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Einen Moment bitte
Texte zu Alltäglichem
mit Illustrationen von Jan Wiegand
Das E-Book Einen Moment bitte wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Kurzgeschichten,Texte zu Alltäglichem,Texte aus dem wöchentlich erscheinendem Schreiblog RAU-WIE-BLOG,Mit Illustrationen,Vergnügliches, Nachdenkliches, Überraschendes
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Seitenzahl: 120
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Vorwort
Keine Ahnung
Sehnsucht
Weitere Aussichten
Kann ich dich mal was fragen?
Heimat
Cargohosen
Ab und zu ein bisschen
Ich? Niemals!
Pfiffe
Neulich vor drei Jahren
Oder einfach schwarz?
Eigentlich
Schlechte Laune
Entscheide du
Glück
Alles viel zu eng
Sonne
Ich hab’s gewusst
Tomaten weinen
Nur so
Streifen
Kann später werden
Warten
Salz
Spielchen
Einen Moment bitte
Nachwort
Letztes Jahr haben wir unser erstes Buch ‚Da draußen‘ veröffentlicht. Nach der großen Resonanz haben wir wieder sechsundzwanzig Themen samt neuen Illustrationen zusammengestellt.
Seit Ende 2021 veröffentlichen wir auf unserem RAU-WIE-BLOG jeden Freitag zwei Texte zum Alltäglichen. Ein sich spontan ergebendes Thema, ein Wort oder ein Foto dient beim Speed-Writing als gemeinsamer Impuls. Zwei Erzählungen, zwei Erinnerungen, zwei Meinungen zum gleichen Thema im gleichen Zeitraum geschrieben. Beim Vorlesen zeigen sich nicht selten parallele oder konträre Assoziationspfade, treten häufig überraschende Übereinstimmungen und Unterschiedlichkeiten auf. Mittlerweile hat sich unsere Freude fest im Alltäglichen etabliert, auf diese Weise spontan Texte zu schreiben und Geschichten zu erzählen.
Wenn Sie Lust auf weitere Geschichten haben, besuchen Sie unsere Homepage: www.rau-wie.de
Möchten Sie wöchentlich über Neuerscheinungen informiert werden, schicken Sie uns gerne eine E-Mail: [email protected]
Wir wünschen viel Vergnügen, das Alltägliche wieder einmal anders zu sehen.
Ute Rautenberg und Jan Wiegand
Berlin und Bonn
im Dezember 2024
Dieses Gefühl beschleicht sie ihr halbes Leben. Schon als Kind hat sie das Meiste nicht verstanden, von dem die Erwachsenen so oft und gerne geredet haben, Mieterhöhung, Lebensversicherung, Scheidung, Grundstückspreise, Inflation, Wachstum, Konkurs, Rendite. Und hat auch oft nicht verstanden, von dem in der Schule gesprochen wurde, Binomische Formeln, Peer und Ohm, Photosynthese oder die Geburt von Jesus. Eine Jungfrau bekommt ein Kind? Also blieb ihr nichts als Fragen zu stellen und damit hat sie sicherlich die Anderen oft genervt.
Heute fragt sie immer noch. Während eines Gespräches mit ihrer großen Tochter über deren Job bei bald jedem dritten Wort danach, was es auf deutsch bedeutet. Oder danach, was Bitcoins und Halbleiter sind und wie Künstliche Intelligenz, Gaspipelines und digitale Überwachung wirklich funktionieren. Ihre Frageliste ist nicht kürzer geworden. Irgendwie lebt sie die meiste Zeit ihres Lebens wie früher die Sachsen in der DDR, die im Tal der Ahnungslosen kein Westfernsehen empfangen konnten. Keine Ahnung? Das ist bei ihr der Normalzustand.
Sie kann also wirklich nicht behaupten, dass es mit steigendem Lebensalter besser geworden ist. Klar, sie kannte damals alle einschlägige und angesagte Musik bis zum Alter von vierundzwanzig oder auch fünfundzwanzig, wusste zum Zeitpunkt ihres Uniabschlusses so ziemlich alles über ihr, zugegebenermaßen sehr exotisches Forschungsthema, und wurde eine Zeitlang danach auch immer wieder gerne auf Fortbildungen und Kongressen als Spezialistin dazu eingeladen und herumgereicht. Ach, sie sind die Frau mit den … Dass das später Alleinstellungsmerkmal heißen würde, wusste sie damals noch nicht. Und auch nicht, dass sie zu diesem Zeitpunkt auf ihrem persönlichen Olymp der Wissenden gewesen ist.
Doch was gemacht daraus hat sie nicht, zumindest nicht im klassischen Sinne. Denn ihre Neugier hat sie bald wieder in neue Gefilde getrieben und in einen anderen Beruf und nach einigen Jahren in den nächsten, und jedes Mal wieder hat es geheißen, gefühlt wieder bei ‚Null‘ anzufangen, zum Glück. Neuanfang und erstmal keine Ahnung zu haben gehören für sie genauso zusammen wie Ahnung zu haben und irgendeine Form von Dauer an den Tag zu legen, zum Beispiel Wohnort und Job nicht zu wechseln, Lebenspartner und Hobbys am besten auch nicht.
Doch irgendwie hat sie die Neugier immer mehr gereizt als der Zustand Ahnung zu haben. Menschen mit viel Wissen haben sie von jeher nur dann nicht abgeschreckt, wenn sie es charmant haben vermitteln können. Am meisten hat sie deshalb Respekt vor schlauen Menschen, die sich in jede noch so fremde Materie einlesen und von den richtigen Menschen beraten lassen können, um es dann in ihrer Sprache verständlich zu vermitteln.
Nie müde werden, viele Fragen zu stellen. Das gefällt ihr. Keine Ahnung? Spielt dann absolut keine Rolle mehr oder nur noch als immer noch üblicher Spruch von ihren Kindern, die partout nicht über dies oder jenes reden wollen.
Wo geht´s lang?
Kenn´ mich hier nicht aus.
Wo sind wir jetzt?
Wo wollen wir hin?
Muss das Navi fragen,
vielleicht kann es die Antwort sagen.
Wo ist das denn?
Läd´ das noch, läuft das schon?
Keine Ahnung.
Wie funktioniert das denn?
Wie geht das hier,
wo schalt ich ein?
Wie geb´ ich was ein, wie krieg ich das weg?
Warum klappt das nicht, wieso krieg ich nichts rein?
Wie kann das sein?
Keine Ahnung.
Was sind das für Knöpfe?
Set, Charge, Reset?
Jetzt nicht gleich Stop,
ich will starten
und nicht erst warten.
Was soll das denn?
Ich hab‘ den Ausgangsort
und auch das Ziel,
was denn noch?
Keine Ahnung.
Uhrzeit und Kalenderzeit,
E-mail und Passwort,
Phone und Wohnort,
was am besten noch?
Lieblingsspeise,
Lieblingsfarbe,
vielleicht noch meinen Pass?
Da endet doch der Spaß.
Wer will das wissen?
Keine Ahnung.
Jetzt soll ich zustimmen,
soll Geschäftsbedingungen lesen,
Kleingedrucktes verstehen,
Optionen wählen,
Cookies verwalten,
Einverständnis erteilen,
passt doch gar nicht in zwei Zeilen.
Wie soll das gehen?
Keine Ahnung.
Halt doch mal an,
bleib doch mal stehen.
Wer sagte noch, alles so praktisch,
alles so läppisch,
einfach und bequem,
für jeden zu verstehen.
Wie geht´s jetzt weiter?
Wo fahr´n wir hin?
Wo sind wir hier?
Keine Ahnung.
Da bin ich wieder. Du kennst mich, magst mich aber nicht besonders, und doch geht es ohne mich meist nicht. Ich weiß, dass Du alles dafür machst, damit du mich nicht spüren musst, aber oft helfen leider auch die größten Mühen nicht. Denn nicht alles hast Du selber in der Hand, Andere bestimmen mehr, als Dir recht ist. Zufall, Schicksal, manchmal auch nur eine zu hohe Rechnung, eine Kündigung oder ein böser Machtmensch trüben die Stimmung.
Dann komme ich ins Spiel. Ich kann für so Vieles stehen: für Entspannung und Frieden, mehr Anregung und weniger Mühsal, größere Anerkennung und tiefere Bindung, gesünderes Leben und leidenschaftlicheren Sex, für Freiheit, Rechte und Sicherheit für Dich und Deine Lieben. Immer stehe ich für das Positive und für das, was gerade fehlt.
Wenn Du meinst, es reicht doch, wie du es machst. Wenn Du denkst, das wird schon werden, es ist doch alles gut. Und wenn es nicht gut ist, könnte es immerhin ja noch viel schlechter sein, dann melde ich mich bei Dir und mache Dein Leben unruhig.
Aber bin ich nicht dein wahrer Kompass? Bin ich nicht die Stimme Deines Herzens und Deiner Seele, die Dir aus dem Bauch heraus zuruft? Es ist nicht so, wie Du denkst! Es ist nicht wirklich gut! Da fehlt doch etwas! Ich zeige Dir den Mangel, und meine kleine Schwester ist die Neugier, einem Kind gleich sucht und sucht sie, findet hier und dort die Überraschungen, die es braucht, um zu sagen: Genau, deshalb lebe ich doch. Genau so soll es sein.
Einen Maler gab es, der mich mit Pinsel und Farben auf die Leinwand bringen konnte wie kein anderer. Der für diese manchmal bis zum Zerreißen schmerzende Leerstelle, für die ich stehe, Bilder schuf, die für die Ewigkeit geschaffen sind. Der kleine Mönch steht verloren vor dem großen Meer und sucht Antworten in der Weite des Horizontes, sucht vielleicht gar seinen verlorenen Gott. Männer sehen großen Schiffen nach, Paare blicken in die Weite einer grandiosen Landschaft, endlos schöne Traumlandschaften im Abendlicht, sie alle erzählen von mir.
Ich weiß, dass ich nicht gerne empfangen werde, aber wäre ein Leben ohne mich wirklich besser? Nur im Paradies könnte ich mich getrost hinter einen Baum legen und sanft einschlafen, aber wer lebt schon dort? Und die wenigen, die es vielleicht tun, meinen sie nicht allzu oft, es könnte dort noch größer, vielschichtiger und müheloser sein?
Da bin ich also wieder. Rüttele Dich, frage und plage Dich womöglich auch. Habe keine fertigen Antworten dabei, sondern nur kleine Hinweisschilder, die oft nicht leicht zu lesen sind. Verursache Schmerzen und Pein und verspreche nichts. Wenn Du mir zuhörst und vertraust, kann ich Dir immerhin den Weg der Linderung zeigen, an dessen Ende vielleicht die Erfüllung steht. Alles ohne Gewähr. Was meinst Du? Haben wir beide jetzt wieder einen Deal?
1 „Ist das nicht traumhaft“, schwärmt er zum Kellner gewandt und lässt am ausgestreckten Arm das Rotweinglas vor dem rot leuchtenden Abendhimmel gleiten. “Dieser Blick, unbezahlbar”, seufzt er, leert das Glas in einem Zug und kramt umständlich nach dem Portemonnaie in seiner Gesäßtasche. Dass er eigentlich hier in dem Fünf-Sterne- Restaurant über der Bucht von Santorin mit Margot sitzen wollte, kann der Kellner nicht wissen, auch nicht, dass sie ihm nach fünfundzwanzig Jahren kurz vor der Abreise mitgeteilt hat, dass sie sich scheiden lassen will, und er allein fahren muss. „Davon habe ich immer geträumt“ flunkert er und steckt die Rechnung ein, ohne drauf zu gucken.
2 Das ungewöhnliche Klappern vor allem bei den Abwärtsfahrten des Aufzugs ist ihr schon mehrmals aufgefallen. Genauso wie das ungewöhnliche Ruckeln der Aufzugstüren, die ansonsten immer viel zu schnell schließen. Für sie, mit Kinderwagen, zwei weiteren Kindern und den Einkaufstüten am Arm ist es schwer genug, alles zusammen in den Aufzug zu bekommen. Wie oft hat sie sich gewünscht, einmal ohne dieses ganze Gepäck unterwegs zu sein, ohne die ganze Schlepperei. Jetzt ist der Aufzug zwischen der 9. und 10. Etage stehen geblieben. Sie stecken fest. Der Mann am anderen Ende des Notrufschalter sagt, sie schicken jemanden raus. Es könne aber dauern. Diesmal hat sie keine Einkaufstüten dabei, keine Süßigkeiten, nichts zu trinken, keine Windeln, rein gar nichts.
3 Ein Pool, dessen Wasseroberfläche genau mit dem Beckenrand abschließt. Einer, bei dem man während des Schwimmens auf das prächtige Bergpanorama blicken kann statt auf blaue Fliesen. Genauso hat er es vor neunzehn Jahren in der Villa seines Chefs gesehen und damals den Entschluss gefasst, eines Tages auch so etwas zu besitzen. Und dann, vor einem Jahr, hat er sich so eine Villa leisten können, mit einem Pool, dessen Wasserkante bis an den Beckenrand reicht. Der eigene Pool im Voralpenland, das fühlt sich gut an, wenn man das geschafft hat, dann kann man auch mal über den Tellerrand schauen. Hier schaut er über den Beckenrand, nahezu jeden Morgen. Doch schon jetzt kann er nichts Aufregendes mehr daran finden.
4 Seit drei Stunden warten sie in der Menge vor den Eingangstoren des Stadions. Es regnet. Sie schaut auf ihre Schuhe. Die sind neu, genauso wie Jacke und Hose, der neue Haarschnitt und die neue Brille. Alles angeschafft für dieses Mega-Event, für diesen Tag. Die Konzertkarten waren schon teuer genug, Flug, Hotelbuchung in München und all das kam noch hinzu. “Wenn schon, denn schon“, hat sie immer zu ihrem Mann gesagt. Wie sehr hat sie diesen Tag erwartet. Sie versucht ein Selfie zu machen, doch alles sieht bescheuert aus. Überall riesige Plastikkapuzen, Regenschirme, darüber grauer Himmel. Trotzdem schickt sie das Foto ihrer besten Freundin mit den Worten: „In spätestens drei Stunden werden wir Andrea auf der Bühne erleben können, ich bin so aufgeregt.“ „Erkälte dich nicht, meine Kleine“, heißt die unmittelbare Antwort. „Du könntest mich ruhig ein wenig mehr beneiden“ schreibt sie schnippisch zurück.“
Jetzt kommt nichts über das Wetter, keine Sorge. Und es kommt auch nichts zum Verlauf der anderen, ziemlich unerquicklichen Themen, die seit Monaten die Schlagzeilen beherrschen.
Ich werde von Agnes und Amir erzählen, und Sie werden staunen, da bin ich mir sicher. Vor über einem Jahr habe ich die beiden zusammengebracht, die sich sonst niemals kennengelernt hätten, da bin ich mir noch sicherer. Aber schön der Reihe nach, wir haben ja ein wenig Zeit. Und das ist in dieser Geschichte ziemlich wichtig, Zeit füreinander zu haben.
Agnes ist meine Nachbarin und hunderteins Jahre alt. Sie war sehr viele Jahre glücklich verheiratet, leider ist ihr Mann schon über dreißig Jahre tot, und seitdem ist Agnes Witwe, eine ziemlich unglückliche, wie ich fand. Früher eine selbstbewusste und angesehene Chefsekretärin dümpelte sie in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung immer mehr vor sich hin, vergaß zu essen und hatte so gar keine Freude mehr am Leben, sie vereinsamte. Ihr gesetzlicher Betreuer wollte sie in eine Pflegeeinrichtung geben, doch da hat sie rebelliert. Und so habe ich auf einem WG-Portal eine Suchanzeige gestartet, Wohnung gegen Betreuung, dreiundzwanzig Frauen haben sich gemeldet und ein Mann.
Dieser einzige Mann war Amir. Sportstudent aus dem Iran, achtundzwanzig Jahre jung, wegen seiner Homosexualität hat sich seine Familie von ihm abgewandt, und er hat sein Land verlassen, hat hier gutes Deutsch gelernt, macht eine Ausbildung zum Krankenpfleger und spielt leidenschaftlich gerne Hallenfußball im Verein.
Seit einem Jahr wohnt er nun schon bei Agnes, schläft auf dem Sofa im Gästezimmer und hat seine Sachen in einem mobilen Plastikschrank hinter der Tür verstaut. Er arbeitet viel, macht seinen Sport und kümmert sich um Agnes, ‚seine Oma und seine Familie‘, wie er sie immer wieder liebevoll nennt. Er kauft ein, macht Frühstück, wenn er Spätdienst hat, und Abendessen, wenn er Frühdienst hat. Er putzt ihre Zahnprothese und steckt sogar glänzende Klämmerchen in ihr schneeweißes Haar. Bringt sie ins Bett oder weckt sie in der Früh und erzählt ihr von seinem Tag. Trägt sie drei Stockwerke hoch und runter, wenn der Fahrstuhl mal wieder streikt, schiebt sie im Rollstuhl durch die Straßen, geht mit ihr ins Schwimmbad und in den Zoo, nimmt sie mit zu seinen Freunden in die Schisha-Bar, singt und tanzt sogar mit ihr im Wohnzimmer. Nimmt oft ihre Hand, und sie seine, sie berühren sich viel, reiben ihre Nasen aneinander, geben sich kleine Küsse auf die Wangen und sagen voller Überzeugung und auch Dankbarkeit, was wären wir nur ohne einander. Gerade planen sie ihren ein-hundertzweiten Geburtstag in einem Monat, den sie mit mir und einigen seiner Freunde in einem kleinen Lokal feiern wollen.
Wer hätte sich das alles vor einem Jahr vorstellen können? Ohne Amir würde Agnes vielleicht gar nicht mehr leben oder längst in einem Pflegeheim vor sich hindämmern, und ohne Agnes würde sich Amir in der großen Stadt im fremden Land nicht so angekommen fühlen. So geben sie sich beide das, was sie brauchen.
Die weiteren Aussichten? Wer weiß schon, was das Leben bringt, auf jeden Fall sind die beiden mittlerweile so etwas wie ziemlich beste Freunde geworden, und hoffen, dass der nächste Geburtstag hoffentlich nicht Agnes letzter sein wird.