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Für Michel Maffesoli (1997) ermöglicht die Funktion der Deontologie des Augenblicks dem Menschen die Wiederbegegnung mit dem Anderen, das von den Affekten, der wilden und künstlichen Sensibilität durchdrungen wird, jenem Anderen, das wir in der Welt des Carpe Diem finden, das den Augenblick als das Ewige denkt, als das, was dem bereits Etablierten, dem Fremden und dem Unbekannten, der Ästhetik des Alltäglichen, den Nicht-Orten, die die Freiheit des Subjekts bekräftigen, gegenübersteht. Eine zu saubere Liebe, ein Buch von Alexis Cuzme, greift dieses Konzept auf, welches jenen Autoren eigen ist, die sich die Missverständnisse des Alltags zunutze machen, um Figuren zu schaffen, die in der Gegenwart leben.
Die Geschichte, die Cuzme kreiert, geht von der Zeit aus, als gäbe es kein Morgen mehr, und von seinen Figuren als bräuchten sie eine Gewissheit, um als solche angenommen zu werden; Technik, Musik, Kleidung, Poesie, Alkohol werden zu Artefakten des ewigen Augenblicks. Die Erzählung von Alexis Cuzme durchleuchtet den Menschen, der der Zukunftsprojekte überdrüssig ist; das Imaginäre des Glücks hingegen beruft sich auf Kants Maxime ”Der Fortschritt zum Besseren ist a priori in dem Erfahren zu finden...”. Aus diesem Grund betrachtet Eine zu saubere Liebe diese Welt, die nicht funktioniert, die in sich zusammenfällt; Charaktere, die auf der Zerbrechlichkeit des Lebens aufgebaut sind, aber davon ausgehen, dass die conditio humana in der ständigen Rückkehr zum Gleichen besteht.
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Seitenzahl: 68
Veröffentlichungsjahr: 2022
Der Schamhügel meiner Freundin ist auch Poesie
Lass meine Hand los und die Stadt wird mich verschlingen
Ein treibender, lebloser Fisch
Geheimnisse, um nachts nicht mehr zu schlafen
Die Nacht ist ein unvollendbares Gedicht
Niemand wird an unserer Liebe zweifeln
Aus einem vergessenem Stück Stadt
Beschwerden eines Masochisten mit Gehalt
Verweigerung vor dem burlesken Spiegelbild
Das intime Spektakel eines Pantoffelhelds
Ein Kadaver für die Gehässigkeit
Das Nichts ist ein wiederkehrendes Bild
Die Stadt ist verrückt geworden
Geheimnisse per Mail
Die Abwesenheit von meinem Ufer aus
Noemí aus dem Schatten
EINE ZU SAUBERE LIEBE
Alexis Cuzme
(Aus dem Spanischen ins Deutsche von Leon Paul Henkel)
Eine zu saubere Liebe
© Alexis Cuzme, 2021
© Libros Duendes, 2021
© Leon Paul Henkel, 2022
© Tektime, 2022
Buchcover Design, Bearbeitung und Layout:
Editorial Libros Duendes S.A.S.
Kein Teil dieser Veröffentlichung darf in irgendeiner Form, durch Fotokopie oder auf andere Weise, ohne die schriftliche Genehmigung der Urheberrechtsinhaber vervielfältigt werden.
Eine zu saubere Liebe
Alexis Cuzme
Es gibt etwas, das mich schlussendlich aus dieser Stadt verstoßen wird,
in der ich arm, jung und glücklich war,
etwas reicher und weniger jung,
wirklich glücklich und zutiefst unglücklich.
Alfredo Bryce Enchenique,
Das übertriebende Leben des Martín Romaña
Ich erinnere mich daran, dass wir alle glücklich waren
und das Blut floss,
ich einen Helden namens Jackie Chan hatte
und mir nichts anderes gefiel,
die Liebe war zu sauber
als dass man mit ihr spielen konnte
und die Luft roch stets nach Koffein und Nikotin.
Diego Lara, Wiegenlied
Was bringt es vor den Städten zu fliehen,
wenn sie einen doch bis ans Ende der Welt verfolgen.
Antonio Muñoz Molina, Der Winter in Lissabon
Ich gehe eine Straße hoch, ein andere hinunter,
durch ein Labyrinth ohne Ende,
schlage immer und immer wieder
gegen die Neonstangen dieses Käfigs einer Stadt.
Daniel Keyes, Blumen für Algernón
Katatonia hätte in diesem Moment nicht besser klingen können, jede einzelne ihrer Melodien hat mich gepackt. Ich habe die Krise der Schreibblockade überwunden – denn es kommt der Moment, in dem man alles zum Teufel jagt und sich nur noch anschickt auf dem Bett als Parasit zu leben, glaubend, dass die Welt da draußen zu Ende geht und die Zerstörung und Selbstzerstörung ihren Rhythmus beschleunigt hat - und nach einem Bad habe ich mich vor dem Bildschirm niedergelassen, um zu sehen, was ich im Internet an Hoffnungsvollem oder Irritierendem finden kann. Die Neugier der Cybernauten – von denen auch einige Schriftsteller sind – besteht daraus, einen Blog zu schreiben. Noemí bestand darauf, dass ich meinen eigenen erstelle und ich, obwohl ich ein Gegner der aktuellen Strömung bin, willigte ein:
http://aufdassdasbösebeschützt.blogspot.com/
Sie lachte hat über den Namen des Blogs und schlug später einige Alternativen vor, unter anderem Namen voller Verniedlichungen, die ich – weil sie lächerlich waren - nicht in Betracht gezogen habe:
http://tröpfchendeszorns.blogspot.com/
http://dünnebitterkeit.blogspot.com/
http://poetischesknöchlein.blogspot.com/
Mein Blog hat seit seiner Erschaffung hunderte Besuche und Beglückwünschungen für die veröffentlichten Texte verzeichnet, außerdem Beleidigungen weil meinen Kriterien nicht zugestimmt wird, Einladungen um andere Blogs zu besuchen, unanständige Vorschläge von ungestümen Besucherinnen, sowie frischen Tratsch von Schriftstellern. Ich bin bei den Meinungen zu meinem Artikel „Die Schamgegend meiner Freundin ist auch Poesie“ hängengeblieben. Die Reaktionen waren schnell, erst letzte Woche hatte ich ihn hochgeladen, jedoch wurden schon mehr als dreißig Kommentare dazu geschrieben. Deren Verfasser - auch wenn nicht alle - fanden meine schamhafte Position und Vorschlag amüsant. Ja, ich habe übertrieben als ich meinte, dass der weibliche Schamhügel und ihre Anziehung gegenüber dem anderen Geschlecht, oder auch dem gleichen Geschlecht, dieses zur lyrischen Kreation bewegen könne, stets und vor allem wenn eine künstlerische Neigung dazu bestehe. Dass die verborgene Üppigkeit in der Lage sei, zu verwirren, bis hin zum Eintauchen in geheimnisvolles Geschwafel. Dass der Schamhügel, welcher Couleur auch immer, beim Kontakt mit den Fingern, nah an der Nasenspitze, ein Auslöser des Schreibens sei, vorausgesetzt es existiert die Vorstellungskraft des Poeten. Dass ihre Beschaffenheit, Geruch, ihr klandestiner Zustand, Möglichkeiten der Übertretung gegenüber den Skandalisierten biete. Dass ein Schamhügel, auch wenn nicht so kommerziell wie das Herz – das Subjektive wohlgemerkt - , die Lippen, das Haar, die Beine, die Hände… ein Element sei, dass Dichter und Geschichtenerzählerinnen schon früher in ihren Texten verwendeten, vor allem Frauen, welche es schafften auf sich selbst zurückzugreifen, um ihren Kreationen Leben einzuhauchen.
Vor allem der finale Teil des Auf-sich-selbst-Zurückgreifens zu Gunsten der Poesie hatte viele Besucherinnen furios gemacht, jene die mir, wie zu erwarten, alles mögliche schrieben: von der Feststellung, wie schlecht und langweilig ich als Blogger sei, bis hin zur Verfluchung meinerseits mit einem "gonorrhoischem-visuellen-Hornbruch", wobei ich nicht weiß, wie es ist, darunter zu leiden, aber ich habe darüber gelacht. Auf der anderen Seite schriebe mir einige der Poetinnen, sie hätten sich depiliert und nun Schwierigkeiten damit, ihre eigene Inspirationsquelle zu sein. Andere, professionelle Karrieristen, flehten mich an, eine Art Handbuch zu schreiben und es online zu stellen, dass es sehr nützlich wäre, dass die dichterische Gemeinschaft mir dafür danken würde und dass ich es sogar zu einem Wettbewerb schicken und diesen quasi garantiert gewinnen könnte…
Das Telefon klingelt. Noemí, an der anderen Leitung, sagt mir, dass sie sich meinen Blog angeschaut und ihr dieser Artikel über die Schamhügel überhaupt nicht gefallen habe… was mir einfallen würde, dass ich keinen Schwachsinn schreiben soll oder wir machen Schluss, warum ich „Pärchengeheimnisse“ veröffentliche und am Ende doch nur ein „klappriger Scheißopportunist“ sei. Ich antwortete mit Gelächter. Schlechte Idee. Und wie könnte ich nicht über sie schreiben, über ihre Intimität, über die Situationen, die unser Leben ausmachen, wenn es doch das ist, was ich bin: ein Schreiber von Erfahrungen, ein gefräßiger Räuber von Geschichten, ein halluzinierter Empfänger dessen, was er sieht und hört, ein Eindringling in die Dramen anderer Leute. Sobald ich den Blog einer Poetin – eine Merkwürdige, Kecke und Einhüllende in ihrem Schreiben – zu Ende gelesen habe, werde ich Noemí anrufen um mich zu entschuldigen und um ihr zu sagen, dass das, was sie "Pärchengeheimnisse" nennt, seit Sex and the City alltäglich geworden ist, dass sie aufhören soll, so dramatisch und prüde zu sein, und dass sie sich zusammenreißen könnte, denn seit ich Hannah Horvath im Internet gefunden habe, wird die Liebe Tag für Tag zu einer leuchtenden Leinwand, die mehr Leben in der Öffentlichkeit verlangt.
Sie hasse meine Art im Bus zu lesen, ich mache nichts weiter, außer mich an der aberwitzigsten Vervielfachung der Fiktion zu verschlucken, ich solle Luft holen und die Stadt bewundern: ihre Straßen, Gewalt, Bettelei, Vermarktbarkeit, ihre Leute und sie. Ich lasse das Buch kurz ruhen, um mich ihr zuzuwenden. Ich verabscheue diese Szenen, die gekünstelte Weise meine Aufmerksamkeit durch Banalitäten zu erlangen. „Das was ich mache,“ sage ich ihr, „ist mehr wert als irgendeine mit Schlaglöchern übersäte Straße, als eine von Verbrechern befallene Ecke und irgendein neues, unehrliches Kartell, welches das Zentrum der Stadt beschmutzt.“
Sie schweigt.
Der Bus ist angehalten und neue Fahrgäste strömen in den Raum, ich habe meinen Blick nicht zu dem Buch abgewendet, auf ihre Stimme wartend. Also sagt sie mir wie sehr sie den aufmerksamen Mann vermisst, jener, der alles aushielt solange er an ihrer Seite war, das deprimierte Großmaul, das immer ein neues Abenteuer auf den Lippen hatte, um sie zu unterhalten. „Es ist komisch wieder zu vermissen, sich von sich selbst zu lösen, um sich dem Entfernten zuzuwenden.“ sagt sie mir aufs Neue, nun gelassen, nostalgisch und schnulzig. Sie weiß, dass jetzt ein guter Zeitpunkt ist, um alle verbrauchten, romantischen Szenarien zu verscheuchen. Dass das Schreiben und das Lesen zwei Gründe seien, um ihr und der Stadt für einen Augenblick aus dem Weg zu gehen. Dass nichts und niemand sich ändern werde, so wie die städtische Alltäglichkeit, die mich umgibt, nur wegen meiner halbstündigen Losgelöstheit von der Realität. „Wir wären die perfekten Bewerber, um die Protagonisten von Girls