Einfache Geschichten komplexer Menschen - Anne Chavez - E-Book

Einfache Geschichten komplexer Menschen E-Book

Anne Chavez

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Beschreibung

Die hier versammelten Geschichten entstanden in der Schreibzeit. In dieser Frankfurter Schreibgruppe verfassen die Teilnehmenden alle zwei Monate zu einem jeweils spontan bestimmten Thema einen kurzen Text.

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Seitenzahl: 106

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Karma

HaRu Neidhardt

Nächster Halt Göttingen

Katharina Wolff

Triest

Anne Chavez

Abgründiges

Thomas Ormond

Aus ist´s

HaRu Neidhardt

Glückssträhne

Anne Chavez

Valldemossa

Anne Chavez

Chuzpe

HaRu Neidhardt

Diebe

Thomas Ormond

Vor Weihnacht – Zeit der Erwartung

Katharina Wolff

Einst focht mit Worten

HaRu Neidhardt

Ab ins 16. Parallel-Universum

Anne Chavez

Taxi im Mai

Thomas Ormond

Auf den Hund

HaRu Neidhardt

Ringelnatz und Morgenstern

HaRu Neidhardt

Fensterlos

Anne Chavez

Schlehmils Eigentum

Anne Chavez

Balkonspektakel

Thomas Ormond

Das Maisfeld

Katharina Wolff

Baby Ruth

HaRu Neidhardt

Reparatur am Bau

Anne Chavez

Unabhängigkeitstag

Anne Chavez

Neun kleine Schreiberlein

Katharina Wolff

Was und wer hinter den Geschichten steckt

HaRu Neidhardt

Karma

Sie sitzt auf meiner Hand, ganz ruhig. Ich führe die Hand näher an die Augen, sie bleibt sitzen. Wie ein Plastikinsekt aus dem Scherzartikel-Versand. Vorsichtig, um sie nicht aufzuscheuchen, taste ich mit der anderen Hand, zum Glück habe ich ja zwei, nach meiner Brille. Die zeigt mir das Wesen deutlicher, keinesfalls aber so detailliert, wie ich es gerne sehen würde. Mein Blick gleitet über das Durcheinander auf dem Tisch. Lag da nicht immer eine Lupe? Ach, da.

Plötzlich steht mein gewohntes Größen-Koordinatensystem kopf. Direkt auf mich gerichtet, riesige halbkugelförmige Sehschalen. Wie nimmt sie mich wahr, die Fliege? Keine Pupille. Keine Reflexe, keine glänzenden Lichtpunkte. X-mal facettierte Oberflächen, ein Beinahe-360-Grad-Panoramablick, dem nichts entgeht. Aber so fremd. Nichts, was uns wirklich verbinden könnte. Was denkt sie? Denkt sie überhaupt? So sitzen wir uns gegenüber, stumm und unfähig, einen Zugang zueinander zu finden. Aber nun – Musca domestica streicht mit den Vorderbeinen ihre länglichen, unten am Kopf herabhängenden Mundwerkzeuge glatt.

»Rufst du mir bitte ein Taxi?«, sagt sie mit feiner, aber sehr deutlicher Stimme.

Ich verliere die Fassung – nur für eine Sekunde oder zwei, und schaffe es dennoch, die Hand mit der Fliege ruhig zu halten.

»Wa… wie… d… du kannst ja sprechen«, stottere ich entgeistert.

Musca rührt sich nicht. Man könnte meinen, dass ich mich verhört habe; dass ich träume; dass das alles gar nicht wahr sei.

Das Licht liegt matt auf den riesigen facettierten Augenhalbkugeln.

»Ich habe einen Traum«, höre ich Musca weiterzirpen.

I have a dream, gellt es in meinen Ohren. Wie lange ist das schon her – I have a dream – ist er inzwischen wahr geworden, der Traum? Ist Zeit das einzige, dessen es bedarf?

Als könne sie meine Gedanken lesen, sagt Musca: »Aber mir fehlt einzig und alleine ein Taxi.«

Wie schnell arrangiert sich der Mensch mit absurden Situationen?

Ich muss nicht einmal schlucken, bevor ich mich auf ein Gespräch mit dem Tier einlasse. Es sitzt ganz ruhig da. Es schaut in meine Richtung – eindeutig, würde ich sagen. Entspannt ruht es auf seinen sechs schwarzen Beinchen, die Flügel elegant über dem Körper haltend. »Soll dich das Taxi irgendwohin fahren, warum fliegst du denn nicht selber?«, frage ich so beiläufig wie möglich.

Wieder glättet Musca mit ihren Vorderbeinen ihr Mundwerkzeug.

»Ich bin schon alt«, sagt sie. »Wer aus meinem Volk hatte schon Gelegenheit, dem obersten Heiligtum aller Fliegen einen Besuch abzustatten? Eine Wallfahrt dorthin ist der Traum meines Lebens. Wenn ich ihn realisieren will, muss ich mich ranhalten.«

Ach du lieber Himmel, denke ich. Eine Wallfahrt für Fliegen. Vor meinem inneren Auge entsteht das Bild einer kilometerlangen, surrenden und brummenden Fliegenfahne, von hier bis nach – nach –

»Wohin soll dich deine Pilgerfahrt bringen?«, frage ich.

»Natürlich zum Monte Scherbelino«, erklärt Musca mit einem leicht patzigen Unterton, offensichtlich befremdet von so viel Unkenntnis.

Waas? Der Monte? Der war einmal, back in the Sixties, der Abfallhaufen von Frankfurt, das Tor zum Rodgau, könnte man sagen. Eine Müllhalde von sagenhaften Ausmaßen, für Musca oder ihre Verwandtschaft, etwa die Calliphoridae, respektive Schmeißfliegen, der Sehnsuchtsort schlechthin. Dass der Monte später begrünt wurde, hat seinem Nimbus in Fliegenpopulationen offenbar keinen Abbruch getan. Hat sich der Heiligenschein erst einmal in einem Objekt verankert, reißt ihn so schnell keiner ab.

Da will dieses Tier, das jeder ohne Wimpernzucken als überflüssigen Schädling totschlagen würde – wenn er es nur erwischte! –, dass ich ihm ein Taxi ordere. Wer soll das bezahlen? Ich? Was wird das kosten? Mindestens dreißig Euro, schätze ich. Ja geht‘s noch.

»Was gibst du mir dafür?«, frage ich die Fliege, der es offensichtlich nicht an Selbstbewusstsein mangelt.

Über ihre facettierten Halbkugelaugen huscht ein Flimmern.

»Eine Versicherungsleistung«, zirpt Musca.

Schon wieder bin ich baff. Diese Kenntnis von menschlichen Sachverhalten und das entsprechende Sprachwissen. Wurde die Intelligenz von Fliegen je wahrgenommen? Oder ist meine Gesprächspartnerin ein Leuchtturm ihrer Spezies?

»Äh – von welcher Leistung sprichst du?«, frage ich, und sie entwirft einen Kontrakt zwischen mir und ihren Völkern, eine Art Nicht-Angriffspakt, einen Zustand immerwährenden Friedens, der mir garantiert, zeit meines Lebens nicht mehr von einer Fliege, gleich welcher Art, irgendwie belästigt zu werden.

»Sind Bremsen auch in der Abmachung enthalten?«, frage ich aufhorchend.

»Aber ja. Wir Muscae stehen ihnen zwar nicht nah, doch sie gehören zur Familie.«

»Mein liebes Tier«, wende ich ein, »das ist alles schön und gut. Aber wo ist meine Sicherheit? Ein Vertrag? Unterschriften? Welche Garantien gibst du mir?«

»Kann ich nicht«, nuschelt sie, »du musst es mir einfach glauben. Großes Fliegenehrenwort.«

Ich schulde Fliegen einen Berg unbereinigten Karmas aus einer Kunstaktion, die ich vor Jahren unbedacht realisiert hatte. Obwohl ich seitdem immer wieder in der Fliegenrettung unterwegs war, sehe ich jetzt die Gelegenheit, meine Schuld endgültig abzutragen. Unsere Unterhaltung endet damit, dass ich 069-230022 anrufe und ein Taxi in die Rühbergstraße 121 bestelle.

Als es vor meinem Haus hupt, sage ich: »Es geht los. Bleib jetzt auf meiner Hand sitzen.«

Ich trage die Fliege zwei Stockwerke nach unten und öffne die Beifahrertür des cremeweißen Wagens mit dem Stern.

»Guten Tag«, sage ich gerade, da zischt Musca mir zu:

»Ich will nicht vorne sitzen.«

Na gut. »Verhalte dich jetzt ganz ruhig und flieg erst davon, wenn ihr am Ziel seid«, sage ich leise. Ich werfe die Tür ins Schloss, mache hinten auf und setze Musca Domestica auf das Polster. Sie sitzt in der Mitte auf dem graugemusterten Bezug, wie ein alter Taxihase.

»Wie teuer ist es bis zum Monte Scherbelino?«, frage ich den Fahrer.

»Ich fahre mit Uhr. Wenn wir da sind, sehen Sie, was kostet.«

Ich will einen Pauschalpreis ohne Uhr aushandeln, was nicht eben einfach ist. Musca sitzt ungerührt auf dem Polster, als sei sie festgeklebt. Der Fahrer und ich einigen uns auf fünfunddreißig Euro. Mannomann, denke ich, so blöd wie du ist auch kein Mensch auf der ganzen Welt.

Bevor ich die Tür schließe, drehe ich das Fenster ein Stückchen nach unten.

»Wünsche reichhaltige Erbauung«, flüstere ich Musca zu. Ich mache die Beifahrertür wieder auf, zahle, lasse mir eine Quittung geben, frage nach der Taxi-Nummer und notiere sie auf dem Beleg. Der Fahrer registriert alles mit scheelen Blicken.

»Na, dann gute Fahrt!«, rufe ich aufmunternd und werfe die Tür zu. Am Hauseingang höre ich Hupen. Der Taximann scheint verstört. Er gestikuliert heftig mit Armen und Schultern. Ich gehe noch einmal zurück zur Fahrerseite.

»Was ist denn noch?«, seufze ich.

»Sie nicht fahren jetzt?«, blafft er mich an.

»Nein, bitte, Sie fahren jetzt, wie besprochen, zum Monte Scherbelino, das Geld haben Sie bereits.«

Ein Blick zwischen Ärger und Verachtung trifft mich. Der Motor heult auf – Quickstart, kurz vor einem SUV, der gerade um die Ecke biegt.

Glück gehabt.

O-oh denke ich … wie war das nochmal mit dem Herrn der Fliegen? Wer auch immer … befiehl ihm, Musca, deine Wege …

Katharina Wolff

Nächster Halt Göttingen

»Bist du nervös?«, fragt die Frau und schiebt die Tür zum Ruhewagen auf.

»Ja klar«, antwortet der junge Mann und lässt der ein paar Jahre Älteren den Vortritt.

»Das ist gut. Das ist sehr gut!«

»Ich will ja nicht, dass das Ganze an mir scheitert. So als Neuer.«

»Ja. Da musst du aufpassen. Die Ilona, die hat sich vorher jedes Wort genau aufgeschrieben, bevor sie da reingegangen ist.«

»Ah, echt?«

Die beiden setzen sich einander schräg gegenüber an einen leeren Vierertisch. Sie sitzt am Fenster, er am Gang. Beide ziehen ein Laptop aus ihrer Tasche und bauen es vor sich auf.

Dabei wendet sie sich kurz an ihn: »Entschuldige, dass ich heute total ungeschminkt bin, aber ich war den ganzen Morgen im Home-Office mit Kind!«

»Ja klar, das ist völlig O. K.«, sagt er, bückt sich und steckt das Stromkabel des Rechners in die Steckdose am Sitz.

»Was bei mir noch dazukommt«, sagt sie und klappt ihren Laptop auf. »Ich bin ja so gnadenlos. Ich will die Sachen wirklich gut haben. Ich weiß, das ist ein echter Shift. Ein breiter Ansatz. Und dann passt es vielleicht von der Chemie her nicht. Da ist es mir lieber, ich merke das gleich: Der Pitch hat nicht funktioniert. Da sage ich, ›kein Problem‹. Das ist besser, als wenn das nicht stimmt und sie kommen aber erst nach drei Monaten, das ist dann noch viel schlimmer.«

Er sagt nichts und schaut sie nur an.

Sie richtet sich auf und blickt ihm direkt in die Augen.

»Diese Struktur, die ist schon hart. Du hast die beiden Ordner auf meinem Schreibtisch gesehen?«

»Ja klar.«

»Heute Morgen, direkt nach dem Aufwachen habe ich mich gleich noch mal eingeklinkt.«

Sie steht auf und geht zur Toilette. Er schaut sinnend aus dem Fenster.

Als sie zurückkommt, schiebt sie ihren Laptop auf die gegenüberliegende Seite an den Fensterplatz. »Ich komm mal zu dir rüber. So fahre ich ja rückwärts.«

»Ja klar.« Er steht auf und lässt sie zum Sitz am Fenster durchrutschen.

Sie dreht ihren Laptop in seine Richtung. »Also, die dritte Säule. Wir zeigen hier, wie die anderen es sehen könnten, und dann ziehen wir das auf eine andere Ebene, habe ich mir überlegt.«

»Das könnte ich«, sagt er.

»Wunderbar, brillant. So machen war es.« Sie lächelt ihn an. »Was ich damit meine«, sie zeigt auf den Bildschirm, »wir wollen das adaptieren, das Thema. Ich könnte mir vorstellen, das narrativ anzupassen. Die Experience der Mitarbeiter einzubinden.«

»Ja klar«, sagt er, »die sollen mitmachen.«

»Genau«, sagt sie, »die sollen mitmachen, die sollen das entwickeln.«

»Ja«, sagt er, »klar, das passt in meine Einheit.«

Sie beugt sich zu ihm hinüber und senkt ihre Stimme:

»Es ist sozusagen taktisch. Wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Da fühlen die sich geschmeichelt und das ist ein konkreter Weg. Wir müssen sie ja mitnehmen.«

»Ja klar«, sagt er.

Sie dreht sich ihm zu. »Jetzt stell dir mal vor …«

»Mit deiner Strahlkraft …«, antwortet er und lächelt sie an.

Sie richtet sich auf, drückt das Kreuz durch, kneift die Augen zusammen und sagt: »Das Thema ist perfekt. Dass wir das so erarbeitet haben, ist schon richtig.«

Er blickt sie von der Seite an. »In einem Jahr, da möchte ich, also indirekt meine ich, da möchte ich das ja klar machen.«

»Da ist es wichtig, das Team zu nutzen.«

»Nee – ja klar, auf jeden Fall!«

»Das hast du ja auch drauf.«

»Ja klar, auf jeden Fall!«

Mit ernster Stimme sagt sie: »Und kein Kommentar!«

»Ja, klar.« Er blickt sie verständnislos an.

Sie zeigt auf den Bildschirm. »Das hier weiß noch keiner von denen. Ich habe das hier … oder möchtest du?«

Er schaut angestrengt auf den Bildschirm. »Also, ich würde …«

Sie unterbricht ihn und sagt bestimmt: »Unsere Message muss rüberkommen. Das ist, was ich meine! Der Vorstand muss mitziehen! Auf jeden Fall! Die Corporate

Identity!«

Mit leicht belegter Stimme sagt er: »Genau. So steht es auch da drauf. Vielleicht ergibt sich daraus ja was.«

Sie zieht ihren Laptop zu sich. »Und immer auch mal andere Gesichtspunkte einbeziehen.«

»Ja klar«, sagt er.

Beide fangen an, in ihre Laptops zu tippen. Für kurze Zeit ist nur das Klacken der Tasten zu hören.

Nach einer Weile unterbricht er sein Tun. »Ich will ja ankommen in meiner Rolle …«

Auch sie hört auf zu tippen. »Ja, das musst du.«

»Schau mal«, sagt er und zeigt auf seinen Bildschirm.

»Kann man das jetzt schon so schreiben? Passt das?«

Sie schaut auf. »Das richtige Wording ist wichtig. Das ist ganz wichtig.«

»Ja klar.«

»Wir sollten versuchen, ganz leicht so kleine Worte einfließen zu lassen.«

»Ja gut, so machen wir das!«, sagt er erfreut.

»Nur so ein bisschen«, sagt sie mahnend. »Haben wir versucht, uns in die Lage zu versetzen?«

»Ja klar«, sagt er erleichtert.

»Könnten wir uns vorstellen«, sagt sie, »dass das vielleicht etwas schwierig werden könnte? Einfach so ein paar Worte.« Sie lehnt sich lächelnd zurück.

Er schaut sie an. »Ja«, sagt er zögernd, »ja klar.«

»Der nächste Halt ist Göttingen«, knarzt es aus dem Lautsprecher.