Einführung in die Literaturwissenschaft. Textanalyse - Hans Krah - E-Book

Einführung in die Literaturwissenschaft. Textanalyse E-Book

Hans Krah

0,0

Beschreibung

Das Buch führt in die Grundlagen des Verstehens von Texten ein. Ziel ist das Erlernen und Einüben von Herangehensweisen bei der literaturwissenschaftlichen Analyse von Erzählprosa, Dramen und Lyrik an Textbeispielen. Systematisch aufbauend auf grundsätzlichen Fragen nach der Gegenstandsbestimmung (Was ist ein Text? Was ist Literatur?) und der Rekonstruktion von Textbedeutung (Was ist ein Zeichen? Wie konstituiert sich Bedeutung?) werden Analyseinstrumentarien vorgestellt, die zur wissenschaftlichen Interpretation von nicht nur literarischen Texten unabdingbar sind. Der Band ist nicht nur für Studienanfänger geeignet, sondern in seiner Konzeption als Arbeitsbuch studienbegleitend bis zum Examen gedacht. Die neue Auflage 2015 ist komplett überarbeitet und aktualisiert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 537

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hans Krah

Einführung in die Literaturwissenschaft / Textanalyse

Unter Mitarbeit von Dennis Gräf, Stephanie Großmann, Stefan Halft

Zweite, komplett überarbeitete und aktualisierte Auflage, Kiel 2015

LIMES – Literatur- und Medienwissenschaftliche Studien – Kiel 6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© Zweite, komplett überarbeitete Auflage 2015 by Verlag Ludwig

Holtenauer Straße 141

24118 Kiel

Tel.: +49-(0)431-85464

Fax: +49-(0)431-8058305

[email protected]

www.verlag-ludwig.de

Cover: Daniela Zietlow

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Printed in Germany

ISBN: 978-3-86935-099-8

ISBN der Printausgabe: 978-3-937719-43-6

Vorwort zur überarbeiteten Auflage

Eine Einführung in die Literaturwissenschaft/Textanalyse sollte Grundlagen vermitteln, die die Basis für eine weitergehende Beschäftigung mit dem Gegenstand/Objektbereich bilden.

Eine Einführung ist notwendig selektiv, begrenzt und vereinfachend: Selektiv und begrenzt, da jede Einführung eine Auswahl aus den prinzipiell möglichen literaturwissenschaftlichen Problemkomplexen vornimmt und sich auf das beschränkt, was als jeweils wesentlich verstanden wird. Vereinfachend ist sie, da sie ab einem gewissen Punkt Details ausblendet und Beschreibungsmodelle ohne theoretische Diskussion vorstellt.

Hier soll es darum gehen, wie sich textuelle Bedeutung konstituiert, wie sich diese Bedeutung rekonstruieren lässt und welche Aspekte hierbei welche Rolle spielen. Der Band fokussiert primär die Strategien und Verfahren der Textbedeutung im Allgemeinen, Spezifika von Gattungen und den/einen methodologisch-heuristischen Zugang, der das Verständnis für die entsprechenden Beschreibungsinventare und deren Anwendung erleichtern soll.

Um dem besser Rechnung zu tragen, wurde die Einführung nun gründlich überarbeitet. Sie wurde entschlackt, in ihrem Aufbau neu geordnet und um einige Aspekte ergänzt. Kap. 1 und 8 bilden nun einen Rahmen, der das theoretische Fundament wie den pragmatisch-analytischen Nutzen der Einführung verständlich machen will. Kap. 2, 4 und 7 behandeln die allgemeinen, eher gattungsunspezifischen Bedeutungsebenen von Texten, während sich Kap. 3, 5 und 6 nun (explizit und sichtbarer, als dies zuvor der Fall war) mit den gattungsspezifischen Textphänomenen befassen, die sich für Lyrik, Erzählprosa und Drama ergeben.

Weiterhin gilt: Vermittelt werden sollen die Grundlagen, um eigenständig mit Texten arbeiten und einen eigenen (wissenschaftlichen) Umgang mit (literarischen) Texten praktizieren zu können. Letztlich soll dadurch auch ermöglicht werden, Forschungsliteratur in ihren Argumentationen nachzuvollziehen und zu diskutieren.

Die Einführung will also einen Einblick in die Grundlagen des Verstehens von Texten geben, des Verstehens eines konkreten Textes wie des Verstehens von Texten allgemein, und durch diesen Erkenntnisgewinn am Beispiel der Literatur eine allgemeine Medienkompetenz fördern.

Eine Einführung ist kein Lesebuch: Die Inhalte sind wohl immer noch dicht – eine wiederholte Lektüre dürfte sich empfehlen. Der Band erschließt textanalytisches Wissen (Methoden, Theorien, Fertigkeiten) und vermittelt differenzierte literaturwissenschaftliche Beschreibungsdimensionen und -inventare. Damit ist der Band nicht nur für Studienanfänger geeignet, sondern in seiner Konzeption als Arbeitsbuch studienbegleitend bis zum Examen (und darüber hinaus) gedacht.

1 Grundlagen

1.1 Literaturwissenschaft und Textanalyse

Literaturwissenschaft setzt bei grundlegenden Fertigkeiten an, die sie zu vermitteln hat: Sie ist für diejenigen Fertigkeiten zuständig, bei denen es um das Verstehen von Texten geht. Und das meint sowohl das Verstehen eines konkreten Textes als auch das Verstehen von Texten allgemein. Literaturwissenschaft bildet in diesem Sinne die Grundlage einer allgemeinen Medienkompetenz: Textverstehen (hier unter den Begriffen Textanalyse und Textinterpretation gefasst) ist ein durchaus rationaler, analytischer Vorgang, der intersubjektiv und erlernbar ist und der deshalb seinen berechtigten Platz im universitären Fächerspektrum hat. Mit Textverstehen sind hier umfängliche Fähigkeiten und Fertigkeiten gemeint: Dazu zählen das Wissen, wie Texte funktionieren, Kenntnis darüber, welche Verfahren und Strategien verwendet werden, damit Texte das bedeuten, was sie bedeuten, und nicht etwas anderes. Auch geht es darum, die Einsicht zu gewinnen, dass es textuelle Verfahren sind, die erst dafür sorgen, dass Texte das bedeuten, was sie bedeuten. Denn Texte sind nichts Natürliches, Selbstverständliches, sondern etwas kulturell Gemachtes, und es sind wiederum Strategien, die einen solchen Eindruck des Selbstverständlichen erst erzeugen. Deshalb ist Textanalyse als zentrale Tätigkeit der Literaturwissenschaft zu sehen. Weitere zentrale Arbeitsfelder der Literaturwissenschaft sind zum einen die inhaltliche Vermittlung von literaturgeschichtlichem Wissen und Erkenntnissen über Funktion und Leistung von Literatur im jeweiligen historischen Kontext, also der Epoche und Kultur, und zum anderen die Bereitstellung der materialen Basis, die den Text trägt.

Denn um einen Text verstehen zu können, muss man ihn natürlich zunächst einmal lesen können, und zwar in einem ganz einfachen, technischen Sinne. Der Text muss materiell vorliegen und so weit aufbereitet sein, dass seine materiellen Grundlagen, die Buchstaben, (mehr oder weniger) eindeutig zugängig sind. Dies verweist auf den durchaus vielschichtigen Komplex der Editionsphilologie. Diese befasst sich mit den Problemen der Textüberlieferung. Denn Texte sind zumeist nicht in einem Fluss, genialisch, hingeschrieben, auch wenn manche Autoren dies glauben machen wollen, sondern selbst Ergebnis von Arbeit, wobei es zu verschiedenen Stufen solchen Schreibprozesses kommen kann. Formulierungen werden wieder verworfen, können umgestellt werden etc. Die Editionsphilologie rekonstruiert und dokumentiert nicht nur solche Arbeitsstufen, sondern kümmert sich zudem darum, eine Fassung zu erstellen, die als dieser Text dann herausgegeben wird. Dabei sind Annahmen und Entscheidungen zu treffen – und zu begründen.

Diese Arbeit betrifft aber nicht nur Vorstufen eines Textes. Auch von bereits veröffentlichten Texten kann es verschiedene Fassungen geben, die durchaus vom Autor selbst stammen können: Etwa wenn zu späterer Zeit frühere Arbeiten vom Verfasser wiederaufgelegt werden. Beispielsweise hat Schiller einige seiner Gedichte, die zunächst als Einzeltexte entstanden sind, in einer Gesamtausgabe seiner Werke selbst in einer überarbeiteten Form publiziert, so dass diese von der früheren Publikation der Einzeltexte abweichen. Auch Dramentexte und die verschiedenen Fassung, in denen sie dann im Theater aufgeführt werden, weisen teilweise gravierende Änderungen auf. Bei Schillers Die Räuber betrifft dies etwa insbesondere den Schluss. Ebenso kann es zu verschiedenen Fassungen kommen, wenn Werke in verschiedenen Medien publiziert werden, etwa zunächst in Zeitschriften und dann in Buchform, wie dies für Stifters Erzählungen gilt, wo sich die Journalfassungen von den Buchfassungen jeweils durchaus deutlich unterscheiden. Sind Fassungen, die auf Veränderungen durch den Autor beruhen, durchaus Gegenstand der Literaturwissenschaft, zumal ein Vergleich nicht nur Erkenntnisse über den Prozess einer Texttransformation, sondern durch die konkreten Veränderungen auch Aufschluss über die jeweiligen Einstellungen zum Denksystem einer Zeit liefern kann, so ist dagegen Vorsicht geboten, wenn Fassungen auf späteren und nicht vom Autor gebilligten Eingriffen beruhen – und dies eventuell nicht explizit sichtbargemacht wird. Zensierte oder auch nur gekürzte Ausgaben, etwa Jugendausgaben oder Buchklubausgaben, sind nicht der Text und dürfen nicht als Grundlage genommen werden, wenn es um den Text geht. Natürlich sind auch solche Ausgaben zu analysieren, um zu Erkenntnissen zu gelangen, welche Stellen wann von wem warum zensiert wurden oder als unpassend, oder einfach nur als zu lang und vernachlässigbar gegolten haben. Dies ist aber nur über einen Vergleich mit einem autorisierten Text möglich.

Für die Arbeit am Text ist also immer wichtig zu beachten, auf welche Grundlage man sich eigentlich stützt, und deshalb ist es unabdingbar anzugeben, auf welche Ausgabe eines Textes man sich bezieht. Dieser Aspekt betrifft selbstverständlich alle Texte, auch wenn dies häufig nicht immer zu sehen ist, da der Zugriff auf bestimmte Texte eben problemlos geben ist oder gegeben zu sein scheint. Und tatsächlich wird man sich bei der Analyse häufig auf diese Vorarbeiten stützen können, zumal wenn Texte in so genannten historisch-kritischen Ausgaben vorliegen und Ausgaben sich auf diese Textfassung beziehen.

Dass manche Texte problemlos vorliegen, verschleiert aber nur, dass dies nicht notwendig so sein müsste und dass die jeweils gegebene Situation nicht die einzig mögliche sei. Das Problem der Textbeschaffung stellt sich immer wieder, gerade wenn man sich mit nicht kanonisierten Texten beschäftigt. Kanonisierung bezeichnet den Prozess der Ausdifferenzierung dessen, was als gut, lesenswert und bewahrenswert gilt, und dementsprechend auch, was eben nicht mit solchen Prädikaten versehen wird. Sie hängt einerseits mit den jeweiligen Werten und Normen einer Gesellschaft zusammen und mit der institutionellen Tradierung solcher einmal als Bildungsgut gewerteter Texte an Schulen (und auch Universitäten), wodurch sich ein relativ stabiler, schwer zu verändernder und sich weiter perpetuierender kultureller Konsens ergibt, auch dessen, was als bekannt vorausgesetzt werden darf. Andererseits und zugleich ist die Kanonisierung auch verbunden und abhängig von Verlagspolitik und dabei insbesondere von deren Marktorientierung, also den ökonomischen Überlegungen, was verlegt wird, was vergriffen ist und bleibt und eben nicht wieder aufgelegt wird, weil es zu teuer oder mit zu großem Risiko verbunden ist, weil kein Bedarf zu bestehen scheint. Viele Texte sind daher nur in Bibliotheken oder antiquarisch verfügbar, eventuell nur als Handschriften oder (bei gedruckten Texten) in Schrifttypen, in deren Lektüre man sich selbst erst einarbeiten muss.

Auf diese Einbettung der Textanalyse zwischen Edition und Literaturgeschichtsschreibung sei hingewiesen, ebenso darauf, dass alle drei Bereiche zentrale Arbeitsfelder der Literaturwissenschaft sind. Diese Einführung konzentriert sich auf die Analyse von Texten im eingangs skizzierten Sinn. Die Edition ist hier mit den obigen exkursorischen Anmerkungen abgehandelt, Aspekte der Literaturgeschichte hingegen werden im Folgenden immer wieder gestreift werden (auch wenn dies hier nicht systematisch und umfassend geschehen kann).

1.2 Der kommunikative Rahmen

Warum sollte man überhaupt Texte, und insbesondere literarische Texte, in ihrer Struktur, ihrer sprachlichen Verfasstheit ernst nehmen? Um darauf eine Antwort geben zu können, ist ein Blick auf den kommunikativen Rahmen sinnvoll, in den jeder Text als Äußerung eines perlokutionären Akts (so oben mit linguistischem Terminus bezeichnet) eingebettet ist.

1.2.1 Kommunikationsmodell

An jedem Kommunikationsakt sind nach dem Modell von Roman Jakobson folgende sechs Faktoren unabdingbar beteiligt: erstens ein Sender, der eine Nachricht zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort, in einer spezifischen sozialen Situation produziert. Zweitens die Nachricht/Äußerung/Mitteilung selbst, die übermittelt werden soll. Drittens ein bzw. mehrere Empfänger, der bzw. die diese Nachricht synchron oder diachron aufnehmen, wiederum zu bestimmten Zeitpunkten, Orten und in spezifischen sozialen Situationen, wobei diese von der des Produzenten unterschieden sein können. Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung viertens eines Kontextes, auf den sie sich bezieht, eines Referenten, Inhalts, erfassbar für den Empfänger und verbalisierbar/kodierbar. Notwendig ist dafür fünftens ein Kode, in dem die Nachricht verfasst/kodiert ist und der ganz oder zumin­dest teilweise dem Sender und dem Empfänger gemeinsam ist, so dass die Infor­ma­tion in einem Dekodierungs-/Verstehensakt (re)konstruiert werden kann. Zumindest partiell müssen Sender und Empfänger über den gleichen Ko­de verfügen, also die gleiche Sprache sprechen. Schließlich bedarf es sechs­tens eines Kontakts/Mediums, eines physischen, materiellen Kanals, der es Sen­der und Empfänger ermöglicht, in Kommunikation zu treten und zu bleiben.

Diese Faktoren sind selbst jeweils in Bezug zu ihrer historischen, kulturellen Situation zu setzen.

1.2.2 Sprachfunktionen

Jede dieser aufgeführten sechs Komponenten von Kommunikation bedingt nun eine unterschiedliche sprachliche, kommunikative Funktion, jede sprachliche Äußerung kann also verschiedene Funktionen erfüllen. Jakobson unterscheidet sechs verschiedene sprachliche Funktionen, so dass sechs grundlegende Aspekte von Sprache unterschieden werden können: der referentielle (denotative, kognitive), deremotive (expressive), der konative (appellative), der phatische, der metasprachliche und der poetische.

Dabei gibt es kaum eine Mitteilung, die nur eine dieser Funktionen erfüllt: Die Vielfalt von Äußerungen beruht nicht auf der getrennten Verwirklichung einzelner Funktionen, sondern auf der unterschiedlichen hierarchischen Anordnung, auf dem Schwerpunkt. Die jeweils dominierende Funktion bestimmt die Struktur der Mitteilung.

Die emotive (oder auch expressive) Funktion bringt die Haltung/Einstellung des Sprechers gegenüber seiner Äußerung/Rede zum Ausdruck. Sie sucht einen Eindruck über eine bestimmte Emotion, ob wirklich oder fingiert, zu erwecken. Die emotive Schicht der Sprache findet sich deutlich etwa in den Interjektionen (z. B. ›ach‹, ›oh‹) verwirklicht. Die konative (oder appellative) Funktion zielt auf die Ausrichtung auf den Empfänger. Sie ist grammatisch im Vokativ oder Imperativ greifbar. Die referentielle (oder auch kognitive, denotative) Funktion zielt auf den Kontext, die Referenz, d.h. auf das, von dem die Rede ist, was mitgeteilt werden soll (das ›Besprochene‹). Diese Orientierung auf den Kontext – also die Vermittlung von Information – ist die wesentliche Leistung vieler sprachlicher Botschaften. Die phatische Funktion dominiert in den Äußerungen, die in erster Linie den Zweck verfolgen, Kommunikation zu erstellen, aufrechtzuerhalten, zu unterbrechen, zu kontrollieren, ob das Medium der Verständigung, der Kanal, offen bzw. funktionsfähig ist, die Aufmerksamkeit des Angesprochenen auf sich zu lenken oder sich der Kommunikation zu vergewissern. Sprache dient hier also der Aufnahme/Aufrechterhaltung eines sozialen Kontakts. Die metasprachliche Funktion dient der Verständigung über die Sprache selbst und stellt eine Kommunikation/eine Rede über die Kommunikation selbst dar, über Grundlagen und Bedingungen des Verstehensprozesses, zur Kontrolle, ob Sender und Empfänger über den gleichen Kode verfügen, oder zur Erläuterung, wenn nicht.

Die Einstellung auf die Botschaft als solche schließlich, also die Ausrichtung auf den Text um seiner selbst willen, stellt die poetische (oder ästhetische) Funktion der Sprache dar. Die Auswahl der sprachlichen Mittel folgt hierbei nicht mehr in erster Linie der Intention, eine Information zu übermitteln, sondern wird Selbstzweck, dem andere Aspekte untergeordnet werden, so, wenn etwa einem bestimmten Reimschema etc. gefolgt wird. Jakobson hat dementsprechend davon gesprochen, die poetische Funktion sei »eine organisierte Gewalt, begangen an der einfachen Sprache.« Dieser Selbstzweck lässt sich aber wiederum kommunikativ nutzen: In Äußerungen mit dominierend poetischer Funktion ist die Nachricht ›autoreflexiv‹, die Struktur der Äußerung wird selbst informationshaltig.

Äußerungen mit dominierend poetischer Funktion sind durch zwei einander zugeordnete, komplementäre Aspekte gekennzeichnet: durch linguistisch greifbare Abweichungen, die die Einstellung des Empfängers auf die poetische Funktion erst einmal ›wecken‹, die Aufmerksamkeit also darauf lenken, und die Systematisierung/Reduktion dieser Abweichungen in einer komplexen, sekundären Struktur, einer neuen Ordnung, durch die die ›Poetizität‹ der Äußerung erzeugt wird.

1.2.3 Textautonomie

Aus diesem letztgenannten Zusammenhang lassen sich nun einige Folgerungen ziehen: Die poetische Sprachfunktion ist zwar nicht die Lösung auf die Frage, wann ein Text Literatur ist. Die poetische Funktion ist in allen Äußerungen möglich und kann in jeder Kommunikation vorkommen, nicht nur in ästhetischer Kommunikation – und diese, Literatur, zeichnet sich nicht notwendig durch eine Dominanz der poetischen Sprachfunktion in ihrer Textstrukturierung aus.

Allerdings ist davon ausgehend dennoch ein Ansatz gegeben, das Spezi­fi­sche von Literatur zu verstehen. Zunächst sollte einleuchten, dass ein litera­rischer Text von seiner Kommunikationssituation gelöst ist und als ein eigen­stän­diger Faktor erscheint. Der Text ist als dieser Text veröffentlicht, und damit nicht mehr privat. Er ist jedem zugänglich, zumindest ist der Zugang nicht mehr durch den Sender, den Autor reguliert; der Text ist von dieser Größe abgenabelt. Vom Autor ist der Text zudem als dieser Text autorisiert. Der Text ist damit der wichtige Faktor innerhalb dieser Kommunikation, nicht ein anderer Faktor (im Unterschied zur Alltagskommunikation, wo es nicht notwendig darum geht, wie etwas genau gesagt wird, sondern was gesagt wird, was gemeint ist, was bezweckt wird oder ob alles überhaupt verstanden wird). Wenn Literatur aber als dieses Ganze, das vom Sender autonomisiert und autorisiert ist, für sich allein steht, dann muss es auch aus sich selbst verständlich sein.

Damit greift aber die poetische Funktion auf eine ganz bestimmte Weise: Die poetische Sprachfunktion ist graduierbar hinsichtlich der Tatsache, wie relevant sie für einen Text ist, wie auffällig sie vorkommt, wie sie eingesetzt ist. Ein literarischer Text ist nun nicht ein solcher, in dem die poetische Sprachfunktion auf einer derartigen Skala den größten Wert aufweist, sondern dadurch bestimmt, dass die poetische Sprachfunktion den Gesamttext bestimmt; also nicht nur graduell in ihm in Erscheinung tritt, sondern auf den Text als solchen angewendet wird. Und das heißt nichts anderes, als den Text als modellbildend zu setzen. Die beiden komplementären Aspekte, die die poetische Funktion bestimmen, sind auf den Text als Ganzen bezogen. Der Aspekt der Abweichung wird dann dadurch geweckt, dass es sich (prag­matisch) um Literatur handelt, die zugrunde liegende Ordnung ist dann aufgrund der konkreten sprachlichen Verfasstheit zu bestimmen. Die poetische Funktion wird also vom Prinzip im Text zum Textprinzip.

1.2.4 Autor – Text – Rezipient

Im Rahmen des Kommunikationsmodells lassen sich Aussagen über das Verhältnis von Autor, Text und Rezipient treffen. Der Text stammt von einem Produzenten, der sich bei der Texterstellung wohl ›etwas dachte‹, und er existiert für einen Rezipienten, der sich bei seiner Lektüre ›etwas denkt‹. Es fragt sich also, wie sich Meinung/Deutung des Produzenten bzw. Rezi­pienten des Textes zur Textanalyse/Interpretation verhalten und welche Relevanz sie für diese haben. Festzuhalten ist, dass Texte etwas bedeuten, es also so etwas wie eine Textbedeutung gibt. Und dies gilt nicht nur für Texte im Allgemeinen, sondern auch für literarische Texte, wie aus dem bisher Aufgeführten hervorgehen sollte. Literarische Texte prinzipiell als solche Texte bestimmen zu wollen, die Polyvalenz aufweisen, also mehrdeutig sind, greift zu kurz. Zum einen kann dies kein Kriterium für Literatur an sich sein. Nimmt man es als Kriterium, begrenzt man ganz offensichtlich den Gegenstandsbereich dessen, was als Literatur verstanden wird. Nicht alle Texte sind ›offen‹ in diesem Sinne, und auch solche, die eine Offenheit auf einer bestimmten Textebene aufweisen, müssen damit nicht bereits hinsichtlich jeder Dimension ihrer Bedeutung offen sein.

Eine solche ›semantische Autonomie‹ weisen literarische Texte zum anderen prinzipiell nur insofern auf, als sie eine eigene Bedeutung aufbauen, was aber nicht heißt, dass sie gar keine fixierbare Bedeutung enthalten würden. Zum Dritten ist Mehrdeutigkeit selbst natürlich ein Konstrukt, das, wenn es tatsächlich vorhanden ist, durch die Textstruktur erzeugt wird. Wenn manche Texte also in ihrer Bedeutung offen bzw. mehrdeutig sind, dann sind die jeweiligen Textstrategien zu bestimmen, zu beschreiben und zu interpretieren, die dies hervorrufen. Denn eine solche Offenheit ist ja nur als Abweichung möglich, da die Basis der natürlichen Sprache, auf der der Text aufbaut, diese Offenheit gerade nicht aufweist, sonst könnte sie nicht der Kommunikation dienen.

Auch literarische Texte bedienen sich einer Sprache. Diese Sprache ist eine sekundäre und muss zum Teil aus der Textstruktur selbst rekonstruiert werden. Die Instanz für diese Textbedeutung sind – neben den Bedingungen der ursprünglichen Kommunikationssituation – insbesondere die Primärsprache, der kulturelle Kontext und der Text selbst.

Die Relevanz des Autors bei der Genese dieses Textprodukts ist groß, denn schließlich stammt der Text von ihm. Wenn man es ernst nimmt, dass das Textprodukt ein Kommunikat des Autors ist, dem der Autor so viel Relevanz hat zukommen lassen, dass er es genau in dem textuellen Zustand veröffentlich hat, in dem es sich befindet, dann sollte man sich um dieses Produkt auch ernsthaft kümmern, gerade auch, wenn es einen interessiert, was der Autor gemeint hat. Denn was immer er gemeint hat, er hat diese Meinung, diese Intention, genau in diesem Text ausgedrückt. Dafür hat er sich aber der Primärsprache bedient und dafür sind aus seinem soziokulturellen Kontext, in dem er sozialisiert ist, Kenntnisse eingeflossen.

Der Autor aber hilft einem nach Verfassen seines Textes nicht mehr weiter, auch nicht bei der Frage, ob der Text ein literarischer ist oder nicht, denn ein Autor kann natürlich auch Nicht-Literarisches geschrieben haben; und selbst bei der Wertung von Texten kann es problematisch sein, vom Autor insgesamt und nicht vom jeweils konkreten Text auszugehen.

Autorintention oder Rezipientenmeinung sind also nicht mit der Textbedeutung identisch – und das ist gut so, sonst könnte man mit anonymen oder unter Pseudonym geschriebenen Texten nichts anfangen –, und sie können die Textbedeutung auch nicht ersetzen. Die/eine Autorintention, also was gemeint war, ist vom verfertigten Text, von dem, was tatsächlich gesagt ist, zu unterscheiden. Das Vorhandensein von Autoraussagen (oder Rezeptionszeugnissen) ist durchaus relevant und Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft – etwa bezüglich der Erforschung literarischen Lebens (vgl. Kap. 7.5.3). Autoraussagen können auch für die Textanalyse fruchtbar sein, insofern sie heuristisch auf bestimmte Sachverhalte aufmerksam machen können. Sie sind aber selbst textuelle Dokumente, die zum Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft gehören und nicht den Status eines Kriteriums für adäquate Textinterpretation in Anspruch nehmen. Als Texte sind sie selbst erst zu analysieren, also zu verstehen, zu interpretieren, erst dann kann ihr Bezug zu anderen Texten, eben den literarischen, über die sie etwas aussagen, zu bestimmen versucht werden.

Ein Text ist in seiner Zeit geschrieben und für seine Zeit. Als ein solches Dokument kann man ihm nicht anlasten, was in späteren Zeiten (mit ihm) geschieht und wie er in späteren Zeiten aufgefasst wird. Nicht das, was ein Text für uns heute vor unserem jetzigen kulturellen Hintergrund bedeutet, gilt es zu bestimmen. Rekonstruktion einer Textbedeutung heißt immer, aus dem Verständnis der ursprünglichen, historischen Kommunikationssituation heraus zu argumentieren. Textinterpretation meint also nicht, das heutige Kulturelle Wissen einzubringen.

1.2.5 Historizität

Da jeder Text in einer konkreten historischen Situation produziert (und rezipiert) wird, ergibt sich zum einen, dass ein Text Dokument seiner Zeit, dieser Zeit ist. Auch wenn ein historisches Drama, wie etwa Schillers Wilhelm Tell, seine Handlung in das Mittelalter verlegt, dann sagt dieser Text nicht wirklich etwas geschichtlich über die Schweiz zu Beginn des 14. Jahrhunderts aus, sondern etwas über den Blick und die Vorstellung, die das beginnende 19. Jahrhundert auf diese ›historischen‹ Geschehnisse hat, denn der Text stammt von 1804. Nicht der Gegenstand eines Textes bestimmt dessen Bedeutung, die Semantik des Gegenstandes wird durch den Text selbst erzeugt (siehe Kap. 2). Und diese ›Erzeugung‹ hängt von der Zeit seiner Entstehung ab, nicht von der Zeit der Ereignisse, die dargestellt werden.

Es fragt sich damit zum anderen, in welchem Ausmaß und auf welche Weise die Kenntnis eines kulturellen Kontextes in den Text eingegangen und damit für die Textanalyse relevant ist – und wie man sich diese Kenntnis (wieder) aneignen kann. Da diesem Punkt mit Kapitel 7 ein eigenes Kapitel gewidmet ist, soll dies hier nur konstatiert werden. Am Text zu arbeiten, an ihm orientiert zu sein, bedeutet also nicht notwendig, nichts anderes einzubeziehen. Textanalyse mit dem Begriff ›textimmanentes Vorgehen‹ zu bezeichnen, kann missverständlich, wenn nicht gar falsch sein.

1.2.6 Texteinheiten

Wann ist ein Text ein ganzer Text? Die Frage nach einem Ganzen ist durchaus relevant, und sie ist damit verbunden, dass Texte nicht isoliert in der Gegend herumstehen, sondern in Kommunikationsprozesse eingebunden sind, und der jeweilige Text mitbestimmt, welche Bedeutung er hat.

Es lässt sich nun konstatieren, dass die Grenze eines Textes, die ihn von anderem abgrenzt und ihn so zu einem Ganzen macht, eine prinzipiell relative und flexible ist.

So ist das 1815 publizierte Gedicht Abschied von Joseph von Eichendorff bereits 1810 erschienen, als Teil des Romans Ahnung und Gegenwart, in den es integriert ist. Dennoch kann das Gedicht auch eigenständig verstanden und interpretiert werden, wie so viele andere Liedeinlagen in Erzähltexten, etwa das Gedicht Wem Gott will rechte Gunst erweisen, das ursprünglich aus Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) stammt. Auch viele Gedichte des Barock sind nicht als Einzeltexte, sondern integriert in größere Zusammenhänge publiziert. Jeder Text kann ein Ganzes sein, auch wenn er zuvor nur Teil war. Der Unterschied ist nur, dass durch den Textkontext Bezüge installiert sein können, mit denen man Textdaten weiter in Relation setzen kann, diesen damit im Gesamttext eine bestimmte Funktion zuweisen und ihnen damit unter Umständen weiter Kohärenz zuschreiben kann. Ohne diesen Textkontext sind die Textdaten ansonsten aber absolut zu nehmen und in dieser Absolutheit aus sich heraus zu verstehen.

Das heißt also, dass der jeweils gegebene Text einem Textganzen entspricht und als in sich geschlossene Größe zu nehmen ist. Dieses gilt es zu analysieren, zu interpretieren, zu verstehen, ihre Bedeutung zu erkennen versuchen. Natürlich sind Einheiten, die als Ganzes publiziert wurden, letztlich zu präferieren und als Gegenstand der Literaturwissenschaft zu nehmen, da sie die Einheiten sind, die historisch und empirisch gegeben sind, und sich nur auf der Grundlage dieser Einheiten etwas über die jeweilige Kultur aussagen lässt. Es hat also Sinn, solche Einheiten zu betrachten, die auch als Einheit gedacht sind. Wann weiß man aber, dass es der ganze Text ist, der als diese Einheit gelten soll? Nur dann, wenn er pragmatisch als Ganzes veröffentlicht ist. Über die textuelle Verfasstheit kann die Bestimmung eines Ganzen nicht laufen, aufgrund der oben festgestellten Flexibilität solcher Grenzen.

Im analytischen, wissenschaftlichen Umgang müssen aber die Texte segmentiert und von diesen Teilen her, von diesen Ausschnitten aus betrachtet werden. Ein Gesamtblick mag zwar die Zusammenhänge erkennen lassen und aufzeigen, auf welcher Ebene sich Kohärenz ergibt, aber nur, wenn man zuvor bereits Einzelheiten analysiert hat; nur auf einer solchen Basis kann ein ›kreativer‹ Gesamtblick funktionieren. Texte sind kein organisches Ganzes: Was jeweils als Ganzes betrachtet werden soll, ist in diesem Moment, in diesem Arbeitsschritt das Ganze. Die Vorgehensweise ist dabei kein Zirkel, sondern beruht auf einem rekursiven Prinzip: Man untersucht einen Teil, untersucht andere Teile getrennt davon, untersucht aufbauend auf diesen Ergebnissen eine größere Einheit, die aus diesen Teilen besteht. Aus diesen Ergebnissen können sich dann auch wieder für den Teil, der bereits analysiert ist, weitere Erkenntnisse ergeben, textuelle Ebenen, die zuvor noch nicht beachtet wurden, können untersucht oder Ebenen, die bereits untersucht wurden, präzisiert werden, (Kohärenz)Lücken, die zunächst noch vorhanden waren, können geschlossen werden. Und so weiter.

Alles kann also als Ganzes betrachtet werden, der Rahmen kann enger oder weiter gemacht werden. Deshalb ist der Begriff Textganzes eher ungünstig, da er den Blick auf eine tatsächliche, ontologisch gegebene Einheit lenkt und den analytischen Aspekt im Umgang mit dem Text etwas verstellt. Verwenden sollte man stattdessen die im Folgenden aufgeführten Begriffe, da sie flexible, relationale Begriffe sind, die auf beliebige Objekte und auf verschiedene Ebenen des jeweiligen Untersuchungsobjektes anzuwenden sind und den jeweiligen Stellenwert einer Größe (auch in ihrer Beziehung zu anderen Größen) verdeutlichen.

1.2.7 Struktur und Funktion

Die Funktion ist der Stellenwert, den eine Größe (ein Element, eine Relation, eine (Teil)Struktur, ein (Teil-)System) in einer umfassenderen Einheit einnimmt (einer Struktur, einem System); die Funktion ist somit die Bedeutung, die eine Größe für eine andere hat.

Insbesondere Struktur und Funktion sind voneinander zu unterscheidende Größen, da sie prinzipiell voneinander unabhängig sind: Die Relation von Struktur(en) und Funktion(en) ist nicht notwendig eindeutig determiniert. Weder kann aus der Struktur auf die Funktion, noch aus einer Funktion auf eine Struktur geschlossen werden. Ein und dieselbe Struktur kann in verschiedenen Systemen verschiedene Funktionen erfüllen, ein und dieselbe Funktion kann durch verschiedene Strukturen hervorgerufen werden. Und auch wenn man innerhalb eines Systems einer Struktur eine Funktion zugewiesen hat, heißt das noch nicht, dass damit diese Struktur bereits notwendig erschöpfend bestimmt ist. Sie kann darüber hinaus durchaus noch anderes bedeuten.

Nimmt man als Beispiel einer Struktur die Größe ›Wald‹ im Märchen, dann kann diese die Funktion haben, Raum der Gefahr und Bedrohung zu sein, etwa in Hänsel und Gretel oder Rotkäppchen, sie kann aber auch die Funktion eines Schutzraums haben, wie in Schneewittchen. Welche Funktion diese Größe hat, ist aus dem jeweiligen Text erst zu bestimmen und nicht von vornherein festgelegt. Gerade dies wird vernachlässigt, wenn gerne vom Motiv die Rede ist (und insofern sollte man diesen Begriff vermeiden). Denn mit diesem Begriff ist letztlich eine feste Koppelung von Struktur und Funktion gemeint, und Letztere wird als bekannt vorausgesetzt. Doch solche Verbindungen sind, wenn sie zutreffen, selbst nur innerhalb bestimmter Systeme gültig – und sie sind es, die in der Analyse erst zu erkennen und zu bestimmen sind, nicht aber vollkommen losgelöst von Texten, Textsystemen, kulturellen Kontexten und historischer Situierung universell gegeben sind. Ein Riese im Märchen kann unterschiedliche Funktionen innehaben, je nach Text. Er kann Gegenspieler des Helden sein, er kann aber auch Helfer sein. Und diese Funktion, Gegenspieler, Hindernis für den Helden zu sein, ist nicht an einen Riesen gebunden oder an eine andere irreale Figur, eine Hexe, sondern kann ebenso einer realen Figur zugewiesen sein, der ›bösen‹ Stiefmutter, oder Tieren, dem ›bösen‹ Wolf, oder auch anderen Größen, die nicht figural konzipiert sind: einem unüberwindlichen Fluss, einem Wald (der Düsterwald in Tolkiens Der kleine Hobbit), einem Gebirge.

1.3 Semiotische Grundbegriffe

Jeder Text ist in eine Kommunikationssituation eingebettet und jede Kommunikation bedarf einer ›Sprache‹. Jede Kommunikation vollzieht sich also mittels Zeichen und jeder Text bedient sich eines Zeichensystems, ist selbst ein System von Zeichen.

Zeichen lassen sich in allen möglichen Informationskanälen finden, etwa dem akustischen, graphischen, ikonischen, gestisch-mimischen. So sind die Lautfolgen der ›natürlichen‹ Sprachen, des Deutschen, Französischen, Englischen usw., ebenso Zeichen wie die entsprechenden Zeichen geschriebener Sprachen, die Symbolsysteme der Logik, Mathematik, Informatik. Außerdem beruhen Malerei, Comicstrip, Graffiti, Film, Fernsehen, Werbung auf visuellen (oder audiovisuellen) Zeichen und auch Gesichtsausdrücke, Körperhaltungen, Bewegungen können Zeichen sein.

Zeichen sind in Zeichensystemen organisiert. Die übergreifende Theorie der Zeichen und Zeichensysteme im Allgemeinen, über einzelne Wissenschaftsdisziplinen hinweg, ist die Semiotik.

1.3.1 Der Begriff des Zeichens

Der zentrale Begriff der Semiotik ist der des Zeichens. Nach Ferdinand de Saussure (1857–1913) besteht jedes Zeichen aus zwei Grundelementen, dem Signifikanten und dem Signifikat. Der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce (1839–1914) begriff das Zeichen als dreigliedrige Struktur mit der zusätzlichen Komponente Referent. In dieser Konzeption wird zwischen zwei Funktionen des Signifikanten unterschieden, der Bedeutungsfunktion und der Bezeichnungsfunktion:

Ein Zeichen lässt sich zunächst also in zwei Komponenten unterteilen: den Zeichenträger (Signifikant) und das von diesem Zeichenträger Bedeutete (Signifikat).

Der Signifikant ist also die physische und wahrnehmbare Größe, die als materieller Zeichen-/Bedeutungsträger fungiert, z. B. die hörbare Lautfolge ›h-au-s‹ oder die sichtbare Graphemfolge ›H-a-u-s‹. Wenn von Zeichen gesprochen wird, ist herkömmlich meist dieser Signifikant gemeint, also der empirisch gegebene, vorliegende Träger von Bedeutung. Ein Zeichen in diesem Sinne ist also etwas, das auf etwas anderes verweist. Etwas ist zeichen­haft, wenn es für etwas anderes steht, das durch dieses Etwas ausgedrückt wird.

Dieses andere ist das Signifikat, die mit dem Signifikanten verknüpfte, von ihm ›bedeutete‹ Vorstellung, eben die Vorstellung ›Haus‹, die sich durch die Angabe der Merkmale, die mit dieser Vorstellung verbunden sind, präzisieren lässt, etwa {Wohnort}, {für Menschen}, {von Menschen gemacht}. Alle Signi­fikate lassen sich in solche semantische Merkmale zerlegen, oder anders formuliert, alle Signifikate können als Mengen, als Kombina­tionen von Merk­malen analysiert/beschrieben werden. Das Signifikat ›Gott‹ etwa weist die Merkmale {nicht-menschlich}, {singuläre Größe}, {allmächtig}, {all­wissend}, {außerzeitlich} auf.

Die Unterscheidung in diese beiden Komponenten hat Sinn, da die an das Signifikat gebundene Vorstellung nicht notwendig auch an einen bestimmten Signifikanten gebunden ist. Das Signifikat ›Gott‹ wird in verschiedenen Sprachen mit verschiedenen Signifikanten ausgedrückt: ›G-o-t-t‹ im Deutschen, ›d-i-e-u‹ im Französischen, ›g-o-d‹ im Englischen, ohne dass sich damit auch die Vorstellung ändern würde.

Die Verknüpfung von Signifikant und Signifikat beruht also nicht auf einer Notwendigkeit, sie ist tendenziell arbiträr, willkürlich, allerdings nicht in dem Sinne, dass damit eine generelle Beliebigkeit vorläge. Die Zuordnung erfolgt aufgrund von Übereinkunft, ist also konventionell. Diese Zuordnung kann allerdings auf in der Zeit ablaufenden und nicht direkt steuer- und beeinflussbaren kollektiven Signifikationsprozessen beruhen, wie in den natürlichen Sprachen, oder auch auf exakt definierter Festlegung, wie das Beispiel des Morsealphabets zeigt. Geregelt ist das Verhältnis jeweils in einem Kode, dem Zeichensystem. Hier sind diese Zuschreibungen über die Bedeutungsfunktion festgelegt.

Mit Hilfe dieses Modells und der Unterscheidung der beiden Kompo­nen­ten Signifikat und Signifikant lassen sich sprachliche Phänomene be­schrei­ben und verstehen. So etwa Synonymie. Diese liegt dann vor, wenn zwei oder mehr Signifikanten annähernd dasselbe Signifikat besitzen, also wenn bei unterschiedlichem Signifikanten die Merkmale der Signifikate weit­gehend identisch sind. Der Signifikant ›B-a-b-y‹ und der Signifikant ›S-ä-u-g-l-i-n-g‹ sind unterschiedlich, sie bestehen aus unterschiedlichen Buchstaben und einer unterschiedlichen Buchstabenfolge, ihre Signifikate hingegen, die mit ihnen bedeutete Vorstellung, weisen große Übereinstimmungen hinsichtlich ihrer Merkmale auf, hier etwa ausgedrückt als {Kind bis zu einem bestimmten Alter}.

Bei der Polysemie, auch Homonymie genannt, verhält es sich gerade umge­kehrt. Einem Signifikanten sind gleichzeitig mehrere Signifikate zugeord­net, die in ihren Merkmalen weitgehend nicht identisch sind. Mit dem Signifikant ›B-a-n-k‹ etwa lassen sich die Signifikate ›Geldinstitut‹, ›Sitzgelegenheit‹ oder ›Flussufer‹ verbinden; ähnliche Fälle sind Ton, Schimmel, Kiefer.

Wichtig hervorzuheben in unserem Zusammenhang ist insbesondere der Sachverhalt, dass Signifikat und Signifikant keine feststehenden, ontologischen Größen sind, sondern insofern relational/funktional, als sie das Verhältnis zweier Größen zueinander beschreiben. Die eine Größe verweist auf die andere. Dieses Verweisen ist aber weder auf die eine Größe beschränkt noch daran notwendig gebunden, sondern nur aufgrund ihres spezifischen Vorhandenseins innerhalb eines Zeichensystems.

So kann ein Objekt, das in einem Zeichensystem kein Signifikant ist, mit dem also keine weitere Bedeutung verbunden ist, in einem anderen System/Kontext Signifikant eines Signifikats werden: Die Buchstabenfolge ›m-i-n-d‹ ist im Deutschen kein Signifikant, im Englischen dagegen schon: Hier weist sie das Signifikat ›Verstand‹ auf. Die Buchstabenfolge ›CPAS‹ ist im Deutschen an sich kein Signifikant, im Text Aquis Submersus (1877) von Theodor Storm schon: Hier wird diese Buchstabenfolge unter einem Bild als Abkürzung interpretiert, und damit wird ihr also zunächst Zeichencharakter zugesprochen, und der Kode, das Zeichensystem hierfür gesucht. Diese Entschlüsselung dient als Handlungsrahmen des Textes. Auch die Natur ist zunächst und primär kein Signifikant. Ist aber davon die Rede, im Buch der Natur zu lesen, dann ist in dieser Formulierung genau ein solcher Zusammenhang unterstellt. Dann wird davon ausgegangen, dass man Phänomenen der Natur andere Sachverhalte zuordnen kann, und diese Zuordnung auf einem wie auch immer gearteten und von wem auch immer bestimmten System beruht.

Ebenso kann aber ein Signifikat, also etwas, das bereits eine bestimmte Vorstellung bedeutet, auf einer anderen/höheren Ebene selbst wieder Signifikant eines sekundären Signifikats sein, über seine eigene und eigentliche Bedeutung also hinaus auf etwas Anderes, Weiteres verweisen. Etwas, das bereits in einem bestimmten Zeichensystem eine bestimmte Bedeutung hat, kann in einem anderen Zeichensystem dazu benutzt werden, auf Weiteres, anderes zu verweisen. Dies ist das generelle Prinzip von Kunst und Literatur. Eine solche sekundäre Bedeutung ist aber auch dann gegeben, wenn ein Autokennzeichen, das primär auf Zulassungsstelle und Halter eines Autos verweist, es erlaubt, auch für Botschaften anderer Art darüber hinaus benutzt zu werden, etwa SE – X 66, PA – PA 50, KI – EL 1.

Als Referent ist nun diejenige Größe eingeführt, auf die die Merkmale des Signifikats zutreffen, und die eben aufgrund dieses Sachverhalts faktisch oder potenziell vom Zeichen, also dem Signifikanten, ›bezeichnet‹ wird. Sie ent­spricht einer in der Realität existierenden Größe. Mit diesem Begriff wird also für das Zeichen als rein sprachliches Gebilde ein Bezug zur Rea­li­tät, zur Wirklichkeit geschaffen. Der Signifikant steht zum Referenten in der Be­zeich­nungs­relation, da er ein Name, eine Bezeichnung für diese Größe ist.

Die von Peirce getroffene Unterscheidung von Signifikat und Referent erscheint notwendig, da damit Phänomene adäquat beschrieben und Unter­schiede erfasst werden können. Wichtig dabei ist, dass es ein Signifikat geben kann, dem kein Referent entspricht. Ein Einhorn etwa ist ein Fabeltier, das aber über ein genau festgelegtes Merkmalsset verfügt: {pferdeähnlich}, {weiß}, {scheu}, {Horn auf der Stirn}, {nur von einer Jungfrau zu fangen}. Es gibt also eine Vorstellung vom Einhorn, ein Signifikat, ohne dass es einen Referenten in der Realität geben muss. Dies ist im literaturwissenschaftlichen Kontext insofern zentral, da es in fiktiven Texten durchaus komplexe Be­deu­tungseinheiten gibt, die als menschliche Figuren modelliert werden, Faust etwa, denen aber in der außertextuellen Realität nichts entspricht. Sie exis­tie­ren nur als diese Signifikate, als Vorstellung und semantische Merkmale.

Da die Zuordnung also nicht eins-zu-eins ist, verschiedene Signifikate durchaus auch auf dieselbe Größe referieren, also denselben Referenten haben können, hat es Sinn, diese Unterscheidung einzuführen, da dann Sachverhalte präziser beschrieben werden können. Zudem bedingt die Kenntnis eines Signifikats keine Annahmen oder Aussagen darüber, in welchem Verhältnis man zu dem jeweiligen Referenten steht oder ob man einem Signifikat überhaupt einen Referenten zuschreibt. Dennoch kann man darüber reden und es verstehen. Jeder kompetente Sprachbenutzer versteht das Zeichen ›Gott‹ und weiß, welche Merkmale damit verbunden sind, unabhängig davon, ob er ihm einen Referenten zuschreibt oder nicht.

1.3.2 Syntax, Semantik, Pragmatik

Bei der Beschreibung der einzelnen Komponenten eines Zeichens wurde bereits von semantischen Merkmalen gesprochen. Die Semantik ist ein Teilbereich der Semiotik, ebenso wie die Syntax und die Pragmatik. Da jedes Zeichensystem drei Komponenten umfasst, die die unterschiedlichen Teilbereiche betreffen, hinsichtlich deren es untersucht werden kann, kann auch jede semiotische Theorie demnach in drei Teiltheorien bzw. Komponenten untergliedert werden:

Die syntaktische Komponente betrifft die Menge der Regeln, die festlegen, welche Verknüpfungen von Zeichen im jeweiligen Zeichensystem zulässig sind; für die natürlichen Sprachen ist dies die Grammatik.

Die semantische Komponente betrifft die Relationen zwischen Zeichen und ihren Bedeutungen und zwischen Zeichen aufgrund ihrer Bedeutungen.

Die pragmatische Komponente betrifft die Relationen zwischen Zeichenbenutzern untereinander (Produzenten und Rezipienten), zwischen Zeichenbenutzern und Zeichensystemen und zwischen Zeichenbenutzern und den mit den Zeichensystemen hervorgebrachten Äußerungen.

Die Semantik untersucht also die Organisation von Bedeutung mittels Zeichenkombinationen und Zeichenaufbau. Mit der Bedeutungsorganisation literarischer Texte, mit Textsemantik, wird sich noch ausführlich Kap. 2 beschäftigen. Einige Erläuterungen zum Bereich der Semantik im Allgemeinen können aber hier schon formuliert werden:

1.3.3 Denotat und Konnotation

Traditionell lassen sich denotative (Denotationen) und konnotative (Konnotationen) Signifikate unterscheiden, innerhalb der Letzteren objektive Konnotationen und subjektive Konnotationen, die auch als Assoziationen benannt sind. Relevant für wissenschaftliche Interpretationen sind nur die nachweisbaren Bedeutungen (also Denotationen und objektive Konnotationen). Die Denotation meint dabei die Kernbedeutung, die einem Begriff kontextunabhängig qua Zeichensystem gegeben und somit im Prinzip lexikonfähig ist. Konnotationen sind zusätzliche, kontextabhängige Bedeutungen, also Bedeutungen, die vom Sprachbenutzer, der Sprechsituation, vom sprachlichen und situationellen, textinternen und textexternen Kontext abhängen. Objektive Konnotationen sind aus dem Kontext nachweisbar, Assoziationen nicht. Das Signifikat ›Taube‹ etwa weist als Denotation die Bedeutung {Tier mit bestimmten Merkmalen} auf. Konnotationen, die mit Taube verbunden sind, wären {Frieden} oder {Unschuld}.

Die Merkmalszuordnung an ein Signifikat ist, wie die Abgrenzung von Denotat und Konnotationen, vom Wandel des jeweiligen Sprachsystems abhängig und somit zum Teil fließend. Konnotationen können im Verlauf der Sprachentwicklung zu Denotaten werden (Bspl.: ›höflich‹, ursprünglich mit der Bedeutung: ›den Hof betreffend‹), die Relationen und Hierarchien der einzelnen Teilbedeutungen/-merkmale können sich verschieben.

Gerade Konnotationen sind kulturell und historisch variabel, auch im Grad ihrer Verbreitung, und können schnelleren Veränderungen unterliegen. Mit der Banane wurde, etwa in Begriffen wie Bananenrepublik, lange Zeit ein Zustand der Unordnung und Korruption konnotiert, bis sie im Zuge der Wiedervereinigung mit den Vorteilen des Westens verbunden wurde, was nun wieder im Abklingen begriffen zu sein scheint. Solche Konnotationen können durchaus wichtig sein, wenn es um die Bedeutung von Texten geht, da ein Textverstehen unter Umständen gerade daran festgemacht ist, mit solchen Konnotationen operieren zu können. Wenn die Zeitschrift Titanic für ihre Ausgabe 11/1989 als Titelblatt eine Frau zeigt, die eine geschälte Gurke in der Hand hält, und dieses Bild mit der Überschrift versieht: »Zonen-Gabi (17) im Glück (BRD): Meine erste Banane«, dann ist der Widerspruch, den Text- und Bildzeichen hier konstruieren, vor dem Hintergrund der eben skizzierten Konnotation kohärent interpretierbar.

Begriffe können (feine) Unterschiede in ihrer Semantik aufweisen, auch wenn sie zunächst als ähnlich erscheinen. Solche Unterschiede sind durchaus relevant, umso mehr, da es um Texte in ihrer konkreten sprachlichen Verfasstheit geht und es damit auch auf Genauigkeit und das Erfassen von Nuancen ankommt. Sie lassen sich zumeist mit dem hier zur Verfügung gestellten Inventar beschreiben. So erscheint es irrelevant, ob man von der Leiche oder (im Falle einer weiblichen Leiche) der Toten spricht. Dennoch gibt es deutliche semantische Unterschiede, die mit bestimmten Proben im direkten Vergleich erkannt werden können. So lässt sich zwar sagen ›Ich war mit der Toten befreundet‹, während der Satz: ›Ich war mit der Leiche befreundet‹ nicht korrekt ist, da hier semantische Restriktionsbedingungen verletzt sind. Die Begriffe ›die Leiche‹ und ›die Tote‹ weisen also unterschiedliche semantische Merkmale auf. Während sich ›die Leiche‹ in ihrer Bedeutung auf das Signifikat der Person, die verstorben ist, bezieht, bezieht sich ›die Tote‹ zusätzlich auf semantische Merkmale, die durch den Referenten, die Person selbst, gebildet sind, und damit kann dieser Begriff auch auf den Zustand vor dem Tod verweisen. Das sind feine Unterschiede, die aber in Texten auf unterschiedlichste Weise relevant sein können.

Bei der Beschreibung/Unterscheidung von mehreren Signifikaten lassen sich Merkmalsklassen bilden: Merkmale lassen sich selbst übergeordneten Größen, Klassen, zuordnen, aus Merkmalen lassen sich also weitere Merkmale abstrahieren. So lässt sich aus Junge und Mann die Klasse ›männlich‹ abstrahieren, aus Mädchen und Frau ›weiblich‹, aus Junge und Mädchen ›nicht-erwachsen‹, aus Mann und Frau ›erwachsen‹. Einzelne Signifikate können also, wie an den Beispielen zu sehen ist, verschiedenen Merkmals­klassen zugehören: Junge sowohl der Klasse ›männlich‹ als auch der Klasse ›nicht-erwachsen‹. Zur Unterscheidung dieser vier Signifikate (Junge, Mäd­chen, Frau, Mann) genügt also die Anwendung von zwei Merkmalsklassen aus, da die spezifische Kombination für den eindeutigen Unterschied aus­reicht. Die Fähigkeit zu Abstraktion und Klassenbildung (auch Paradigmen­bildung genannt) ist eine zentrale und grundlegende Leistung, die nicht nur bei der Analyse von (literarischen) Texten gefordert ist, sondern zur Krea­ti­vität und menschlichen Intelligenz an sich gehört. Nicht umsonst wird in der Forschung zu künstlicher Intelligenz versucht, gerade diese Fähigkeit Maschinen zu implantieren.

1.3.4 Paradigma und Syntagma

Eingeführt als Begriffe in der Linguistik Ferdinand de Saussures, können die Begriffe Paradigma und Syntagma und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen als generelle, grundlegende und übergreifende Prinzipien bei der Bedeutungskonstituierung an sich gelten, unabhängig also von der natürlichen Sprache, anhand deren sie eingeführt wurden. Paradigma und Syntagma beziehen sich auf jenen Aspekt beim Bedeutungsaufbau eines Textes, der sich aus der Relation von Zeichensystem und konkretem Text ergibt. Saussure unterschied zwischen der ›langue‹ und der ›parole‹. Die langue bezeichnet das Sprachsystem einer Sprachgemeinschaft, das zum einen das Reservoir an elementaren Zeichen der Sprache und zum anderen das Reservoir an Verknüpfungsmöglichkeiten und -regeln für diese elementaren Zeichen enthält. Die parole bezeichnet demgegenüber den sich in Texten manifestierenden Sprechakt des Einzelnen, also eine konkrete Zeichenfolge, die auf einer Wahl (einer Selektion) aus den Möglichkeiten der langue beruht, also aus der Verwendung der vorhandenen, prinzipiell zur Verfügung stehenden Zeichen (Wörter) unter Benutzung und Einhaltung der gegebenen Verknüpfungsregeln (Grammatik).

Der Zeichenbenutzer wählt also aus dem Zeichensystem aus, er selegiert, und verknüpft die Zeichen zu bestimmten ›Zeichenfolgen‹, er kombiniert.

Produkt der Kombination ist ein Syntagma (oder darauf aufbauend eine Folge von Syntagmen). Ein Syntagma stellt folglich eine der syntaktisch möglichen Verknüpfungen der ausgewählten Zeichen dar.

Das Zeichensystem, aus dem ausgewählt wird, ist nun seinerseits ebenfalls keine ungeordnete Menge, sondern besteht aus Teilordnungen, den Paradigmen.

Für die natürliche Sprache sind solche Paradigmen etwa die Wortarten oder Satzglieder. Um einen korrekten Satz zu bilden, muss man Elemente wählen, die mindestens aus zwei verschiedenen Paradigmen gewählt sind, aus dem, was als Subjekt und aus dem, was als Prädikat gelten kann.

Ein Paradigma ist eine Einheit von Zeichen, deren Signifikate über mindestens ein gemeinsames Merkmal verfügen, und dieses Merkmal ist gerade konstitutiv für die Zugehörigkeit zu dieser Einheit. So sehr sie sich ansonsten hinsichtlich ihrer Merkmale unterscheiden, dieses eine Merkmal müssen sie aufweisen. In Bezug zu diesem übergeordneten Merkmal stellen sie dann also je unterschiedliche Varianten dar. Als Beispiel für ein Paradigma sei eines der so genannten Bongard-Probleme wiedergegeben, die in der Forschung zu künstlicher Intelligenz als Testverfahren verwendet werden. Die sechs linken und rechten Kästchen bilden jeweils ein Paradigma, da sie sich durch ein Merk­mal auszeichnen, das alle Kästchen der gleichen Seite gemeinsam besitzen, aber keines der Kästchen der anderen Seite (im Beispiel ist dies Drei- vs. Vier­gliedrigkeit).

Paradigmen sind nun nicht notwendig (linguistisch) vorgegeben, sondern können ad hoc gebildet und durch den Äußerungskontext erzwungen werden. Was als Gemeinsamkeit gelten soll, ist also nicht vorgegeben, sondern wird erst durch die Äußerung erzeugt. Dann ist die oben angesprochene Fähigkeit gefordert, diese Gemeinsamkeit zu erkennen. In Comedy-Kontexten im Fernsehen wird mit diesem Prinzip gern für Lacher gesorgt, etwa wenn Harald Schmidt vier Bilder zeigt, auf denen abgebildet ist, was unter sich auf den ersten Blick keinen Zusammenhang aufweist: Die Zeitschrift Emma, eine Flasche Eierlikör, eine Toilette, ein Porträt von Bettina Böttinger, und die Frage stellt: Was haben diese vier gemeinsam? (Antwort: Das würde kein Mann freiwillig anfassen).

Geht es um die Vorstellung, wie Bedeutung konstituiert, gebildet wird, dann entspricht die syntagmatische Achse also dem Verfahren der Kombination, die paradigmatische Achse entspricht dem der Selektion.

Geht es um die Interpretation, die Rekonstruktion von Bedeutung, dann entspricht die syntagmatische Achse dem Verfahren der Segmentierung, die paradigmatische Achse dem der Klassifikation / Paradigmenbildung. Beim syntagmatischen Aspekt geht es folglich um die Gliederung eines Textes, beim paradigmatischen Aspekt um Klassifizierung, um Abstraktion relevanter Kategorien, und um Hierarchisierung, also Herstellung einer Ordnung zwischen den Kategorien. Liegt ein Text vor, so sind anhand von diesem Paradigmen zu rekonstruieren (die paradigmatische Achse): Zum einen ist zu bestimmen, aus welchem Pool an Möglichkeiten das jeweilige Element ausgewählt wurde und welche spezifische Bedeutung es aufweist im Gegensatz zu den nicht favorisierten Alternativen. Zum anderen ist der gemeinsame Nenner zu suchen, unter den alle im gegebenen Rahmen vorhandenen Elemente zu subsumieren sind.

Voraussetzung für Paradigmenbildung ist Abstraktion: Eine gegebene Einheit ist in semantische Merkmale zu zerlegen, wobei solche Merkmale erst einmal zu erkennen sind – und zwar die im gegebenen Kontext relevan­ten. Aus welchen Bedeutungsanteilen sich eine solche Einheit zusammensetzt, bedarf also einer genauen, adäquaten Beschreibung und des darauf basierenden Erkennens, welcher Anteil dieser Beschreibung der gemeinsame Nenner ist. Die Adäquatheit der Beschreibung hängt damit vom jeweiligen Erkennt­nisinteresse ab.

In Georg Büchners Dantons Tod (1835) finden sich die beiden folgenden Sätze, die in paradigmatischer Betrachtung einiges über die Art der Redeweise im Text erkennen lassen:

Die Schenkel der Demoiselles | guillotinieren dichDer Mons Veneris | wird dein Tarpejischer Fels

Das Syntagma, der einzelne Satz, besteht jeweils aus einem Subjekt, das wiederum jeweils beim angesprochenen Du (»dich«, »dein«) et­was bewirkt, als Prädikat. Für beide Teile lässt sich dabei das Paradigma be­stim­men, dem die gewählten Ausdrücke zugehören. Das Subjekt wird wört­lich durch das Paradigma ›weibliche Körperteile‹ gebildet, Schenkel und Venushügel. Warum sind gerade diese Körperteile gewählt? Beide Körper­teile sind zudem solche, die (im Vergleich mit anderen Körperteilen) in engerer Beziehung zu Sexualität gesehen werden können. Das Paradigma, für das diese Körperteile also eigentlich stehen, das tatsächlich gemeinte Subjekt des Satzes, könnte somit, bezieht man das angesprochene Du mit ein, in etwa als ›sexuelles (kör­perliches, sinnliches) Interesse an Frauen‹ abstrahiert werden. Aus welchem Paradigma sind nun die beiden Prädikate gewählt? Die Guillotine ist ein Instrument zum Vollzug der Todesstrafe (während der Französischen Revolution erfunden), der Tarpejische Fels, die südliche Spitze des kapitolinischen Hügels in Rom, bezeichnet den Ort, an dem im alten Rom die als Hochverbrecher zum Tode Verurteilten hinuntergestürzt wurden. Das Paradigma, in das sich beide Prädikate in ihrer wörtlichen Bedeutung verorten lassen, wird durch Todesarten gebildet, die zudem solche der Exekutive eines Staatswesens, des öffentlichen Strafvoll­zugs sind. Wiederum lässt sich darüber hinaus abstrahieren, dass das eigentlich gemeinte Paradigma in etwa mit ›Verderben‹, ›sind schädlich‹ umschrie­ben werden kann. Warum sind dafür aber genau diese Todesarten gewählt? Damit wird eine Verbindung von Privatem und Politischem (sprachlich) inszeniert, so dass das Paradigma durchaus als ›öffentliches, politisches Verder­ben‹ zu präzisieren ist. Das scheinbar private Interesse führt nicht nur zu einem irgendwie gearteten Niedergang als Individuum (etwa aus finanziellen oder gesundheitlichen Gründen), sondern hat auch öffentliche, politische Konsequenzen.

Eine Textanalyse kann sich nun entweder verstärkt an der syntagmatischen Achse oder der paradigmatischen Achse ausrichten. Syntagmatisches Vor­gehen orientiert sich dabei an einer vorgegebenen Reihenfolge und versucht Bedeutung zu rekonstruieren, die sich aus dieser Reihenfolge ergibt; paradigmatisches Vorgehen löst sich von einer solchen vorgegebenen Reihenfolge zugunsten dessen, was als Thema, als gemeinsames Erkenntnisinteresse, gewählt ist. Nicht immer (generell eher nicht) ist hier ein syntagmatisches Vorgehen adäquat, da dabei der Blick für Zusammenhänge auf einer abstrakteren Ebene verstellt werden kann. Natürlich mag es heuristisch sinnvoll sein, einen Text Schritt für Schritt durchzugehen, um Daten zu sammeln. Darauf muss aber ein Arbeitsschritt der Systematisierung, der Ordnung dieses aufbereiteten Materials erfolgen, allein schon deshalb, um Wiederholungen zu vermeiden.

Syntagmatisches Vorgehen ist etwa dann gegeben, wenn man sich bei der Analyse eines Dramas an der Abfolge von Szenen orientiert. Sinn hat dies dann, wenn diese Abfolge funktionalisiert ist, sich aus der Abfolge also auch Bedeutung rekonstruieren lässt. In Schillers Wilhelm Tell sind die beiden parallelen Handlungen (einerseits der kollektive Aufstand der Schweizer und andererseits die Privathandlung um Tell) in ihrem syntagmatischen Nacheinander jeweils wie folgt angeordnet: Im vierten Aufzug, erste Szene, entkommt Tell Geßler, im vierten Aufzug, zweite Szene, planen die Schweizer die sofortige Erstürmung der Burgen; im vierten Aufzug, dritte Szene, tötet Tell Geßler in der Hohlen Gasse, im unmittelbar darauf folgenden fünften Aufzug, erste Szene, wird die Zwingburg Uri von den Schweizern erstürmt. Die beiden Handlungsstränge laufen eigentlich in etwa zeitgleich ab, und sie sind insofern unabhängig voneinander, als sie nicht in einem kausalen Zusammenhang stehen. Die Aktionen der Schweizer sind also nicht ursächlich mit den Aktionen von Tell verbunden, sie hätten, da sie zeitgleich sind, auch in einer anderen Reihenfolge präsentiert werden können, da es zunächst nur formal darum geht, sie in die durch das Medium geforderte Ordnung des Nacheinanders zu bringen (auf einer Bildertafel etwa könnten die beiden Handlungsstränge auch nebeneinander stehen).

Dennoch legt die spezifisch realisierte Reihenfolge nun hier für den Text nahe, dass einem kollektiven Aufstand immer ein individueller vorausgehen muss bzw. dass immer zuerst ein Individuum reagieren muss, bevor es das Kollektiv tun kann. Die Freiheit Tells wird als Voraussetzung dafür gesetzt, dass die Übrigen handeln, anstatt dass deren Handeln der Befreiung Tells dienen könnte. Damit wird durch die syntagmatische Abfolge die durch den Text aufgeworfene Frage, wer als Handlungsträger, als diejenige Größe erscheinen soll, die tatsächlich etwas bewegen kann, argumentativ gestützt und beantwortet: Die Handlung des Kollektivs erscheint motiviert durch das vorangegangene Geschehen um das Individuum, dieses ist damit in der Wertigkeit vor dem Kollektiv gesetzt. Zudem wird damit, obwohl Tell selbst am Aufstand nicht beteiligt ist, eine Beziehung zwischen diesem und dem Aufstand konstruiert und Tell kann so als der Retter erscheinen.

Literaturempfehlungen zu Kapitel 1

Krah, Hans: Kommunikation und Medien: Semiotische Grundlagen. In: Hans Krah und Michael Titzmann (Hg.): Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung. 3., stark erweiterte Aufl. Passau 2013, S. 13–33.

Krah, Hans: Was ist »Literatursemiotik«? In: Anita Schilcher und Markus Pissarek (Hg.): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler 2013, S. 35–53.

Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik. In: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt/Main 1979, S. 83–121.

Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1972.

Titzmann, Michael: Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik. In: Roland Posner, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok (Hg.): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 3. Teilband. Berlin, New York 2003, S. 3028–3104.

2 Bedeutungs­organisation

Das folgende, grundlegende Kapitel beschäftigt sich mit den Verfahren und Strategien, mit denen Texte ihre Bedeutung konstituieren und Bedeutung organisieren. Diese stehen als Beschreibungsinventare der Interpretation für den Akt der Rekonstruktion von Bedeutung als zentrale analytische Mittel zur Verfügung.

2.1 Textsemantik

2.1.1 Discours und Histoire/Oberflächenebene und Tiefenstruktur

In jedem Text können grundsätzlich zwei Ebenen unterschieden werden, die sich wechselseitig bedingen: Oberflächenstruktur und Tiefenstruktur. Die Oberflächenstruktur besteht aus allen präsentierten Dingen und Geschehnissen in ihrer konkreten sprachlichen Verfasstheit und ihrer gegebenen syntagmatischen Abfolge, also aus den spezifischen Signifikanten, Zeichenverbindungen und -abfolgen eines Textes. Diese Oberflächenstruktur lässt sich als Discours im Allgemeinen verstehen (vgl. noch Kap. 4). Discours ist dabei nicht mit Diskurs zu verwechseln, wie er in Kap. 7.2 eingeführt wird (hier liegt nur eine sprachlich-begriffliche Ähnlichkeit vor, keine konzeptionell-inhaltliche).

Die Tiefenstruktur bestimmt sich über die logisch-semantischen Kategorien, die Paradigmen, welche in bestimmten Relationen stehen und die die dem Text zugrunde liegende semantische Ordnung konstituieren. Sie bezeichnet also das Bedeutungsgeflecht eines Textes, das aus der Textoberfläche und mit dieser zu abstrahieren ist. Die hier relevanten Einzelaspekte können als Ebene der Histoire zusammengefasst werden. Konstruktionen der Textoberfläche können dabei durch Implikationen, die sich auf und aus der Tiefenstruktur ergeben, hinterfragt werden.

2.1.2 Textualität

Wenn es um die Bedeutung eines Textes und damit um die Bedeutung von Begriffen in einem Text geht, ist es wichtig, sich das Folgende zu vergegenwärtigen: In der linguistischen Verwendung des Begriffs ›semantisches Merkmal‹ bezeichnen die Merkmale die in einer Theorie explizit eingeführten, kleinsten Bedeutungseinheiten des Sprachsystems. In der literaturwissenschaftlichen Verwendung sind es dagegen von Fall zu Fall zu bestimmende, eben durch keine Theorie vorgegebene kleinste Bedeutungseinheiten des Textes oder eines textkorpusspezifischen Systems, die mit den linguistischen übereinstimmen können, aber nicht müssen. Über die Primärbedeutung des Sprachsystems hinaus können Begriffen zusätzliche Merkmale durch den Äußerungsakt zugewiesen und/oder ihre Bedeutung modifiziert, verschoben sein. Diese Semantisierung kann auf verschiedenen Ebenen und über verschiedene Verfahren/Strategien erfolgen. Merkmale können Begriffen zum einen natürlich aufgrund der dem Text voraus liegenden Sprachstruktur zugewiesen sein. Sie können dies aber auch aufgrund einer expliziten oder impliziten Zuordnung im Text selbst sein. Und schließlich kann eine solche Zuordnung auch aufgrund von Informationen gesteuert sein, die über den konkret vorliegenden Text hinausgehen (siehe dazu Kap. 7). In diesem Kapitel soll auf die Verfahren eingegangen werden, die sich aus dem textuellen Kontext – dem Sprachmaterial und der Textstruktur – ergeben und sich auf diesen beziehen.

Wie unterschiedlich ein und derselbe Begriff in verschiedenen Texten verwendet wird und verwendet werden kann, mögen zunächst die folgenden Beispiele zur Semantik des Begriffs ›Freiheit‹ demonstrieren.

Marquis.

[…] Alle Könige

Europens huldigen dem Spanschen Namen.

Gehen Sie Europens Königen voran.

Ein Federzug von dieser Hand, und neu

Erschaffen wird die Erde. Geben Sie

Gedankenfreiheit. –

[…]

Sehen Sie sich um

In seiner herrlichen Natur! Auf Freiheit

Ist sie gegründet – und wie reich ist sie

Durch Freiheit. Er, der große Schöpfer, wirft

In einen Tropfen Tau den Wurm, und läßt

Noch in den toten Räumen der Verwesung

Die Willkür sich ergetzen – Ihre Schöpfung,

Wie eng und arm!

In dieser bekannten Rede des Marquis Posa aus Friedrich Schillers Don Carlos (1787) wird der Begriff ›Freiheit‹ zum einen als Gedankenfreiheit spezifiziert, und damit bedeutet Freiheit hier nicht soziale Freiheit, ökonomische Freiheit, politische Freiheit und auch dezidiert nicht Religionsfreiheit, zum anderen wird sie mit Natur verbunden und somit als etwas Nicht-Soziales, Nicht-Gesellschaftliches (also nicht vom Menschen ›Geschaffenes‹) gedacht, sondern stattdessen als ursprüngliches und göttliches Prinzip gesetzt. Ein weiteres Beispiel aus einem Drama Schillers:

Maria.

Was klagt ihr? Warum weint ihr? Freuen solltet

Ihr euch mit mir, daß meiner Leiden Ziel

Nun endlich naht, daß meine Bande fallen.

Mein Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich

Auf Engelsflügeln schwingt zur ewgen Freiheit.

Da, als ich in die Macht der stolzen Feindin

Gegeben war, Unwürdiges erduldend,

Was einer freien großen Königin

Nicht ziemt, da war es Zeit, um mich zu weinen!

– Wohltätig, heilend, nahet mir der Tod,

Der ernste Freund!

Hier in Maria Stuart (1800) bedeutet Freiheit etwas ganz anderes, obwohl es sich ebenfalls um ein klassisches Drama von Schiller handelt. Hier ist Freiheit mit dem Tod verbunden, der sich hinter dem Begriff der ›ewgen Freiheit‹ verbirgt. Innerhalb des Lebens ist Freiheit damit nicht zu realisieren. Wenn sie davon spricht, dass ihr Kerker aufgeht, dann ist damit nicht der reale Kerker gemeint, in dem sich Maria zum Zeitpunkt ihrer Rede befindet, sondern als Kerker wird hier ihr Leben insgesamt semantisiert, und damit kann hier auch keine Freiheit erreicht werden. Insofern kann aber dem Tod diese positive Qualität der Freiheit zugesprochen und der Tod positiv als Freund bezeichnet werden, der Heilung bringt, also eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustands.

Die folgenden beiden Repliken stammen aus demselben Text, aus Christian Dietrich Grabbes Kaiser Friedrich Barbarossa (1829); es sind Aussagen von den beiden sich bekämpfenden Parteien:

Gherardo.

[…] Was ihm gebührt,

Laßt uns dem Kaiser geben, heiß’ es Zoll,

Gefälle, Huld’gung der Vasallen – Aber

Mit Vögten nicht soll er die Freiheit binden

[…]

Alle Mailänder und Lombarden.

Wir brechen jubelnd auf zum Freiheitskriege!

Kaiser Friedrich.

[…] Und geh’n Millionen

In diesem Kampf’ um Geistesfreiheit unter –

Sie konnten nimmer schöner fallen, und

Ich sehe schon den Phönix, welcher sich

Aus ihrer Asche riesengroß [… ] wird erheben!

[…]

Ich kämpfte für der Völker Freiheit,

Und Priesterherrschaft sucht’ ich zu vertilgen!

Beide Ausschnitte sind aus einem Text und in beiden wird die jeweilige Aktion, Krieg und Kampf, dadurch begründet, dass sie einen Zustand von Freiheit herstellen soll. Beide Parteien bekämpfen sich aber gegenseitig. Wenn für beide Seiten es aber ein Kampf um Freiheit ist, dann muss Freiheit für jeden etwas anderes bedeuten, etwas, das aber mit dem gleichen Begriff ausgedrückt wird. Für die Mailänder ist Freiheit mit dem Fehlen von Vögten gleichgesetzt, die für den Zustand der Unfreiheit als verantwortlich gelten; für den Kaiser dagegen ist Freiheit das Fehlen der kirchlichen Macht.

Die letzten beiden Textbeispiele stammen aus einem anderen historischen Kontext, der NS-Zeit. Zunächst ein Ausschnitt aus dem Roman Der Femhof (1934) von Josefa Berens-Totenohl:

Seit Jahren war ihm Margret, eine reiche Bauerntochter aus dem Köl­nischen, zur Frau bestimmt. Da warf ihm das Schicksal eine wilde, schwarzhaa­rige Zigeunerhexe in die Arme, ein Mädchen mit Glutaugen und Feuers­brüns­ten, also, dass er im ersten Augenblicke seiner blonden und stillen Margret vergaß und das fremde Weib in seine brausenden Nächte hineinriß.

[…]

Schon trieb es ihn in manchen Nächten hinauf ins Gebirge, statt in ihre verführerischen Arme, trieb ihn auf die Spur von Luchs und Wolf, in Gefahr und Not und Tod, statt in die eigene übersättigte Gier seiner Sinne. Es schrie in ihm nach Freiheit, nach der stolzen Freiheit seines Wesens, die er verraten.

Hier findet sich eine ganz andere Konzeption von Freiheit: Freiheit ist mit dem Wesen der Person verbunden und bedeutet, so zu sein, wie man sein soll, von innen, von selbst heraus. Sie ist damit kein gesellschaftliches Phänomen und kein kollektives, ob nun kulturell oder naturbedingt. Unfrei wird man hier, wenn man gegen das Eigene verstößt. Zu diesem Eigenen, zu dem So-sein-wie-man-sein-soll, gehört hier inhaltlich, sich nicht mit Zigeunern einzulassen; dies wird als Verrat an sich selbst gesetzt. Die Vorstellung von dem, was Freiheit bedeutet, ist hier also in einem prinzipiell anderen Kontext situiert, wird letztlich sogar mit Eugenik und Rassenlehre in Zusammenhang gebracht.

Als letztes Beispiel dienen Ausschnitte aus dem Gedicht Soldaten­abschied von Heinrich Lersch, 1938 in der Gedichtsammlung Volk an der Arbeit publiziert:

[…]

Wir sind frei, Vater, wir sind frei!

Tief im Herzen brennt das heiße Leben,

Frei wären wir nicht, könnten wirs nicht geben.

Wir sind frei, Vater, wir sind frei!

Selber riefst du einst in Kugelgüssen:

Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!

[…]

Nun lebt wohl, ihr Menschen, lebet wohl!

Ein freier Deutscher kennt kein kaltes Müssen:

Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!

Frei sein heißt hier ganz offensichtlich, sein Leben für Deutschland geben zu können. Die Freiheit besteht im Opferwillen, gerade im freiwilligen Verzicht auf individuelle, persönliche Freiheit – und dies ohne weitere Begründung.

Diese letzten beiden Beispiele zeigen, wie selbst in NS-Texten ohne wei­teres mit dem Begriff Freiheit operiert wird, ihm aber eine je einschlägige Bedeutung verliehen wird, die jeweils im Sinne der NS-Ideologie liegt – und die dem, was man gemeinhin als Freiheit zu verstehen glaubt, doch eher widerspricht. Das Individuum und damit eine persönliche Freiheit zählen nichts, eine solche ist durch eine hierarchisch dominierende Ebene in einem anderen Paradigma aufgelöst, im Soldatensein oder auch an dem Punkt, wo diese scheinbar persönliche Freiheit im Inneren dem Genügen rassischer Prinzipien entspricht. Doch diese einschlägigen Abweichungen im NS-Kontext machen nur das besonders deutlich, was auch für die ersten Beispiele gilt: dass es sich immer um eine ganz bestimmte Konzeption von Freiheit handelt, die uns vielleicht einmal näher und selbstverständlicher sein mag, aber im Detail doch auch, wenn nicht Merkwürdigkeiten, so doch ihre Eigenheit aufweist.

Wie die Beispiele zeigen, kann ein und derselbe Begriff in verschiedenen Texten, zu gleichen Zeiten, selbst von dem gleichen Autor, und selbst innerhalb eines Textes verschieden konzipiert sein. Durch eine unterschiedliche Zuweisung von Merkmalen, durch unterschiedliche sprachliche und strukturelle Kontexte, also dadurch, dass der Begriff mit anderen Bereichen in Beziehung gesetzt ist, kann er unterschiedlich semantisiert sein.

Die Bedeutung eines Begriffs in einem Text ist also nicht automatisch vorbestimmt – und kann nicht einfach im Lexikon nachgeschaut werden. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass die Bedeutung, die einem Begriff aus dem Sprachsystem zukommt, sein Denotat, nicht von Relevanz wäre. Natürlich muss man sich erst einmal vergewissern, was im Lexikon steht und was ein Begriff normalsprachlich bedeutet. Dazu muss man allerdings in einem zeitgenössischen Lexikon oder Wörterbuch nachschlagen – ein Blick in ein neues Lexikon der Philosophie, in dem ganz allgemein und auf dem neuesten Stand etwas zum Begriff ›Freiheit‹ steht, ist dazu nicht unbedingt dienlich und mag durchaus dazu verführen, die spezifische Bedeutung, die dem Begriff im Text zugewiesen wird, und die es gerade zu bestimmen gilt, durch die im Lexikon vorgefundene Bedeutung zu ersetzen. Dann wird man dem Text aber nicht gerecht.

Die Grundlagen, wie ein Text seine Semantik selbst bestimmt und bestimmen kann, ergeben sich zwingend, wenn man dem Verständnis von J.M. Lotman folgt, der Literatur als sekundäresmodellbildendes, semiotisches System begreift. Dass Literatur ein semiotisches System ist, insofern Literatur ein Zeichensystem bildet, sollte aufgrund der sprachlich-textuellen Dimension einleuchten. Ebenso, dass Literatur ein sekundäres System ist, denn sie baut auf der natürlichen Sprache als einem primären semiotischen System auf und bedient sich ihrer bei der Konstruktion des neuen, literarischen, sekundären Zeichensystems. Dass Literatur ein modellbildendes System ist, insofern sie ein Modell von Welt entwirft, mag zunächst weniger einleuchten, ergibt sich aber bereits aus der Tatsache der Medialität: Denn ein Text muss aus der Gesamtmenge der zur Verfügung stehenden Realitätsbereiche notwendig Teile selegieren, er kann in seinem Bezug zur Welt nicht vollständig sein. Und dies gilt für jedes Medium, wenngleich die Informationskanäle, die überhaupt zur Verfügung stehen, selbstverständlich variieren.

Das, was ein Text abbildet, ist im Text dann aber notwendig eigenständig strukturiert, organisiert, hierarchisiert. Dies wird durch den textuellen Rahmen erzwungen.

Jeder Text konstruiert eine eigene Welt