Eine Postkarte ans Glück - Katrin Einhorn - E-Book

Eine Postkarte ans Glück E-Book

Katrin Einhorn

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Beschreibung

Come in and burn out! Als Marketingexperte und unverbesserlicher Workaholic ist Jakob, gerade mal Mitte dreißig, ein klassischer Burnout-Kandidat. Daher scheint ein Zentrum für Entschleunigung in einem verschlafenen spanischen Küstendorf genau das Richtige für ihn zu sein – findet zumindest seine besorgte Schwester. Schlamm- und Nervenkuren, Diskussionsgruppen, Handyverbot, ständiges Meeresrauschen: für Jakob der reinste Albtraum. Trotzdem stimmt er widerwillig zu und nimmt sich vor, dort ungestört zu arbeiten. Allerdings hat er die Rechnung ohne seine hübsche Therapeutin Mona gemacht.

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Seitenzahl: 322

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Über das Buch

»Wenn Sie bleiben wollen, müssen Sie sich an die Regeln halten.« Frau Püschel lächelte. »Das wird schon. Nur Mut.« Robotergleich bewegte Jakob seine Hand mit dem Handy nach vorne. Zentimeter um Zentimeter. Hinlegen, loslassen. Jakob hörte das leise Vibrieren. »Bitte, nur noch diese eine Mail!«, entfuhr es ihm. »Ich glaube an Sie.« Ungerührt schaltete die Therapeutin das Handy aus und legte es in den Safe. Dann verschloss sie die Tür, lächelte und ging, als ob nichts wäre.

 

 

 

 

Dieses Buch ist für alle …

 

… die gerade eine Pause brauchen

… die gerne barfuß am Strand spazieren

… die Oliven und/oder Olivenbäume mögen

 

 

und für das kleine weiße Reiskorn, das im Juni 2017 nach dem Essen noch an meiner Gabel klebte

 

 

 

 

Jakob sah auf die Uhr. Es blieben ihm noch genau vierzig Minuten. Dann sollte er, der freundliche, nette und, ja, auch gutaussehende ältere Bruder bei seinem Schwesterherz aufkreuzen. Immerhin feierte Nelly heute ihren dreißigsten Geburtstag. Und jetzt musste ein Geschenk her. Klar. Er wollte Nelly schließlich nicht enttäuschen. Gestresst blickte sich Jakob in der Geschenkboutique um. Dass er Hals über Kopf ein Präsent erstehen musste, war überhaupt nicht seine Art. Er war ein Planer. Ein Stratege. Für einen Marketingexperten, der Erfolg im Job haben wollte, ein Muss.

Eben dieser Umstand war ihm jedoch heute in die Quere gekommen. Genauer gesagt war es eine Marmelade, der die Agentur Kitze & Partner ein umfassendes Marketingkonzept auf den gläsernen Leib schneidern musste. Vier Wochen Schufterei lagen hinter Jakob. Unzählige Überstunden, Espressos, Kopfschmerztabletten und Panikattacken. Bis drei Uhr nachts hatte er noch an den letzten Unebenheiten der Präsentation gefeilt, mit der sich die Agentur gegen drei Konkurrenten durchsetzen musste, um den Auftrag zu ergattern.

Ein Geschenkekauf war im Gegensatz dazu ein Spaziergang. Sollte man meinen. Jakob irrte durch den Laden, kam an einem Ständer mit Halstüchern vorbei. Nein. Instinktiv schüttelte er den Kopf. Also nichts gegen Halstücher. Sie waren sehr nützlich. Ein Halstuch würde seine Schwester jedoch ganz bestimmt nicht aus den Socken hauen. Nelly war Designerin und besaß bereits hunderte von Tüchern, und wo kein Mangel herrschte, gab es keinen akuten Bedarf.

»In welche Richtung soll es denn gehen?«, wollte die Verkäuferin wissen, die ihm unauffällig gefolgt war. Eine gute Frage, auf die Jakob eine ebenso gute Antwort parat hatte. »Meine Schwester wird dreißig«, sagte er, »unkonventionell, kreativ, aufgeschlossen für Neues, mit hohen Qualitätsansprüchen.«

Die Verkäuferin würdigte die Analyse der Zielgruppe, genauer gesagt der Zielperson, nicht. Statt mit einem passenden Angebot aufzuwarten, starrte sie ihn an wie einen Staubsaugervertreter. Eine Denkpause später deutete sie auf eine Schachtel mit Glückskeksen.

»Vielleicht so etwas?«, fragte sie.

»Danke, aber das trifft es wohl nicht so ganz«, sagte Jakob, während er mit der rechten Hand seinen verspannten Nacken massierte. Er spürte, dass ihm die Präsentation bei Quant ganz schön zugesetzt hatte: Zweimal hatte er sich verhaspelt, einmal sogar eine falsche Zahl abgelesen – und das Ganze auch noch schwitzend, als stünde er nicht in einem klimatisierten Konferenzraum, sondern in einer finnischen Blockhaussauna. Er hätte sich nicht so aufregen sollen, aber das war leicht gesagt. Allein schon bei dem Gedanken an den Vortrag brach Jakob der Schweiß erneut aus. Schnell weiter zur nächsten Produktgruppe: Schreibwaren.

Sollte er seiner Schwester vielleicht einen edlen Füllfederhalter schenken? Keine schlechte Idee. Nelly gehörte zu den Menschen, die auf Reisen neben den üblichen Handyfotos hin und wieder auch Karten verschickten. Ein sympathischer Wesenszug, der Jakob an seine Brieffreundin Flora erinnerte. Er griff nach einem Füller mit Chromgehäuse. An Flora hatte er lange nicht gedacht. Seit dem verrückten Sommer waren bestimmt zehn Jahre vergangen. Oder sogar schon elf? Er sollte unbedingt mal im Internet nach ihr suchen. Jakob riss sich aus seinen Gedanken und verwarf die Idee mit dem Füller. Zu groß die Gefahr, dass das teure Stück unterwegs abhandenkam.

Weiter ging die Suche. Briefpapier? Unpassend. Flipflops? Zu banal. Eine Sonnenbrille? Den Geschmack seiner Schwester würde er ja doch nicht treffen. Eine Haarspange? Sinnlos, denn Nelly hatte ihr schwarzes Haar raspelkurz geschnitten.

Auf einmal war es wieder da, dieses Druckgefühl im linken Ohr. Jakob kannte es gut. Zu gut. Wenn er sich jetzt nicht augenblicklich entspannte, würde der Schmerz kommen und ihn bis zum nächsten Morgen nicht mehr loslassen. Dieser Schmerz, der sich immer dann wie eine eiserne Parkkralle um seine Schädeldecke klammerte, wenn es seinem Körper zu bunt wurde. Keine Panik, alles gut. Immerhin hatte er heute noch etwas Schönes vor. Eine Party, hey, das war doch super! Mal was ganz anderes und viel besser als Sofa. Also: Ruhe bewahren. Vielleicht sollte er Nelly sein Versäumnis einfach gestehen, ihr sagen, dass er vor lauter Stress nicht früher zum Einkaufen gekommen war. Dass er ein Geschenk nachreichen würde. Seine Schwester würde ihn verstehen. Sie waren keine Kinder mehr, und viel wichtiger als Geschenke war doch, dass sie Zeit miteinander verbrachten. Er würde sie ganz herzlich drücken und ihr erklären …

Plötzlich fiel Jakob ein, wie er Nelly im letzten Jahr an ihrer Wohnungstür begrüßt hatte. Mit leeren Händen! Und zwar aus dem gleichen Grund. Inklusive der Erklärung, zeitnah etwas nachreichen zu wollen. Ein Vorhaben, das er nie in die Tat umgesetzt hatte. Das konnte er nicht noch mal bringen.

Nein. Er brauchte ein Geschenk, und zwar auf der Stelle.

»Sind Sie fündig geworden?«, fragte die Verkäuferin.

»Noch nicht.« In diesem Moment plingte Jakobs Handy in seiner Hosentasche, und er zog es hervor. Eine Nachricht von Teddy. Er überflog den Zweizeiler und wurde von einem leichten Schwindel erfasst. Wenn eine Mail mit »Keine Panik Leute, aber …« begann, konnte es nur ein gewaltiges Problem geben. Und das, wo es der Agentur derzeit alles andere als rosig ging. Und wenn aus »alles andere als rosig« dann »katastrophal schlecht« wurde, rollten mit Sicherheit Köpfe. Aber Jakob wollte nicht gehen. Er hatte doch große Pläne!

Hastig wählte Jakob Teddys Nummer. Besetzt. Und während er noch sein Handy anstarrte, passierte es.

Sie schnappte zu.

Die Kopfkralle.

Auch das noch. Jakob fasste sich an die linke Schläfe. Weitersuchen brauchte er jetzt nicht mehr. Das dumpfe Dröhnen würde ohnehin jede noch so geniale Idee davon abhalten, in sein Bewusstsein vorzudringen. Er griff nach dem nächstbesten Gegenstand vor seiner Nase, stolperte zur Kasse und verließ den Laden.

Cadaqués, den 22. Mai

»Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten.«

Konfuzius

Wahre Worte, die perfekt zu diesem Sommer passen, denn meine Arbeit als Therapeutin ist wirklich ein Traum. Kein Wunder bei dem Arbeitsplatz: 879 Meter bis zum Meer – besser geht’s wirklich nicht! Nur die drei Überstunden heute hätte ich nicht zwingend gebraucht. Den neuen Geräteschrank musste ich aufbauen. Das klingt machbar, war aber viel Arbeit, weil an den Seitenwänden genau achtzehn Löcher fehlten. Na ja, was soll’s? Sachen, die man nicht ändern kann, muss man bekanntlich akzeptieren, und ohne Schrauben hätte dieser Schrank ziemlich alt ausgesehen. Joggen kann ich auch am Wochenende. Abgesehen von diesem Schönheitsfehler bin ich mit dem Tag sehr zufrieden. Die Kurse liefen gut, mein Kollege Lothar hatte nur mittelschlechte Laune und nach Feierabend war ich sogar noch kurz bei dem buckligen Olivenbaum. In diesem Sinne: Konfuzius, heißen Dank für die warmen Worte!

 

 

 

 

»Hey, ein Halstuch.« Nelly drückte Jakob ungeachtet seines verschwitzten Hemdes. »Danke, Großer!« Sie winkte ihn in die Küche. Er schaute sich verwundert um.

»Bin ich der Erste?«, fragte er.

»Es ist halb acht.«

»Du hattest für sieben eingeladen.«

»Das war, bevor die Riesenbestellung eingetrudelt ist. Stichwort: Modenschau. Schon vergessen?«

»Ach, stimmt ja.« Jakob schwieg betreten. Die Information war völlig an ihm vorbeigerauscht.

»Macht aber nichts, ich bin sowieso noch nicht fertig. Du kannst mir gerne helfen.« Nelly griff nach einem Granatapfel.

»Na klar.« Jakob rieb sich die Schläfe. Typisch, er hatte sich mal wieder völlig unnötig gestresst. Na ja, immerhin blieb ihm so mehr Zeit mit seiner Schwester. Außerdem hatte der Fußmarsch durch Düsseldorf die Kopfkralle gelockert, und das war viel wert. Er nahm eine Salatgurke und wusch sie unter dem kühlen Wasserstrahl in der Spüle ab. Schön, mal wieder etwas ganz Normales zu machen. Fast wie früher. Seit vier Jahren verbrachte er sogar das Wochenende am Rechner, und selbst gekocht hatte er ewig nicht. Er sollte das mal wieder angehen. Spätestens, wenn die Sache mit der Marmelade eingetütet war. Oder besser gesagt mit der »Marmolade« – der Fit-Marmelade mit dem frechen Marmor-Muster. »Wie viele Leute kommen eigentlich?«, fragte Jakob, um sich gedanklich nicht gleich wieder in das Thema zu verstricken.

»Etwa zwanzig.« Nelly malträtierte den Granatapfel mit einem Löffel derart rabiat, dass die Arbeitsplatte in kürzester Zeit wie ein Schlachtfeld aussah. »Nur Carlos nicht, aber das wusste ich ja vorher.«

Jakob reagierte nicht. Er starrte die Gurke an, während schon wieder die Präsentation vor seinem geistigen Auge aufploppte. War sie zu lang gewesen? Achtzehn Folien waren schon eine Menge. Hätte er zur Abrundung besser noch eine Fotografie mit eingebaut? Ein Steg im Morgenrot, ein Bambusrohr – dazu ein originelles Zitat zum Thema Zielstrebigkeit …

»In sechs Wochen fahre ich wieder runter«, fuhr seine Schwester fort. »Willst du nicht mitkommen?«

Jakob zwang sich, die Präsentation gedanklich beiseitezuschieben. »Theoretisch gerne«, sagte er. »Praktisch unmöglich.«

»Aber du brauchst auch mal Urlaub! Warst du dieses Jahr überhaupt schon in der Sonne? Stell dir vor, wie schön das sein könnte: Barcelona, Strand, Party und ganz viel Erholung!«

»Ende September nehme ich mir ein paar Tage frei.« Wenn nichts Unverhofftes dazwischenkam. Wenn er nicht mit der Marmelade oder einem anderen Projekt beschäftigt war. Wenn Teddy ihn nicht davon abhielt. Wenn – kurz gesagt – ein Wunder geschah.

Nelly sah nicht aus, als würde sie an ein solches Wunder glauben. »Du musst es wissen«, sagte sie.

Während Jakob noch sein linkes Ohr massierte, klingelte es an der Tür. Nelly wischte ihre verschmierten Hände an einem Handtuch ab und trabte in den Flur. Jakob checkte zum zehnten Mal sein Handy. Teddy steckte in einer Besprechung, hatte seine Assistentin ausrichten lassen. Er würde sich im Anschluss direkt melden.

»Machst du bitte den Salat fertig?«, rief Nelly ihm aus dem Flur zu.

»Klar, mach dir keinen Stress!« Jakob griff nach einem Löffel. Sein letzter Satz hallte in ihm nach. Mach dir keinen Stress. Logisch, warum auch? Angenommen, Stress wäre ein Produkt, wer würde es brauchen? Niemand! Zumindest Nelly nicht. Jakob schon eher. Eigentlich sogar dringend. Ohne Stress konnte er nicht denken, mit Stress lief das ziemlich gut. Die besten Ideen kamen ihm nicht in der Badewanne, sondern dann, wenn möglichst viele Reize zeitgleich auf ihn einprasselten. Ärgerlich war nur, dass Stress bei den meisten Menschen an negative Emotionen gekoppelt war. Und bei ihm an die Kopfkralle, die sich in solchen Situationen von Minute zu Minute fester um seine Schläfen spannte. Wie könnte man Stress vermarkten? Und wieso beschäftigte sich sein Hirn überhaupt mit dieser Frage?

Jakob hatte gerade die ersten Gurkenscheiben geschnitten, als er die Stimmen seiner Eltern hörte. Schnell wusch er sich die Finger.

Das taubenblaue Kleid seiner Mutter hatte viel mehr Falten als ihre Haut, die Nelly gerne mit Seidenchiffon verglich. Sein Vater war zur Feier des Tages in eine Outdoor-Weste geschlüpft. Fingerabdrücke zierten seine Brillengläser, aber in einer seiner hundert Westentaschen steckten bestimmt Reinigungstücher. Jakob würde ein solches Stück nie tragen. Optisch ähnelte er mit seinen dunklen Augen und dem mandelbraunen Haar ohnehin eher seiner Mutter. Bloß den Haarwirbel links über der Stirn, den hatte er von seinem Vater geerbt. Den Wirbel und seine Füße, die es leider nie über die Schuhgröße 41 hinaus geschafft hatten.

»Ich dachte, du hast es«, sagte seine Mutter gerade zu seinem Vater, als Jakob näher trat.

»Aber du warst doch am Kofferraum.«

»Um die Sachen einzuladen.«

Seine Mutter drehte sich zu Jakob um. »Hallo, Sohn«, sagte sie, während sie ihn drückte. »Papa hat Nellys Geschenk im Auto liegen lassen. Wärst du so lieb? Wir parken im Hof.«

»Klar, kein Problem«, sagte Jakob.

»Dann drucke ich in der Zeit noch schnell unsere Geburtstagskarte aus.« Seine Mutter zwickte ihren Mann in die Wange. »Hier hat nämlich am Wochenende jemand unseren Drucker zerlegt.« Sie lächelte, doch dann wurde sie ernst. »Sag mal, geht’s dir gut? Du siehst so blass aus.«

»Ich bin nur ein bisschen abgespannt«, sagte Jakob und sehnte sich unwillkürlich nach seinem Sofa. Doch dann riss er sich zusammen: Gleich würde Nellys Party beginnen, und eine Party war etwas Schönes.

Der Mercedes seiner Eltern stand neben dem Müllcontainer in der prallen Sonne. Jakob öffnete den Kofferraum. Was lag denn hier schon wieder herum? Zwei Säcke Zement, ein Berg Ziegelsteine, eine Maurerkelle, eine Wasserwaage und zwei Plastikeimer. Sein Vater wollte wohl den lange geplanten Bau der Gartenmauer in Angriff nehmen. Seit er vor sechs Jahren vom Arzt in den Vorruhestand geschickt worden war, stürzte er sich auf jede Aufgabe, die sich ihm bot. Jakob hob die Eimer hoch, beugte sich über die Zementsäcke – kein Geschenk. Auf dem Rücksitz? Nichts. Der Beifahrersitz war ebenfalls leer. Ob sie es zu Hause vergessen hatten? Jakob wollte die Kofferraumtür gerade zuknallen, als er den Zipfel eines goldenen Geschenkbandes entdeckte.

Na toll. Das Päckchen hatte die Breite einer Fußmatte und lag genau unter den Zementsäcken. Blieb nur zu hoffen, dass es kein Porzellanteller war. Jakob zerrte an dem obersten Sack, der nicht nur elend schwer war, sondern auch ein Loch hatte, aus dem ihm beim Anpacken sofort eine ordentliche Ladung Zementstaub entgegenkam. Warum zitterten eigentlich seine Waden so? Er sollte dringend etwas essen. Getrunken hatte er auch ewig nicht. Hustend beförderte er den Sack ein Stück nach rechts, als sein Handy klingelte. Endlich. Teddy. »Hast du meine Nachricht bekommen?«, wollte dieser wissen.

»Schieß los«, sagte Jakob. »Gibt’s was Neues?«

»Allerdings!« Teddy berichtete lautstark, was passiert war. Jakob stützte sich mit einer Hand am Kofferraum ab. So halb hatte er damit gerechnet, wenn auch nicht so früh und nicht in diesem Ausmaß. So halb rechnete er immer mit allem. Eine Vorsichtsmaßnahme, um von unangenehmen Überraschungen nicht allzu unangenehm überrascht zu werden.

»Kurz gesagt: Wir müssen einen neuen Ansatz entwickeln«, lautete Teddys Fazit. »Und zwar schnell.«

»Okay«, sagte Jakob, auch wenn diese Ansage alles andere als gut war. Vier Wochen Arbeit für die Tonne – und jetzt ein kompletter Kurswechsel.

Ex-Chef Meckler hatte die »Marmolade« als »freches Fit-Produkt« platzieren wollen, sein Nachfolger dagegen legte den Fokus auf die Werte »Familie« und »Tradition«. Ein Marmorkuchen sei schließlich auch nicht frech, sondern etwas, das die »Omma« backt – so sein Hauptargument.

»Wir sehen uns am Montag.« Teddys Verabschiedung klang wie eine Kampfansage. »Und bloß nicht aufregen. Diese Schlacht ist noch lange nicht geschlagen.«

Jakob rappelte sich auf. Kein Problem, sagte er sich, kein großes zumindest. Er hatte sich wochenlang umsonst abgerackert. Das konnte passieren. Und immerhin gab es ja sogar noch die Hoffnung, dass sie den Auftrag bekamen. Mit einem neuen Konzept war alles möglich. Er würde sich reinknien. Morgen war Sonntag, morgen hatte er Zeit. Heute nicht. Heute musste er sich entspannen, damit er den Kopf freibekam.

Das Päckchen steckte immer noch fest. Sack Nummer zwei wog laut Packungsaufdruck fünfzig Kilo, fühlte sich aber mindestens doppelt so schwer an. Kaum hatte Jakob ihn einen Zentimeter angehoben, wurde ihm schwindelig. Er setzte den Sack ab, wischte sich über die schweißnasse Stirn. Wie sollte er das bloß alles schaffen? Er wusste es selbst nicht. Schlafen, er musste unbedingt schlafen. Viel zu viele Nächte hatte er sich in letzter Zeit um die Ohren geschlagen!

Zum zweiten Mal klingelte sein Handy. Fahrig griff er nach dem Gerät. Ob es wieder Teddy war? Der ihm mitteilte, dass alles doch nur ein Missverständnis war? Dass sie den Auftrag so gut wie in der Tasche hatten? Dass er trotz der kleinen Versprecher gut präsentiert hatte? Er drückte sein Ohr an den Hörer. »Wo bleibst du denn?«, rief Nelly.

»Komme sofort.« Jakob sackte für einen Moment in sich zusammen, um sich nur eine Sekunde später wieder aufzurichten. »Mir ist nur … Kein Problem, ich bin fast …« Er zerrte an dem Geschenk, dachte an seinen Vortrag, an Nelly, die Marmelade, die Dame vom Einkauf, an Teddy, die falsch abgelesenen Zahlen, an sein Bett. Die Bilder rotierten in seinem Kopf, den die Kopfkralle zu umspannen begann, bis er auf einmal …

»Hallo, Jakob? Alles okay?«

Jakob nickte Richtung Handy, beide Arme fest um den Zementsack geschlungen. Liegen. Endlich.

Als er die Augen wieder aufschlug, beugte sich seine Schwester über ihn. »Jakob? Hörst du mich? Jakob!« Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Nicht bewegen. Ich hole dir was zu trinken!«

»Geht schon, kein Problem. Ich habe mich nur kurz ausgeruht.« Jakob richtete sich auf, wollte aufstehen, dynamisch wirken, und setzte sich schnell wieder, als er merkte, dass sein Kreislauf nicht mitmachte. »Ich habe zu wenig gegessen. Und zu wenig geschlafen. War alles ein bisschen stressig in letzter Zeit.« Oder genauer gesagt heute. Und gestern. Und ab morgen würde es noch viel stressiger werden.

Nelly sah auf ihre Uhr. »Was machen wir? Soll ich dich zum Arzt fahren oder nach Hause, oder willst du dich bei mir ein bisschen hinlegen?«

»Zum Arzt auf gar keinen Fall und hinlegen muss ich mich auch nicht, danke.« Jakob bemühte sich um ein verbindliches Lächeln. »Jetzt wird Geburtstag gefeiert.« Wieder vibrierte sein Handy. Wieder eine Mail von Teddy. Es gäbe nun ein offizielles Schreiben, bitte den Anhang lesen, Meeting am Montag um acht, zahlreiche Ideen wären dringend erwünscht.

»Jetzt leg doch mal dieses Ding weg«, sagte Nelly.

»Das geht nicht. Ich muss …« Jakob stand auf, schwankte einen Moment, hatte sich aber schnell wieder im Griff. »Kann ich kurz an dein Laptop?«

Nelly runzelte die Stirn. »Geht es um deine Arbeit?«

Jakob überlegte eine Millisekunde lang, ob er lügen sollte, entschied sich jedoch dagegen. »Zwei Minuten brauche ich. Na ja, drei. Zehn.«

»Das ist doch nicht dein Ernst.« Nelly schüttelte den Kopf. »Du bist wohl ordentlich auf den Kopf geknallt!«

»Bin ich nicht. Und schrei bitte nicht so.«

»Du musst dich ins Bett legen.«

»Es geht um meinen Job.« Jakob sprang auf – und merkte im selben Moment, dass das keine gute Idee gewesen war. Schnell klammerte er sich wieder am Kofferraum fest.

»Du brauchst eine Auszeit«, sagte Nelly. »Das ist ja nicht mehr normal!«

»Ich werde gebraucht.«

»Ganz genau.«

»Es geht hier um ein Riesending.«

»Ich spreche nicht von deinem Job.«

»Die Marmelade wird Kult!«

»Na schön.« Nelly baute sich vor ihm auf. »Dann lass uns bei deinem Lieblingsthema bleiben. Sonst verstehst du mich ja doch nicht.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Also, nehmen wir mal an, du wärst ein Produkt: Erzähl mal, wieso sollte ich dich kaufen?«

»Was soll das? Dafür gibt es tausend Gründe!«

»Nenn mir einen!« Sie kniff die Augen zusammen. »Was hätte ich von dir? Du arbeitest immer. Immer! Wenn wir alle hundert Jahre mal telefonieren, quatschst du mich mit deinem Marketingkram voll, und wenn wir uns sehen, denkst du auch bloß an die Arbeit. Dann kippst du um und gibst immer noch keine Ruhe. Warum sollte ich dich kaufen, warum?!«

»Weil ich für dich da bin! Wenn du mich endlich mal machen lässt, entwickele ich das perfekte Konzept für euer Atelier. Ich möchte dir helfen!«

»Dann nimm Urlaub. Damit hilfst du mir am meisten.« Nelly lehnte sich neben ihm gegen den Kofferraum. »Ich mache mir Sorgen um dich, Großer.«

»Das ist lieb, aber völlig unnötig.« Jakob sah auf seine Hände. Das Zittern hatte aufgehört.

Cadaqués, den 23. Mai

»Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen.«

Aristoteles

Der Morgen begann mit einer Überraschung oder besser gesagt mit der Ankündigung einer Überraschung. Alle Mitarbeiter wurden in den Teamraum gerufen, und da saßen wir und waren gespannt. Was hatte unsere Chefin vor? Hängematten für die Mitarbeiter? Eine Sommerparty mit Orangensaft bis zum Abwinken? Nein, ernsthaft, ich tippte auf eine Kooperation mit einem Wassersportclub, das war ja schon länger im Gespräch. Entspannung und Segeln – ein Traum! Leider ging es dann doch um etwas anderes, nämlich um ein Qualitätssiegel, das das Centro in diesem Sommer erhalten soll. Grundsätzlich eine gute Sache, aber andererseits auch eine Menge Arbeit, das sagte zumindest Frau Knopp. Na, mal abwarten. Ich bleibe entspannt!

 

 

 

 

Jakob hasste es, müde zu sein. Vor allem montags. Die »Marmolade« hatte ihn die halbe Nacht auf Trab gehalten und um halb fünf schon wieder aus dem Bett getrieben. Er blickte sich um, bevor er die gold-braune Aromaschutzverpackung öffnete und seine Nase hineinsteckte, als hätte er ein Inhalationsgerät vor sich. Italienischer Spitzenkaffee – meisterhaft geröstet seit 1812. Der Geruch entspannte ihn beim ersten Atemzug.

»Was machst du denn da?«, fragte Teddy, der eigentlich Theodor hieß und mit seinem schwarz-grauen Haar eher wie ein Dachs aussah als ein Bär.

Jakob fühlte sich ertappt. »Ich schau nur, ob die noch gut sind.« Er stellte die Packung wieder in das Fach über dem Kühlschrank. Wenn er in den Seilen hing, rettete ihn oft der Geruch frischer Kaffeebohnen.

Einen Espresso später saßen sie zu fünft am runden Tisch. Zu Jakobs Müdigkeit gesellte sich eine kribbelnde Aufregung. Nein, sie gesellte sich nicht nur dazu, sie verdrängte die Müdigkeit, und zwar erfolgreich. Kein Wunder! Gleich ging es ums Ganze. Um den neuen Ansatz. Um den Pokal, den der Mitarbeiter mit den besten Ideen nach Hause tragen durfte. Jakob schielte nach links. Da war sie: die Tür, die zu dem leerstehenden Büro führte. Schwarz lackiert, mit einem senkrechten neongrünen Streifen am Rand. Die neonschwarze Tür war zurzeit verschlossen – aber irgendwann würde sie sich öffnen. Und zwar für ihn!

Jakob öffnete den Reißverschluss seiner ledernen Schreibmappe, wollte seine Unterlagen hervorziehen – und stutzte. Wo war die Klarsichthülle? Er hatte sie in die Mappe gesteckt, das wusste er ganz genau! Fahrig blätterte er seine Papiersammlung durch. Tausend Tabellen, Grafiken und Kalkulationen, aber nicht die, die er dringend brauchte!

Ganz ruhig. Wo hatte er sie zuletzt gesehen? Jakob scannte seinen Erinnerungspool. Er hatte den kompletten Sonntag hinter dem Laptop verbracht, um Konzept II zu entwickeln. Gegen halb acht hatte er eine kleine sechsseitige Übersicht ausgedruckt und in eine Klarsichthülle gepackt. Diese war dann in seine Ledermappe gewandert. Die Mappe hatte er auf seinen Schreibtisch gelegt. Dann war seine Schwester gekommen. Mit Frikadellen, Nudelsalat und einem Prospekt im Gepäck. Sie hatten zusammen gegessen. Währenddessen hatte er ihr von seinen Ideen erzählt. Jakob presste die Lippen aufeinander. Das war der neuralgische Punkt! Er hatte ihr die Unterlagen gezeigt – und dann hatten sie sich gestritten. Das übliche Thema: »Hast du es bald? Jetzt komme ich extra bei dir vorbei, um nach dir zu schauen, und du quatschst wieder nur über die Arbeit! Jetzt iss doch mal was! Du bist eh schon so dünn. Und sieh dir endlich meinen Prospekt an!« Er hatte eingelenkt. Die Sachen weggelegt. Auf den Wohnzimmertisch. Und dann?

Jakob zermarterte sich den Kopf, während er planlos in seiner Mappe herumblätterte. Am Morgen hatte keine Klarsichtfolie auf seinem Tisch gelegen. Das wüsste er! Er hatte sie also irgendwohin gepackt, während er – wie so oft – mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen war.

Eine Minute nach neun. Jens trudelte mit der üblichen Verspätung ein, nun war die Runde komplett. »Also: Die Sachlage ist so klar wie ernüchternd«, sagte Teddy. »Der Meckler ist raus, der Emmerich fährt eine ganz neue Linie, die Konzepte passen ihm nicht in den Kram, es muss etwas Neues her. Frische Ideen. Alles – bloß kein Mittelmaß.«

Bei diesen Worten zuckte Jakob nicht nur innerlich zusammen. Mittelmaß. Ein böses Wort. »Ich muss noch mal ans Auto.« Er sprang auf. »Bin sofort wieder da.« Teddy runzelte die Stirn, aber die Falten würden sich schnell glätten, wenn Jakob seine Ideen präsentierte. Hastig verließ er den Raum.

»Kannst du Frühstück mitbringen?«, rief ihm Jens hinterher, als er gerade auf Höhe der neonschwarzen Tür war. »Ich falle um vor Hunger!« Bei Kitze & Partner herrschte die Tradition, dass montags immer einer zum Meeting Sandwiches organisierte. Jakob war eigentlich vor zwei Wochen an der Reihe gewesen, aber wenn er sowieso schon unterwegs war, konnte er auch das noch schnell erledigen. Er würde zu Feinkost Rummel rüberspringen und sechs Avocado-Frischkäse-Bagels besorgen. Jedes Engagement machte einen guten Eindruck, und ein guter Eindruck war extrem wichtig. Noch wichtiger war allerdings, dass er seine Unterlagen fand.

Der Beifahrersitz war leer. Der Fußraum ebenfalls. Auf der Rückbank und im Kofferraum gähnende Leere. Er musste die Sachen zu Hause vergessen haben! Entnervt verriegelte Jakob seinen Wagen und marschierte auf die Fußgängerampel zu.

Und dafür hatte er sich nun die ganze Arbeit gemacht? Elf Stunden hatte er über Konzept II gebrütet! Klar ließe sich grob etwas darüber erzählen, aber ohne seine Unterlagen könnte er eben nicht ins Detail gehen – und die Details waren entscheidend. Jakob beschleunigte seinen Schritt. Aufgeben kam für ihn nicht infrage. Er würde in der Mittagspause nach Hause fahren und seine Unterlagen ausdrucken oder herumschicken. So könnte er …

»Hey!«, hörte er sich auf einmal schreien, während er instinktiv einen Satz zurück machte. Nur eine Handbreit vor seinen Schuhspitzen rauschte der silbergraue Kombi vorbei, direkt auf den Bürgersteig zu, wo er gegen eine übervolle Mülltonne prallte und zum Stehen kam. Krachend fiel die Tonne um und entleerte ihren Inhalt auf den Asphalt. Irgendwie gelangte Jakob zurück auf den Gehsteig.

Eine Seniorin mit silberblondem Dutt stellte ihre Einkaufstasche wie einen Sanitätskoffer neben ihm ab. »Geht es Ihnen gut?« Die Frage klang zu sechzig Prozent nach Sorge und zu vierzig Prozent nach Tadel. Jakob nickte, den Blick starr auf den Lauch gerichtet, der aus der Einkaufstasche herausragte. Seine Arme und Beine zitterten, als wäre er mitten in Düsseldorf in einen Eissturm geraten.

»Sie hatten Rot.« Die Seniorin stützte sich auf ihren Regenschirm, dessen Knauf an eine stilisierte Blüte erinnerte.

»Ich war … völlig in Gedanken«, erwiderte Jakob.

»Das war sehr leichtsinnig.« Mit diesen Worten zog sie weiter zu dem Kombi, dessen Fahrertür im selben Moment aufflog. Der Fahrer – oder vielmehr die Fahrerin – stieg aus.

»Was soll das?! Sind Sie lebens-« Nelly verstummte. »Du?«

Jakob nickte bloß.

»Bist du irre? Du kannst doch nicht bei Rot über die Ampel rennen! Ich hätte dich fast umgemäht!«

»Ich hab nicht aufgepasst. Tut mir leid.«

»Ist dir eigentlich klar, was da alles hätte passieren können?!« Nelly sah aus, als würde sie ihm am liebsten einen Tritt verpassen. »Wir können froh sein, dass ich nur die Mülltonne erwischt habe!«

»Ich weiß«, sagte Jakob kläglich, während er eine junge Mutter beobachtete, die ihren Kinderwagen um die aufgeplatzten Müllbeutel herummanövrierte. Er fühlte sich schwammig auf den Beinen und noch schwammiger im Kopf. Die Seniorin stellte sich neben den Mülleimer und winkte ein herankommendes Pärchen um eine ausgelaufene Milchtüte herum, als sei sie eine Verkehrspolizistin.

»Mensch, Jakob.« Nelly klang auf einmal gar nicht mehr wütend, sondern richtig besorgt. »So kann das doch nicht weitergehen.« Sie lehnte sich gegen ihren Wagen. »Da fahre ich dir extra deinen Kram hinterher, und dann das!«

»Welchen Kram?«, fragte Jakob.

»Na, deine Unterlagen! Die habe ich gestern aus Versehen eingepackt, und sie waren dir ja so wahnsinnig wichtig. Hast du meine Nachricht nicht gelesen?«

»Dazu kam ich noch nicht!« Jakob wäre seiner Schwester am liebsten um den Hals gefallen. »Aber danke! Die habe ich schon überall gesucht!«

»Dachte ich mir. Ich hole sie sofort. Aber erst schieben wir noch den Müll zusammen.«

Die Seniorin, die sich immer noch als Verkehrspolizistin betätigte, sah mit besorgter Miene zu ihnen herüber.

»Du, ich müsste …« Jakob verstummte. Nein, das konnte er sie nicht fragen. Nicht, nachdem sie seinetwegen fast einen Unfall gebaut hatte. Nicht, nachdem sie ihm seine Unterlagen extra hinterhergefahren hatte. Nelly verstand ihn auch ohne Worte. »Kein Problem, Großer.« Sie riss die Beifahrertür auf, kam mit einer Klarsichthülle in der Hand wieder zurück. Jakob streckte seine rechte Hand aus, doch Nelly händigte ihm die Unterlagen noch nicht aus.

»Also: Du bekommst diese Blätter und ich räume den Müll weg. Aber dafür musst du mir eins versprechen.«

»Natürlich. Alles.«

»Nimm Urlaub.« Sie sah ihm direkt ins Gesicht. »Komm mit nach Spanien. Mach diese Kur, von der ich dir gestern erzählt habe. Die muss wirklich toll sein, und die Krankenkasse bezuschusst die sogar. Meine Freundin organisiert dir den Platz, und vielleicht kann ich dich sogar hinfahren. Ich muss ja sowieso oft nach Barcelona, und Cadaqués liegt quasi auf dem Weg.«

Jakob blickte auf die Unterlagen in Nellys Hand. »Das klingt toll, aber ich brauche keine Kur. Urlaub: ja, vielleicht. Aber eine Kur nicht. Ich bin nicht krank, ich habe nur ein bisschen viel um die Ohren.«

»Du hast doch den Prospekt gesehen. Das ist kein Krankenhaus, das ist eine Art Hotel. Die Veranstaltungen sind alle auf Deutsch, und du kannst da ganz tolle Sachen machen: Yoga, Massagen, Ernährungsberatung, Workshops zur Stressbewältigung – zwei Wochen Auszeit von allem!«

Jakob schielte auf seine Armbanduhr. Er hatte immer noch kein Frühstück besorgt, und das Meeting des Pitchteams lief schon seit zwanzig Minuten. Kollege Alex hatte bestimmt schon mindestens fünf strategische Optionen in die Runde geschmissen, und das war gefährlich.

Gemäß der Typologie des Sozialforschungsunternehmens Sinus zählte Alex mit seiner Leistungsbereitschaft zweifellos zur Kategorie der Performer. Das Problem daran: Performer wollen gewinnen. Seit Konstantin raus war, schwebte eine Frage im Raum der Agentur: Wer würde Teddys neuer Partner werden? Jakob träumte von dieser Position, seit er bei Kitze & Partner arbeitete. Seit sechs Wochen war dieser Traum in greifbare Nähe gerückt. Fehler durfte er sich nicht erlauben.

»Ich kann meinen Stress hervorragend bewältigen«, sagte er, während er sich ausmalte, wie er das leerstehende Büro bezog. »Wenn das mit der Marmelade läuft, wird alles besser, glaub mir.«

»Das ist Blödsinn. Ich weiß doch genau, wie es läuft. Nach der Marmelade ist es ein Bananenjoghurt oder ein Müsli und parallel dazu noch eine schwedische Landmilch und was weiß ich alles. Es wird nie weniger!«

Jakob beobachtete, wie die Seniorin ihren Posten an der Mülltonne aufgab und weiterzog. Er legte einen Arm um Nellys Schulter. »Nelly. Ich bin dir wirklich wahnsinnig dankbar, und ich finde es lieb von dir, dass du dir solche Sorgen machst. Aber ich brauche keine Kur. Vielleicht nehme ich Urlaub, wenn Teddy das absegnet. Aber eine Kur kommt nicht infrage.« Seinen Chef mit einer Schwäche konfrontieren? Ausgerechnet jetzt? Undenkbar!

Aus den Augenwinkeln bemerkte Jakob, wie ein Streifenwagen vorbeifuhr, aber zum Glück nicht anhielt. Nelly hatte ihn wohl ebenfalls entdeckt. »Musstest du nicht neulich ein Bußgeld bezahlen, weil du bei Rot über die Ampel gefahren bist?«, fragte Nelly.

»Ja, wieso?«

»Wenn so was mehrmals passiert, gibt es Punkte. Und soviel ich weiß, bist du ja oft ziemlich zügig unterwegs.«

»Du willst doch nicht ernsthaft die Polizei rufen, nur um mich zu erpressen!« Jakob zwang sich ein Lachen auf die Lippen, obwohl er seiner Schwester so einiges zutraute.

»Nein.« Nelly deutete auf den Wagen, der bei der nächsten Haltebucht zum Stehen kam. »Die kommt ganz von alleine.«

»Hey, was soll das? Ich dachte, du bist auf meiner Seite!«

»Ich bin auf deiner Seite!«, rief Nelly. »Und wie!« Sie sah ihn beschwörend an. »Nimm Urlaub. Mach die Kur. Erhol dich und werde endlich wieder ein Mensch.«

»Ich bin ein Mensch.« Jakob schielte zu den beiden Polizisten, die direkt auf ihn zuschritten. »Sag, dass du einer Katze ausgewichen bist! Bitte!«

»Versprich mir, dass du die Kur machst.«

»Aber ich will nicht!«

»Dann tut es mir leid.«

»Du kannst mich doch nicht erpressen!«

»Ich erpresse dich nicht. Ich werde nur nicht lügen.« Nelly blickte der Seniorin hinterher, die zwanzig Meter weiter auf einer Bank Platz nahm. Die Polizisten hatten ihn fast erreicht. Der ältere von beiden beäugte den Müll auf dem Gehweg, der jüngere Nellys Wagen. Ein einsamer Schweißtropfen rann Jakobs Rücken hinab. Er durfte sich keinen weiteren Punkt erlauben, sonst war sein Führerschein weg, und auf den war er angewiesen. Aber eine Kur? Er hatte keine Lust auf eine Kur! Und auch keine Zeit dafür. Es sei denn …

Auf einmal kam ihm ein Gedanke. Aber natürlich! Wo könnte er das Marmeladenkonzept besser ausarbeiten als am Meer? Entspannt, weit weg vom Tagesgeschäft, von klingelnden Telefonen und lästigen Terminen. Er könnte Yoga machen, am Strand spazieren, abends auf der Terrasse ein schönes Glas Wein trinken und zwischendurch seine Ideen ausarbeiten.

Und wenn sie dem Kunden gefielen, wäre es völlig egal, was die Agentur vorher zusammengezimmert hatte. Er müsste Teddy ja nicht von der Kur erzählen. Er könnte einfach Urlaub einreichen und fertig. Falls es Schwierigkeiten gab, könnte er zur Not auch erzählen, dass er seiner Schwester beim Vertrieb ihrer Designerstücke unter die Arme greifen müsste.

Jetzt standen die Polizisten vor ihnen.

»Okay«, sagte Jakob. »Sag deiner Freundin Bescheid, sie kann mich anmelden.«

»Im Ernst?«

»Ja.«

»Versprochen?«

»Ich werde wieder ein Mensch.« Jakob nickte. Das Versprechen war nicht gelogen. Mit einem perfekten Konzept in der Tasche würde er sich wieder wie ein Mensch fühlen. Da war er sich sicher.

»Guten Morgen«, grüßte der ältere der beiden Polizisten. »Gibt es ein Problem?«

»Nein, nein. Ich bin bloß einer Katze ausgewichen«, sagte Nelly. »Aber keine Sorge, den Müll räume ich sofort weg.« Sie streckte Jakob die Hand hin.

Er drückte zu.

Cadaqués, den 2. Juni

»Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.«

Goethe

Heute lag mir der erste Stein schon vor dem Frühstück im Weg, und zwar in Form eines 64-seitigen Fragebogens. »Liebe Frau Püschel, bitte bis morgen ausfüllen«, stand auf einem Zettel, der an dem Bogen haftete. Vom Personal über die Infrastruktur und die Therapieangebote bis hin zum pH-Wert des Badebeckens – alles wurde abgefragt. Es hatte nur noch gefehlt, dass ich für dieses Qualitätssiegel auch noch die Nahrungsvorlieben der Stechmücken angeben musste. Ein Riesenstein also, um mal bei Goethe zu bleiben, und ich hätte mich ordentlich darüber aufregen können – habe ich aber nicht. Letztendlich ging es doch nur um einen Stapel Papier. Anstatt mich zu ärgern, habe ich die Sachen durchgeackert und bin danach am Meer spazieren gegangen. Carpe diem!

 

 

 

 

Jakob konnte überall arbeiten: Im Zug, im Restaurant, selbst an einem Stehtisch mitten im Messetrubel wertete er Analysen aus und übersetzte Strategien in Maßnahmen. Es gab nur eine einzige Sache, die ihn am Denken hinderte: Stille. Stille machte ihn nervös. Zum Glück würde es auf der Fahrt nach Spanien keine stillen Momente geben, denn Nelly und ihre Geschäftspartnerin Annalena tauschten sich über das Abendessen, die Woche, das Leben oder was auch immer aus. Entscheidend war nur, dass sie sich nicht umdrehten, denn auf der Rückbank saß Jakob mit seinem Laptop und arbeitete. Nicht an dem Marmeladen-Konzept, das war passé. Den zweiten Pitch hatten sie sechs Wochen zuvor trotz ausufernder Nachtschichten ebenfalls verloren. Aktuell drehte sich in Jakobs Gedanken alles um Reis.

»Rizo« nannte sich die Produktlinie des Düsseldorfer Unternehmens »Graf Keilo«, das erlesene Reissorten aus fernen Ländern in Deutschlands Küchen bringen wollte. Der italienische Arborio-Reis, der rote Reis aus der Camargue sowie der zart duftende Jasminreis schmeckten sogar Jakob, und noch mehr schmeckte ihm natürlich die Vorstellung, für »Graf Keilo« zu arbeiten. Das Unternehmen wünschte sich eine strategische Beratung, Schwerpunkt Markenpositionierung, sowie ein Kommunikationskonzept.

Die Präsentation stand in genau drei Wochen an, eine Woche nach seiner Rückkehr aus Cadaqués. Wieder ein Pitch. Ein Workshop wäre Jakob anstelle dieses veralteten Prozederes bedeutend lieber. Vor allem, da sich das Pitchteam bisher nicht auf eine kreative Leitidee hatte einigen können und die Vorgaben des Unternehmens einigen Spielraum boten.

Die große Frage war: Wie brachte man den Reis, der im hochpreisigen Segment etabliert werden sollte, zu den hippen Feinschmeckern? Kollege Alex lag mit seiner Idee aktuell vorne – aber das hieß noch gar nichts. Jakob hatte mit Teddy ausgemacht, dass er während seines »Urlaubs« in Cadaqués an seinem Ansatz weiterarbeiten dürfe. Wie »Graf Keilo« zu der Idee stand, plante der Agenturchef beim anstehenden Briefing in Erfahrung zu bringen.

»Bist du schon entspannt, großer Bruder?«, fragte Nelly, während sie ihren Kombi mit hundertzwanzig Sachen über die nordfranzösische Autobahn steuerte.

»Ja. Wundert mich selbst, wie schnell das geht.« Jakob drapierte einen Pullover so über seinem Laptop, dass er die Rückseite des aufgeklappten Bildschirms und sein mobiles Ladegerät verdeckte. Sicher war sicher.

»Möchtest du was anderes hören?«, erkundigte sich Nelly fürsorglich.

»Radio ist gut«, murmelte Jakob, während er sich durch seine Dokumente klickte.

»Willst du ein Nackenhörnchen?« Nelly drehte sich halb nach ihm um, und Jakob war froh, dass er den Pullover passend positioniert hatte.

»Sag mal, ist dir kalt?« Sie drehte an dem Regler der Klimaregulierung.

Beifahrerin Annalena lachte. »Jetzt lass mal deinen armen Bruder in Frieden. Er ist vierunddreißig. Er wird sich schon melden, wenn irgendwas nicht stimmt.« Sie drehte sich nun ebenfalls nach ihm um. »Erzähl mal, Jakob, was ist das für eine Kur, die du da machst?«

Jakob verriegelte die Lüftungsklappen an der Mittelkonsole, um möglichst wenig warme Luft abzubekommen. »Eine richtige Kur ist es nicht. Es ist eine Art Wellnessurlaub mit speziellen Entspannungsangeboten.«

»So was wie Burnoutprävention also?«, fragte Annalena.

»Na ja, nicht ganz. Zumindest nicht für mich. Von Burnout bin ich Lichtjahre entfernt, das hat mein Arzt bestätigt. Ich habe nur einen leichten Vitamin-D-Mangel.«

»Aber er hat dir die Kur verschrieben«, wandte Nelly ein.

»Ich bin gefährdet, aber nicht krank. Ich habe viel um die Ohren, aber ich achte auf mich und nehme mir Auszeiten.« Jakob schielte auf sein Laptop.

»Ach ja? Wie denn?«, fragte Nelly.

»Zum Beispiel, indem ich mit Kollegen Kicker spiele. Wir haben einen extra Raum in der Agentur, da kann man wunderbar abschalten.« Im März war er sogar zweimal dort gewesen. »Außerdem sind wir einfach eine tolle Truppe. Und Teddy ist ein lockerer Chef. Bei Kitze & Partner fühlt sich die Arbeit überhaupt nicht wie Arbeit an.«

»Das klingt, als käme es aus eurem Imagefilm. Sag mal, glaubst du das wirklich?«

»Ich glaube es nicht, ich weiß es.« Jakob schielte auf sein Laptop. Seine Oberschenkel waren nassgeschwitzt.

Wieder drehte sich seine Schwester nach ihm um. »Ist dir immer noch kalt?«, fragte sie.

»Nein. Ich finde es gemütlicher so.«

»Dein Ernst?«

»Jetzt lass ihn doch«, sagte Annalena, die ihre langen roten Locken gerade zu einem Zopf zusammenband.

»Aber es sind zweiundzwanzig Grad hier drin!« Nelly warf schon wieder einen Blick auf die Rückbank. »Wirst du krank?«

»Schau bitte nach vorne.« Jakob wedelte mit beiden Händen Richtung Windschutzscheibe. »Das macht mich ganz nervös, wenn du dich ständig umdrehst.«

Nelly fixierte ihn einen Moment über den Innenspiegel. Unter diesem Blick schwitzten nicht nur Jakobs Oberschenkel. »Hast du da etwa ein Laptop?«, fragte sie.

»Ich bin nur im Internet«, sagte er.

»Du sollst nicht arbeiten.«

»Ich arbeite nicht.«

»Was machst du denn?«

»Ich schaue was nach.«

»Was denn?«

»Dies und das.«

»Du arbeitest.«

»Ich entspanne mich.«

Das war nicht gelogen. Die Arbeit entspannte ihn. Zwölf Stunden tatenlos im Auto herumzusitzen, würde ihn dagegen wahnsinnig machen. Über den Rand seines Laptops hinweg beobachtete er, wie Nelly und Annalena miteinander tuschelten. Jakob vertiefte sich wieder in seine Unterlagen. »Für den Vertrieb von ›Rizo‹ wird eine mehrkanalige Distributionsstrategie angestrebt. Hierzu zählen der direkte Vertrieb über das Internet sowie der indirekte Absatz über Supermärkte, Bio-Ketten und Online-Händler.«