum in die Tat umsetzten. Wir wurden zu Piraten, die im Schlauchboot auf dem See herumfuhren, oder zu Bären, die auf allen vieren durch den Wald krochen und Blaubeeren fraßen. Und eines Tages erfanden wir die Indianermädchen »Sternschnuppe« und »Kleine Bärin«. Ich nannte meine Figur Kleine Bärin, weil ich einen starken Namen haben wollte, einen Namen, der meinem Bruder Respekt einflößen sollte. Isa, das glückliche Einzelkind, konnte ja ruhig als Sternschnuppe durch die Welt wandern, sie musste sich schließlich nicht gegen einen schlecht gelaunten Zehnjährigen behaupten. Als Indianermädchen steckten wir uns Möwenfedern ins Haar und tanzten um die Feuerstelle vor der Blueberry Lodge, bis Hendrik uns für völlig bekloppt erklärte.

Nach diesem Sommer blieb Kleine Bärin bei mir. Sie begleitete mich zur Schule, machte mir Mut, wenn ich Angst vor einer Mathearbeit hatte, und tröstete mich, wenn ich im Sportunterricht als Letzte in die Volleyballmannschaft gewählt wurde. Ich durchlitt mit ihr meine erste Menstruation, weil meine Mutter zu der Zeit auf einer Lesereise durch Deutschland und Papa in dieser Sache wenig hilfreich war.

Und als ich 14 Jahre alt war und im Kanadaurlaub plötzlich rot wurde, sobald Matt in meiner Nähe war, war ebenfalls Kleine Bärin für mich da. Abends vor dem Einschlafen redete ich im Flüsterton mit ihr über Matts süßes Lachen, über die Art, wie er sich Haarsträhnen hinter das Ohr strich, über seinen tollen Home Run beim Baseballspiel. Warum ich all diese Dinge nie mit Isa besprochen habe, sondern mit einer Phantasiegestalt, weiß ich selbst nicht.

Kleine Bärin ist bis heute bei mir. Nein, ich unterhalte mich abends im Bett nicht mehr mit ihr, schließlich liegt da oft genug Sascha, mein Freund, mit dem ich reden kann. Ich werde nur noch hin und wieder bei gemurmelten Selbstgesprächen überrascht. Aber in meinem Kopf, da ist Kleine Bärin sehr präsent und gibt mir des Öfteren Ratschläge – auf die ich fast nie höre. Schließlich ist Kleine Bärin so, wie ich es gerne wäre, aber nicht bin: selbstbewusst und stark. Sie sagt, was sie denkt. Und sie macht, was sie will. Sie schämt sich selten für etwas und scheut sich nicht vor Konflikten. Daher fällt es mir schwer, das zu machen, was sie mir rät, denn ich bin das genaue Gegenteil von alldem.

 

Während Kleine Bärin schweigend aus dem Beifahrerfenster in den Wald hinausschaut, übersehe ich ein Schlagloch, was der Chevy mit einem vorwurfsvollen Scheppern des Bodenblechs zur Kenntnis nimmt. Upps. Wenn ich den Wagen in zweieinhalb Wochen wieder heil am Flughafen abgeben will, sollte ich mich wohl besser aufs Fahren konzentrieren. Was nicht gerade leicht ist, wenn Matt ständig in den Rückspiegel schaut. Ich hatte immer schon eine Schwäche für Männer in Holzfällerhemden, und diese Schwäche lässt mich nun unkonzentriert durch zu viele Schlaglöcher holpern. Ob Matt gerade Feierabend gemacht hat? Soweit ich gehört habe, ist er Zimmermann geworden wie sein Vater. Sein Vater, der unser Blockhaus gebaut hat. Mir wird schmerzlich bewusst, dass Paul Gates nicht mehr hier ist, mich nicht mehr »Sommersprossengesicht« nennen kann, so wie früher. Nun ist es Matt, der die Rolle des Verwalters der Blueberry Lodge übernommen hat, der sich um alles kümmert, wenn das Blockhaus leer steht. Und der ganz in der Nähe dieses Blockhauses wohnt, wie mir mit einem nervösen Kribbeln im Bauch bewusst wird.

Kleine Bärin schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Als ob ich etwas dafür könnte, dass mein Bauch kribbelt! Um mich von Matt abzulenken, beginne ich, mir Sorgen darüber zu machen, wie die kommenden Tage mit meiner Familie in Rocky Harbour werden sollen. Im Moment ist nur mein Vater in der Blueberry Lodge, er ist gestern Abend angekommen. Morgen werden meine Mutter und ihr neuer Mann Heinz eintreffen. Allerdings übernachten sie nicht am See, sondern in einer Pension in Lunenburg. Nicht auszudenken, wie dieser Urlaub, der bereits kompliziert genug werden wird, ansonsten ablaufen würde. Übermorgen wird Hendrik mit Frau und Kind aus Hamburg eintreffen und ein paar Stunden später Nesthäkchen Leonie aus Berlin. Dass meine Familie es nicht einmal hinbekommen hat, ihre Ankunftszeiten besser zu koordinieren, sagt alles über unseren familiären Zusammenhalt. Allerdings sollte ich nicht meckern, schließlich ist es schon eine erstaunliche Leistung, dass meine Familie überhaupt komplett nach Rocky Harbour kommt. Zum ersten Mal seit 14 Jahren. Um Isas Hochzeit zu feiern.

 

Ich grinse dümmlich, als Matt erneut in den Rückspiegel schaut. Wenn ich sein Gesicht so deutlich erkennen kann, fahre ich eindeutig zu dicht hinter seinem Pick-up her. Oh! Zu meiner Linken lichten sich plötzlich die Kiefern, geben den Blick frei auf den See. Ich starre auf felsige Inseln, auf kreisende Möwen – und auf die roten Bremslichter des Pick-ups vor mir.

Ich lege eine Vollbremsung hin. Wieso bleibt Matt denn mitten auf der Straße stehen? Dann begreife ich. Um zu seinem Haus zu gelangen, muss man weiter geradeaus den Waldweg entlangfahren. Das zumindest habe ich gehört. Doch auf der linken Seite, nahe dem Seeufer, liegt bereits die Blueberry Lodge. Das Blockhaus, in dem ich neun Sommer meiner Kindheit und Jugend verbracht habe.

Die Fahrertür des Pick-ups öffnet sich, und Matt springt heraus. Ich weiche seinem Blick aus und lenke den Chevy in die Einfahrt. Mein Herz schlägt höher, als ich unser Haus nach so langer Zeit zum ersten Mal wiedersehe. Die Lodge hat sich nicht verändert, stelle ich erleichtert fest. Sie sieht noch aus wie in meiner Erinnerung, wie auf den Urlaubsfotos vergangener Tage. Ein eingeschossiges, honigbraunes Blockhaus, um das eine überdachte Veranda herumführt. Mir fällt wieder ein, wie gut sich diese Veranda eignet, um Fangen zu spielen. Besonders an regnerischen Tagen verbrachten Isa, meine kleine Schwester Leo und ich viel Zeit damit, kichernd und atemlos im Kreis zu rennen. Neben der dunkelgrünen Eingangstür steht noch immer die Truhe, in der unsere Gummistiefel aufbewahrt wurden. Und an der Hauswand hängen die Schneeschuhe, die ich in meinem letzten Sommer in einem Antiquitätengeschäft in Lunenburg entdeckt habe. Nur die vier hölzernen Liegestühle, die in einer Reihe auf der Veranda stehen, kenne ich noch nicht. Trotzdem ist es, als wäre ich erst letzten Sommer abgereist. Zumindest fast, denn als ich den Wagen unter einer Kiefer parke und aussteige, stelle ich fest, dass die Baumkrone in meiner Erinnerung längst nicht so ausladend war. Ich atme tief ein. Es duftet nach Tannennadeln und Harz und nach etwas, das ich nicht sofort einordnen kann. Wie habe ich es bloß so lange ohne dieses Fleckchen Erde ausgehalten?

Hinter mir höre ich Schritte auf dem Kies der Einfahrt. Isa und Matt. Doch ich schaue mich nicht um, denn in dem Moment öffnet sich die Eingangstür der Lodge.

»Papa!«, rufe ich und renne auf das Haus zu. Ich habe meinen Vater vier Monate lang nicht gesehen. Eine verdammt lange Zeit für uns beide. Mir fällt sofort auf, dass sein T-Shirt völlig zerknittert ist. Seit ich nach Berlin gezogen bin, lebt Papa allein, und Bügeln gehört nicht zu seinen Stärken. Zu meinen auch nicht, aber ich bin zu eitel, um zerknittert durch die Gegend zu laufen. Papa offensichtlich nicht.

»Nina, schön, dass du hier bist!« Mein Vater kommt die Treppenstufen der Veranda herunter und breitet die Arme aus, in die ich mich fallen lasse wie ein kleines Kind. Er streicht über mein unmögliches Haar und murmelt dicht an meinem Ohr: »Ist es nicht schön, wieder hier zu sein?«

Ich nicke, löse mich von ihm und lächle ihn an. »Und wie«, sage ich.

»Hey, Onkel Wolfgang«, höre ich die Stimme meiner Cousine, die sich von hinten nähert.

»Hallo, Isa.« Mein Vater kratzt sich am Kopf, wo sein weißes Haar wirr in alle Richtungen steht. Dann erblickt er Matt, der Isa gefolgt ist. In seinem drolligen Englisch mit dem starken deutschen Akzent ruft Papa: »Hey, Matt, gut, dass du hier bist! Du musst uns unbedingt helfen. Uns steht die Scheiße bis zum Hals, mein Junge.«

 

Kurz darauf sind mein Vater und mein Ex-Freund im Blockhaus verschwunden. Papa sagt, dass er das Badezimmer bis vor einer halben Stunde normal benutzen konnte. Plötzlich sei die Toilette übergelaufen und auch im Waschbecken das Wasser hochgekommen. Aber Matt, der die Blueberry Lodge wie seine Westentasche kennt, wird das Problem schon finden. Hoffentlich schnell, denn ich muss aufs Klo und möchte mich ungern ins Unterholz hocken.

»Komm, ich helfe dir mit deinem Koffer«, sagt Isa, hakt sich bei mir ein und zieht mich Richtung Mietwagen. »Du darfst ja nicht so schwer heben.« Sie strahlt mich an. »Ich freue mich riesig, dass du schwanger bist, Nina!«

»Mhhm«, murmele ich und werfe einen Blick über meine Schulter, Richtung Blueberry Lodge. »Hör mal, es weiß bisher niemand davon. Es wäre gut, wenn du noch nichts sagen würdest.« Als ich ihren verdutzten Blick sehe, füge ich hinzu: »Vorerst natürlich. Ich werde es den anderen bald erzählen.«

Isa lächelt ihr tiefstes Grübchenlächeln und zwinkert mir verschwörerisch zu. »Ich werde schweigen wie ein Grab. Ist doch Ehrensache. Aber ist das nicht schade, dass Sascha nicht dabei ist, wenn du es deiner Familie sagst?«

Er weiß ja selbst noch nicht, dass er Vater wird, wirft Kleine Bärin spöttisch ein.

»Sascha ist doch der Vater, oder?«, fragt Isa mit einem Hauch von Sensationsgier in der Stimme, als ich nicht sofort reagiere.

»Natürlich«, beeile ich mich zu sagen und öffne den Kofferraum des Chevys. Er starrt uns leer und irgendwie vorwurfsvoll an.

»Wo ist denn dein Koffer?«

»Ach ja, hatte ich ganz vergessen«, murmele ich und schlage die Klappe wieder zu. »Die Fluggesellschaft hat es fertiggebracht, meinen Koffer zwischen Berlin und Halifax zu verlieren. Unglaublich, oder?«

»Mensch, du Arme«, sagt Isa und mustert mein bekleckertes T-Shirt. »Ich würde dir ja was zum Anziehen leihen, aber …« Sie lässt ihren Satz unvollendet in der würzigen Waldluft hängen.

… aber ich trage Kleidergröße 36 und du nicht, vollende ich im Stillen. »Ist schon gut, mach dir keine Sorgen.« Ich versuche, unbekümmert zu klingen, während ich meine Reisetasche von der Rücksitzbank angele. Wäre ich auch nur im Entferntesten so gut organisiert wie mein Freund Sascha, hätte ich Wäsche zum Wechseln in diese Reisetasche gepackt, um für den Fall eines verlorengegangenen Koffers gewappnet zu sein. Aber da ich das nicht bin, befinden sich in meinem Handgepäck nur meine Malsachen, ein Buch, mein MP3-Player und etliche Tüten Lakritz-Konfekt. Ach ja, und die Strickjacke, die ich im Flugzeug wegen der Klimaanlage getragen habe und die inzwischen bestimmt mindestens so zerknittert ist wie Papas T-Shirt.

»Mensch, das ist ja ein Einstand in Kanada: kein Koffer, aber dafür eine verstopfte Toilette.« Isa lehnt sich mit verschränkten Armen gegen die Fahrertür meines Wagens und wirft einen Blick auf ihre goldene Armbanduhr. »Du kannst jederzeit bei uns in der Marina duschen, wenn du willst.«

»Lieb von dir«, sage ich und starre zur Lodge hinüber. Papa und Matt kommen gerade durch die Haustür, ihre Gesichter sorgenvoll. Oh, oh.

»Und, wie ist es für dich, Matt wiederzusehen?« Ich spüre Isas Blick auf mich gerichtet.

»Hmm. Weiß nicht so recht«, sage ich. Und füge still hinzu: Es ist verflucht merkwürdig.

»Na ja, jetzt, wo du Sascha hast und sogar ein Baby von ihm bekommst, ist die Sache mit Matt ja bestimmt ganz weit weg und abgeschlossen für dich.«

Schön wäre es, kann sich Kleine Bärin nicht verkneifen. »Genau«, sage ich.

»Wollt ihr eigentlich heiraten, bevor der Wurm da ist?«

Beim Gedanken, Sascha zu heiraten, legt sich meine Stirn reflexartig in Falten. Einen Augenblick lang vergesse ich, dass ich gar nicht schwanger bin und es keinen Grund für eine Hochzeit gibt. Als mich die Wirklichkeit wieder einholt, schäme ich mich für meine Erleichterung. Es ist schließlich nicht so, dass wir keine gute Beziehung hätten!

»Weiß noch nicht«, weiche ich Isas Frage aus. »Das ist alles noch so frisch.«

»In der wievielten Woche bist du denn?«

Ach du Schande. In welcher Woche könnte ich sein? Ich starre auf meine Speckrolle. Leider hatte ich bislang wenig mit Schwangeren zu tun. Keine meiner Freundinnen oder Kolleginnen hat bisher ein Baby bekommen; ich war nie hautnah dabei, wenn ein Bauch wuchs und wuchs.

»In der – ähm – elften?« Das sollte eigentlich nicht wie eine Frage klingen. Aber ich habe wirklich keine Ahnung, wie mein Bauch in der elften Woche aussehen würde.

»In der elften Woche«, wiederholt Isa und mustert ebenfalls meinen Bauch. »Wie schön!«

Ich lächle und fühle mich elend wegen meiner Lügengeschichte.

Ich habe es dir gleich gesagt!

Isa schaut erneut auf ihre Armbanduhr. »Ich muss jetzt leider schon wieder los – bin auf dem Weg zum Probe-Essen. Der Caterer, den wir für unsere Hochzeit gebucht haben, kocht heute Abend für meine Eltern und mich. Drüben in Lunenburg. Aber vorher wollte ich dich unbedingt sehen.« Sie hüpft schon wieder auf der Stelle und sieht aus wie das junge Mädchen von früher, das braungebrannt im Kanu über den See gepaddelt ist. »Mensch, Nina, es gibt so viel zu erzählen. Und ich muss dir unbedingt bald mein Brautkleid zeigen. Komm doch morgen in der Marina vorbei, ja?«

»Mhhm, okay. Ist Greg eigentlich schon da?«

»Nein, er ist noch in New York. Dieses Arbeitstier!« Sie kichert und sieht so verliebt aus, dass es fast weh tut. Ich habe ihren amerikanischen Verlobten noch nie gesehen, aber ich weiß genau, wie er aussieht. So, wie all ihre Ex-Freunde stets ausgesehen haben: groß, dunkelhaarig, unverschämt attraktiv.

»Also, ich muss los. Tschüss, Onkel Wolfgang! Bye, Matt!« Sie drückt mich an sich und flüstert: »Morgen reden wir in Ruhe, okay? Ach, es ist so schön, dass du wirklich hier bist! Ich kann kaum glauben, dass wir unsere Hochzeit mit dir und deiner ganzen Familie feiern können. Wer hätte das gedacht, oder?«

Allerdings, denke ich, während ich Isas Mercedes hinterherwinke. Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass ihre Eltern und sie nicht mehr hier in der Blueberry Lodge wohnen. So viele Dinge haben sich geändert, seit ich das letzte Mal hier war.

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Kapitel 3

Und, wisst ihr schon, was das Problem ist?«, frage ich, als ich meine Reisetasche Richtung Blueberry Lodge trage.

»Noch nicht«, sagt mein Vater. »Aber Matt meint, es könnten Wurzeln durch ein Wasserrohr gewachsen sein. Da drüben, wo die Sickergrube ist.« Ich folge Papas Blick. In der Mitte des Rasens, der von der Einfahrt bis zur Lodge reicht, liegen ein paar Felsbrocken. Sie markieren die Stelle, wo sich die unterirdische Sickergrube befindet, in die das Abwasser des Blockhauses geleitet wird. Zwischen den Felsen wachsen einige Huckleberry-Büsche, die bei meinem letzten Urlaub hier am See noch ziemlich niedrig waren. »Ich habe Hermann damals schon gesagt, dass über der Sickergrube nichts angepflanzt werden sollte! Aber er hat ja noch nie auf mich gehört, dieser Besserwisser.«

Ich seufze. Papa und sein jüngerer Bruder Hermann. Es hat seine Gründe, warum wir so lange nicht hier in Kanada waren.

»Heißt das, wir können heute weder auf die Toilette gehen noch duschen?« Ich stelle meine Reisetasche ab und sehe meinen Vater an.

»Nein, das können wir wohl vorerst nicht.« Papa kratzt sich am Kopf. »Tut mir leid, dass du so einen Urlaubsbeginn hast.«

»Ihr könnt bei mir duschen«, meldet sich plötzlich Matt zu Wort. Er hat die Büsche über der Sickergrube inspiziert, ist nun aber wieder zu uns herübergekommen. Er sieht mich an, und ich werde schon wieder hummerrot. Also bitte, das ist nun wirklich kindisch. Matt wird doch wohl »duschen« sagen können, ohne dass ich zur prüden Jungfer mutiere!

»Das ist aber nett von dir«, sagt Papa, und ich höre ihm die Erleichterung an. »Weißt du, ich kann mich ja in die Büsche schlagen und in den See springen, aber Frauen sind da schließlich etwas komplizierter, wenn du verstehst, was ich meine.«

Matts linker Mundwinkel zuckt.

»Was soll denn das heißen?«, frage ich entrüstet. »Ich kann auch im See baden und mich hinter einen Baum hocken!«

Matts Mund entschließt sich nun zu einem vollständigen Grinsen, so dass nicht mehr nur der linke Mundwinkel die ganze Arbeit hat. »Es macht wirklich keine Umstände«, sagt er. »Dein Vater wollte sich sowieso mein Haus anschauen. Und du hast es ja auch noch nicht gesehen.« Er sieht Papa an. »Also kommt doch gleich mit rüber.«

»Das machen wir. Nicht wahr, Nina? Warte, wir bringen erst dein Gepäck ins Haus …« Er stutzt, als er meine Reisetasche sieht. »Ist der Rest noch im Auto? Du bist doch nicht nur mit diesem Täschchen unterwegs, oder?«

»Nein«, seufze ich und wiederhole meine Koffergeschichte. »Tja, darum habe ich leider auch keinen Kulturbeutel. Und nichts zum Umziehen.« Ich merke genau, dass Matts Blick zum Tomatensaftfleck unterhalb meiner rechten Brust wandert. Und ich könnte schwören, dass er nicht nur unterhalb hängengeblieben ist.

Ich folge meinem Vater, der meine Reisetasche zur Haustür trägt, und frage mit gedämpfter Stimme: »Papa, kannst du mir was zum Anziehen leihen? Ich muss aus diesem verschwitzten T-Shirt raus.«

Mein Vater hält vor der Eingangstür der Blueberry Lodge an und mustert mich von Kopf bis Fuß mit seinen hellblauen Augen, so, als sähe er mich zum ersten Mal. Seine buschigen weißen Augenbrauen, die mich stets an den Weihnachtsmann erinnern, ziehen sich zusammen. »Kind, ich würde dir gern etwas leihen, aber ich fürchte, ich habe nichts Passendes dabei.«

Ich verstehe, was er meint. Mein Vater ist mit seinen 1,75 Meter zwar größer als ich, aber sehr schmal, geradezu hager. Es ist lange her, seit ich mir Klamotten von ihm geliehen habe. Jetzt, wo ich genauer darüber nachdenke, war das wohl vor der Pubertät. Als ich gerne Holzfällerhemden trug, noch flachbrüstig war und Erna nicht so viel Platz beanspruchte. Erna ist mein dicker Hintern, benannt nach meiner Großtante mütterlicherseits, die auch niemand mochte – wobei Erna im Moment wirklich nicht das Problem ist (was selten genug vorkommt). Das Problem sind die Zwillinge, die wohl jedes von Papas T-Shirts ziemlich ausbeulen würden. Ja, das letzte Mal, als er mir etwas zum Anziehen geliehen hat, ist einige Körbchengrößen her.

»Aber Matt ist doch kräftig gebaut«, sagt mein Vater und öffnet die Haustür. Ich erstarre, kann ihn aber nicht mehr aufhalten. »Matt«, ruft Papa über seine Schulter. »Du kannst Nina doch sicher etwas zum Anziehen leihen, oder? Irgendein Hemd oder so? Meine Sachen sind zu klein.«

Oh. Mein. Gott. Möge sich die Veranda bitte auftun und mich verschlingen! Das Knarzen unter meinen Sneakern sagt mir, dass dieser Wunsch gar nicht so abwegig ist.

Mit glühendem Gesicht schiebe ich mich an Papa vorbei. Ich stolpere über die Türschwelle und höre nur mit einem Ohr, wie Matt vom Rasen aus ruft: »Kein Problem.«

 

Ich mache ein paar Schritte in die Lodge hinein und bleibe mitten im Raum stehen. Da ist er wieder, dieser Geruch, den ich eben, als ich aus dem Auto gestiegen bin, nicht einordnen konnte. Jetzt ist er viel intensiver als draußen, und mir wird schlagartig klar, wonach es riecht. Und wie sehr ich diesen Duft vermisst habe: Holz. Es duftet nach Holz. So, wie es nur in einem Haus duften kann, das ganz und gar aus Holz gebaut ist. Von den Deckenbalken über Wände, Türen und Fensterrahmen bis hin zu den glatten Bodendielen, auf denen ich stehe. Ich schließe meine Augen und atme so tief ein, wie ich kann. Plötzlich erinnere ich mich daran, wie oft ich in den vergangenen Jahren bei diesem Duft Heimweh nach Kanada bekommen habe: Im Skiurlaub mit Sascha, als ich das hölzerne Chalet in der Schweiz betreten habe. Bei IKEA, als ich an einem Holztisch geschnuppert habe (ich weiß, das klingt, als hätte ich nicht mehr alle Pinsel im Malkasten und genauso haben mich die anderen Möbelhauskunden auch angesehen). Aber nie war der Geruch so überwältigend und intensiv wie hier.

»Erinnerst du dich noch an alles?« Papa durchquert mit seinen dürren Beinen den Raum und biegt in den Flur ein, der auf der rechten Seite vom Wohnzimmer abzweigt. Gegenüber, auf der anderen Seite des Raums, führt ein zweiter Flur in die entgegengesetzte Richtung. Dort sind die Schlafzimmer, in denen früher Onkel Hermann, Tante Helga und Isa geschlafen haben. Der Teil des Hauses wurde aufgrund seiner geografischen Ausrichtung »Westflügel« genannt, während meine Familie und ich unsere Schlafzimmer im »Ostflügel« der Lodge hatten, in den Papa gerade verschwindet.

»Ja, ich erinnere mich«, sage ich und lasse meinen Blick durch den Raum wandern. Rechts von mir ist die offene Küche. Ich gehe zum Esstisch hinüber und streiche andächtig über das Holz der Tischplatte. So viele Mahlzeiten wurden hier eingenommen, so viele Spieleabende veranstaltet. Ich höre Hendrik toben, wenn er verloren hat, und Tante Helga schimpfen, weil sie überzeugt war, dass meine Mutter schummelte. Ich erinnere mich an Matts Blick über das Mensch-ärgere-dich-nicht-Brett hinweg. Sehe seinen Blick, der zu meinem Mund wandert.

Nina, du fängst schon wieder an. Kleine Bärin lehnt am Kühlschrank und sieht mich streng an.

Schnell drehe ich mich vom Esstisch weg und betrachte die andere Hälfte des Zimmers mit den zwei gemütlichen Sofas, die an verregneten Urlaubstagen wunderbare Leseplätze boten. Ich gehe an der Sofaecke vorbei, stelle mich vor die bodentiefen Fenster, schaue hinaus auf den See. Die Sonne steht schon tief über den Wäldern, färbt das Wasser golden. Ein Schatten saust dicht an der überdachten Veranda vorbei. Noch einer und noch einer. Mir fällt wieder ein, wie Isa und ich in der Abenddämmerung am Bootssteg saßen und die Fledermäuse bei ihren Jagdflügen beobachteten.

»Fledermäuse sind sehr nützlich«, erklärte mein Vater uns immer. »Sie fressen Insekten, unter anderem Mücken. Wir können also sehr froh darüber sein, dass sie hier sind.«

Meine Tante war nicht so froh darüber. Sie hatte immer Angst vor den Tieren und war wütend, als mein Vater anfing, Häuschen für die Fledermäuse zu bauen und in den Bäumen aufzuhängen, um die Tiere in der Nähe der Lodge anzusiedeln.

»Nina, ich habe deine Tasche in euer altes Zimmer gestellt. Ich weiß ja nicht, ob Leo und du wie früher zusammen in einem Stockbett schlafen wollt? Falls jede von euch ihr eigenes Reich haben möchte, wären noch Hendriks und Isas frühere Zimmer frei.«

»Hmm, mal sehen, was Leo sagt, wenn sie hier ist.« Ich wende mich vom Fenster ab und streiche mit der Hand über den Holzofen, der nahe der Sofaecke steht.

»Wir sollten jetzt rüber zu Matt gehen, bevor es zu spät wird. Du bist ja sicher müde und willst bald ins Bett, oder?«

Ich nicke. »Ja, ich gehe nur schnell – ach, quatsch. Ich kann ja gar nicht aufs Klo gehen.« Mit einem Seufzer greife ich nach meiner Umhängetasche, die ich in den Schaukelstuhl neben dem Ofen habe fallen lassen. Zumindest Deo und Puder sind fällig, bevor ich Matt wieder unter die Augen trete. »Gib mir eine Minute, okay?«

»Aber klar, ich warte draußen.«

 

»Wer hat dich gestern eigentlich vom Flughafen abgeholt?«, frage ich, als ich wenig später neben meinem Vater den Waldweg entlanggehe, der zu unserem Nachbargrundstück führt. Matt ist bereits vorgefahren. Ich habe mir meine Strickjacke übergezogen und fühle mich dank des verdeckten Flecks und meines kaschierten »Babybauchs« nicht mehr ganz so hässlich wie eben.

»Deine Cousine. Und dein Onkel.«

Vor Überraschung stolpere ich beinahe. »Onkel Hermann hat dich abgeholt?«

»Mhhm«, brummt mein Vater. »Wird wohl Zeit, dass wir endlich zur Vernunft kommen, mein Bruder und ich. Findest du nicht?«

»Ja, aber …«

»Man weiß ja nie, wie oft man sich noch sieht.«

Ich bleibe wie angewurzelt stehen. »Bist du krank?«

Auch mein Vater bleibt stehen. »Nein, ich bin nicht krank, Kind. Aber wer weiß schon, wann er seinen letzten Tag auf dieser Erde erlebt?«

»Hmm«, mache ich und trotte weiter, meinem Vater hinterher. Dass Onkel Hermann und Papa jetzt, nach 14 Jahren, plötzlich wieder miteinander sprechen, haut mich um. Besonders, als wir eine Lichtung betreten, die ich noch nie gesehen habe, denn diese Lichtung ist der Grund dafür, dass ich so lange nicht mehr am Blueberry-See war.

Vor 14 Jahren endete der Weg, den wir entlanggehen, zwischen Unterholz, Farnen und alten Kiefern. Jetzt sind die mächtigen Bäume von damals verschwunden. Mein Blick wandert über Huckleberry- und Blaubeerbüsche zu ein paar mannshohen Tannen und Birken. Ich muss zugeben, dass ich mir die Lichtung schlimmer vorgestellt habe. Und sie sah sicherlich schlimmer aus, damals, als die Bäume frisch gefällt waren. Als hier alles kahl war. Inzwischen kann von kahl keine Rede mehr sein. Nur die unterschiedliche Höhe der Bäume im Vergleich zum umliegenden Wald verrät, dass hier kräftig abgeholzt wurde.

Mein Vater brummt etwas Unverständliches vor sich hin, während er seinen Blick nach links und rechts über Büsche und Bäume wandern lässt. Ich höre wieder seine Worte von damals, seine Stimme, die sich vor Wut und Aufregung überschlug: »Wenn du das machst, Hermann, dann bist du nicht mehr mein Bruder!«

Und dennoch hat Onkel Hermann es gemacht.

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Kapitel 4

Ich war sechs Jahre alt, Hendrik neun und Leonie gerade geboren worden, als mein Onkel uns in Bielefeld besuchte und von einem Traumgrundstück in Kanada erzählte, das zum Verkauf stünde. Seine Immobilienfirma in Hannover hatte damit begonnen, auch ausländische Objekte in ihr Angebot aufzunehmen, und Onkel Hermann hatte über einen kanadischen Makler von diesem Grundstück an der Atlantikküste Kanadas gehört. In der Provinz Nova Scotia, einer Halbinsel, deren Name »Neu Schottland« bedeutet, wie Onkel Hermann uns erklärte.

»Ein Spottpreis, sage ich dir, Wolfgang, ein Spottpreis!« Mein Onkel saß bei uns in der Küche und schwärmte mit glänzenden Augen von der unberührten Natur und der Nähe zum Atlantik. Mein Vater lauschte andächtig; er hatte schon immer ein Faible für Kanada gehabt, war aber noch nie dort gewesen. Als Junge hatte er immer dorthin auswandern wollen, erzählte er mir später. Meine Mutter stillte gerade Leonie, die erst ein paar Wochen alt war, und drohte mit einem Milchstau, wenn Papa nicht sofort aufhörte, ernsthaft über ein Haus »in der Wildnis« nachzudenken.

Papa hörte eigentlich immer auf meine Mutter. Nur diesmal nicht. Ein paar Wochen später, in den Herbstferien, flogen Onkel Hermann und er nach Nova Scotia und verliebten sich hoffnungslos in Rocky Harbour und den Blueberry-See. Sie kauften das Grundstück, ohne sich von ihren Frauen davon abbringen zu lassen. Tante Helga war nämlich ebenso wenig begeistert wie meine Mutter; sie wollte weiterhin Urlaub im Robinson Club auf Kreta machen, wie seit Jahren. Doch auf dem Grundstück am See wurde ein Bauplatz gerodet, und man beauftragte einen kanadischen Zimmermann namens Paul Gates mit dem Bau eines Blockhauses.

Zwei Jahre, nachdem unsere Väter das Grundstück gekauft hatten, machten Isa und ich mit unseren Familien zum ersten Mal gemeinsam Urlaub am Blueberry-See. In unserem vierten Sommer in der Blueberry Lodge verkündete Onkel Hermann, dass er auch unser Nachbargrundstück kaufen wolle, bevor jemand anderes ihm zuvorkäme. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht gewusst, dass das Grundstück nebenan zum Verkauf stand beziehungsweise dass es überhaupt ein Nachbargrundstück gab. Außer uns wohnte niemand am Blueberry-See, und ich hatte mir noch nie Gedanken darüber gemacht, dass unser Grundstück irgendwo endete und andere Leute ebenfalls ein Stück Land an »unserem« geliebten See kaufen könnten.

»Wäre doch schade, wenn irgendein reicher Amerikaner sich ein Haus neben uns bauen und mit einem Motorboot über den See flitzen würde«, sagte Onkel Hermann. Seine Immobilienfirma boomte, mein Onkel verdiente ordentlich Geld und wollte dieses Geld investieren. »Irgendwann baut vielleicht Isa mal ein eigenes Haus dort, wer weiß?«, meinte er.

Nein, meine Cousine hat nie ein Haus auf unserem Nachbargrundstück gebaut, denn vor 14 Jahren änderte sich alles. Onkel Hermann, Tante Helga und Isa kamen zum ersten Mal nicht an den Blueberry-See. »Onkel Hermann hat Probleme mit seiner Firma, er kann jetzt nicht weg«, erklärte Papa uns. Ich war todtraurig, weil ich die Ferien ohne Isa verbringen musste. Gut, ich blieb in jenem Sommer nicht lange traurig und auch nicht allein, aber das ist ein anderes Thema.

Schließlich, als die Ferien fast zu Ende waren, rief Onkel Hermann an. Er teilte meinen Eltern mit, dass seine Firma kurz vor dem Bankrott stünde und er deshalb unser Nachbargrundstück abholzen lassen würde. Für das Holz würde er viel Geld bekommen, das er dringend benötigte. Papa und mein Onkel stritten sich lange am Telefon. Doch es half nichts.

Zwei Tage später rollten schwere Fahrzeuge den Waldweg entlang. Leo und ich heulten. Papa auch, aber er versuchte, seine Tränen vor uns zu verstecken. Nie werde ich das Kreischen der Motorsägen vergessen. Das Krachen im Unterholz, als die Bäume fielen. Ich brachte es damals nicht über mich, mir die gerodete Lichtung anzusehen. Aber es reichte schon, aus unserem Badezimmerfenster zu schauen: Wo früher dunkler Wald gewesen war, konnte man nun herausgerissene Wurzelballen umgestürzter Kiefern erkennen, wie Streichhölzer umgeknickte Tannen, zerwühltes Unterholz. Die Arbeiter waren nicht gerade zimperlich vorgegangen bei ihrem Auftrag, nur das wertvolle Holz aus dem Wald herauszuholen. Die Bäume, die nicht gebraucht wurden, aber im Weg standen, hatten sie einfach plattgemacht und liegen gelassen.

Fünf Tage später waren unsere Ferien zu Ende, und wir reisten ab. Ich hätte nie gedacht, dass es 14 Jahre dauern würde, bis ich zum ersten Mal diese Lichtung sehe. Und das Blockhaus, das jetzt hier steht. Matts Haus.

Nach dem Streit mit Papa und der Rodung des Grundstücks hatte Onkel Hermann kein großes Interesse mehr am Blueberry-See. Meine Tante und er wollten die Blueberry Lodge und unser Grundstück sowie das gerodete Nachbargrundstück verkaufen. Auch meine Mutter, die sich zwar an die kanadische Natur gewöhnt hatte, aber nach wie vor kein großer Fan war, fand die Idee gut. Nur mein Vater stellte sich quer. Zwar kam auch er in den folgenden Jahren nicht mehr nach Rocky Harbour, aber das geliebte Fleckchen Erde an »unserem« See einfach so zu verkaufen, das würde nur über seine Leiche geschehen, sagte er. So kam es, dass Onkel Hermann nur sein gerodetes Grundstück verkaufen konnte. Und zwar an Matt, der sich in den folgenden Jahren eigenhändig ein Haus am Blueberry-See baute.

Ganz von Nova Scotia lösen wollte sich Onkel Hermann allerdings nicht. Als es seiner Firma wieder besserging und er erneut auf der Suche nach einer geeigneten Kapitalanlage war, ließ er in der »Smugglers’ Cove«, einer malerischen Meeresbucht außerhalb von Rocky Harbour, eine luxuriöse Marina bauen: einen Apartmentkomplex mit Ferienwohnungen, dazu Anlegeplätze für ein Dutzend Jachten. Für meine Tante, Isa und sich selbst baute er einen Bungalow am Rande des Marina-Komplexes, mit einem Bootssteg für die Jacht »Isabel’s Dream«. Das zumindest habe ich gehört.

Seit Jahren hat also niemand der Familie Behringer mehr Urlaub in der Blueberry Lodge gemacht. Mein Onkel, meine Tante und meine Cousine verbringen ihre Sommer nur noch in der Marina am Meer. Von meiner Seite der Familie war keiner mehr hier, seit der Wald abgeholzt wurde. Da mein Onkel Geschäftsmann ist und es ihm körperlich weh getan haben muss, unsere Lodge leer stehen zu lassen, schlug er meinem Vater vor ein paar Jahren per E-Mail vor, unser Blockhaus zumindest an Touristen zu vermieten, wenn es schon nicht verkauft werden sollte. Zu unserer Überraschung willigte Papa ein. Vermutlich, weil er nach der Scheidung von Mama eine kleine Finanzspritze gut gebrauchen konnte. Matt wurde engagiert, die Instandhaltung des Hauses zu übernehmen. Bevor Sommergäste ankommen, putzt er und bezieht die Betten; außerdem ist er während ihres Aufenthalts Ansprechpartner für die Touristen. Die Immobilienfirma meines Onkels entwarf eine anschauliche Website, auf der unser Blockhaus von seinen vielen Honigseiten bewundert werden kann. Ich habe mir diese Website nur ein einziges Mal angesehen. Der Gedanke, dass fortan Fremde dort Urlaub machen würden, wo ich die schönsten Wochen meiner Kindheit und Jugend verbracht habe, tat mir so weh, dass ich die Seite nie wieder öffnete.

 

Wir sind am Ende des Waldweges angekommen, wo Matts Pick-up neben einigen Birken geparkt steht. Der schmale Pfad, den mein Vater und ich nun einschlagen, wird links und rechts von einer Zauberwelt gesäumt. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie eine Wichtelfamilie ihr Haus zwischen den Wurzeln eines moosbewachsenen Baumstumpfs baut, im Vorgarten Pilze und Preiselbeerbüsche, dahinter ein Wald aus Farn.

Noch einmal: Ich bin nicht übergeschnappt. Ich illustriere Kinderbücher. Genügt das als Erklärung?

»Das ist es also«, sagt Papa. Er bleibt so abrupt stehen, dass ich beinahe in ihn hineingelaufen wäre.

»Deine Bremslichter funktionieren nicht«, bemerke ich, um meine Sentimentalität zu überspielen, denn das Haus, das vor uns steht, überwältigt mich.

»Hallo, Matt!« Bei den Worten meines Vaters zucke ich zusammen. Ich folge seinem Blick und sehe Matt, der auf der überdachten Veranda seines Hauses steht.

»Hey«, ruft Matt. »Ich dachte schon, ihr habt euch verlaufen.«

»Nein, ich musste nur Stunden auf Nina warten. Du weißt schon, Frauen.«

Ich höre Matts Lachen, wage es aber nicht, ihn anzusehen. Stattdessen lasse ich meinen Blick über sein Haus wandern, vor dem wir nun angekommen sind.

Es ist eine Wucht. Matt hat es aus ganzen, runden Baumstämmen gebaut, wodurch es einen viel rustikaleren Charme hat als die Blueberry Lodge mit ihren eckig geschliffenen Balken.

Langsam gehe ich über den Rasen, an der Längsseite des Hauses entlang. Als ich an der Stirnseite, die dem See zugewandt ist, ankomme, sticht mir der Giebel ins Auge: Er ist vollständig verglast. Eine riesige dreieckige Fensterfläche, die einen traumhaften Ausblick bieten muss. Sprachlos starre ich zu der verglasten Front hinauf, in der sich die tiefstehende Abendsonne spiegelt. Wie hat Matt es bloß geschafft, eigenhändig so ein Haus zu bauen?

Als ich ein Glucksen neben mir höre, springe ich vor Schreck in die Luft. Auf einer der Stufen der Treppe, die vom Rasen aus zu einer großen Veranda hinaufführt, sitzt eine braun-weiß gesprenkelte Federkugel. Ein Huhn. Kein normales Bauernhofhuhn, eher ein Waldhuhn. Ich erinnere mich daran, während meiner neun Sommer hier am See ähnliche Vögel gesehen zu haben. Das Huhn legt den Kopf schief und betrachtet mich eingehend.

»Nina?«, höre ich Papas Stimme. »Kommst du mit rein?«

»Ja«, rufe ich und werfe dem Vogel einen letzten Blick zu. »Da hinten sitzt ein Huhn«, sage ich, als ich Matt und meinen Vater erreicht habe.

»Ah, du hast Gretchen kennengelernt.«

Ich sehe Matt erstaunt an. »Wen?«

»Gretchen, das Tannenhuhn. Tannenhühner gibt es viele hier im Wald. Aber Gretchen ist ein Sonderling. Sie stand eines Morgens im Mai auf der Veranda und hat mich beobachtet. Seitdem folgt sie mir auf Schritt und Tritt.« Matt grinst und hält mir die Eingangstür auf.

»Ein Tannenhuhn, aus der Familie der Fasanenartigen«, sagt mein Vater, ganz der Biologielehrer, und zupft nachdenklich an seiner linken Augenbraue. »Tannenhühner gelten nicht als besonders scheu, darum werden sie im Englischen sogar ›Fool hen‹, also ›Narrenvogel‹ genannt. Wo sitzt das Huhn, Nina? Ich habe lange keines mehr gesehen.«

»Auf der hinteren Verandatreppe. Aber wolltest du dir nicht Matts Haus anschauen?«

»Geht schon einmal vor, ihr zwei«, sagt Papa.

 

Allein mit Matt zu sein steht heute nicht ganz oben auf meiner Prioritätenliste. Aber da er mir immer noch die Tür aufhält und die Moskitos das langsam als herzliche Einladung betrachten dürften, beeile ich mich, seinen Traum von einem Blockhaus zu betreten – von innen ist es genauso umwerfend wie von außen. Mein Blick wandert über den glänzenden Holzfußboden, die Wände aus runden Stämmen bis hinauf in den beinahe majestätisch wirkenden hohen Dachgiebel. Hier, im Wohnbereich, ist der Giebel mit seinen Deckenbalken offen einzusehen. Ein Stück weiter hinten im Raum beginnt ein Loft, der als obere Etage dient und über eine rustikale Holztreppe erreicht werden kann. Unterhalb dieses eingezogenen Stockwerks liegt die Küche; sie ist durch eine hölzerne Theke mit passenden Barhockern vom Wohnbereich abgegrenzt.

Neben mir räuspert sich Matt. »Wie du siehst, gibt es hier unten nur einen offenen Raum – bis auf das Badezimmer und eine Abstellkammer, die da hinten sind.« Er zeigt auf zwei Türen am Ende des Zimmers. »Und oben ist ebenfalls ein großer Raum. Willst du hinaufschauen?«

»Ja, klar.« Ich folge Matt, der leichtfüßig die Treppe vor mir hochläuft.

Hör auf, seinen Hintern anzustarren!

Der obere Bereich bietet, wie ich schon vermutet habe, einen spektakulären Ausblick. Man schaut über den offenen unteren Wohnbereich hinweg geradewegs auf den See hinaus. Vor dem Geländer, das den Loft begrenzt, stehen zwei Sessel; auf einem Fußhocker liegt eine Gitarre. Ich frage mich, wer hier abends neben Matt sitzt und den Sonnenuntergang bewundert, während er Gitarre spielt.

»Es ist wunderschön«, sage ich andächtig. »Du hast ein unglaubliches Haus gebaut.«

»Danke dir.« Matt lehnt mit verschränkten Armen an einem Stützbalken und sieht mich an. Mein Herz schlägt schneller. Vor allem, als mein Blick auf das Holzbett fällt, das im hinteren Teil des Lofts steht. Ein großes Bett. Sehr gemütlich.

Nina!

»Schönes Bett.« Habe ich das gerade laut gesagt?

Allerdings, seufzt Kleine Bärin.

»Hast du das auch selbst gebaut?«

»Ja.«

»Schöner – ähm – Ausblick. Von hier oben.«

Matt nickt und hört nicht auf, mich anzusehen. »Ja.«

Ich versuche, seinem Blick standzuhalten: »Du bist bestimmt sehr erfolgreich. Als Zimmermann, meine ich. Wenn du solche Häuser bauen kannst.«

»Die Geschäfte laufen ganz gut, ja.«

»Arbeitest du allein?«

»Nur bei kleinen Projekten. Carports. Gartenhäuser. Betten.« Ich könnte schwören, dass sein linker Mundwinkel zuckt. »Bei großen Aufträgen arbeite ich mit einem Zimmermann aus Lunenburg zusammen. Momentan bauen wir ein Haus für einen reichen Typen aus Toronto, der hier seine Sommer verbringen will. Traumhaftes Grundstück, direkt am Meer, außerhalb von Rocky Harbour.«

»Wow«, sage ich.

»Kinder, wo seid ihr denn?«

Ich zucke zusammen und frage mich, warum ich mich ertappt fühle. »Hier oben, Papa!«

»Wir kommen runter, Wolfgang.« Matt geht an mir vorbei, und der schwache Duft seines Aftershaves hüllt mich ein. Meine bescheuerten Knie sind schon wieder weich, als ich ihm die Treppe hinunter folge.

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Kapitel 5

Eine süße Verehrerin hast du da«, sagt mein Vater, der am Fuß der Treppe steht. Für den Bruchteil einer Sekunde befürchte ich, dass er von mir spricht. Dann fällt mir das Tannenhuhn wieder ein, und ich atme auf.

Während Matt meinem Vater das Haus zeigt und Papa in seinem holprigen Englisch lobt und kommentiert, bewundere ich den Kamin aus Natursteinen. Davor steht eine abgewetzte Ledercouch und lädt dazu ein, die Füße hochzulegen. Mein Blick bleibt an einem Bücherregal hängen. Ein hohes Regal, sicherlich auch selbst gezimmert. Voll mit Büchern, was an und für sich nicht verwunderlich wäre, wenn in diesem Haus nicht Matt Gates wohnen würde. Matt Gates, der wegen seiner Lese-Rechtschreib-Schwäche nur mit Ach und Krach den Highschool-Abschluss geschafft und gar nicht erst versucht hat, aufs College zu gehen. Verblüfft trete ich näher und lasse meinen Blick über die Buchreihen wandern: Neben einigen Klassikern wie »Moby Dick«, »Der letzte Mohikaner« und »Der Seewolf« stehen zahlreiche Thriller von John Grisham, Michael Crichton und Steven King. Ein Regalfach wird von National-Geographic-Ausgaben in Beschlag genommen, ein weiteres beherbergt Bücher über Blockhaus-Bau, die Flora und Fauna Ostkanadas, ein paar Bildbände und ein dickes Lexikon. Und – nein, das kann nicht sein. Ich bücke mich, damit ich das unterste Regalfach besser erkennen kann. Um ganz sicherzugehen, ziehe ich das Taschenbuch heraus. Ein rothaariges Mädchen schaut mich an. »Anne of Green Gables« von Lucy Maud Montgomery.

»Nina?« Ich fahre herum. Matt steht vor mir und sieht erst mich, dann das Buch, dann wieder mich an.

Kannst du zur Abwechslung mal nicht rot werden? Kleine Bärin zwirbelt genervt an der Möwenfeder in ihrem Haar.

Nein. Kann ich nicht. »Ich – ich habe zufällig dieses Buch im Regal gesehen, und …«

Matt blickt wieder auf das Cover zwischen meinen Händen. Er zuckt mit den Schultern und sagt: »Ja, ich wollte es vor ein paar Jahren mal der Tochter einer Freundin schenken, aber sie kannte es schon. Da ich den Kassenbon nicht mehr hatte, habe ich es behalten.« Er sieht wieder mich an, und in seinem Blick glaube ich die Frage zu lesen: Oder was dachtest du?

»Ach so, klar«, beeile ich mich zu sagen. »Ich bin überrascht, dass du so viele Bücher hast.« Verdammt, das klingt irgendwie anders, als es gemeint war. Ich mache eine Geste Richtung Buchregal und fahre hastig fort: »Ich meine, du hast doch früher nicht …?«

»Gelesen?«, vollendet Matt meine Frage. Ich nicke und stelle »Anne of Green Gables« zurück ins unterste Regalfach.

»Irgendwann habe ich mit dem Lesen angefangen«, sagt Matt und betrachtet nun ebenfalls die Buchreihen im Regal. »Allerdings immer mit dem hier in Reichweite.« Er greift nach dem Lexikon. »Ohne das ging am Anfang gar nichts. Inzwischen muss ich nicht mehr ganz so oft ein Wort nachschlagen, aber mit der Rechtschreibung hapert es trotzdem noch.«

Er lächelt, und ich erkenne eine Spur Verlegenheit in diesem Lächeln. An seinem linken Schneidezahn fehlt nach wie vor eine Ecke. Mit 15 Jahren bekam Matt einen Baseball ins Gesicht, und seine Eltern hatten nicht genug Geld, um den kleinen Schönheitsfehler am Schneidezahn ihres Sohnes beheben zu lassen. Entweder hat Matt nach wie vor nicht genügend Geld, oder es ist ihm inzwischen egal.

»Hier«, sagt er und reicht mir einen Stapel Klamotten, den ich gar nicht bemerkt habe. »Schau mal, ob etwas zum Anziehen für dich dabei ist.« Sein Blick wandert flüchtig zu der Stelle, wo unter meiner Strickjacke der Saftfleck ist. »Ich dachte, du würdest gern schon einmal duschen, während ich deinem Vater das Loft zeige. Handtücher liegen im Regal im Badezimmer. Nimm dir einfach, was du brauchst.«

»Ja, danke.«

Er sieht mich noch einen Moment lang an, dann dreht er sich um und geht zu Papa, der vor einer Kanada-Landkarte neben der Eingangstür steht. Mein Vater ist nicht nur Gymnasiallehrer für Biologie, sondern auch für Erdkunde. Wenn man ihn beschäftigen möchte, muss man ihn nur vor eine Landkarte setzen; dann hört man stundenlang nichts mehr von ihm.

 

Als ich die Badezimmertür hinter mir schließe, atme ich tief durch und lehne mein erhitztes Gesicht gegen das Holz des Türrahmens.

Warum zum Teufel wühlt es dich so auf, deinen Ex wiederzusehen?

»Wenn ich das bloß wüsste«, flüstere ich.

Und, stelle ich fest, es wühlt mich noch viel mehr auf, in seinem Badezimmer zu sein. Sein Deo neben dem Glas mit seiner Zahnbürste – das ist mir zu intim. Ich habe 14 Jahre lang keinen Kontakt zu meiner ersten großen Liebe gehabt. Und jetzt starre ich auf seinen überquellenden Wäschekorb, aus dem eine karierte Boxershorts heraushängt.

Um mich auf andere Gedanken zu bringen, schlüpfe ich eilig aus meinen Klamotten, drehe mein Haar mit dem Not-Haargummi aus meiner Umhängetasche zu einem Knoten und betrete die Duschkabine.

Andere Gedanken nennst du das? Hör auf, dir Matt nackt in dieser Dusche vorzustellen!

Ich schließe den Duschvorhang und versuche, Kleine Bärin draußen zu lassen. Was mir nicht gelingt. Sie kann wirklich penetrant sein. Als das heiße Wasser über meine verspannten Schultern läuft, seufze ich wohlig auf. Ich greife nach dem Duschgel – ein Männerduft, war ja klar – und seife mich ein. Jetzt erst fällt mir auf, dass in diesem Badezimmer keine Frauensachen zu finden sind. Kein Damenrasierer auf der Ablage in der Duschkabine, kein Duschgel mit Vanilleduft und keine zweite Zahnbürste im Glas auf dem Waschbecken.

Und weshalb freut dich das?

Keine Ahnung.

Solltest du dich nicht bei Sascha melden und ihm sagen, dass du gut angekommen bist?

Oh nein, das habe ich vergessen! Ich wollte ihn gleich nach meiner Ankunft am See anrufen. Wie spät ist es wohl? Als ich vorhin einen Blick auf die Wanduhr in Matts Küche geworfen habe, war es kurz nach 20 Uhr. In Berlin ist es also – ich muss meine Finger zum Rechnen benutzen – 1 Uhr nachts. Mist. Sogar Sascha, die Nachteule, dürfte jetzt schlafen, schließlich muss er morgen früh in die Kanzlei. Ich werde ihm eine SMS schicken, die er nach dem Aufstehen lesen kann.