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Zwei junge Frauen in den späten siebziger Jahren der DDR erleben während ihrer täglichen Arbeit in einem Kinderheim erste Gewissenskonflikte. Anna, die eigentliche Anarchistin, versucht, auszuharren und vergräbt sich in die Welt ihrer Bücher, tagsüber hinter ihrem wachsenden Sarkasmus. Isabel zweifelt daran, dass sich ihre Lebensträume verwirklichen lassen und wird sich entscheiden, das Land zu verlassen - aber wie?
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Seitenzahl: 227
Veröffentlichungsjahr: 2015
www.tredition.de
Ines Wegener
Eine unspektakuläre Geschichte
www.tredition.de
© 2015 Ines Wegener
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7323-0206-2
Hardcover:
978-3-7323-0207-9
e-Book:
978-3-7323-0208-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Ines Wegener
Eine unspektakuläre
‚Ein Igel müsste man sein oder eine Katze, auf jeden Fall geliebt und gefürchtet‘, dachte sie, sich nicht im Klaren darüber, warum sie sich momentan so schwach fühlte.
Und wie so oft in letzter Zeit fiel ihr Blick auf den Kalender.
Noch ein paar Monate und es würde endlich beginnen, das Leben in der Stadt, auch das Leben mit Gideon, wenngleich bei diesem Gedanken manchmal auch ein beklemmendes Gefühl ihr das Herz zusammenpresste.
Der nahende Frühling gab ihrer Sehnsucht nach dem Neuen, das sie sich so oft in ihren Tagträumen vorzustellen versuchte, immer wieder Auftrieb. Sie verabscheute diese zwei kleinen, kalten Zimmer in einer der ehemaligen Schnitterkasernen des Dorfes, Überbleibsel vergangener Gutsherrenzeiten, als hier noch Mägde und Knechte wohnten.
Sie begann sich umzuziehen, um dann zum Dienst zu schlendern; es war noch genügend Zeit, am frühen Nachmittag pünktlich dort zu sein. Der Weg, die Dorfstraße entlang, war kurz, vorbei an vier Häuschen, der winzigen Kneipe, der Baracke des Bürgermeisters und den Kuhställen, die wie die benachbarten Schweineställe einen tagtäglich wiederkehrenden, widerwärtigen Geruch ausströmten.
Hinter einem hohen schmiedeeisernen Tor schimmerte schon die helle Fassade des Kinderheimes.
Wieder dieser Druck in der Magengegend, wie immer, wenn sie dieses Haus erblickte. Ihre Arbeit genügte ihren Erwartungen nicht, sie füllte auch ihre Zeit nicht aus, in der sie den Dienst versah, obwohl sie viel Kraft investieren musste, um mit den Kindern ‚im Reinen zu sein‘, wie sie es bei sich nannte. Im letzten Herbst hatte sie nach ihrem Fachschulstudium noch eine Ausbildung zur Heimerzieherin abgeschlossen. Während des Studiums hatte sie Anna kennengelernt. Beide trainierten in einer Volleyballmannschaft; ab und zu stand ein Spiel in der Kreisliga an. Die ihr damals doch so unsympathisch erschienene, stets provozierende Anna war seit fast einem Jahr ihre Kollegin und ihr hier zur einzigen Freundin geworden. Bei dem Gedanken an Anna seufzte Isabel unbewusst – gut, dass man nicht allein war hier am erklärten ‚Ende der Welt‘.
Kramer, der Fahrer des roten Wagens, einem betriebseigenen Moskwitsch, winkte einen kurzen Gruß und lächelte wieder einmal sehr vielsagend. Isabel vermutete dahinter eine nicht geringe Schlitzohrigkeit, ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum sich dieser Eindruck seit der ersten Begegnung verfestigt hatte.
Kaum vorstellbar, dass sie sich jemals an diese Atmosphäre im Heim gewöhnen könnte. Nie hätte sie geglaubt, dass es in einer solchen Gemeinschaft von Erzieherinnen derart heuchlerisch zugehen konnte; noch dazu hinter einer freundlich scheinenden Maskerade, hinter der sich die meisten verbargen und die, wenn es darauf ankam, ihren Mund hielten und ‚mein Name ist Hase‘ beteten.
Isabel hatte sich dabei ertappt, dass auch sie, sobald sie das Heim betrat, nicht mehr sie selbst war. Sie passte sich dem Trott an, ihre Gespräche mit den anderen gingen nicht über das Gewöhnliche hinaus. Sie wohnte jetzt nahe der polnischen Grenze in der tiefsten vorpommerschen Provinz, wo es nur Bauern und Großbauern gab. Andere schienen schlichtweg nicht zu existieren. Auch jetzt, als sie sich dem Eingang näherte, wünschte sie, wieder umkehren zu können.
Laut schnappte die schwere Tür ins Schloss, nachdem man eingetreten war.
Es duftete nach Kaffee, ein sicheres Zeichen dafür, dass mehrere Erzieher auf der oberen Etage im Erzieherzimmer anwesend waren.
Auf dem letzten Treppenabsatz steckte Isabel ihre Hände in die Taschen ihrer Schürze. Es war vorgeschrieben, während des Dienstes eine Schürze zu tragen. Die Farbe ihrer Schürze war rot. Unbewusst schüttelte sie den Kopf über diese für sie ärgerliche Tatsache; denn die Farbe Rot stand für eine Gesinnung, nicht für persönliche Vorlieben. Nun gab es aber weit und breit keine andere Schürze in ihrer Größe und in einer anderen Farbe.
Im Vorübergehen sah sie in zwei der Schlafräume, in denen die Kinder, wie gewöhnlich um diese Zeit, nach der Mittagsruhe herumtobten und sich auch beim Anblick einer Erzieherin nicht im Mindesten in ihrer Lautstärke zurücknahmen. Bald würde Isabel lernen, diese kleinen Momente der Ausgelassenheit zuzulassen und ihre Bedeutung einzuordnen.
Die Bemerkungen der Frau Ziegner über ihren ‚ach so schön gestrickten Pullover‘ überhörte Isabel und ließ sich für die verbleibenden Minuten bis Spätdienstbeginn auf der Couch neben Anna und Sabine nieder.
Möglichst unauffällig fragte Anna:
„Wie lange hast du Dienst?“
„Bis sieben”.
„Kommst du heute mal hoch? Hab ’ne Flasche Roten da.”
„Mal sehen. Gehst du heute Abend duschen? Lass mir ’n bisschen warmes Wasser übrig!”
Anna verabschiedete sich: „Bis dann … eff-eff!”, was so viel hieß wie ‚Viel Vergnügen!‘
Sie ging nach oben. Anna bewohnte im Kinderheim ein kleines Zimmer unterm Dach. Es lag gleich neben der Nähstube und, wie sie gern meinte: ‚über dem Kopf der Chefin‘, deren private Etagenwohnung sich genau darunter befand.
Noch auf der Treppe hörte Isabel das Geplapper der Ziegner, die über den Jugendfürsorger Hohmann zu berichten wusste, dass er ständig nur betrunken ins Heim käme und natürlich auch bei den anfallenden Feierlichkeiten, wie Weihnachten, am 1. Mai und ganz besonders gern am ‘Internationalen Frauentag’, um hier fröhlich weiter trinken zu können!
Diese kleine Frau Ziegner mit ihren vielen Fältchen um den verkniffenen Mund war erst achtunddreißig, Mutter von sieben Kindern und bereits Großmutter von zwei Enkelkindern. Sie fuhr jeden Tag mit dem Rad zum Dienst. Wie fast alle Kolleginnen wohnte sie in einem der benachbarten Dörfer.
Sie führte keine glückliche Ehe, ihr Mann trank häufig. Vielleicht tröstete sie deshalb das Missgeschick anderer, dachte Isabel. Sie hatte auf jeden Fall den Eindruck, dass mit dieser Frau nicht immer gut Kirschen essen war. Konnte man es also diesem Manne übelnehmen, dass er – vielleicht zu viel – trank?
Pünktlich um vierzehn Uhr ging Isabel in die Schlafräume, um die Kinder aufstehen zu lassen. Sie zog die Vorhänge zurück, öffnete die Fenster. Grelles Sonnenlicht flutete in die Räume. Von hier oben unterm Dach glitt ihr Blick weit über die Felder hin bis zum Horizont, der mit seiner Weite und Wärme in die Ferne lockte.
Ihre Gedanken waren bei Gideon. Was machte er jetzt wohl gerade? Hatte er am Nachmittag noch Vorlesungen oder ging er gerade jetzt, während sie mit ihrer Arbeit begann, durch seine Stadt?
Die kleine Karola, eines der bildhübschen Zigeunerzwillingsmädchen, rief mit schadenfroher Stimme:
„Fräulein Wagner, Karina hat auf den Fußboden gepinkelt!”
Viel zu laut schrie Isabel, noch bevor sie sich zusammennehmen konnte:
„Du Ferkel! Geh und mach das sauber! Ja, sag mal, wozu ist eigentlich die Toilette da?!“
Sie erschrak über ihre eigenen Worte. Sie konnte sich selbst nicht ausstehen, wenn sie solche Wutausbrüche hatte. In letzter Zeit kam es immer häufiger dazu, dass es so aus ihr herausbrach. Dabei nahm sie sich tagtäglich vor, mit den Kindern geduldiger zu sein.
Erst gestern hatte sie der kleinen Miriam zum x-ten Male gezeigt, wie man einen Wasserhahn benutzt.
Das dünne, blonde Mädchen war vier Jahre alt, aber so stark retardiert, dass die einfachsten Verrichtungen gelehrt werden mussten. Als das Mädchen ins Kinderheim gebracht worden war, erzählte der Fürsorger, dass es von der Mutter lange Zeit in einer Bodenkammer festgehalten und nur spärlich versorgt worden war. Miriam war sichtlich unterernährt. Vor jeder Treppenstufe blieb das Kind ängstlich stehen; es hatte nie gelernt, eine Stufe zu überwinden, eingesperrt in einem winzigen Zimmer, ohne jemals eine Treppe, einen Garten oder eine Straße gesehen zu haben.
Nachdem Isabel das letzte Mal nach ihren vier freien Tagen, die es nach vierzehntägigem Dienst gab, zurückgekehrt war, musste sie leider feststellen, dass Miriam wieder ängstlich vorm Wasserhahn stehenblieb. Die Ziegner hatte in ihrer Dummheit die bequeme Gangart wieder eingeführt und der kleinen Miriam ein älteres Mädchen zur Seite gestellt, das ihr alle „Arbeit” abnehmen sollte.
Nach dem Essen im Gruppenraum gingen alle auf den großzügig ausgestatteten Spielplatz. Hinter dem Vorschulkinderheim, einer ehemaligen Gutsbesitzer-Villa, im Dorf nur ‚das Schloss‘ genannt, befand sich ein Park, der früher sehr schön gewesen sein musste. Jetzt erinnerte nur noch die Terrasse zum Spielplatz daran, dass man hier schon prunkvollere Tage gesehen hatte. Aus Erzählungen Helenes, einer der Nachtwachen, wusste Isabel, dass es einen kleinen Bach gab, der sich im Morast des angrenzenden Waldes verlor. Früher sei er sehr klar und sauber gewesen und man habe seinen Lauf bis ins nächste Dorf verfolgen können.
Mit den Kindern durch den Wald zu gehen, war ein kleines Wagnis, da die Wege ziemlich aufgeschwemmt und mit vielen knorrigen, übermoosten Wurzeln durchzogen waren.
Es sollte auch einen unterirdischen Geheimgang vom Schloss bis ins Nachbardorf zum „Leichensee” geben. Dieser Gang stammte, wenn man den Erzählungen glauben konnte, noch aus der Zeit der Raubritter. Der „Leichensee” hatte seinen Namen daher, dass man sich wohl dort aller unliebsamen Eindringlinge entledigt hatte.
Müde und verschwitzt von der warmen, stickigen Luft des Schlafraumes stieg Isabel die knarrenden Stufen zu Annas Zimmer hinauf. Eine Wolke von Zigarettenrauch umhüllte sie, als sie nach kurzem Klopfen – wie gewöhnlich, ohne eine Antwort abzuwarten – die Tür öffnete. Natürlich konnte sie sich einen Vorwurf über dieses ausgeprägte Laster der Freundin nicht verkneifen. Darauf folgte ebenso erwartungsgemäß ein ironisches Lächeln Annas, die sich mal wieder eine Antwort ersparte.
„Na gut”, meinte Isabel nun, „gegen einen Wein habe ich nichts einzuwenden“ und lächelte versöhnlich zurück.
Auf dem Plattenspieler Beethovens “Neunte”. SCHWEIGEN.
Während Anna wie immer den Aschenbecher, eigentlich besser den Gegenstand, den sie gerade dafür hielt, suchte, fragte Isabel:
„Könntest du nächsten Freitag eher runterkommen? Ich fahre übers Wochenende nach Leipzig.“
„Klar. Dreizehn Uhr?”
Ja, das müsste reichen. Weißt du, Hauptsache, ich schaffe es bis zum Bahnhof. Sonst ist mein Anschluss weg.“
„Was willst du jetzt hören? - - Stell dir vor, ich hab die Flöte doch noch bekommen!“
Anna zeigte auf eine neue Errungenschaft ihrer umfangreichen Instrumentensammlung, zu der ausser einiger Gitarren und Flöten auch eine Bouzouki und eine Mandoline zählten.
„Guck’ dir bloß mal die Sammlung an, wenn das meine Mutter sehen könnte, die würde mir doch glatt ‘n Vogel zeigen!“
Isabel lächelte amüsiert und bat:
„Leg’ mal ‚LIFT‘ auf, ja!?“
„Hmmhh …”
„Einmal fällt der erste Reif“…
Isabel fröstelte.
Sie stand am Fenster, das nur eine kleine Dachluke zum Himmel hin war. Sie wusste nicht recht, ob sie sich erkältet oder nur so ein Fiebergefühl hatte, das kam und ging, das man wieder vergaß.
Es gab nichts zu sehen da draußen. Nicht ein Stern am Himmel. So hoch man sich auch reckte, keine Lichter in noch so weiter Ferne.
Mit dem Rücken zu Anna meinte sie:
„Deine Aussicht ist wirklich klasse!”
Sofort prusteten die beiden laut los und konnten sich minutenlang nicht beruhigen.
Ja, manchmal konnte man alles nur mit Humor ertragen. Den Schichtdienst, die einfältigen, ungelernten, ungetrübten Gemüter.
War das schon überheblich? Nein, es war nur so deprimierend. Man hatte sich doch voller Energie in den Beruf gestürzt und nun trat man so auf der Stelle!
„Du, ich hab das Bild jetzt fertig … was meinst du? Also, na ja, ich bin eigentlich ganz zufrieden, vor allem mit den Farben. Ich hab’ mich getraut!“ Dabei zog Anna das „au“ ganz lang.
„Bloß die Perspektive haut noch nicht richtig hin.”
„Ich würde die Bank nicht hierher setzen; ja, hast recht, stimmt irgendwie nicht ganz. Aber sonst gefällt’s mir!”
Anna zündete sich eine neue Zigarette an und blinzelte. Sie sah in diesem Moment sehr unternehmungslustig aus. Abwartend schaute Isabel zu ihr hinüber, die noch meinte:
„Mal’ doch den Hintergrund noch mal extra … weißt du, wie ich’s meine …? Und dann führst du’s weiter aus, als ob es neu wär’, hm! ? Ich geh’ jetzt erst mal duschen!“
An ihrer Zimmertür angekommen, fand sie unter dem Türschlitz einen Brief. Der Bescheid war da. Das Versetzungsgesuch war genehmigt worden. Isabel rannen die Tränen übers Gesicht. Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal vor Freude geweint? Ich hab’s geschafft, dachte sie, ich hab’s geschafft!
Pädagogische Beratung.
Alle waren im Erzieherzimmer versammelt: Erzieherinnen, Chefin, Fachberaterin, es fehlte nur Frau Martin, genannt Helene, die heute Nachtwache hatte. Niemand erwartete von ihr, dass sie hier erschien.
Die Blum, eine Wasserstoffsuperoxid-Blondine wie aus einer 50er-JahreWerbung (Isabel wusste nicht, ob es die wirklich so gegeben hatte, aber sah immer ein fiktives Kino-Plakat vor sich …) war als Fachberaterin aus der Kreisstadt ins Kinderheim geschickt worden. Sie wollte am nächsten Tag beim Sport anwesend sein. Dazu hatte diese unübersehbare, etwas aufreizend wirkende Blondine noch Sonderwünsche: Turnen im Gruppenzimmer. Ausgerechnet morgen, dachte Isabel, warum muss die gerade jetzt bei mir hospitieren?
Immerhin waren die meisten Kinder wochenlang krank gewesen. Fast den ganzen Februar über gab es ein Krankenlager im Klub-Raum; bis dann alle mal ‚durch’ waren, wie Anna sagte, die selbst zu dieser Zeit an einer Lungenentzündung herum laboriert hatte.
Wochenlang sich hinziehende Malerarbeiten im ganzen Haus, die Kinder schliefen erst unten; die meisten hatten einen grippalen Infekt, einige von ihnen auch hohes Fieber. Nun war kein Platz im Haus, dann wieder der Umzug in die neuen Schlafräume, die nach frischer Farbe rochen.
Alle Gruppenräume waren über diesen gesamten Zeitraum fast vollständig ausgeräumt. Die Turnhalle war bis zur Decke mit allem möglichen Inventar gefüllt.
Seit Wochen aßen und spielten die Kinder im Klub-Raum, dessen einzige Zierde ein verstimmtes Klavier war.
Und jetzt? Von heute auf morgen sollten sich die Kinder auf das kleine Gruppenzimmer umstellen.
Eine Bilderbuch-Turnstunde für die Fachberaterin vorführen? Das musste ja schiefgehen!
Isabel spürte wieder dieses beklemmende Gefühl in der Magengegend, die ‚kalte Wut’, wie sie es bei sich nannte. Sah sie in die Gesichter der anderen, so spiegelten die von offensichtlichem Unbeteiligtsein bis zu schlecht verborgener Schadenfreude so ziemlich alles wider.
Obwohl sie einen etwas ungünstigen Platz hatte, von dem aus sie Annas Gesicht nicht sehen konnte, konnte sie ihr breites Dauergrinsen erahnen.
Nach der pädagogischen Beratung, die sich unnötigerweise wieder einmal über zwei Stunden hingezogen hatte, spottete Anna:
„Typisch, statt sich mal mit der Jablonski auseinanderzusetzen, die hier völlig fehl am Platz ist, kommen sie lieber hospitieren, um auf ihren Papierchen abzuhaken, dass sie sich um uns kümmern!”
„Am meisten regt mich diese Falschheit auf, erst haben alle ‘ne große Klappe, dann tun sie, als wollten sie Löcher in den Fußboden bohren”, ärgerte sich Isabel.
Zustimmend nickte Anna.
„Und die Blum weiß genau, wie es hier zugeht. Darum ist sie ja auch weg hier. Hab ich dir noch nicht gesagt, dass sie eine Zeit lang auch im Heim gearbeitet hat?”
„Ah, na, dann ist mir alles klar. Typisch, vor den Kindern davonlaufen, selber keine Ahnung, aber das Rad neu erfinden und uns Ratschläge erteilen”, schimpfte Isabel.
„Machen wir jetzt einen?“, fragte Anna.
„Was?“, stutzte Isabel, um einen Moment später darüber zu schmunzeln.
„Ja, wir könnten jetzt ein Rad schlagen - wenn ich’s noch kann“, rief sie und beide taten so, als ob.
Dann schwieg sie und machte sich mit dem Gedanken vertraut, den Rest des Abends, vielleicht auch einen Teil der Nacht, für eine ausführliche Planung der Turnbeschäftigung zu nutzen.
Es war Anfang März. Der Schnee hatte noch nicht einmal für kurze Zeit die Farbe der Erde freigelegt.
Zur Feier des Internationalen Frauentages, die mit dem technischen Personal und den Kindern, wie üblich an Feiertagen, im Klubraum stattfand, kamen auch zwei Vertreter des Rates des Kreises.
Nach einem kleinen Programm, das Anna und Isabel mit den Kindern eingeübt hatten und das ohne Schwierigkeiten oder Pannen verlief, kam man zum sogenannten ‘feierlichen Teil’. Prämien und Belobigungen gab es für viele. Isabel zuckte zusammen, als ihr Name aufgerufen wurde.
Ein kurzer Blick zu Anna - natürlich hatte sie es gewusst! Der Inhalt der Belobigungen wurde verlesen. Es war eine kleine Anerkennung für die anstrengenden Wochen der Improvisation, während derer die erkrankten Kinder in der unteren Etage untergebracht werden mussten, weil zu alledem auch noch die Maler im Haus waren.
Damals hatte Anna eine langwierige komplizierte Lungenentzündung, die Chefin einen Nervenzusammenbruch, eine der Nachtwachen ein operiertes Knie und es schien völlig unmöglich, den Dienst zu versehen. Es bedeutete, über vierzig Kindern das Essen zu bringen, sie zu waschen, Temperatur zu messen, Tabletten, Tropfen und Zäpfchen zu verabreichen.
Trotzdem mussten für die anderen noch Spiele angeboten und Geschichten vorgelesen werden, und das alles von morgens bis abends, bis die Nachtwache um neunzehn Uhr zum Dienst erschien.
Dies Alles bewirkte bei Isabel, dass sie eine Zeit lang unter Schlaflosigkeit litt. Sie hatte Albträume; den Dienst noch einmal vor sich abspulend, schloss sie die Augen und erlebte fast haargenau noch einmal den vergangenen Tag. Nachdem Gideon sie plötzlich für drei Tage besuchte, hatte sie das Gefühl, alles nur geträumt zu haben. Eines Abends schrie sie im Schlaf laut auf, sie lauschte ihrer Stimme und wusste, sie hatte nach zwei Jungen aus Annas Gruppe gerufen.
Nach Gideons Abreise bekam sie eine fieberhafte Virusgrippe. Trotzdem ging sie zum Dienst. Wer sonst sollte jetzt bei den Kindern sein?
Heute lag das alles so unwirklich lange zurück und klang doch so selbstverständlich, wenn man diese Belobigung las.
Nach ein paar Tagen erschien unangemeldet die Fachberaterin Blum zu einer zweiten Hospitation. Was hatte das zu bedeuten?
Es war keine Chefin im Hause, die erste Beschäftigung mit den Kindern hatte bereits begonnen. Auf dem Plan standen jeden Vormittag zwei Angebote für eine mittlere Altersgruppe, die von einer Pause unterbrochen wurden.
Alle saßen nun in einem Stuhlkreis an der Fensterfront.
Heute sollte es darum gehen, den Kindern im Sachgebiet „Gesellschaft“ neue geografische Kenntnisse zu übermitteln.
Isabel hatte gerade angefangen, als die Tür aufging und die Fachberaterin Blum wortlos – um ja nicht zu stören, natürlich! – und mit einem fast triumphierend charmanten Lächeln eintrat. Sie setzte sich und fing sofort an, sich Notizen zu machen.
Isabel war erstaunlicherweise besonders ruhig, wie sie es nicht immer von sich kannte. Sie war sicher, dass diese Beschäftigung gut verlaufen würde.
Und sie wurde auch nicht von den Kindern enttäuscht.
Irgendwie empfand sie es als Schikane, dass nur bei ihr – und ohne vorherige Ankündigung – hospitiert wurde. Das hatte es vordem nicht gegeben. Sie konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass selbst die Leiterin nicht darüber informiert worden war. Sie wusste auch nicht, dass die Blum sich von allen anderen Erzieherinnen schon lange vorher ein Bild gemacht hatte.
Als es ans Fenster klopfte, war es Anna, die sich für gewöhnlich so anmeldete. Sie kam vom Konsum, dem einzigen Lebensmittelladen und letzten Gebäude am Ende des kleinen Dorfes.
Isabel brauchte gar nicht erst zu öffnen. Üblich war es, dass Anna direkt nach diesem Klopfen hereinkam. Zu selten hatten die beiden Gelegenheit, sich einen Nachmittag lang zu unterhalten. Meist fanden die Gespräche in Annas kleinem zigarettengeschwängertem Dachzimmer statt, bevor eine der beiden wieder zum Dienst erscheinen musste.
Heute nun duldete Isabel Annas Zigarettenschwaden bei sich. Schließlich konnte man in diesem gottverlassenen Nest nirgendwohin gehen. In der einzigen Kneipe, die, einschließlich des Stammtisches, schätzungsweise zwanzig Leuten Platz bot, saßen Rentner, minderjährige Großmäuler und betrunkene Bauern, die tagsüber im Kuh- oder Schweinestall ihre Arbeit getan hatten. Hörte man die Geschichten der Alten und machte sich einen Reim darauf, so hatte man manches Mal das beklemmende Gefühl, hier im Dorf sei die Zeit stehengeblieben; ja, hier sei man ‚am Ende der Welt‘.
Bisher war es Isabel nicht gelungen, dieses Unbehagen abzustellen, das sich einstellte, wenn sie beim sonntäglichen Spaziergang mit den Kindern durchs Dorf ab und zu eine Gardine vors Fenster fallen sah, hinter der sich argwöhnisch die alten Bäuerinnen versteckten. Man wurde auf Schritt und Tritt beobachtet, aber das war halt so auf dem Dorf.
Jedes Mal, wenn sie Anna von diesen frostigen Eindrücken erzählen wollte, winkte die entweder lässig ab oder vergab Ratschläge, wie man sich in solchen Situationen zu verhalten hatte.
„Mach dir nichts draus!“, beruhigte Anna die Freundin, „die sind so, die haben ’ne Stinkwut auf alles, was im Heim beschäftigt ist, ganz gleich, ob Erzieher oder sonst wer!”
„Wieso denn jetzt noch? Manchmal komme ich mir vor, als käme ich von ’nem andern Planeten. So gucken sie mich jedenfalls alle an.”
„Nein, nein, wir sind hier nur nicht gern gesehen. Stell dir vor: damals, nach dem Krieg, sollte das Schloss den Bauern übergeben werden, sozusagen Kulturhaus LPG. Die hatten eine halbe Ewigkeit damit zu tun, das Hakenkreuz überm Eingang zu entfernen. Das war doch früher, nachdem der Gutsherr, der alte Simmler, gestorben war, eine SSSchule geworden. Und nun passierte Folgendes: Kommt doch der Rat des Kreises dazwischen und gibt das Ding der Volksbildung als Vorschulkinderheim!”
„Ach, jetzt leuchtet mir auch ein, warum mich neulich der Alte am Zaun gefragt hat, ob wir ‚vom Schloss‘ seien!“
„Ja, sie können sich nicht damit abfinden, dass sie das Schloss damals nicht bekommen haben. Was denkst du, wie viele Großbauern hier noch ewig Gestrige sind. Voriges Jahr haben sie erst einen hier abgeholt, der hatte mit seinen Kameraden regelrechte Naziorgien veranstaltet, irgendwelche Versammlungen fanden regelmäßig statt und da soll auch immer noch einer von drüben hergekommen sein!”
„Na und? Solche gibt’s überall! Oder denkst du, bloß hier? Ich könnte wetten, dass sie bloß nicht alle finden oder finden wollen!“
Es klopfte an die Küchentür, sicher war es Isabels Nachbarin, Frau Matteo, eine liebe, alte Frau, die sich gern von der Anwesenheit ihrer neuen Nachbarin überzeugte, ohne jemals aufdringlich zu sein. Ab und zu brachte sie etwas aus ihrem Garten mit – Radieschen, Erdbeeren oder Blumen.
Isabel war jedes Mal gerührt, bis sie irgendwann feststellte, dass es wohl auch daran lag, dass Frau Matteo sie ein wenig an ihre Großmutter erinnerte. Es waren die schlanke Gestalt und vor allem der Haarknoten, die so sehr an die Großmutter denken ließen, dass manchmal nebenher Kindheitserinnerungen aufkamen.
Frau Matteo kam herein, als Anna ihr gerade die Tür öffnen wollte.
Isabel saß am Tisch auf dem einzig vorhandenden Stuhl und schrieb noch die letzten Sätze für ihre Quartalsplanung. Sie klappte nun ihren Ordner zu.
Als Frau Matteo sah, dass Besuch da war, wollte sie gleich wieder gehen. Nach mehreren, sehr überzeugenden Überredungsversuchen Annas setzte sie sich nun doch noch.
Sie nahm auf dem Sessel am hohen, dunkelgrünen Kachelofen Platz und Anna setzte sich aufs Bett.
Halb aus Höflichkeit, halb aus Besorgnis, fragte Isabel:
„War denn nun Ihr Sohn am Wochenende auch noch da, Frau Matteo?”
„Ach, jaaa! Ja, und die Enkelkinder waren auch mit. Es ist spät geworden. Na, bald sind Ferien, da kommen sie mal wieder vorbei. Die Jungens sind ja so gewachsen.”
Während Frau Matteo, leicht erheitert durch die Ansprache, weiter vom Wochenende erzählte, hatte sich Anna einen Schreibblock gegriffen und damit begonnen, das Profil der alten Frau mit den wachen Augen zu skizzieren.
Isabel hatte es auch erst bemerkt, als Frau Matteo sich zu Anna umwandte, ganz verlegen die Hände hob und abwehrend sagte:
„Na, was machen Sie denn da? So interessant bin ich ja doch nicht, dass man mich malen muss!”
Sie kicherte dabei ein wenig, fast wie ein kleines Mädchen. Dann rutschte sie wieder auf ihren Stuhl zurück und erzählte:
„Der alte Simmler, der Gutsherr – Sie wissen schon? Das wäre ein Gesicht zum Malen gewesen … Obwohl er ja kein Guter war! Er ging selten aus dem Haus, also ich mein’, er war fast nie im Dorf zu sehen.”
Erschrocken sah Anna auf die Uhr:
„Oh, verflixt, jetzt muss ich aber los!”
Sie fragte noch, ob sie den Zeichenblock mitnehmen dürfte und schon war sie verschwunden.
Als Anna gegangen war, fragte Isabel Frau Matteo, ob sie noch etwas Zeit hätte. Die schaute ganz verwundert, lächelte schüchtern und fragte:
„Ja, und warum?”
„Vielleicht können wir ein bisschen spazieren gehen, es ist heute so schön draußen.”
Die beiden gingen aus dem Dorf hinaus. Am Ortsausgang konnte man bis zum Horizont über die so endlos scheinenden Felder sehen.
Es war der erste warme Tag dieses Sommers, ein leiser Wind wehte in der späten Mittagszeit und sie setzten sich am Feldrain unter die einzige große Eiche weit und breit. Die spendete genügend Schatten für die zwei Frauen, die gut und gern Großmutter und Enkelin hätten sein können.
Isabel genoss die leichte Brise des Windes und den erdigen Geruch, der die wohlige Wärme des Sommers ankündigte. Ihr kam plötzlich der Gedanke, dass dies auch in hundert Jahren noch so sein würde – und sie streckte wohlig die Beine aus und atmete tief durch.
Da beide Frauen an den Stamm der Eiche angelehnt saßen, fiel es leicht, zu reden; jede musste sich erst zur Seite neigen, um in das Gesicht der anderen blicken zu können.
Frau Matteo begann zu erzählen, wie sie ihre Jugend hier im Dorf verbracht hatte. Alles drehte sich wohl um diesen Gutsherrn, der schließlich für Lohn und Brot der Leute im Dorf sorgte.
„Wissen Sie, Fräulein Wagner, der Simmler war eigentlich ein schöner Mann, aber als junges Mädchen sollte man ihm lieber nicht allein begegnen.”
Frau Matteo machte eine Pause und sie sah Isabel etwas unentschlossen an. Die schaute fragend und hoffte, dass die alte Frau neben ihr weitersprechen würde, was sie nach einem kurzen Räuspern dann auch tat.
„Tja, in diesen Kreisen war es früher so üblich, dass der Fürst das Recht der ersten Nacht hatte.”
Frau Matteo bemerkte, dass die so junge Frau neben ihr noch immer nicht ganz verstanden hatte und fuhr fort: „Obwohl diese Sachen eigentlich nicht ausgesprochen wurden, und wir schließlich nicht mehr im Mittelalter waren.”
Ihre Stimme hatte sich empört erhoben und Isabel war ziemlich verblüfft über den energischen Tonfall dieser zierlichen alten Dame. „Aber man wusste, dass es vorkam, dass ein Mädchen die Nacht vor der Hochzeit beim alten Simmler verbringen musste – natürlich nur die, die ihm gefielen!“
Jetzt spürte Isabel eindeutig, dass da noch etwas in der Luft lag, beobachtete aber gespannt Frau Matteos etwas abwesend wirkendes Mienenspiel.
Wenn man ihr faszinierendes Profil betrachtete, war es leicht, sich vorzustellen, dass diese feingliedrige, zerbrechlich wirkende alte Frau früher ein anmutiges Mädchen gewesen war.
Isabel blieb still.
Etwas nachdenklich seufzte Frau Matteo: „Nun ja, mein Vater hat immer gut auf mich aufgepasst, wissen Sie …”
Anna hüpfte übermütig trällernd in ihrem Zimmer herum, als Isabel am Abend an deren Tür klopfte. Die gute Laune Annas war ansteckend und Isabel schaute sich erwartungsvoll um.
Alles lag schon bereit: eine Unmenge Bücher waren auf dem Boden verstreut, eine Schallplattenhülle, eine Flasche Rotwein und eine halbleere „Colamix“-Flasche standen im Regal. Auf dem winzigen Tisch, der eigentlich nie frei war, brannte eine weiße Kerze und zwei kleine Teller mit jeweils einem Tomatenbrot waren hergerichtet.
Da diese Form der Dekoration sehr ungewöhnlich für Anna war, kam die verwunderte Frage:
„Na? Und was feiern wir?”
Anna strahlte übers ganze Gesicht.
„Stell dir vor, ich hab’ sie!”
Isabel verstand nicht gleich und Anna machte es mal wieder spannend: „Die Platte!“
„Welche Platte?”
„Na, die neue von Vroni Fischer! Mensch, Franziska, stell dich nicht so an!“
Den Namen Franziska verwendete Anna manchmal für Isabel, seit sie den Roman ‚Franziska Linkerhand‘ von Brigitte Reimann gelesen hatte. Brigitte Reimann war eine Freundin der Familie und hatte den Roman nicht beenden können, da sie ihre Krebserkrankung nicht überlebt hatte.
Diese Figur der Franziska war für Anna identisch mit Isabels Eigenschaft, von Dingen zu träumen und plötzlich, nicht immer im richtigen Moment, ziemlich schnell und emotional zu handeln. Wenn es ihr um eine Sache ging, konnte sie sehr undiplomatisch sein.
Anna fuchtelte mit der Plattenhülle vor Isabels Nase herum.
„Schmeiß ich gleich mal rauf, ja?”
Vroni sang ‚Guten Tag’.
Die Freundinnen aßen ihre Tomatenbrote.