Eine vorläufige Theorie der Liebe - Scott Hutchins - E-Book

Eine vorläufige Theorie der Liebe E-Book

Scott Hutchins

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit Mitte dreißig steht Neill Bassett jr. wieder ganz am Anfang. Seine Frau hat ihn abserviert – jetzt muss er sich auf erniedrigende Single-Abende einlassen, nur um Anschluss zu finden. Ein neuer Job im Silicon Valley bringt zunächst zumindest Ablenkung: Bei einem Software-Unternehmen arbeitet Neill ausgerechnet daran, den ersten Computer zu entwickeln, der Gefühle verstehen und äußern kann. Ob ihm das hilft, bei der schrägen Kollegin Rachel zu landen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



PIPER DIGITAL

die eBook-Labels von Piper

Unsere vier Digitallabels bieten Lesestoff für jede Lesestimmung!

Für Leserinnen und Leser, die wissen, was sie wollen.

Mehr unter www.piper.de/piper-digital

Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deShikhaÜbersetzung aus dem Englischen von Eva BonnéISBN 978-3-492-98303-7Oktober 2016© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH,München 2016© Scott Hutchins, 2012Deutschsprachige Ausgabe:© 2014 Piper Verlag GmbH, MünchenCovergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: ProStockStudio, ShutterstockDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenAlle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Die zu Anfang gestellte Frage wird erst dann klar definiert sein, wenn wir genau gesagt haben, was wir unter dem Begriff »Maschine« verstehen. Natürlich möchte man jede Art maschinenbautechnischer Hilfsmittel angewandt wissen. Wir wollen auch die Möglichkeit zulassen, dass ein Ingenieur oder ein Ingenieurteam eine funktionstüchtige Maschine konstruiert, deren Operationsweise jedoch von ihren Erbauern nicht befriedigend beschrieben werden kann, weil die zur Konstruktion angewandte Methode weitgehend experimentell war. Schließlich sollen Menschen, die auf die übliche Weise zur Welt kamen, nicht zu den Maschinen gerechnet werden.

Alan Turing

1

Vor ein paar Tagen hielten ein Feuerwehrauto und ein Krankenwagen vor meinem Wohnhaus auf dem Hügel südlich des Dolores Park. Mehrere Sanitäter stiegen aus, der Größte von ihnen hatte eine schwarze Trage mit roten Gurten und Schnallen dabei. Sie waren wegen des Nachbarn gekommen, der über mir wohnt, Fred, ein Trinker und Einsiedler, für den ich seltsamerweise eine gewisse Bewunderung hege. Nicht, dass ich mit ihm tauschen wollte. Er verbringt den Großteil seiner Zeit vor einem kleinen Flachbildfernseher, den er vor der Wand am hinteren Ende seines Küchentischs aufgestellt hat und in dem ausschließlich Sportsender laufen. Fred raucht bedächtig und ohne jede Pause (meine Exfrau hat sich regelmäßig über den Gestank beschwert) und verfolgt wie gebannt Tennismatches, Football- und Basketballspiele, ja sogar europäische Fußballturniere. Er interessiert sich nicht für den Sport an sich, sondern für die Wetten, die er auf die Spiele abgeschlossen hat. Sein einziger regelmäßiger Besucher, der Postbote, ist zugleich sein Buchmacher. Früher war Fred selbst bei der Post.

Wie ich schon sagte, ich würde nicht mit ihm tauschen wollen. Die Einsamkeit und Eintönigkeit seiner Tage erscheinen mir wenig verlockend. Und trotzdem ist er für mich ein Vorbild an Selbstgenügsamkeit. Er trinkt und raucht zu viel, und wenn er überhaupt einmal etwas isst, dann eine aufgewärmte Dose Eintopf. Aber er verlässt das Haus und kauft alles selbst ein – Zigaretten, Alkohol, Konserven –, er stakst auf steifen Beinen zum Laden an der Ecke und kommt mit einer vollgestopften Papiertüte wieder zurück. Dann erklimmt er die drei Treppen zu seinem Apartment – eine schmutzige, spartanische Version meines Apartments –, das er ganz allein bewohnt, was auf dem brutalen Immobilienmarkt von San Francisco für sich schon eine Leistung ist. Er ist immer herzlich, wenn wir uns im Treppenhaus begegnen, und sogar in den traurigen Monaten nach meiner Scheidung, als mir ein anderer Nachbar vorschlug, eine Drehtür einzubauen (um dem hohen Durchgangsverkehr gerecht zu werden – eine abfällige Stichelei), hatte Fred stets ein freundliches Wort für mich übrig. Eines Tages klopfte er an meine Tür; ich solle ihn wissen lassen, falls er in der Wohnung über mir zu laut herumpoltere. Es sei ihm sehr wohl klar, dass er zum Trampeln neige. Ich hatte das Gefühl, er wollte mir sagen: Wir sind Nachbarn, mehr nicht, aber ich finde dich in Ordnung. Obwohl ich da vielleicht zu viel hineininterpretiere.

Als die Sanitäter an jenem Tag die Treppe hinaufstiegen, hörte ich zunächst Gemurmel und dann Fred, der ein Geräusch ausstieß, das irgendwo zwischen Jaulen und Schreien lag. Ich trat ins Treppenhaus, als ihn die Sanitäter gerade heruntertrugen. Sie schrien auf ihn ein wie die Offiziere auf Auszubildende beim Militär. Sir, bitte behalten Sie die Arme am Körper. Sir, Arme an den Körper. Sonst werden wir Sie festschnallen, Sir. Der Umgangston kam mir für einen so alten Mann völlig unangemessen vor, aber als sie mit dem auf die Trage geschnallten Fred um die Ecke kamen, sah ich, wo das Problem lag. Er versuchte, sich am Geländer festzuhalten und seinen Abtransport zu verhindern. Sein Gesicht war verzerrt, seine milchigen Augen glasig und voller Tränen.

»Tut mir leid, Neill«, sagte er, als er mich bemerkte. Flehentlich streckte er die Hände nach mir aus. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«

Ich sagte ihm, er solle sich beruhigen. Ihm brauche nichts leid zu tun. Aber er hörte nicht auf, um Verzeihung zu bitten, während die Sanitäter ihn, fest auf die medizinische Trage gefesselt, an meiner Tür vorbeitrugen.

Anscheinend war er zwei Tage zuvor gestürzt und hatte sich die Hüfte gebrochen. Er hatte erst jetzt den Notruf gewählt. Er war achtundvierzig Stunden in seiner Wohnung herumgekrochen und hatte gewartet – Gott weiß, worauf. Dass der Schmerz von allein verschwinden würde? Dass ein Nachbar an seine Tür klopft?

Ich habe mich erkundigt, wohin man ihn gebracht hat. Er hat die OP schon hinter sich und erholt sich gerade in einer schicken Rehaklinik. Die Geschichte ist im Grunde also gut ausgegangen. Trotzdem muss ich immer wieder an seine Worte denken. Es tut mir leid, es tut mir so leid. Wofür hat er sich entschuldigt, wenn nicht für seine Existenz an sich, für die Unannehmlichkeiten, die sein Leben und Atmen den anderen macht? Ja, er war verwirrt, aber ein Körnchen Wahrheit steckte darin. Fred ist nicht selbstgenügsam, sondern einsam. Die Erkenntnis sollte mir egal sein, sie sollte mein Leben nicht beeinflussen, und doch beschäftigt sie mich auf unerklärliche Weise. Vermutlich habe ich mich zu sehr darauf verlassen, dass Fred mein Vorbild sein könnte. Mein Vater, der eigentlich kein Intellektueller war, hatte ein Lieblingszitat von Pascal: Der einzige Grund für das Unglück des Menschen ist sein Unvermögen, still in seinem Zimmer zu sitzen. Ich hatte mir Fred immer als einen Menschen vorgestellt, der still in seinem Zimmer sitzt.

Nicht jeder erlebt die große Liebe. Das weiß ich. Meine erste Ehe ging vor ein paar Jahren in die Brüche, und abgesehen von den Drehtürmonaten im Anschluss an die Scheidung habe ich meine Zeit mehr oder weniger allein verbracht. Gelegentlich habe ich eine Frau zum Essen ausgeführt oder mich mit einem One-Night-Stand zu trösten versucht, was tatsächlich funktionieren kann, solange man mit der richtigen Einstellung an die Sache herangeht. Ich habe meinen Alkoholkonsum stark erhöht und dann wieder stark zurückgefahren. Ich selbst bestimme die Bahnen, in denen mein Leben verläuft. Das Junggesellenleben, so viel habe ich begriffen, braucht feste Gewohnheiten. Kleine Rituale und kleine Freuden. Ich sage das ganz ohne Selbstmitleid. Wen interessiert es, dass ich genau zwei Schluck Sahne in meinen ersten Kaffee kippe, aber nur einen in den zweiten (und letzten des Tages)? Niemanden – und trotzdem sind diese drei Schluck Sahne ein wichtiges Strukturelement in meinem Vormittag.

Die festen Gewohnheiten haben zur Folge, dass ich nie zu viel trinke und paradoxerweise als sechsunddreißigjähriger Junggeselle unflexibler bin als damals, als ich noch verheiratet war. Jeden Morgen um sieben füttere ich die Katze. Ich mache mir eine Frühstückstaco – Rührei, eine Scheibe Chilikäse, Maistortilla, grüne Salsa – und koche Espresso auf der Herdplatte. Ich esse im Stehen. Bis sieben Uhr vierzig sitze ich mit der Katze auf dem Schoß in der Küche und lese die E-Mails, die über Nacht in meinem Postfach eingegangen sind. Lauter interessante Angebote: Restposten, Gratisproben, zwanzig Prozent Rabatt. Ich lösche das meiste, springe unter die Dusche und verlasse die Wohnung um Punkt acht. Die Fahrt zur Arbeit dauert fünfzig Minuten, von San Francisco nach Menlo Park.

Arbeit, das heißt Amiante Systems, ein pompöses linguistisches Computerprojekt. Das unternehmerische Konzept weist Mängel auf – der Firmengründer dachte, Amiante sei Lateinisch für Magnetismus; erst meine Exfrau Erin wies mich darauf hin, dass es sich um das französische Wort für Asbest handelt –, aber ich mag meinen Job und werde pünktlich bezahlt. Es gibt einen Chef und neben mir noch einen weiteren Angestellten. Zu dritt trainieren wir ein komplexes Computerprogramm, das auf einem ausführlichen Tagebuch basiert: Der Text umfasst volle zwanzig Jahre. Der Verfasser wurde von der einzigen historischen Fachzeitschrift, die je einen Auszug abgedruckt hat, als der »Samuel Pepys der Südstaaten« bezeichnet. Die Tagebücher sind ein Konglomerat aus Gedanken und Anekdoten, über fünftausend Seiten voller Meinungen, Geschichten, Sprichwörter, Lebensphilosophien und medizinischer Ratschläge. Das Programm soll lernen, sprachliche Aussagen zu generieren, mit anderen Worten: Es soll Unterhaltungen führen. Es soll sprechen. Die Idee dahinter ist, dass die verborgenen Bezüge der Einträge einen logischen Zusammenhang darstellen, eine Persönlichkeit also, die allen vorangegangenen derartigen Projekten – Spielereien, die in »digitalen Assistenten« mündeten – fehlte. Der Tagebuchschreiber, ein Arzt aus Arkansas, war mein verstorbener Vater. Was mir letztendlich meinen Job verschafft hat: Juristisch betrachtet sind die Tagebücher mein Eigentum. Mein Boss hat mich trotzdem ins Herz geschlossen. Von Computern verstehe ich nur wenig – nach dem Studium habe ich als Werbetexter gearbeitet –, aber als einziger Muttersprachler in unserem Unternehmen ist es mir immerhin gelungen, das Programm wie einen echten, wenn auch leicht verwirrten Menschen klingen zu lassen.

Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, füttere ich die Katze und koche mir ein Abendessen. Ich setze mich auf mein neues Sofa. An den Wochentagen trinke ich ein Glas Wein und schaue einen Film an. Am Wochenende treffe ich mich manchmal mit einem alten Freund oder mit einem neuen (obwohl ich nur wenige neue und noch weniger alte Freunde habe), oder ich verabrede mich mit einer Frau (alles wird geplant, nichts dem Zufall überlassen). Gelegentlich steuere ich eine Bar mit einem mir vertrauten Wirt an. Ich betrachte das als Luxus, wobei es entscheidend für ein gelungenes Junggesellenleben ist, sich hin und wieder einen kleinen Luxus zu gönnen. Dazu gehören auch das Parken – für dreihundert Dollar im Monat bleibt es mir erspart, Abend für Abend endlos um den Block zu fahren – sowie verschiedene Zeitschriftenabos, zweimal im Monat eine Putzfrau, eine gut bestückte Hausbar und eine beheizbare Fußbadewanne. Wenn ich überarbeitet bin, gebe ich meine Kleider in die Reinigung. Etwa zweimal im Jahr gönne ich mir eine Ganzkörpermassage. Einmal pro Woche lasse ich mir das Abendessen ins Haus kommen, und manchmal, wenn ich einen besonders selbstbewussten Moment habe, setze ich mich mit einem Buch in ein nettes Restaurant.

Ich bin in den Südstaaten aufgewachsen, habe meinen Lebensmittelpunkt aber aus Lifestylegründen nach San Francisco verlegt. Ich liebe die regennassen Straßen und den Anblick der sauberen Downtown, die Restauranttrends, die mit blindem Gehorsam befolgt werden (im Moment sind Innereien schwer angesagt). Ich liebe das üppige Gemüseangebot der kleinen Eckläden, der Bauernmärkte und der fliegenden Händler mit ihren Pick-up-Trucks. In dieser Stadt gibt es viele gestrandete Singles wie mich, und immer wieder lasse ich mich auf flüchtige Bekanntschaften und Kurzbeziehungen ein. Nach dem Ende meiner Ehe habe ich mich auf eine verrückte Wohnungssuche im Silicon Valley begeben, um näher an meiner Arbeitsstelle zu sein, aber zum Glück habe ich rechtzeitig erkannt, was in der Vorstadt aus mir werden würde. Ich würde in meinem Haus verschwinden und von Instandhaltungs- und Gartenarbeiten absorbiert werden. Ich würde zu einem Phantom verblassen, denn das ist die große Gefahr des Junggesellendaseins: Eines Tages wird man so unverbindlich und vage, dass die Leute durch einen hindurchsehen.

Ich entschied mich für eine andere Lösung, was ich nicht zuletzt Fred zu verdanken hatte. Ich beschloss, in der Stadt zu bleiben, in jener Wohnung, in der ich mit Erin zusammengelebt hatte, und mich mit der Junggesellenlogik vertraut zu machen. Ein schnörkelloses System ohne Raum für Sentimentalitäten. Grundvoraussetzung ist die Erkenntnis, dass man sich als Junggeselle in einem permanenten Übergangsstadium befindet. Feste Überzeugungen sind eher hinderlich. Die Junggesellen, mit denen ich lockere Freundschaften geschlossen habe, waren durchweg nette Kerle. Mit Männern, die Frauen als Zicken und Schlampen bezeichnen, habe ich noch nie etwas anfangen können, auch wenn diese Männer in San Francisco so häufig vorkommen wie im Rest der Welt. Es ist nicht einmal ihre Frauenfeindlichkeit, die mich abschreckt – es ist ihr Selbstbetrug. Frauenhasser sind unfähig, orientierungslos und kleinlich. Die erfolgreichen Junggesellen hingegen, die Nichtverbitterten, haben mich viel gelehrt: Freundschaften zu pflegen, beispielsweise, und niemals Löffel und Gabel zu benutzen, wenn eins von beidem reicht. Wenn es um das ideale Frühstück, soziale Interaktionen und die Liebe geht, sollte man das Einfache dem Komplizierten vorziehen. Ich kenne einen Mann, der in einer Hängematte schläft; einen Mann, der nichts Organisches in seiner Wohnung duldet, nicht einmal Lebensmittel; einen Mann, der vom kinderlosen Junggesellendasein so überzeugt ist, dass er sich einer Vasektomie unterzogen hat (von ihm stammt das Rezept für die Frühstückstaco). Ein anderer Junggeselle weihte mich in seine Strategie ein, die traurigen Phasen körperlicher Einsamkeit zu überstehen. Wenn er nicht in der Stimmung war, um tanzen zu gehen oder sich zu verabreden, wenn er nichts weiter wollte als eine sinnliche Nacht mit einem weiblichen Körper, eine windstille Ecke, um das Nomadenzelt seiner Seele aufzuschlagen, dann checkte er in eines der großen Hostels der Stadt ein. Ich habe angemerkt, das klinge etwas aufdringlich und gestört, aber er wies mich darauf hin, dass aufdringlich und gestört keine Kriterien seien. Es sei nicht unmoralisch, und nur das zähle. Er sehnte sich nach Zärtlichkeit, und Durchreisende würden dieses Bedürfnis ebenso empfinden. Er drängte sich niemandem auf, im Gegenteil, er stellte seine guten Ortskenntnisse und seine gut gefüllte Brieftasche zur Verfügung. Heikel wurde es nur, wenn es darum ging, eine gute Ausrede für den Aufenthalt in der Jugendherberge zu erfinden. Man hatte Besuch von älteren und gebrechlichen Verwandten bekommen, denen man sein Bett zur Verfügung stellen musste. Man hatte zu Hause einen Wasserrohrbruch. Oder man nahm seinen Reisepass mit und gab vor, selbst auf Reisen zu sein.

»Mehrere Fliegen mit einer Klappe«, sagte mein Freund. Ich konnte nicht anders, als seine Junggesellenlogik zu bewundern.

Lag er am Ende falsch? Wird auch dieser Freund, dieser gute Mann eines Tages angeschnallt auf einer Trage liegen, die Hände verzweifelt nach dem Treppengeländer ausgestreckt?

Es tut mir so leid, Neill.

Mein Vater – seit dem Selbstmord nenne ich ihn nicht mehr Dad, das käme mir zu rührselig vor – hätte sogar dieser Geschichte eine spezielle, ganz eindeutige Moral abgewonnen. Er war Traditionalist durch und durch; fast wundert es mich, dass er zu Lebzeiten keine historischen Kostüme getragen hat. Gern zitierte er die Grabinschrift seiner Eltern: »Trost gab es kaum, aber da er nie gekannt, ward er nicht vermisst.« Ein Satz aus Ivanhoe. Mein Vater stammte aus »altem«, erzkatholischem Südstaatenadel und hätte, wäre er noch am Leben, von mir verlangt, meine Pflicht zu erfüllen – vermutlich irgendeine Variante von »sich für die Gemeinschaft einsetzen«. Als er sich umbrachte, war ich noch auf dem College. Sein Tod traf mich zutiefst, befreite mich gleichzeitig aber von einer gewissen Ängstlichkeit, von einer eingeschränkten Sicht auf die Welt. Ich entband mich von meinen Pflichten als »Stammhalter« einer »alten« Familie und zog nach Kalifornien (ebenso gut hätte ich die Wörter »Pflichten« und »Familie« in ironische Anführungszeichen setzen können). Ich übernahm die Aufgaben eines verantwortungsvollen Mitbürgers: Müll trennen, Fahrrad fahren, an Umweltschutzorganisationen und das Obdachlosenheim der Glide Memorial Church spenden. Ich gehöre dem SFMOMA und der Film Society an. Ich habe mich in meinem Leben eingerichtet, und meistens geht es mir gut. Nicht schlechter als meinem Bruder, der sich für ein Leben mit weißem Holzzaun in Michigan entschieden hat, für das unablässige Streben nach dem Banalen. Und besser vermutlich als meiner Mutter, die unser altes Haus in Arkansas zu behalten und ihm gleichzeitig zu entfliehen versucht, ein Kompromiss, der sie in einer endlosen Schleife aus Bildungsreisen und Kreuzfahrten an die verlassenen Küsten dieser Welt gefangen hält.

Meinem Vater wäre mein Lebenswandel ein Rätsel. Mein Alltag wäre ihm keine Erwähnung wert. Trotzdem findet das Tagebuch meines Vaters – Dr. Bassett, wie er bei Amiante Systems genannt wird – eine Antwort auf jede meiner Fragen. Wobei ich, da es sich um ein recht simples Programm handelt, eine mit Konversationstricks und Suchfunktionen angereicherte Version der Tagebücher, kaum behaupten kann, er würde mich »verstehen«. Dr. Bassett kann keine Gedanken weiterverfolgen oder auch nur unterscheiden, wer gerade mit ihm spricht. (Er weiß zum Beispiel nicht, dass ich sein Sohn bin.) Aber manchmal gebe ich ein paar Wörter ein, und der Computer pariert wie ein Furby mit einem Satz, in dem eine versteckte Einsicht aufblitzt. Heute Morgen kam es zu folgendem Austausch:

frnd1: soll ich heute abend ausgehen oder zu hause bleiben?

drbas: freitage sind freundtage

frnd1: schöner gedanke, aber heute ist donnerstag

drbas: ????

Sobald ich mehrere Aussagen hintereinanderstelle oder ein »und« oder »oder« benutze, verliert er den Überblick.

frnd1: diese ansicht ist ein schöner gedanke

drbas: wie findest du es, dass meine ansicht ein schöner gedanke ist?

frnd1: ganz gut. soll ich heute abend also ausgehen oder zu hause bleiben?

drbas: du hast lange genug geschmollt. du solltest dich amüsieren

Diese Antwort musste ich natürlich korrigieren. Nichts in der vorherigen Unterhaltung wies darauf hin, dass ich geschmollt hätte. Aber er hatte trotzdem recht. Nun sitze ich zu Hause, und draußen vor dem Fenster senkt sich die Dunkelheit wie eine Bleidecke herab. Wenn ich mich jetzt nicht von meinem Sofa losreiße, bleibe ich hier kleben. Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als auf die schwarze, unbarmherzige Stadt meiner verlorenen Dreißiger hinauszustarren, während unter meinem Fenster wie so oft das Gelächter der anderen durch die Straße hallt.

An der Fisherman’s Wharf, die nur eine kurze Taxifahrt entfernt liegt, erwacht die Ghirardelli-Leuchtschrift flackernd zum Leben. Ich werde von einer großen Blondine namens Rachel und einer kleinen Brünetten namens Lexie begleitet, die aus Tel Aviv angereist sind. Keine der beiden ist eine Schönheit, aber ihre Jugend macht sie attraktiv. So soll es auch sein, schließlich habe ich die beiden in einer Jugendherberge kennengelernt. Es war so einfach, wie mein Bekannter angekündigt hatte. Ich zeige euch die Stadt, habe ich gesagt. Okay, haben die Mädchen geantwortet. Es lief genau so, wie ich es mir gewünscht hatte, und doch liegen mir die Umstände schwer im Magen. Statt mich für einen Touristen auszugeben, hätte ich mir ein schlichteres Alibi einfallen lassen sollen. Dass in meiner Wohnung das Wasser abgestellt ist, zum Beispiel. Ich hatte mich jedoch nach dem Gefühl der Entwurzelung gesehnt, das mit dem Reisen einhergeht und sich nun tatsächlich eingestellt hat. Da ist es, das San Francisco, wie man es von Postkarten kennt. Der Duft von gekochten Krebsen hängt in der eisigen Luft, und die Ladenschilder des riesigen T-Shirt-Basars glitzern in der Abenddämmerung. Der Nebel hat die Golden Gate Bridge eingehüllt, während das hell erleuchtete Alcatraz einsam aus dem grauen Wasser ragt. Fehlt nur noch das Klingeln eines Cable Car, das prompt zu hören ist – dingding. Die Powell-Hyde-Linie.

Die Mädchen sind so dünn angezogen, als wollten wir in Miami auf Klubtour gehen: Miniröcke mit Lammfellstiefeln, dazu hautenge, schlauchartige Oberteile. Sie ziehen Grimassen. Sie zittern. Rachel, die Blonde – attraktiver, aber weniger niedlich als ihre Freundin – bekommt in der Kälte rote Flecken auf der Haut.

»Was für eine Aussicht«, sage ich. Sie sind zum ersten Mal in San Francisco.

»Unglaublich«, sagt Rachel.

»Ich kann nicht glauben, dass das hier Kalifornien sein soll, verdammt«, sagt Lexie und reibt sich die Oberarme. Sie ist rundlich, frisch gepudert und jung, aber sie hat die tiefe, heisere Stimme einer Patientin mit Lungenemphysem. »Wo steigt denn nun die Party?«

»Können wir nicht einfach für drei Sekunden die Aussicht genießen?«, fragt Rachel.

»Das hier ist unsere letzte Stadt.« Lexie wirft mir einen bitterbösen Blick zu. Ich verstehe auf Anhieb: Sie will mich loswerden. Wahrscheinlich ist ihr meine Ausstrahlung zu negativ.

»Und du willst machen, was du in jeder Stadt machst«, sagt Rachel.

»Bislang hat es doch gut geklappt, oder?«, giftet Lexie. »Wir hatten jede Menge Spaß, oder?«

Rachel schüttelt den Kopf, sie sieht angewidert aus.

»Komisch, dass du ganz allein reist«, sagt Lexie zu mir.

Ganz allein. Ich taste die Worte mit der Zunge ab wie eine frische Zahnlücke. »Allein zu sein hat seine Vorteile«, sage ich.

»So was sagt doch nur ein Loser ohne Freunde.«

Gutes Argument. »Auch ein Loser ohne Freunde hat manchmal recht«, sage ich.

»Bist du einer von diesen verheirateten Typen?«, fragt Lexie. »Die nur auf Sex aus sind?«

»Ich bin nicht verheiratet.«

»Du gehst wie einer, der verheiratet ist«, sagt sie. Sie macht die Arme steif und schiebt sich mit roboterhaften Bewegungen über den Gehweg wie ein Aufziehspielzeug.

»Ich glaube«, sage ich, »du verwechselst verheiratet mit fußlahm.«

»Sie verwechselt alles Mögliche«, sagt Rachel.

»Sie verwechselt alles Mögliche«, äfft Lexie sie mit schiefem Mund und Babystimme nach – ein Baby mit schwarzer Lunge.

Wind kommt auf und bläst den Dunst von den Imbissbuden herüber, bis er auf unseren Gesichtern kondensiert. Ich muss mich daran erinnern, dass ich hergekommen bin, um Spaß zu haben. Das Ganze sollte ein lustiger Streich sein, ein befreiender Jubelschrei. Mein Boss, Henry Livorno, behauptet, es gebe keinen messbaren Unterschied zwischen Schein und Sein. Auf diesem Konzept des Operationalismus basiert unser Projekt, aber genauso gut ließe es sich auf den heutigen Abend anwenden. Wenn ich mich ausgelassen gebe, fühle ich mich vielleicht tatsächlich so.

»Wie geht ein Single?«, frage ich.

Die Mädchen ignorieren mich. Lexie starrt in die Ferne, als könnte sie dort hinten vielleicht die Leute entdecken, mit denen sie eigentlich verabredet ist. Rachels Aufmerksamkeit richtet sich derweil auf einen Imbissstand ganz in der Nähe. Sie beobachtet den Angestellten, der sich die Mütze in die Stirn schiebt und eine Reihe dampfender weißer Krebse aus einem brodelnden Bottich fischt.

»Die Dinger sind ja riesig«, sagt sie.

»Das sind Taschenkrebse«, erkläre ich. Sie hat die gertenschlanke Figur einer Tänzerin und ist ungeschminkt – die Ausgehklamotten stehen ihr nicht. Sie wirken merkwürdig an ihr, wie eine Verkleidung. »Magst du einen probieren?«

»Rachel ist koscher«, sagt Lexie mit einem höhnischen Grinsen.

»Treib es nicht zu weit«, sagt Rachel und verschränkt die Arme vor dem Körper. »Mir ist kalt, meinetwegen können wir nach Hause gehen.«

»Mark Twain hat mal gesagt …«, fange ich an.

»Es ist wirklich scheißkalt«, sagt Lexie, die plötzlich ernst geworden ist. »Willst du dir was überziehen?«

»Ja, gute Idee«, sagt Rachel.

Es wäre nicht das erste Mal, dass mir ein Abend entgleitet. Ich gehöre nicht zu jener glücklichen, unverhohlen gierigen Sorte Männer, die sich zielstrebig ins Spiel des Lebens werfen. Aber dann denke ich an Fred und reiße mich zusammen. Ich ziehe die Mädchen unter die Markise des nächsten T-Shirt-Ladens – »Olde Time Sourdough Souvenirs« – und biete ihnen an, bunte Sweatshirts mit Namensdruck zu kaufen. Damit sie nicht frieren. Damit sie nicht nach Hause gehen.

»Ich versuche, nicht so viele Dinge, na ja, anzuhäufen«, sagt Rachel verlegen. »Simplify!«

»Du hast Thoreau gelesen?«, frage ich und ernte einen neuen Blick von ihr – überrascht und ein bisschen dankbar.

In einer dunklen Bar im Marina District glimmen wir in unseren himmelblauen Sweatshirts vor uns hin. Lexie ist David. Rachel ist José. Ich bin Gina. Der schwarze Teppich riecht nach Bier, wovon ich eine Menge getrunken habe. Es geht mir besser. Aus irgendeinem Grund ist es hier drinnen so diesig wie draußen – vielleicht steht in der Ecke eine Nebelmaschine? Rachel und ich sitzen auf Barhockern, und Lexie hält sich an der Platte des Stehtischchens fest, das ihr fast bis ans Kinn reicht. Sie trägt eine geschmacklose French Manicure, ihre Perlmuttnägel schimmern wie Plastik und sind so eckig wie kleine Meißel. Aus den Boxen wummern die Bässe; Lexie lässt die Hüften so widerwillig kreisen, als würde sie dazu gezwungen. Sie könnte damit zwar nicht Herodes dazu verführen, ihr den Kopf des Täufers zu bringen, aber sie hat vier oder fünf Hüftschwünge drauf, die sonst eher beim Geschlechtsverkehr zum Einsatz kommen. Wer ist dieses Mädchen? Sicher repräsentiert sie einen bestimmten Typ Frau, einen Typ, der mir unbekannt ist. Ganz offensichtlich schwimmt sie mit dem Strom – eine Einstellung, die unverdientermaßen einen schlechten Ruf hat; was ist egalitärer, als mit dem Strom zu schwimmen? Aber ich weiß nicht, wovon genau sie beeinflusst ist. Bestimmt gibt es irgendeine Fernsehserie, die ich als Einziger in dieser Bar nicht gesehen habe. Einen absoluten Quotenhit. Eine Serie, die offenbar die Träume dieser Klientel bedient, denn Lexie erregt deutlich die Aufmerksamkeit der Männer an den Tischen, der Männer an der Bar, der Männer in der dunklen Ecke neben der Jukebox. Männer, die in Marina ausgehen, die größer sind als der Durchschnitt, die regelmäßig ins Fitnessstudio gehen und spitze Schuhe tragen. Eine seltene Unterspezies der Mit-dem-Strom-Schwimmer.

Lexie dreht sich mitten im Hüftschwung zu mir um. »Willst du uns nicht noch ein paar Drinks ausgeben?«, ruft sie.

»Du klingst nicht, als wärst du aus Tel Aviv.«

»Weil ich keinen Akzent habe? Was bist du, Antisemit?«

Rachel greift in ihre Bauchtasche, die sie statt einer Handtasche trägt, und schiebt Lexie einen Zwanziger hin. »Geh selbst.«

»Das reicht nicht!«, ruft Lexie. »Ich will einen Sambuca-Slammer.«

Ich schiebe einen zweiten Zwanziger hinterher. »Hol dir, was du willst«, sage ich.

»Mit dem stimmt doch was nicht«, sagt Lexie. »Der hat doch bestimmt K.o.-Tropfen dabei.«

»Kein Problem«, sagt Rachel. Sie legt eine Hand über ihre Bierflasche, zum Beweis ihrer Unbetäubbarkeit.

»Du weißt, dass wir Freundinnen sind«, sagt Lexie. »Und damit meine ich nicht bloß Freundinnen, die zufällig Mädchen sind.« Um ihre Aussage zu untermauern, macht sie eine bemerkenswert vulgäre Geste mit zwei Fingern und ihrer Zunge. Rachel bekommt einen Hustenanfall. Ich glaube, sie ist entsetzt über das Benehmen ihrer Freundin. »Ich weiß ja nicht, wie du dir das heute Abend vorgestellt hast, aber dazu wird es garantiert nicht kommen«, sagt Lexie zu mir.

Ich zeige in Richtung Bar. »Vergiss das Trinkgeld nicht.«

Lexie tätschelt Rachels Hand auf der Bierflasche. »Bis ich wieder da bin«, sagt sie und geht rückwärts vom Tisch. Sie richtet zwei Finger auf ihre Augen, dann zeigt sie auf mich. Ich behalte dich im Auge.

»Sie weiß, was Trinkgeld ist.« Rachel sieht ihrer Freundin mit gerunzelter Stirn nach. Draußen waren Rachels Augen von einem hellen, kristallinen Grün, aber hier drinnen wirken sie dunkel und trüb, wie alte Limetten. Ihre Haut ist wächsern weiß, nur ihre gut durchbluteten Wangen sind gerötet. »Wir sind nicht aus Israel. Wir sind aus New Jersey. Und wir sind kein Paar. Ich weiß auch nicht, warum sie ständig solchen Mist erzählt.«

Ich verstehe. »Es ist doch lustig, hin und wieder in eine andere Rolle zu schlüpfen.«

»Ich dachte, der Sinn des Reisens wäre, herauszufinden, wer man eigentlich ist?« Sie trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte, streicht sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr. »Aber ich wollte euch nicht dazwischenfunken. Ich weiß, sie ist ziemlich scharf.«

Ich bin überrascht. Habe ich Interesse an ihrer Freundin bekundet? Bin ich an ihrer Freundin interessiert? Ich beobachte, wie Lexie die Arme hebt und den Barmann auf sich aufmerksam macht, wobei ihr Minirock an ihren ausladenden Oberschenkeln hochrutscht. Das Kriterium der Einfachheit würde tatsächlich für Lexie sprechen.

»Warum glaubst du, ich könnte an ihr interessiert sein?«, frage ich.

Rachel trinkt einen Schluck Bier. »Sie hat echt gute Titten. Schön rund. Und echt sind sie auch noch.«

»Bessere Frage: Warum glaubst du, sie könnte an mir interessiert sein?«

»Für sie liegst du ziemlich genau im Durchschnitt.«

Durchschnitt. Ich weiß nicht, ob man mich überhaupt zutreffender beschreiben kann. Was vermutlich für Rachels Meinung über mich nichts Gutes bedeutet. Sie ist nett, ein bisschen zu nett vielleicht. Wahrscheinlich gehört sie zu der Sorte Mädchen, die immer einen Freund haben. Ich sehe Lexie mit drei Flaschen in der einen und drei Schnapsgläsern in der anderen Hand zurückkommen. Sie überreicht uns die Getränke, als wären sie ein Geschenk.

»Die Amerikaner müssen immerzu schreien.« Sie wirft sich das Haar in den Nacken. »Und sie stehen nur blöd rum.«

»Stehen die Leute in Tel Aviv nicht rum?«, frage ich.

Sie schenkt mir den Hauch eines Lächelns, das erste an diesem Abend. Es ist nahezu kokett. »Sie tanzen, Dummi. Wir haben die allerbesten Klubs. Das Dome. Das Vox.«

»Kann ich bei dir wohnen, wenn ich zu Besuch bin?«

Sie zuckt die Achseln, dreht sich zur Menge um und nimmt ihre Hüftrotation wieder auf. Falls sie Interesse an mir hat, ist es nicht allzu groß. Oder vielleicht war ich auch nur zu forsch. Oder sie versucht, mich eifersüchtig zu machen. Im Halbdunkel checkt sie andere Bewerber ab, mehr oder weniger unauffällig beobachtet sie, wer sie beobachtet. Die Gesichter der Männer sind ausdruckslos und feindselig. Sie betrachten Lexie, Rachel und die anderen Frauen mit unverhohlener Aggressivität, als wollte sie ihnen die Kehle durchschneiden. Alles nur Theater, und das Drehbuch für den Abend haben sie aus einem Vampirfilm geklaut, in dem die kluge Frau den Wilden zähmt. Und doch kommt mir die Konvention irgendwie niedlich vor. Ich fühle mich wohler als unter den Hipstern und Intellektuellen, die normalerweise mein Umfeld bilden, die saufen und sich den Mund fusselig reden, nur um alles und jeden zu überzeugen: Wir könnten tiefe Gefühle für diese Person entwickeln, wir tun es bloß nicht. Hier hat das Spiel Regeln, so deutlich, als hingen sie eingerahmt neben der Dartscheibe; der Handel wird durch die offene Zurschaustellung der Ware erleichtert. Der Stoff klebt an Brüsten, Deltamuskeln, Pobacken und Waschbrettbäuchen. Sie wissen, wir alle haben einen Preis; und obwohl sie insgeheim immer noch die Hoffnung hegen, den ultimativen Liebeseinkauf zu tätigen, sind sie bis dahin einem Mietverhältnis nicht abgeneigt. Die zielorientierte Funktionsweise des Fleischmarktes ist verstörend logisch.

»Du kannst bei mir wohnen«, sagt Rachel, »dann gehen wir im Dome und Vox feiern.«

»Ist das ein Laden oder zwei?«

»Frag doch Lexie. Sie ist da überall Stammgast.«

»Ich wusste gar nicht, dass du Stammgast bist!«, rufe ich Lexie zu.

»Was?« Sie sieht gekränkt aus. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

Wovon rede ich? Ich habe keine Ahnung. Wieder muss ich an die Fernsehserie denken, die ich als Einziger in dieser Bar nicht gesehen habe. Worum geht es in der Sendung? Zwei verrückte Mädchen in engen Tops, die durch die USA reisen? Wie sehen die männlichen Darsteller aus? Ganz bestimmt nicht so wie ich. Ich bin eine Fehlbesetzung. Vielleicht sehen sie aus wie die Typen hier – wie der Yuppie, der mit spitzen Schuhen, weiten Jeans und hochgegelten Haaren neben den Toiletten an der Wand lehnt. Er sieht aus, als hätte jemand mit nacktem Hintern auf seinem Kopf gesessen. Wen stellt er eigentlich dar?

Ich rutsche von meinem Barhocker. »Klo!«, rufe ich den Mädchen zu.

Aus der Nähe sieht der Yuppie noch größer aus. Er geht wohl regelmäßig ins Fitnessstudio, er strotzt vor Kraft, und auf der halb nackten rasierten Brust trägt er eine Tätowierung, die aussieht, als hätte er sie sorgsam auf die Ornamentik seines T-Shirts abgestimmt. Ich hoffe, dass ich mich täusche und die Sache genau andersherum abgelaufen ist. Sein Rasierwasser kann ich nicht einordnen, es riecht seltsam blumig. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und hält die Bierflasche wie eine Keule. Er starrt mit böser Psychopathenmiene auf mich herunter.

Ich drehe mich zu den Mädchen um. Sie schauen in entgegengesetzte Richtungen und unterhalten sich nicht. Die lange Reise fordert ihren Preis.

»Was hältst du von der Brünetten?«, frage ich.

Der Yuppie mustert mich von oben bis unten. Von seiner Coolness sollte ich mir vermutlich eine Scheibe abschneiden.

»Wenn du deine Schwestern hier anschleppst«, sagt er, »werden sie gefressen, dude.«

»Ich liebe das Wort dude«, sage ich. Dude. »Und das sind nicht meine Schwestern.«

»Heißt du Gina?«, fragt er.

»Ha!«, sage ich. »Gina! Nein, ich rede von der Brünetten. Warum gehst du nicht einfach rüber und lässt, du weißt schon, deinen Zauber auf sie wirken?«

»Die Kleine?« Sein Gesicht entspannt sich, als würde er mich wiedererkennen, einen alten Freund von ganz früher. Er boxt mir gegen den Oberarm. Er lächelt. Ich lächele. Bruder vor Luder, so sieht es plötzlich aus. »Ich stehe auf klein«, sagt er.

»Cool«, sage ich. Und auf dem Klo denke ich: Es ist wirklich cool. Es wirkt cool, und es ist cool. Schein und Sein. Heute ist Donnerstag. Donnerstag! Da bin ich, in meiner Heimatstadt, ein abenteuerlustiger Fremder mit zwei Mädchen aus New Jersey, die über Tel Aviv eingereist sind. Und nun kenne ich auch noch diesen seltsamen Typen, der aussieht wie ein Promi aus einer Fernsehserie, die ich als Einziger nie gesehen habe, und der mir als Kopilot zur Seite stehen wird. Womöglich ist er der Pilot des heutigen Abends? Natürlich ist er das. In seiner Einbildung. Es ist alles nur eine Frage der Sichtweise! Ich stehe kopfschüttelnd vor dem Waschraumspiegel und seife mir die Hände ein. So vieles im Leben – einfach nur eine Frage der Sichtweise!

Ich gehe zurück in die Bar und sehe Rachel allein am Tisch sitzen. Ich zeige auf meine Ohren, um ihr zu bedeuten, wie laut es hier ist. Sie nickt, spiegelt meine Geste.

»Wo ist Lexie?«, frage ich.

»Motorrad!«, ruft sie.

»Das ging aber schnell.« Ich versuche, einen Blick durch die lila getönte Fensterscheibe nach draußen zu werfen, kann aber nichts erkennen.

»Du hättest sie mal in Phoenix sehen sollen«, sagt Rachel. »Es ist peinlich.« Sie lallt ein bisschen: sispeinlich.

»Phoenix?«

»Tucson. Austin. Santa Fe.«

»Ach so«, sage ich. Tucson, Austin, Santa Fe – es klingt wie eine Zugansage. Ich versuche, guten Mutes zu bleiben.

»So machen wir das«, sagt sie. »So machen es alle Mädchen, da, wo wir herkommen.«

»Ich kenne viele Mädchen aus New Jersey. Die kamen mir gar nicht so schlimm vor.«

Sie stützt beide Ellenbogen auf den Tisch. »Und waren die auch frei?«

»Sie haben zumindest einen befreiten Eindruck gemacht.«

»Von befreit spreche ich nicht.«

Ich schaue wieder zum Fenster hinaus. »Lexie scheint frei zu sein.«

»Mein Freund, du verwechselst frei mit leicht zu haben.«

Die Jugendherberge ist eine alte Militärbaracke, kalt, zugig und hellhörig. Gelegentlich höre ich Stimmen aus dem Gemeinschaftsraum oder die einsamen Schritte eines nächtlichen Ausflüglers auf dem Weg zur Toilette. Rachel sitzt in meinem winzigen Zimmer auf der Bettkante und zerrt an ihrem Stiefel wie ein erschöpfter Landarbeiter. »Sprechende Computer«, sagt sie und schwankt im Licht der nackten Glühbirne hin und her. Auf dem Rückweg durch die Eiseskälte habe ich versucht, ihr meine Arbeit zu erklären (nur den Firmenstandort habe ich verschwiegen). Sie war angeblich interessiert, scheint aber nicht allzu viel behalten zu haben. Sie ist so betrunken, dass sie wirkt, als hätten sämtliche Knochen ihren Körper verlassen.

»Möchtest du einen Schluck Wasser?«, frage ich. Ich nehme ihren Unterschenkel in die Hand und befreie einen Fuß. Dann den anderen. Frei und leicht. Ich bin kurz davor zu sagen: Wir müssen das jetzt nicht tun, aber dann denke ich: Wieso eigentlich nicht? Was sonst sollten zwei Menschen in dieser Situation tun? Ich schiebe meine Hand unter das stramme Bündchen ihres Sweatshirts und helfe ihr beim Ausziehen, spüre das Wellenmuster ihrer Rippen. Ihr Deo riecht warm und würzig, nach Nelken. »Weiter«, sagt sie, und ich rolle ihr Top auf wie einen Fahrradschlauch.

»Bist du traurig, dass sie weg ist?«, fragt sie.

»Wer?«

»Gute Frage.«

Ich stehe auf und lege den Lichtschalter um. In der plötzlichen blauen Dunkelheit macht sich das schwache Glühen von Sausalito bemerkbar, das sich scheinbar in den Ästen der Bäume verfangen hat. Ich trete ans Fenster und lehne die Stirn an das kühle Glas. Sausalito ist nur ein kleines Städtchen auf der anderen Seite der Bucht, aber in diesem Moment sieht es aus wie ein fernes Heiligtum, eine Fata Morgana.

»Dein Computer«, sagt Rachel. »Hat der so eine komische Roboterstimme?«

»Genau genommen spricht er gar nicht. Er chattet.«

»Erzählst du ihm alles? Wirst du ihm von deiner Reise erzählen?«

»Keine Ahnung.« Der Wind peitscht durch die Bäume, die sich wie Schilfgras wiegen. Es klingt nach tausend Klingen, die sich an tausend Wetzsteinen schärfen. Sausalito ist ausgelöscht. Ich drehe mich zu ihr um. »Was gibt es da zu erzählen?«

»Du könntest ihm sagen, dass du ein ziemlich cooles Mädchen kennengelernt hast«, sagt sie. »Das nach Kalifornien ziehen wird, um ein neues Leben anzufangen.«

»Du ziehst nach San Francisco?«

»Bolinas. Ich ziehe zu meinem Onkel und meiner Tante nach Bolinas. Und hole den Highschool-Abschluss nach.«

Der Wind verstummt wie ein abrupt zugedrehter Wasserhahn. Die Geräusche aus der Jugendherberge werden hörbar – das Murmeln der Fernseher, Gläserklirren.

»Du liebe Güte. Wie alt bist du?«

»Zwanzig. Frag bloß nicht, warum ich noch keinen Abschluss habe.«

»Zwanzig«, sage ich.

Sie lässt sich mit einem Plumps auf die Matratze zurückfallen. Die Sprungfedern quietschen. »Versprich mir, dass du es ihm erzählst. Ein ziemlich cooles Mädchen zieht nach Kalifornien. Neuanfang.«

»Neuanfang.«

»Genau.« Sie stützt sich auf, streckt eine Hand nach mir aus, winkt mich heran. »Ich muss dir was verraten.«

»Hoffentlich darf mein Computer das auch wissen.« Ich stoße mich vom Fensterrahmen ab. Ich nehme sie als warme, dunkle Gestalt auf dem weißen Bett wahr. Ich stehe so dicht vor ihr, dass ich sie riechen und ihr gewelltes Haar berühren kann. Sie legt den Kopf in den Nacken und betrachtet mich ernst, so als wären wir dabei, einen Pakt zu schließen.

»Zuerst musst du mir verraten, was deine Phantasie ist.« Sie spricht mit leiser, aber fester Stimme, kein bisschen verschämt oder geniert. Ihr Körper leuchtet im Dunkeln wie eine monochrome Einheit. Die kleinen Brüste, der Ansatz einer Speckfalte in der Taille, die langen Beine, das stumpfbraune Aufblitzen ihrer Unterwäsche. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen. Oberhalb des Halses besteht sie nur aus Schatten.

»Du kannst mir alles anvertrauen«, sage ich. Ich werde ihr Geheimnis bewahren – so etwas können Fremde füreinander tun.

»Deine Phantasie. Verrate mir deine.«

Ich beuge mich hinunter. Kein Blut rötet ihre Wangen; ihre Augen sind nicht grün. Ihr Gesicht ist weiß, schwarz, grau – eine Maske. Eine Phantasie, denke ich. Irgendeine. Nur eine Sache, von der ich träume, wenn ich allein im Bett liege, eine Berührung, nach der ich mich sehne. Was sie mit ihren Händen machen soll, mit ihrem Mund, was sie sagen soll. Irgendetwas. Ich muss mir irgendetwas einfallen lassen.

2

Wenn ich montagmorgens im Bett liege, erscheint mir der Gedanke an Arbeit – an die Arbeit in ihrer unendlichen Banalität – so absurd, dass ich mich ernsthaft fragen muss, warum die Wirtschaft nicht längst zusammengebrochen ist. Wird überhaupt irgendwo noch irgendetwas von Wert geschaffen? Selbst unsere Ärzte bekämpfen inzwischen nicht mehr nur echte, körperliche Krankheiten, sondern auch Langeweile und Einsamkeit. Und was tun wir anderen? Wir stellen nutzlosen Krempel her, den wir einander andrehen, um noch mehr nutzlosen Krempel anschaffen zu können. Ich bestelle einen Latte Venti, damit der Starbucks-Angestellte sich Billy Blanks’ Tae-Bo-Fitness-DVD kaufen kann, damit Billy Blanks sich einen neuen Hummer leisten kann, damit ein Manager von General Motors – mein Bruder beispielsweise – eine SpongeBob-Hüpfburg für den Kindergeburtstag mieten kann. Und so weiter. Was in dieser Kette ist wirklich notwendig, kultiviert, von wahrem Nutzen für die Menschheit?

Das sind natürlich wirre Gedanken – die Gedanken eines Depressiven. Wenn ich so weitermache, stehe ich bald in der öffentlichen Bücherei und ereifere mich mit vollgemachter Hose über die neue Weltordnung.

Ich richte mich auf und lasse die Beine von der Bettkante baumeln. Die Katze verlangt nach Futter. Auf meinem Nachttisch steht ein riesiger Tulpenstrauß, wunderschön und mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Ecuador. Auch das ist Teil der neuen Weltordnung.

Heute führen wir eine neue Version ein, Dr. Bassett 2.0. Wir haben sogar einen Überraschungsgast eingeladen, Adam Toler, der ein ehemaliger Student meines Chefs ist und Gründer der Internetseite für einsame und heiratswillige Menschen. Eigentlich ist Toler ein Arschloch, aber er ist so reich wie ein Dritte-Welt-Diktator; seine Zeit ist kostbar. Er käme nicht vorbei, wenn wir Kaffee oder Tae-Bo-DVDs oder Hummer oder SpongeBob-Artikel im Angebot hätten. Niemals hätte er meinen vorherigen Arbeitgeber besucht, um sich anzusehen, wie ich über Werbetexten schwitze. Sein Interesse an unserem Projekt beweist, dass es von allgemeinem Interesse ist. Bei uns geht es um künstliche Intelligenz. Henry Livorno. Amiante Systems.

Ich esse eine Schüssel Trader-Os, trinke meine zwei Tassen Kaffee, springe in meinen Subaru, schalte das National Public Radio ein und lasse mich von den Reportagen über Krieg und Chaos einlullen.

Als ich meinen Boss kennenlernte, erklärte er mir, alle künstliche Intelligenz ziele auf die Beantwortung einer Frage ab: Wie verhält man sich angesichts der Ungewissheit? Er formulierte das fröhlich und knapp, so als hätte er mir eben erklärt, bei der Geologie handele es sich um die Wissenschaft von der Erde. Sein hoher philosophischer Anspruch überraschte mich, zumal Livorno kein bisschen so aussah, als leide er selbst unter dem Zustand der Ungewissheit. Er kleidete sich wie ein liebenswürdiger Rotarier kurz vor der Rente; aus seiner Hosentasche ragte allen Ernstes ein Golfhandschuh. Auf seinem Fachgebiet gilt Livorno als Urgestein – er war Teilnehmer der Konferenz, in deren Verlauf der Begriff »Künstliche Intelligenz« überhaupt erst geprägt wurde –, weshalb ich mich irrtümlicherweise auf ein zerstreutes Genie mit zerzaustem Haar und löchrigem Pulli eingestellt hatte. Er spricht mit undefinierbarem Akzent (er kam in Triest zur Welt, ist aber kein Italiener) und hat eine gewinnende, wenn auch manchmal etwas ruppige Art. Wenn die Wissenschaft die Religion unserer Zeit ist (was sie ist) und die Wissenschaftler unsere Hohepriester sind, dann wirkt es durchaus verstörend, einem so ausgesprochen weltlichen, von Kopf bis Fuß in atmungsaktive Kleidung gehüllten Hohepriester zu begegnen.

Livornos Weltgewandtheit – wenn auch nicht seine Gewissheit – hat sich mindestens zur Hälfte als Illusion entpuppt. Kein vernünftiger Mensch würde Geld investieren, um sich dem Turing-Test zu stellen, dem Lackmustest der künstlichen Intelligenz. Um den Test zu bestehen, müssen wir ein Programm entwickeln, das mindestens ein Drittel der Juroren davon überzeugt, dass sie es mit einem Menschen zu tun haben. Der Computer, der diese Hürde überwindet, wird als die erste intelligente Maschine in die Geschichte eingehen. Alan Turing, der Schutzheilige unseres Fachgebiets, erfand den Test 1950 und nahm an, dass die Aufgabe irgendwann um das Jahr 2000 herum geknackt würde; er hat die Messlatte jedoch höher gelegt, als er es selbst damals ahnen konnte. Die Wissenschaftler und Programmierer vor uns haben Computer entwickelt, die Aussagen zu Fragen umformulieren; Computer, die auf Enzyklopädien, Wörterbücher und Datenbanken zurückgreifen, um zu einer Antwort zu gelangen; Computer, die absichtlich Rechtschreibfehler einstreuen – allesamt interessante Experimente, aber absolute Reinfälle. Sie haben versucht (beziehungsweise versuchen sie es noch – manche unserer Konkurrenten arbeiten bis heute an einer Mischform all dieser Methoden), eine menschliche Stimme nachzubilden, die im Verlauf eines kurzen Gesprächs genügend zusammenhängende Antworten zustande bringt, um den Test zu bestehen. Aber die mangelnde Fähigkeit zum Small Talk verrät den Rechner. So kam Livorno auf die Idee, den menschlichen Geist nicht neu zu erschaffen, sondern einen bereits existierenden in eine Flasche hineinzulocken. Es erwies sich jedoch als äußerst schwierig, diesen Geist zu finden, da er einen unermesslichen Wortschatz samt Redewendungen, Gedanken und fertigen Sätzen brauchen würde. Livorno experimentierte mit berühmten Schriftstellern wie Montaigne herum, deren Sprache sich aber als zu antiquiert und zu wenig umgangssprachlich erwies. Dann hörte er im Radio von einem Grafomanen – einem Mann, der minütlich niederschrieb, was er tat, und das jeden Tag –, aber dessen Output entpuppte sich als niederschmetternd banal. 8.50: Toast gegessen. 9.00: Radiointerview. Ein befreundeter Professor empfahl Livorno schließlich, es mit den Londoner Tagebüchern von Samuel Pepys zu versuchen, die sehr persönlich und unterhaltsam sind, sich aber leider vorrangig mit der großen Pest von 1665 und dem großen Brand von 1666 beschäftigen, was wiederum das Problem der Antiquiertheit aufwarf.

Also tat Livorno, was man tut, wenn man nicht weiterweiß: Er googelte. Er fand einen unbekannten Autor, der als der »Samuel Pepys der Südstaaten« bezeichnet wurde (von der historischen Fachzeitschrift, die als Einzige einen Auszug seiner Werke abgedruckt hatte). Aufgeregt machte Livorno sich auf die Jagd nach dem Manuskript, und nach einem etwas irreführenden Telefonat mit meiner Mutter – sie verzichtete darauf, den Selbstmord meines Vaters zu erwähnen, in der Annahme, Livorno wisse längst Bescheid – nahm er auch mich, den vermeintlichen Urheber der Tagebücher, ins Visier. Erst bei einem persönlichen Treffen konnten wir klären, dass ich Neill Bassett junior bin, der Sohn von Neill Bassett senior. Livorno wirkte so enttäuscht, dass er mir leidtat. Dann bot er mir einer plötzlichen Eingebung folgend an, stellvertretend für meinen Vater in das Projekt einzusteigen. Ich war damals nicht auf Jobsuche. Ich war zu dem Treffen nur erschienen, weil Libby (meine Mutter) vom charmanten Henry Livorno ganz hingerissen gewesen war, sich aber vor der Aushändigung der Tagebücher davon überzeugen wollte, dass er kein Spinner war. Doch dann erschien mir die Aussicht auf einen neuen Job verlockend. Ich stand immer noch inmitten der qualmenden Ruinen meiner gescheiterten Ehe, und mein schäbiges Techtelmechtel mit einer Kollegin (meine erbärmliche Reaktion auf eine Affäre Erins vor unserer Scheidung) stand kurz vor dem Aus. Zumindest sah es seinerzeit danach aus. Außerdem hatte ich sowieso keine Lust mehr, Werbetexte für die IT-Branche zu verfassen; ich konnte genauso gut direkt für eine dieser Firmen arbeiten. Sie waren effizient, ehrgeizig, innovativ – mit anderen Worten: die Zukunft.

So kam ich zu Amiante Systems, einer ehrgeizigen und innovativen, dafür aber wenig effizienten Firma. Dem Business fehlte ein Businessplan. Das einzige Ziel des Unternehmens besteht darin, Livorno Anerkennung zu verschaffen. Zwar ist seine Laufbahn sagenumwoben, und seine ehemaligen Studenten leiten heute hochmoderne Unternehmen, unterrichten an den renommiertesten Unis, treiben die kühnsten Forschungen voran. Aber er selbst hat es nie geschafft, Kapital aus den Entdeckungen zu schlagen, für die er in die Geschichte eingehen wird. Ganz im Gegenteil, sein letztes großes Vorhaben, die Sieben Todsünden – sieben Einzelprogramme, die Computerfunktionen beispielsweise um die Eigenschaften Gier oder Stolz »erweitern« –, wurde als billige Effekthascherei abgetan. In den Blogs machte man sich darüber lustig (»Was nennt man eine gierige Suche? Suche!«, »Was ist ein stolzes Antivirenprogramm? Ein Antivirenprogramm!«). Man sprach von den Sieben Zwergen.

Wie soll einem eine Geschäftsidee, die zum Scheitern verurteilt ist, Anerkennung bringen? Indem sie sich als genial entpuppt. Aber ist irgendetwas von dem, was wir hier tun, genial? Die Frage bereitet mir Kummer. Kummer, weil ich mir Sorgen um Livorno mache und auch um mich, denn mein Job verleiht meinen Tagen eine verlässliche Struktur; an Vormittagen wie heute freut es mich, ihn in der Tür seines Büros stehen zu sehen, auch wenn ich zu spät bin und Livorno einen gereizten Eindruck macht. Er winkt mich zu sich, was bedeutet, dass er mich braucht. Ich soll mit Dr. Bassett über dieses oder jenes Thema plaudern. An Dr. Bassetts Ausdrucksweise arbeiten. Meiner Mutter eine dringende Frage stellen. Losgehen und das Mittagessen vom Thai holen. Egal, welche Aufgabe mich erwartet – Amiante ist der Ort, an dem ich gebraucht werde.

»Hat deine Mutter die Profilbögen ausgefüllt?«, fragt er. Weil Neill senior nicht mehr unter uns weilt, hat sich Libby an seiner Stelle einem Dutzend Persönlichkeitstests unterzogen – Tests, die wir uns von Tolers Partnervermittlungsseite ausgeliehen haben. Wir vollziehen eine kleine Kursänderung, um unser Projekt schneller voranzutreiben. Bislang haben wir uns auf, wie Livorno es nennt, »fallbezogene, rückwärtsgewandte Logik« beschränkt, aber nun werden wir etwas »regelbezogene, vorwärtsgewandte Logik« hinzufügen. Im Grunde geht es darum, dass wir nicht warten wollen, bis der Computer sich überlegt hat, was er denkt. Wir wollen es ihm vorgeben.

»Alle zwanzig.« Mit Daumen und Zeigefinger deute ich die Dicke des Umschlags an.

Livornos Büro ist vollgestopft mit Golfzubehör und Weinkisten, in denen sein selbst abgefüllter Zinfandel lagert. Zwischen seinen zahlreichen Diplomen hängt ein persönlich signierter Brief von Gouverneur Reagan. Livornos Rotarier-Tarnung ist nahezu perfekt. Ich nehme in einem seiner Wassilysessel mit tiefer Rückenlehne Platz. Er selbst thront auf einem Aeron-Bürostuhl. Die meisten unserer Gespräche führen wir in dieser Sitzverteilung. Das Arrangement hat etwas von Freud mit einem Patienten.

»Sie hat gesagt, dein Vater sei Romantiker gewesen.« Livorno zeigt auf das Auswertungsblatt. Ich habe das Gefühl, wir könnten jede beliebige Antwort ankreuzen – romantisch, unromantisch –, ohne dass sich tatsächlich Konsequenzen daraus ergeben würden, aber Livorno legt großen Wert darauf, dass alles korrekt ist. Er will den verborgenen Mustern auf die Schliche kommen.

»Das würde ich anders sehen.«

»Sie hat einen hohen Wert angegeben!«

»Sie wird ihre Gründe haben.«

Er runzelt die Stirn. »Deine Mutter war immer sehr objektiv.« Er klingt ehrfürchtig und ein bisschen misstrauisch.

»Aus deinem Mund ein großes Lob, Henry.«

»Es ist kein Lob. Es ist eine Beobachtung.«

»Vielleicht meinte sie ›romantisch‹ im literarischen Sinn«, sage ich. »Er war ein Romantiker im literarischen Sinn.«

»Nein, nicht literarisch.«

»Dann weiß ich nicht, wovon sie redet.«

»Wovon sie redet? Sie redet von einem Romantiker.« Er wirkt jugendlich und aufgekratzt. »Wir müssen es heute noch einarbeiten.«

»Ich kannte meinen Vater besser.«

Meine Stimme klingt schroff. Überrascht blickt Livorno von seinen Unterlagen auf. Ich bin selbst überrascht. Zwischen uns hat es noch nie ein böses Wort gegeben.

»Sorry«, sage ich. »Das Wochenende …« Er wirft mir einen argwöhnischen Blick zu, und ich verstumme. Seinetwegen kann ich herumschreien wie ein Berberaffe, solange ich nicht über mein Privatleben spreche.

»Liegen dir gegenteilige Informationen vor?«, fragt er. »Bezüglich seiner romantischen Ader?«

»Nein, nicht konkret.«

Er nimmt sich einen Apfel – einen flavonoidhaltigen Bioapfel der Sorte Pendragon, von der er auch mir täglich einen anbietet – und rollt ihn auf seiner Handfläche herum. »Keine Sorge. Er wird sich gut machen.«

»Er« ist das Programm, Dr. Bassett, das Livorno behandelt wie einen Menschen. Es gefällt mir nicht, aber ich kann nichts dagegen tun. Es handelt sich um einen Spleen – eine abgemilderte Form des Operationalismus, dem zufolge es keinen bedeutsamen Unterschied gibt zwischen Schein und Sein. Unser gesamtes Projekt basiert auf dieser Annahme.

»Die Anwendung macht mir keine Sorgen«, sage ich.

Livorno legt seine andere Hand auf den Apfel und umschließt ihn wie das heilige Herz Jesu. »Sollte sie aber, zumindest ein bisschen. Von der Feinabstimmung hängt mein Lebenswerk ab. Und der Testlauf heute.«

»Ich dachte, Toler ist sowieso ein Spießer.« Livornos Bezeichnung für unkreative Denker.

»Trotzdem hat er großen Einfluss.«

Meine Gedanken wandern zurück zum Wochenende, zur Jugendherberge, dem Mädchen. Was vermutlich mit diesem blöden Sigmund-Freud-Sessel zusammenhängt. »Kann ich die Auswertung haben?« Ich setze mich hastig auf, spüre einen leichten Schwindel. »Ich mache mich gleich an die Arbeit.«

»Du siehst schon viel besser aus, Neill. Hast dich am Wochenende wohl gründlich ausgetobt.« Damit ich die Äußerung nicht als Frage auffasse, rollt er auf seinem Bürostuhl vorsichtshalber zum Monitor hinüber und macht sich daran, unter tonlosem Summen und mit der für ihn typischen flinken Zweifingermethode auf die Tastatur einzuhacken.

Ich trage die Auswertungsbögen durch den Eingangsbereich und an meinem dunklen Büro vorbei ins Hinterzimmer. Unsere Etage, eine von fünfen in einem »Start-up-freundlichen« kleinen Gewerbegebäude in Menlo Park, beherbergte früher eine insolvent gegangene Näherei. Wenn ich von der Arbeit komme, kleben Fäden an meiner Kleidung. In den beiden vorderen Räumen – meinem Arbeitszimmer und dem von Livorno – muss die Verwaltung untergebracht gewesen sein, möglicherweise haben hier auch private Nähkurse stattgefunden. Im Hinterzimmer, das die Hälfte der Etage einnimmt, befand sich die Näherei. Heute sitzen dort Laham, unser pfannkuchengesichtiges Computergenie aus Indonesien, und Dr. Bassett, eine Säule aus vielfach miteinander verdrahteten Rechnern, Frontend-Prozessoren und Primärknoten in einem stählernen Rahmengestell mit Glastür und Belüftungsgitter obenauf. Das Ganze erinnert an einen Profiweinschrank. Laham staubt das Gehäuse jeden Morgen mit einem Feuchttuch ab. Die in die Prozessoren eingebauten Lüfter werden von frei stehenden Ventilatoren und einer Klimaanlage unterstützt, die alle zusammen ein Dröhnen so laut wie ein Schnellboot erzeugen. Es ist schwer, sich Laham bei dem Lärm verständlich zu machen, aber sein Englisch ist ohnehin begrenzt. Livorno hat seine Beziehungen spielen lassen, um dem Jungen ein Arbeitsvisum zu beschaffen.

Ich hämmere gegen die Metalltür, aber Laham schaut nicht auf. Ich warte, bis er von allein auf mich aufmerksam wird, und winke freundlich. Er ist noch ein Kind, höchstens dreiundzwanzig. Er ist fleißig, präzise, ein bisschen tollpatschig, und er nippt gerade an einem Energydrink namens Bawls. Er hat keine schmutzigen Gedanken, und als er mich einmal nach der Bedeutung unseres Namens fragte, sagte ich ihm, der stehe für einen Zustand, in dem man so müde ist, dass man weinen möchte. Es hat sich zu einem Insiderwitz zwischen uns beiden entwickelt, weshalb er sich jetzt die Augen reibt und den Mund verzieht wie ein unglückliches Baby.

»Ich habe die Antworten«, sage ich und lege die Papiere auf den Schreibtisch. Laham wird sich die Auswertung ansehen und daraus neue Regeln für Dr. Bassett ableiten. Vermutlich wird noch bis zum Mittagessen ein Romantiker aus ihm gemacht. »Meinst du, wir sind startklar?«

Er schenkt mir ein Nix-verstehen-Lächeln.

»Der Testlauf«, sage ich. »Hast du ein gutes Gefühl?«

»Nein, nein. Wir sind noch nicht so weit.«

»Aber heute ist der Tag!«

Laham trinkt einen Schluck Bawls und wirft mir einen strengen Blick zu. Er hat dunkle Ringe unter den Augen. »Wir sind noch nicht so weit.«

Dann gehe ich endlich in mein Büro und setze mich auf meinen Aeron, aufrecht und entspannt, was in etwa den positiven Effekten entspricht, die der Job auf mein Leben hat. Trotzdem wundere ich mich – wie fast jeden Montag – darüber, dass meine zweijährige Anwesenheit in diesem Raum kaum Spuren hinterlassen hat. Immer noch derselbe nackte Rigips, dieselben Möbel an derselben Stelle. Vermutlich eine Reaktion auf den Individualisierungsdruck meiner vorherigen Arbeitsstelle, wo man uns aufgefordert hat, unsere Arbeitsnischen aufwendig zu dekorieren und unser wahres Ich zu zeigen. Diese unberechenbare Mischung aus Ironie und Nötigung brachte die meisten Mitarbeiter dazu, es mit der persönlichen Ausgestaltung zu übertreiben. Hufeisen, Hello Kitty oder, wie in meinem Fall, Fanartikel der San Francisco Giants im Wert von sechshundert Dollar. Andererseits liegt mein vorheriger Job so lange zurück, dass ich mir die verstaubte Gesichtslosigkeit meines Büros doch nicht ganz erklären kann. Seien wir ehrlich: Mehr als genug meines wahren Ichs geistert durch den Computerturm im Hinterzimmer. Ich könnte es mir hier gemütlich machen, aber ich tue es nicht; meine Dekoration fällt spärlich aus. Ein paar Fotos auf dem Schreibtisch – eines zeigt den Dolores Park von meiner Wohnung aus, das andere den Machu Picchu, den ich zusammen mit einer flüchtigen Liebschaft (die auf dem Bild nicht zu sehen ist) bereist habe. An der Tür hängen eine Windjacke und ein verstaubter Tennisschläger. Ich habe mich einer Mittagspausen-Spielergemeinschaft angeschlossen, bislang aber noch kein einziges Match bestritten. Rechts und links von der Tastatur ein Massageball, um dem Karpaltunnelsyndrom entgegenzuwirken. Ein Bücherregal mit einem halben Meter von Büchern zum Thema künstliche Intelligenz (die ich auf die mir eigene planlose Weise durchgeblättert habe) sowie die achtundneunzig gelben Schreibblöcke, in denen mein Vater sich verewigt hat. Über dem Monitor schließlich hängt ein Bild von Alan Turing, ein Ausdruck aus dem Internet, der mich daran erinnern soll, dass unser Fachgebiet im Allgemeinen und unser Projekt im Speziellen eine denkwürdige Vorgeschichte haben. Turing lächelt geheimnisvoll in Richtung Tür und scheint sich über jeden Besucher zu amüsieren, beziehungsweise über den Umstand, dass ich so gut wie nie Besuch bekomme.

Ich habe von Informatik keine Ahnung, genau genommen nicht einmal von Naturwissenschaften. Ich habe nichts weiter vorzuweisen als einen unnützen Abschluss in Betriebswirtschaftslehre. Ich bilde mir allerdings ein, wissenschaftlich denken zu können, für Neues offen zu sein und ohne große Vorurteile durchs Leben zu gehen. Ich lege Wert auf Fakten und Beweise. Das ganze Projekt von Amiante basiert auf der Suche nach Beweisen. Wir wollen den ersten »intelligenten« Computer bauen, und der Begriff Intelligenz ist streng definiert: Der Computer soll dreißig Prozent der Juroren überlisten können. Dreißig Prozent! Ah, die wunderbaren Messbarkeiten des Lebens.

Leider haben wir uns der Marke nicht einmal angenähert. Wir würden nicht einmal ein Prozent täuschen. Null Komma ein Prozent. Nach zwei Jahren Training redet Dr. Bassett immer noch so:

frnd1: erzähl mir von john perkins

drbas: john perkins ist eins sechzig groß und kantig wie eine hecke

Diese Unterhaltung klingt lächerlich primitiv, dabei ist sie alles andere als das. Wir bilden fraglos die Avantgarde in Sachen sprechende Computer und sind der Konkurrenz um Längen voraus. Aber was für Unterhaltungen wir führen! Sie kreisen um todlangweilige Kleinigkeiten – was mein Vater gegessen und mit wem er geredet hat, was er über das Essen und seinen Gesprächspartner gedacht hat. Er empfiehlt bestimmte Bodenmischungen (halb Tonerde und halb Kuhdung, das Geheimrezept seines Onkels Joe zur Tomatenzucht) und wettert gegen das wässrige Importgemüse aus Kalifornien. Er gibt erheiternde Anekdoten über seine Patienten zum Besten. Er wägt die orale gegen die intravenöse Antibiotikagabe ab. Schon die Existenz der Tagebücher hatte mich und meine Mutter überrascht, aber ihr Umfang – fünftausend Seiten, die gute zwanzig Jahre umspannen – war geradezu schockierend. Und trotzdem finden sich keine sensationellen Offenbarungen darin. Seite für Seite nichts als persönliche Ansichten und Details, die in ihrer schieren Menge den Autor ebenso verhüllen, wie sie ihn entblößen. Es gibt nur wenige Überraschungen – zum Beispiel die Besorgnis, mit der mein Vater die »weibische Art« meines Bruders beobachtete – und kaum Hinweise auf den Menschen hinter dem Tagebuch, höchstens die Ahnung, dass sich da nichts finden lässt. Die Tagebücher sind genau, penibel, zugeknöpft, sie sind unbekümmert und unpersönlich – so wie der Mann selbst. Der Text erstickt fast an Lokalkolorit. Nur wenige der Aussagen über die jungen Leute von heute hier und die jungen Leute von heute da beziehen sich auf meinen Bruder oder mich. Auf meine Mutter hat mein Vater mehr Tinte verwendet, allerdings nur, um sie als Karikatur der tugendhaften Südstaatenschönheit zu präsentieren. Stark, schlagfertig, eine Southern Belle. Genau der Unsinn, vor dem ich zu den wässrigen Tomaten nach Kalifornien geflohen bin (die in Wahrheit köstlich schmecken). Lebendig wirken nur ein paar Charaktere aus der Nachbarschaft, unter ihnen Willie Beerbaum, ein Freund meines Vaters, der für sein loses Mundwerk berüchtigt war. Manchmal wünsche ich mir, das Programm würde auf Willie basieren.

Als die Historische Gesellschaft einen Auszug seiner Tagebücher publizierte und meinen Vater zum »Samuel Pepys der Südstaaten« erklärte, ging ich noch aufs College. Die Bezeichnung erschien mir würdevoll, auch wenn ich nie von Samuel Pepys gehört hatte. Ich wusste, mein Vater wäre stolz gewesen. Seine Tagebücher sind eine Art Liebeserklärung an das Altmodische, an die Traditionen. An der Gegenwart hat er stets gelitten. Ich glaube, er sehnte sich geradezu nach einer guten, alten Choleraepidemie, denn dann hätte er die Armen und Kranken behandeln und heldenhaft ihre unerträglichen Schmerzen lindern können. Stattdessen sah er sich mit den üblichen krankenversicherungstechnischen Schikanen konfrontiert und mit Patienten, die sich an Kartoffelchips zu Tode fraßen. Die Veröffentlichung der Tagebuchauszüge hatte keinen einzigen Brief an den Herausgeber zur Folge. Kein Wunder. Der Text klang in weiten Teilen so: »Habe die Schindmähre Blazers an den alten John Perkins verkauft, der die Farm draußen an der Chambersville Road besitzt. Ich kann mir nicht erklären, was er mit ihr vorhat. Der Mann ist eins sechzig groß und kantig wie eine Hecke, und Blazers ist ein halbes Vollblut. Wird Perkins es wagen, sich auf ein solches Ross zu schwingen? Aber er hat mir ein gutes Angebot gemacht, und man soll dem Menschen sein Vergnügen nicht verbieten, so närrisch es auch anmuten mag. Les Roark sagt, Perkins sei letzte Woche in den Grand Leader gekommen und habe nach einem Stetson-Hut gefragt.«

Der Eintrag ist von 1983! Michael Jackson trug einen Strasshandschuh. Die Challenger umkreiste die Erde. In der Sowjetunion wurde Pepsi Cola verkauft. Warum klingt mein Vater, als würde im Weißen Haus immer noch Andrew »Old Hickory« Jackson wohnen?

Als ich den Job annahm, verschwieg ich Livorno, dass ich von den Tagebüchern meines Vaters nichts gewusst hatte und unser Verhältnis nicht besonders eng gewesen war. Stattdessen stellte ich mir vor, wie ich unter den Augen meiner alten Exkollegen meine San-Francisco-Giants-Andenken in einen Karton packen würde, und nahm Livornos Angebot freudig an. Vermutlich gab es niemanden, der besser für den Job geeignet war als ich. Meine Mutter hatte meinen Vater besser gekannt, aber sie war nicht interessiert daran, nach Kalifornien zu ziehen und Vollzeit in einem Büro zu arbeiten. Und mein Bruder war (ist) zu ehrfürchtig in Bezug auf meinen Vater. Ich bilde mir ein, im Gegensatz zu ihm nicht von Sentimentalität geblendet zu werden.