Eingelocht - Miriam Wlodarski - E-Book

Eingelocht E-Book

Miriam Wlodarski

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Beschreibung

Mitten im idyllischen Fläming in Brandenburg, wo Dienstbesprechungen noch in der Dorfkneipe stattfinden und die Kommissarin auf dem Fahrrad anrollt, wird der Sommer plötzlich düster. Frauen aus den umliegenden Dörfern verschwinden spurlos – und niemand weiß, warum. Marion, die eigenwillige Ermittlerin mit Hang zur Rastlosigkeit, steht vor einem Fall, der alles sprengt, was sie bisher kannte. Während sie zusammen mit Kollegen aus der Stadt alten Geschichten und neuen Spuren nachgeht, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit – und gegen Strukturen, die sich nicht so leicht erschüttern lassen. Tief im märkischen Wald kämpfen derweil fünf Frauen ums Überleben – und um Antworten. Zwischen Biertresen-Philosophie und forensischer Expertise, zwischen Naturspektakel und innerem Abgrund zeigt sich: Die Provinz ist kein friedlicher Ort. Sie kann komisch sein, engstirnig, schön – und tödlich.

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Seitenzahl: 317

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Miriam Wlodarski

Eingelocht

Kriminalroman

© 2025 Miriam Wlodarski

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: Miriam Wlodarski, Herrenhölzer Weg 3, 14789 Bensdorf, Germany.

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Eingelocht

Trügerische Ruhe

Jule und Jonathan

Nicht allein

Aufschwung

Heinrich

Gruppenpanik

Verstärkung

Muriel und Eric

Schwarmwissen

Suche

Maryam und Aishe

Schrecken

Verdichtung

Maryams Bürde

Monster

Roter Faden

Stefan

Dämmern

Ausmaße

Jules Bürde

Verwässert

Neuer Mut

Heinrichs Bürde

Kurzschluss

Verworren

Muriels Bürde

Selbstaufgabe

Profile

Aufbruch

Zündel

Konfrontation

Wahnsinn

Epilog

Danksagung

Vorwort

Inspiriert durch das Leben anderer war es unvermeidlich, irgendwann mal zu schreiben. So ist dieser Roman entstanden. Er ist eine Verarbeitung. Ungerechtigkeit kann ein Motor sein, um die Welt ein bisschen besser zu machen. Sie kann einen befeuern und einem Wege zeigen. Es gibt keinen Grund, sich in diesem Buch nicht wiederfinden zu wollen. Ich lade dich indirekt dazu ein. Das Extrem des Kriminalromans, der Geschichte von Abgründen des Menschen ist ein sensationelles Mittel. Es kann dich packen und dich wieder loslassen. Die Fiktion lässt noch den Spielraum für eigene Interpretationen. Die Personen sind frei erfunden.

Den Hohen Fläming gibt es jedoch auf Landkarten als Landschaftsschutzgebiet und in meinem Herzen. Ein Ort, der schützenswert, aber auch lebenswert ist. Eine Inspirationsquelle und ein Wunder der Natur.

Jegliche Illustration ist durch künstliche Intelligenz und nach meinen Wünschen erstellt worden.

Eingelocht

Der Boden in der Springer Rummel, nach dem alten mecklenburgischen Wort Ramel die Furche, ist von winzigen Tonteilchen durchzogen. Er ist nicht so beschaffen wie die sogenannten Minutenböden, hat aber ein ähnliches Potenzial. Ein zu hoher Wassergehalt lässt ihn aufquellen, wodurch der Boden äußerst druckempfindlich wird. Ist der Boden dagegen zu trocken, schrumpft er und wird steinhart. Das verzweigte System mit den metertiefen Tälern ist durch Erosion entstanden.

Sonntag, 21.07.2019, 00:28 Uhr

Sie zuckte. Reflexartiges Erstarren der fast schon schlaffen Muskeln. Es war wie dieses Zucken, kurz bevor sie wirklich einschlief. Doch darauf folgte keine Entspannung. Ihr Nacken schmerzte. Ihr Kopf hatte in Richtung Brust herabgehangen. Vorsichtig versuchte sie ihn wieder aufzurichten. Die Muskeln ihrer Schultern waren steif, ihr Hals starr. Den synthetischen Geschmack, der an ihrem Gaumen klebte, versuchte sie herunterzuschlucken. Trocken würgte ihre Zunge in den Rachen, der Geschmack blieb. Ihre Augäpfel rollten, ihre Lider waren schwer. Langsam tastete sie sich vor. Sie blinzelte, konnte aber nichts sehen. Finster. Sie fokussierte eine Stelle. Irgendwo musste Licht sein. Mit ihrer Zunge fuhr sie über ihre Lippen. Rissig und trocken. Sie schmeckte etwas, das ihr bekannt vorkam. Herb. Ein wenig Speichel schoss ihr in Richtung ihrer Unterlippe. Die zuckte, stellte sich auf ein Schluchzen ein. Sie blinzelte. Wo war sie? Sie ruckte und zuckte, sie versuchte ihre an die Seiten ihres Körpers gepressten Arme zu bewegen. Elendige Schwere erdrückte sie. Wie in einem Albtraum fühlte sie sich gelähmt, unfähig sich zu bewegen. Irgendetwas drückte auf sie. Auch ihre Beine waren, als läge jemand auf ihr. Mit den Fingern versuchte sie zu kratzen, spürte an den Fingerspitzen kühle, raue Wände. Die eine Hand wollte der anderen nicht weichen. Ihre Hände waren fest aneinandergebunden. Ihre Füße spürte sie nicht. Sie schnaufte. Es war kühl. Die Übelkeit kam plötzlich, und Magensäure schwemmte in ihren Mund. Sie versuchte zu schlucken, aber sie konnte es nur wenige Sekunden kontrollieren. Der bittere Brei kam aus dem Mundwinkel. »Du Ferkel!«, dachte sie. Und Groll überkam sie.

Ihre Schultern ragten aus der Erde heraus, daher konnte sie ihren Kopf hin und her bewegen, sich mit stetig wachsender Intensität dem Boden gewahr werden. Ja, da gab es eine Möglichkeit, eine Stelle, an der sie den Kopf reiben, ihren Mund abwischen konnte. Mit ihren Zähnen versuchte sie etwas zu erreichen. Leidlich entschlossen widmete sie sich der Beseitigung des Erbrochenen, denn hektisch probierte sie abrupt, ihre Augen freizubekommen. Sie wiederholte die Bewegungen, suchte einen Reibungspunkt. Eine Augenbinde muss ihr das Augenlicht genommen haben. Ein Krampf durchzuckte sie. Ab Hals abwärts konnte sie sich plötzlich kaum mehr regen. Kein Laut um sie herum, kein Ton, kein Licht, kein Schimmer um sie, nur ein leises Surren von Mücken hörte sie in der Stille. Sie steckte fest. Ihre Halsmuskulatur begann zu brennen. Stetig mehr beugte sie den Kopf zunächst nach vorne und hinten, später nach links und rechts. Hartnäckig versuchte sie eine Position zu finden, in der sie ihren Mund abwischen konnte. Mit großer Anstrengung erreichte sie etwas nasses Moos. Sie wischte angeekelt und so gut es eben ging ihr Erbrochenes am Boden ab. Übrig blieb ihr der Geschmack von Sand. Tonboden schlussfolgerte sie, denn es schmeckte, wie es in der Töpferei roch. Wo zur Hölle war sie? Nach minutenlangem Schweigen und nur durch Riechen orientiert, blieb ihr immer noch verborgen, wo sie sich befand. Sie konnte einen Wald erahnen. Es rauschte herüber, die warme Nachtluft, die ihr die Aromen der Blätter herantrug. Das bekräftigte sie. Die süßlichen Noten der regenschwangeren Luft sog sie mit zitternden Nasenflügeln ein.

Am Himmel über ihr gingen die Wolken, düster zeigte sich die gewaltige Furche, welche sich durch die Zeit im Waldboden herausgearbeitet hatte. Zwei sich gegenüberliegende Formationen bildeten Ränder in der zerrissenen Landschaft. Hügelartig von Sand- und Steinmassen durchzogen erinnerte sie an die Eiszeit. Vereinzelt und doch beieinander standen die monströsen alten Buchen, jede für sich eine Offenbarung der Natur. Unten dort ganz klein, fast vollständig verscharrt, konnte Carola all dies nicht sehen.

Zur Übelkeit mischte sich Schwindel. Sie testete wieder und wieder die Funktionalität ihrer Beine und Arme. Der sie umschließende Druck ließ lediglich Millimeter der Bewegung zu. Je mehr sie sich zu regen versuchte, umso eher schienen ihre Füße einzuschlafen. In einem Krampf, der sich vom Nacken über den Rücken in die Fußspitzen vorzuarbeiten schien, spürte sie einen heftigen Bauchschmerz. Ihr Darm rumorte. Ein Schreck durchfuhr sie. So ließ sie in ihrer ausweglosen Position die Sekunden verstreichen. Bald zwang sie sich durch die Nase tief einzuatmen. Langsam strömte es aus ihrem Mund heraus. Ganz behutsam. Ihre aneinandergebundenen Hände ballten sich so gut es ging zu Fäusten. In schierem Unbehagen malte sie sich ihren einzigen Ausweg aus. Es ließ keine andere Möglichkeit mehr zu. In der von Angst und Wut angefeuerten Beschämung schoss es ihr in die Hose. Sie richtete den Kopf in die Richtung, aus der sie den Himmel und die Sterne vermutete, schloss die Augen und ließ stumm heiße Tränen über ihr Gesicht laufen. Die Wärme ihrer körpereigenen Brühe sickerte an ihrem Hintern bis zu ihren inneren Oberschenkeln. Sie schüttelte es. Ihr Körper wollte machen, was er wollte. Innerlich schrie es, wütete ein Krampf, der auch den letzten Rest aus ihr herauspresste. Den Kopf im Nacken, zu keiner Regung mehr fähig, versuchte sie nichts zu riechen.

Minutenlang hing sie, konnte das Kratzen ihrer Wimpern am Stoff der Augenbinde nicht ertragen. Sie versuchte sich an die letzten Stunden zu erinnern. Es muss geregnet haben. Der Boden war hart, aber feucht. Ihr Erbrochenes schmeckte nach dem Essen, das ihr Michael gekocht hatte. Krampfhaft orientierte sie sich. Es war die Nacht zum Samstag, es hatte geregnet. Und es gab Nudeln. Ja. Freitag, der Tag an dem sie die Klassenarbeiten kontrollierte. Bereitwillig kochte er an diesen Nachmittagen, wenn sie gewissenhaft die Leistungen benotete. Bei dem Gedanken an das Essen krampften sich Magen und Darm zusammen. Sie überlegte, was nach der gemeinsamen Mahlzeit passiert war. Ein Gedankenblitz durchfuhr sie. Michael musste zu Kunden. Sie war ausgeritten. In einer Schrecksekunde dachte sie an ihr Pferd. Hatte es sie abgeworfen? Hatte sie es mit einem Seil geführt? War sie gestürzt? Das würde ihre Fesseln nicht erklären. Ein Hauch streichelte ihr Gesicht, erinnerte sie an den Ausritt, den sie an einem bestimmten Punkt nicht fortsetzen konnte. Da war ein Baum gewesen, für den sie absteigen musste. Und dann … Nichts. Filmriss.

Wo war sie nur? In einem Loch. Einem Erdloch. Und es roch und schmeckte nach Ton. Wieso war sie in einem Erdloch? »Ist hier jemand?«, sie rief in ansteigender Panik. War das alles ein dummer Schülerstreich? Hatten sie es wieder auf sie abgesehen? Ihre Handgelenke schmerzten. Es mussten Kabelbinder sein, die sich in ihre Haut schnitten. Ihre Schultern rieben an der schroffen Kante. Einen Moment später, ihr Kopf rotierte kreisend, den steifen Nacken lockernd, horchte sie. Nur ein Zirpen, ein Rascheln, aber keine Stimme. Ihre Lippen pressten ihr Blut zusammen, die Zähne knirschten. »Was soll das? Ist das ein Scherz?« Sie wusste in dem Moment, in dem sie dies aussprach, dass es partout kein Scherz war. Es tat weh, es war dunkel, kühl, ihr war übel und sie war gefesselt. DAS war kein Scherz.

Trügerische Ruhe

Sonntag, 21.07.2019, 19:47 Uhr

Marion Schumann, um die Vierzig, durchschnittlich groß, straßenköterblond mit einem mäßig trainierten Körper rauchte ihre Feierabendzigarette im Vorgarten der Dorfkneipe. Unverhohlen freute sie sich an diesem warmen Sommerabend und stand dort alleine unter der beige-braunen Markise. Helga trat an sie heran, zwinkerte aus ihrem feisten fettigen Gesicht ein freundliches »Hallo« und stellte ein kühles Blondes vor sie auf einem Stehtisch ab. Marion griff in ihre Hosentasche, holte zwei Euro raus und hielt sie Helga unter die Nase. »Dit macht doch nüscht, Mädel«, sagte Helga und schob Marions Hand mit dem Zwilling wieder in deren Richtung. Du wirst irgendwann noch verhungern, dachte sich Marion und nickte nur stumm, steckte das Geld in die Hosentasche und schlürfte ihr Bier. Die Dorfkneipe war der einzige Ort, wo man sich traf, wo was los war. Marion mochte den brandenburgischen Charme und lachte regelmäßig über die piekfeinen Berliner, die in dem Nest gestrandet waren.

»Sach, haste wieder Mal nen Fall?«, fragte Helga, ohne Zweifel sensationsgeil. »Ach, Helga. Du weißt doch, dass ich nichts sagen darf.« Helga schnappte sich in seniorengerechtem Tempo eine Gießkanne und goss die orangeroten Studentenblumen und die weißen Margeriten in den Betontöpfen. Nicht schick, aber die DDR haben sie überdauert und funktionierten heute noch. »Boah, dass du immer diese Stinkeblumen pflanzt. Ist ja kein Wunder, wenn hier keiner sitzen will.« Marion lachte. Helga schwieg und schaute zur Straße. Langsam aber stetig kam eine Frau in grün auf einem Drahtesel auf die Kneipe zu. Die alte Kneiperin ließ es sich nicht nehmen. »Kieck ma, da kommt die olle Katrin. Hast de wohl doch wat zu tun, du freschet Luder.« Über den Plattenweg hoppelte das moderne Elektrofahrrad gefährlich auf und nieder. Marion ging zwei Schritte auf die Straße zu und bedeutete ihrer Kollegin, hier vor ihr anzuhalten. Katrin tat natürlich nicht das, was Marion wollte. Sie hatte ihren eigenen Kopf. Risikobereit und widerspenstig. Schon in ihrer Jugend zeigte sie ihre Widerspenstigkeit, indem sie jeden der großmäuligen Jungs zum Armdrücken aufforderte und besiegte.

Marion war untypisch für die Region, eine Polizeihauptkommissarin leitete das Revier in Wiesenburg. Katrin war eine von drei Revierpolizistinnen in Bad Belzig. Beide waren für einzelne Dörfer zuständig. Sie saßen zwei Mal wöchentlich gemeinsam in der nächsten Kleinstadt beziehungsweise in kleinen ihnen dafür zugewiesenen Diensträumen auf den Dörfern. Der Landstrich war auch gerade wegen seines Friedens ein wunderbarer Arbeitsort. Einbrüche, kleinere Drogendelikte, Fahren in alkoholisiertem Zustand und häusliche Gewalt stellten den Großteil ihrer gemeinsamen Ermittlungen dar. Ein paar Kapitalverbrechen wie Vergewaltigungen und der ein oder andere mysteriöse Todesfall war ihnen in der gemeinsamen Arbeit schon untergekommen. Aber die geringe Zahl stand in einem großen Kontrast zu den Vorabendserien, in denen es nur noch Mord und Totschlag gab.

Katrin schwitzte, roch leicht nach Schweiß und stellte das Fahrrad in einen dafür vorgesehenen Fahrradständer. Umständlich nahm sie ihren Helm ab, ihre kurzen roten Haare standen zu Berge, ihr Gesicht von Lachfalten und Sommersprossen gezeichnet, war puterrot. »Mensch Marion, wozu hast du ein Mobiltelefon?«, schimpfte sie scherzend und knuffte Marion an der Schulter. »Mobil heißt: Erreichbarkeit auch unterwegs gewährleistet!« Marion prostete Katrin mit dem Bierglas zu und schmiss ihre Kippe in Richtung Mülleimer, baugleich den Pflanzkübeln nur höher. »Musste immer deine Kippen daneben schmeißen?«, fragte Helga, kam aus dem Hintergrund, bückte sich bedächtig und warf sie in den Eimer. Ihr theatralisches Getue ging Marion mächtig auf den Senkel. »Hör auf zu nerven, du Spionin«, meinte sie grinsend und ging einen Schritt auf Helga zu. Diese machte auf dem Absatz kehrt und ging flüsternd in ihre Spelunke zurück. »Ich bin extra hierher geradelt«, sagte Katrin und schaute Marion direkt ins Gesicht. Ein wenig ließ Marion sie zappeln, trank noch einen Schluck und ging dann auf sie ein. »Mach mich nicht fertig, sag, was du hast.« Genervt zündete sie sich eine weitere Zigarette an.

Dem Rauch der Kollegin ausweichend fing Katrin ohne Umschweife an. »Ich bin da auf was gestoßen. Aus einigen Dörfern um uns herum sind in den letzten zwei Tagen Frauen als vermisst gemeldet worden.«

»Ja, wegen Ines König haben wir doch den Mann heute Nachmittag gesprochen. Eine Vermisstenmeldung haben wir auch gemacht. Aber die anderen? Wer ist zuständig?« Katrin setzte Marion ins Bild und fasste ihre bisherigen Erkenntnisse zusammen. »Ines König, genau. Sie ist 54 Jahre alt, Frührentnerin und wohnt mit ihrem Mann in Klein Briesen. Seit gestern Mittag vermisst. Sie verschwand im dem zu Hause nahegelegenen Wald beim Spazierengehen. Elke Martinius ist 47 Jahre alt, arbeitssuchend, sie hat drei Söhne und lebt mit diesen und ihrer 85-jährigen pflegebedürftigen Mutter in Görzke. Sie ist seit dem späten Samstagabend nicht nach Hause gekommen.« Marion unterbrach sie: »Wäre aus Gründen der Überforderung nachvollziehbar.« »Ja, das hatte ich auch gedacht, aber angeblich hatte sie ein Onlinedate. Weiter im Text!«

Die beiden Frauen steuerten auf die Gartensitzgarnitur, die schon bessere Zeiten gesehen hatte, fläzten sich in die Plastikstühle, während Helga ihnen Bier und einen Aschenbecher brachte, stehen blieb und Katrin wortlos mit strengem Blick die linke Hand ausgestreckt zum Bezahlen aufforderte. Diese klaubte aus ihrer geöffneten Windjacke, was einen Blick in ihren Ausschnitt möglich machte, neben alten Taschentüchern, ihrem Telefon auch einen Fünfer hervor und steckte ihn in die fordernde Hand. »Die Chefin dankt.« Ohne zu wechseln ging die vom Alter gebückte Dame mit dem Fünf-Euroschein in die Kneipe zurück. Marion glaubte dabei sogar einen Hüftschwung unter Helgas scheußlich bunter Dedoron-Schürze zu erkennen. Was für ein Schlitzohr, dachte sie sich, nahm einen großen Schluck und bedeutete Katrin weiter zu erzählen. »Okay, Prost. Hopp, hopp rin in Kopp. So hübsch kommen wir nie wieder zusammen«, meinte Katrin und trank das Bierglas in einem Zug aus. Das Glas, mit dünnen Rändern, hochgeschlossen stand nun leer und beschlagen auf dem Tisch.

»Kannst du dich jetzt mal konzentrieren?«, fragte Katrin Marion, die das Glas anstarrte. »Ja, mach. Erzähl schon.« Katrin fuhr fort. »Fatma Jilzim, 45 Jahre, Hausfrau aus Wiesenburg, ist auch Samstagvormittag verschwunden. Am naheliegendsten ist, dass es vormittags war, da war sie laut der Nachbarin immer beim Einkaufen auf dem Wochenmarkt am Schloss Wiesenburg oder bei einer Vogelzählung im Park. Zwei Söhne vermissen sie, der Mann ist vor ein paar Jahren verstorben. Gegen Mittag meldeten sie Fatma bei uns in Belzig als vermisst, da hätte es ein Familienessen gegeben. Dann noch Carola Friedhelm. Lehrerin an der Grundschule in Dippmannsdorf, 51 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann auch dort im Ort. Sie war, wie jeden Samstag, nachmittags reiten. Das Pferd kam ohne sie zurück zum Stall. Ihr Ehemann meldete sie sofort, also noch gestern am frühen Abend, als vermisst. Zuletzt noch die jüngste Frau von allen. Anna Schmidt, 32 Jahre alt, Büroangestellte und ledig. Sie lebt in Belzig. Beim Joggen im Park ist sie vermutlich am Samstagabend entführt worden. Ihr Handy und der Hausschlüssel wurden gestern Abend in einem Papierkorb gefunden. Drei ihrer Freundinnen meldeten sie heute am Abend als vermisst. Sie wären sowohl gestern als auch heute mit ihr ausgegangen. Nachdem sie sich gar nicht gemeldet hatte, sind sie in ihre Wohnung, um nach ihr zu sehen. Keine Spur.« Katrin hatte sich die Daten auf einem Tablet gesammelt. Nach ihrem Referat schaltete sie den Bildschirm aus.

Erwartungsvoll guckte sie ihre Vorgesetzte an und schloss mit: »Na, das ist doch mal ein Fall. Entweder im Männerfreundeskreis grassierender Femizid oder ein Monster sammelt in den letzten vier Tagen Frauen.« Sie lehnte sich zurück. Die Sonne ging unter, die wärmenden Strahlen legten sich auf ihr Dekolleté. Marion starrte sie an und fühlte sich dem nicht gewachsen. »Wir sehen uns morgen in Wiesenburg. Bring das mit und dann sehen wir weiter.« Sie stand auf und wollte schon gehen. Katrin wurde bleich: »Nein, das kann doch nicht dein Ernst sein. Ruf in Potsdam an, ich will mich mit deinem Chef unterhalten. Wenn meine Vermutung stimmt, dann haben wir es hier mit einem Serientäter zu tun.« Marion zuckte mit den Achseln. »Kennst doch die Nummer. Sag mir Bescheid, wenn du meine Hilfe brauchst. Es sind schließlich immer noch erwachsene Frauen, die gesucht werden. Da muss nix hinter stecken. Ich geh nach Hause«, sagte sie und tat es. Einhundert Meter weiter die Straße runter, über dem alten Konsum, lag ihre Wohnung, die sie nun zielsicher ansteuerte. Katrin schüttelte den Kopf und schwang sich auf ihr Fahrrad. Sie stutzte, wieso ausgerechnet sie nach Anweisungen fragen sollte. Sie hatte schließlich Familie, die auf sie wartete.

Ihre Frau Rosalie freute sich sicher schon auf ein gemeinsames Abendbrot. Jede freie Minute, wirklich frei und weder mit Handy oder Tablet vor der Nase war ihnen inzwischen Gold wert. Sie wollte nicht von Feierabend sprechen, aber ein bisschen Ruhe mit der Familie musste sein. Seit ein paar Jahren waren sie endlich angekommen. Die beiden Jungs, die Rosalie aus ihrer ersten Ehe mitgebracht hatte, waren Katrins ganzer Stolz. Schon als die beiden Säugling und Kleinkind waren, hatte sich Rosalie von ihrem untreuen Mann getrennt und bei Katrin Unterschlupf gefunden. In ihrer Jugend hatte sie durchaus gleichgeschlechtliche Verhältnisse gehabt, geoutet hatte sie sich jedoch nie als bisexuell. Katrin hingegen lebte schon seit ihrem vierzehnten Lebensjahr als offen lesbisch und betonte das, wenn das Thema im Gespräch angeschnitten wurde, immer »Ich bin die einzige Lesbe im Dorf!«, und spielte damit auf eine schwarzhumorige britische Comedyserie an, in der ein junger Mann sein Alleinstellungsmerkmal als einziger schwuler Mann im Ort in jedem Sketch wiederholte.

In einem alten Fachwerkhaus mit Bauerngarten wie im Film werkelte ihre Frau an Skulpturen oder baute Obst und Gemüse an. Regelmäßig musste sie sich kneifen, war der Kampf um ihr heutiges Leben schwer und anstrengend gewesen. Sorgerecht und Unterhalt mussten gerichtlich geklärt, dem treulosen Ex-Mann im Scheidungsverfahren noch der Bauch gepinselt werden, weil er sich von den beiden Frauen hintergangen, sich in seiner Männlichkeit gekränkt fühlte. Die Kinder lebten wöchentlich wechselnd bei dem Vater oder bei ihnen. Diese Woche waren sie bei ihnen gewesen, was sie einerseits sehr genossen hatte, sie aber jetzt vor die Herausforderung stellte, ihnen den Übergang zu ihrem anderen zu Hause heute Abend harmonisch zu gestalten. Nichts war schlimmer, als wenn sie wie angestochen wegen des neuen Falls ihnen das Gefühl gab, nicht erwünscht zu sein. Erst nach dem Essen würde sie in Potsdam anrufen. Inständig hoffte sie auf ein wenig mehr Interesse als bei ihrer Vorgesetzten. Dieser Ronald Dreher würde ihren Eindruck teilen. Mit vor Anstrengung und Aufregung errötetem Kopf raste sie nach Hause.

Jule und Jonathan

Donnerstag, 31. Mai 2018 14:56 Uhr

Jonathan kam wie immer mit dem ersten Bus nach Hause. Eine Zeit zwischen Mittagsruhe und Kaffeetrinken. Ausgehungert wie ein junger Löwe stürzte er durch die Wohnungstür, hechtete durch den Flur direkt in die Küche. Mit einer Hand schmiss er die Mappe in hohem Bogen Richtung Sitzgruppe, mit der anderen versuchte er ekstatisch tanzend die Schuhe von den verschwitzten Kinderfüßen zu klauben. In größter Eile schlug er sich an Stühlen und einer Einkaufskiste vorbei zum Kühlschrank durch. Er bemerkte Jule gar nicht. Still beobachtete sie über ihren Laptop linsend, die täglich immer wiederkehrende Prozedur des Kindes.

Es wurden Eier, Speck und Butter aus dem Kühlschrank zum Herd getragen. Und ihn in eine kurze Schockstarre versetzend, pfiff sie im freundlichsten Ton: »Wasch dir bitte wenigstens deine Hände!« In Bruchteilen von Sekunden wurde aus dem verschreckten Kind wieder das hungrige Raubtier. »Mmmpf«, machte er und drehte sich zum Waschbecken. »Wieso wenigstens? Sei doch froh, dass ich mir selbst was zu essen mache!« Er schrubbte mit größter szenischer Energie seine kleinen Hände. »Ich habe wenigstens gesagt, weil du mir gar nicht guten Tag sagst, sondern gleich ans Essen denkst!«

Er drehte sich um und nickte lächelnd seine Mutter an. »Wie war es in der Schule?«, fragte sie und achtete auf seine Körpersprache. Das sonst so wendige Kind wurde wie mit einem Schlag starr. Seine Augenbrauen zogen sich zueinander hin, eine Fratze stellte sich in seinem Gesicht ein. Er fühlte sich so schwer, wollte sich nicht mehr so fühlen. Keine Antwort und den Blick in die Pfanne gerichtet zog er seine Schultern noch höher, als sie eh schon durch die Frage hochgeschnellt waren. »Das Kind geht mir kaputt!«, dachte sie und meinte: »Iss erst einmal, dann kannst du mir erzählen.« Jule knabberte an ihrem Kugelschreiber, beschäftigte sich mit ihrer Arbeit, die da über ihren Bildschirm flimmerte. Die Bewegungen ihres Kindes, der angenehme Geruch, all die heimeligen Eindrücke versuchten sie ruhig und gelassen zu stimmen. Doch in ihr brodelte es, ihre Wangen wurden warm, ihr Atem ging nun gar nicht mehr entspannt. So ausgeliefert sein, das wünschte sie keinem.

Immer wieder sprach sie mit Freunden und Familie, wollte sich Gewissheit holen, dass nicht sie die wird, die verrückt auf ihr Kind reagierte. Dass er schon ganz gut geraten war, holte sie sich ein. Mitunter gab es Mitleid. Geschenkt. Eine Sache jedoch verstand sie mehr und mehr, denn sie als Erwachsene, fühlte sich von dieser Frau abhängig. Sie war sich sicher, früher oder später würde es zu einer Revolution kommen. Ketten würden gesprengt werden. Endlich weg von der Behauptung, Kinder seien Tyrannen, würden ihren Eltern auf der Nase herumtanzen, bräuchten Disziplin und Ordnung, eine harte Hand, damit die Gesellschaft nicht nur verhätschelte und narzisstische, womöglich arbeitsunfähige Menschen hervorbringen würde. Eltern würden aufstehen, sich gegen das System, welches solche Lehrerinnen hervorgebracht hatte, auflehnen.

Ihre Gedanken kreisten Tag und Nacht nur noch um Frau Friedhelm. Jonathans Klassenlehrerin würde ihn irgendwann brechen. Die Seelenruhe, mit der sie den Kindern das Lernen, die Schule als Treffpunkt für die Kinder, sukzessive madigmachte, erstaunte Jule. Wie eine Mission kam es ihr von außen betrachtet vor. Aber es erschütterte sie die Untätigkeit der Kolleginnen. Die mussten doch miterleben, was da vor sich ging.

Im Marsch ging die Klasse durch die Gänge. Wie beim Appell standen die Kinder in Reih und Glied. Es durfte nur einer sprechen. Herabwürdigung war ihr bestes Mittel, um die Kinder gefügig zu machen. Dicke, unsportliche Kinder ließ sie laufen, bis ihre Köpfe rot und ihr Selbstbewusstsein wieder um einiges geschrumpft war. Lebhafte Jungs ließ sie sich melden, bis sie die Lust verloren. Die Ruhigen, Strebsamen und Unauffälligen hatten es leicht. An den lauten und starken Kindern arbeitete sie sich ab. Jonathan wusste, wie diese Pädagogik funktionierte, welche emotionale Erpressung das war. Er nannte sie falsch und maskenhaft. Selbst wenn es ausnahmsweise eine lockere Atmosphäre im Unterrichtsgeschehen gegeben haben sollte, auf die der Großteil der Kinder liebeshungrig einging, hielt er sie auf Abstand. Er hatte sie durchschaut. An wirklicher Menschenliebe mangelte es ihr, sie würde es nie schaffen, dass sich die Kinder in der Pause um sie herumscharten, um ein Stückchen von ihr abzubekommen. Die Reigen der bunten, lachenden, fröhlichen Kinder würden ihr vorenthalten sein.

Er wusste prompt, wenn es brenzlig, der Ton seiner Lehrerin schärfer wurde, die Kinder in Deckung gehen sollten. In einem Moment lachte sie noch über einen Mitschüler, wie einstudiert. Es sollte aussehen, als würde sie mit ihm lachen, doch sie lachte über ihn. Im nächsten Moment konnte sie ihr Wesen nicht verbergen. Es lauerte dort. Eben noch animierte sie die Klasse, den Tölpel, die Schlampe, den Träumer mitzuerziehen und plötzlich saßen sie alle in einem Boot. Kaum Sekunden später folgte auf konformes Kinderlachen trübsinniges Schweigen. Bestraft wurde das Kollektiv, wenn einer Mist gebaut hatte. Auf Fehlern wurde herumgeritten, besonders wenn sie von selbstbewussten Kindern gemacht wurden.

Nichts ließ sie durchgehen, rote Einträge waren an der Tagesordnung. Zwei Jahre hatte Jonathan in ihrem Bewertungsverfahren von drei möglichen Smileys, bestehend aus einem lächelnden, einem neutralen und einem traurigen, durchgängig neutrale und traurige erhalten. Die wenigen Ausnahmen wogen das Gefühl des permanenten Scheiterns nicht auf. Zahlreiche ihrer ehemaligen Schüler waren in psychologischer Behandlung und die Akte mit Beschwerden beim Schulamt war angeblich schon dick. Das alles half Jule nicht. Sie hörte sich um, es gab nur Geschichten von Eltern, die sich vertreiben lassen haben. Die ihr Kind aus der Schule in eine andere gesteckt hatten, um ihr Kind zu schützen. Eine grausame Vorahnung aller Eltern war der Machtmissbrauch. Wenn sie sich entschlossen, ein Gespräch mit der Lehrerin zu führen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihr Kind am nächsten Tag trotzdem in ihre Obhut zu geben. Die Schule war ein Ort, in dem sogenannte Pädagogen ohne Zeugen unreflektiert ihre Unstimmigkeiten mit Eltern an deren Kindern auslassen konnten. Das war jedenfalls Jules Eindruck gewesen.

»Wie es in den Wald hinein schallt, schallt es wieder raus!«, war einer der Sprüche, mit dem ihr Sohn nach Hause kam, nachdem sie sich am Vorabend bei einem Elterngespräch der Schulsozialarbeiterin anvertraut hatte. Die musste ihre Kritik ungefiltert weitererzählt haben. Am nächsten Morgen ließ Frau Friedhelm ihn sich ganz hinten in der Reihe anstellen, obwohl er sich schon vor der Tür zum Klassenraum aufgehalten hatte. Unter den missbilligenden, strafenden Blicken lief er an seinen Mitschülerinnen vorbei. Und die wussten nicht einmal, wofür er bestraft wurde. Seinen eroberten Platz ganz vorne aufgeben, das war schon schwer. Die instrumentalisierten Kinder taten ihm allerdings mehr weh. Von dieser Gängelei berichtete er seiner Mutter, die daraufhin sehr vorsichtig wurde. Ihr Sohn war stark, schlau und hatte ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Aber er hielt der Angst nicht stand. Mutig sein, das konnte er nicht mehr.

Nicht allein

Findlinge, große und kleine Steine säumen die Wege. Sie sind Teile im Katzenkopfpflaster der verfallenen Straßen. Die Zeugen der Eiszeit liegen mitunter rundgewaschen in Haufen zwischen Heckenrosen. So mancher Stein hatte die Hoffnung, ein Haus mitzutragen, einen Teich zu umsäumen und er trotzt noch immer den Gezeiten am Rande der Wege, im Wald, in der Rummel.

Samstag, 20.07.2019, 19:15 Uhr bis 21.07.2019 00:35 Uhr

Das Piepsen im Ohr bestätigte die Verbindung ihres Telefons mit ihrem Headset. Zügig stellte sie die Trackingapp ein, dann joggte Anna wie an jedem Samstagabend los. Die Party konnte noch warten, jetzt musste sie sich erst einmal auf sich selbst konzentrieren. Sie fühlte sich ein bisschen wie aus dem Lot. Die Woche war arbeitsreich, ihre Anspannung demzufolge in ihren Muskeln manifestiert. Sie musste sich locker machen. Im Schein der Straßenlaternen, die immer fünfzig Meter voneinander entfernt standen, schimmerte ihr akkurates Makeup wie in einem dieser Musikvideos. Ihr Körper wogte auf dem Asphalt, der Busen wippte, automatisch führten sie ihre Füße auf die übliche Route.

Wie so oft lief sie an der Einfahrt zum verlassenen Haus vorbei. Ihre innere Sicherheit schob sich wie Scheuklappen vor ihr Gesicht. Die dunkle Gestalt dort unter der tiefhängenden Heckenrose bemerkte sie nicht. Mit einem tiefen Atemzug lief sie ein, zwei, drei Schritte, spürte, wie jemand in ihren Windschatten schritt. Noch in der intuitiven Drehung traf sie ein Schlag auf ihren Kopf. Plump ohne Ankündigung, Geschrei oder Gewese. Ihre Beine gaben nach. Sie lag sofort. Niedergestreckt. Ein dumpfer Schmerz pulsierte in ihrem Kopf. Angst fuhr durch ihren Körper. Sie spürte das kühle Gras an ihren nackten Waden. Ihre Trainingskleidung war zu kurz, sie hatte es geahnt. Mach dich nicht zum Freiwild. Ihre Panik kam in einer Riesenwelle. Schreien und toben wollte sie, aber ein schwerer, süßlicher Geruch stieg ihr in Mund und Nase. Ein Tuch wurde ihr auf das Gesicht gepresst. Ihre Augen suchten die Umgebung ab, wollten finden, mit wem sie es zu tun hatte. Doch die sahen nur den Nachthimmel, das schmiedeeiserne Tor über sich und eine schwarzbehandschuhte Hand. Sie erinnerte sich an den Selbstverteidigungskurs im Gemeindezentrum, den sie letztes Jahr im Herbst besucht hatte. Der half ihr jetzt auch nicht weiter. Ihr Atem verlangsamte sich, die Augenlider wurden schwer. Was hatte ihre Mutter über Chloroform erzählt? Die allgemeingültige Dosierung gibt es nicht. Es richtet sich nach Gewicht und Größe, in welcher Dosis es dich ausknockt.

Wenn sie jetzt so tat, als ob es schon seine volle Wirkung erreicht hatte, dann konnte sie wach bleiben und herausfinden, was für eine kranke Scheiße hier ablief. Ihr Gehör funktionierte noch ganz wunderbar. Neben sich hörte sie energische Schritte, eine Klappe an einem Auto wurde geöffnet. Eine Angstattacke ergriff sie mit aller Gewalt. Ihre Haare standen zu Berge, der Mund war trocken, die Augenlider zu schwer. Panik rollte aus ihrem Brustkorb, ihre Arme und Beine wurden bleiern. Sie versuchte die Augen zu öffnen, nur ein bisschen zu blinzeln. Doch als hätte ihr Körper sie verraten, kam etwas Blaues auf sie zu, sie kniff die Augen zusammen und atmete die Betäubung. Das hatte nicht geklappt.

+++

Langsam kam sie wieder zu sich. Versuchte sich zu orientieren. Ihr Körper war taub. Chloroform schoss ihr in den Kopf. Verdammt, wo war sie? Langsam und zögerlich kamen Gerüche und Geräusche in ihren Fokus. Das Rascheln und Knacken, dort ein Krabbeln. Wald. Sehen konnte sie nichts. Es war dunkel, stockfinstere Nacht. Erst nach einiger Zeit gewöhnten sich ihre Augen an das spärliche Licht. Dort standen Bäume, hohe bedrohliche Silhouetten. Der Mond. Die Wolken rannten an ihm vorbei, sobald sie sich an das wenige Licht gewöhnt hatte, war der nächste Wolkenschleier da. Sie war in einer Art Senke, links und rechts von ihr erhoben sich hügelige Formationen. In die Stille der Nacht schreckte ein Reh in der Nähe. Sie erschrak, stieß dabei mit ihrem Köper gegen Wände.

Ein Stöhnen entfuhr ihr. Ihr Nacken, ihr Rücken, alles schien steif geworden zu sein. Ihre dünnen Sportklamotten klebten an ihrer nasskalten Haut, ein kleiner Reflektorstreifen an ihrer rechten Schulter glänzte beim Aufblenden des Lichts. Panisch zuckte sie zusammen, denn rechts neben ihr regte sich etwas. Sie hörte eine gereizte Stimme. Nicht jung, nicht alt. Aber wütend, verzweifelt und bettelnd zugleich. »Ist hier jemand?« Stille. »Was soll das? Ist das ein Scherz?«

Annas Stimme presste sich aus ihrem Hals, der wie mit einer Reibe malträtiert die Worte trocken und rau klingen ließ: »Ja, hier. Ich bin hier.« Sie lauschte. »Gott sei Dank, Sie müssen mich hier rausholen.« Die Frau flehte fordernd. Doch Anna schluchzte. »Ich kann nicht. Ich kann mich nicht bewegen.« An ihrer rechten Seite hörte sie ein entmutigtes Schnaufen. Nach ein paar Atemzügen fragte die Fremde sie, wer sie denn wäre. Anna versuchte die Frau zu sehen, ihr in die Augen zu blicken, sich ihr zuzuwenden, schien unmöglich. Sie rieb mit ihrem Oberkörper an den Wänden, die sie umschlossen. Schon als Kind hasste sie es, wenn sie von ihrem Vater am Strand eingegraben wurde. Ihr blitzte die Erinnerung auf, als sie vielleicht fünf Jahre alt war, die Eltern sich gebräunt und durch das ständige Nacktsein angefacht einander zuwenden wollten. Anna wurde dann im Spaß bis zum Kopf im Strandsand vergraben, mit Muscheln und Seetang verziert, mit Blick auf das Meer harrte sie aus, bis sie nach wenigen Minuten wieder ausgegraben wurde und mit ihnen in die Wellen rannte.

Neben ihr räusperte sich die andere. »Verdammt, sind Sie auch eingegraben? Ich heiße Carola. Wer sind Sie und was soll der ganze Zirkus?« Anna horchte auf. Die Frau neben ihr schien außer sich. Ihr Blick wurde auf den Haufen der Findlinge in ein paar Metern Entfernung gelenkt, im Mondlicht sahen sie aus wie silbrig schimmernde kleine Monde, wild durcheinander gestapelt, nicht wie die Türme, die Menschen bauen, wenn sie irgendwo die Natur bezwungen hatten und ein gutes Foto für Instagram haben wollten. Die Worte rollten aus ihr heraus. »Ich bin Anna. Wir sind eingegraben.«

Aufschwung

Montag, 22.07.2019, 08:02 Uhr

Am nächsten Morgen kam Marion mit einem diffusen Gefühl im Revier in Wiesenburg an. Es war in ein altes Fachwerkhaus, welches bereits über einhundert Jahre alt und frisch restauriert war, integriert. Katrin hatte gestern am späten Abend mit Potsdam telefoniert und die Ereignisse schildern können. Es war ihr fast wie eine Bitte um Erlaubnis vorgekommen, schließlich hat sie Anweisungen vom Polizeihauptkommissar Dreher bekommen. Sie sollten alles zusammentragen, was sie wussten oder noch ermittelten und um zwölf Uhr mittags für ihn bereithalten. Er würde ihnen dann einen Besuch abstatten. Eine SMS von Katrin hatte Marion um 23 Uhr geweckt und ihr Gedankenkarussell angeschmissen. Bis morgens wälzte sie sich in den Laken. Wenn nun wirklich an der Vermutung etwas dran war, dann musste sie sich auf eine Menge Stress in ihrem beschaulichen Leben einstellen.

Der Raum, vielleicht dreißig Quadratmeter groß, mit alten Türen und doppelflügeligen Fenstern, war erfüllt von Kaffeeduft. Das helle Morgenlicht durchbrach die von wildem Wein und in voller Blüte stehenden Kletterrosen umrahmten Fenster. Nicht Katrin, sondern Helga, gekleidet in einer weiteren Komposition fehlgeleiteten Geschmacks, ihre Schürze zierten heute pinke, mit weißen Rändern umrahmte Blümchen auf grün-blauen Grund, drapierte auf der Teeküche Nahrungsmittel und Getränke für schätzungsweise zwanzig Mann. Oder wie sie selbst sagen würde, für eine ganze Kompanie würde das reichen. Ihr alter Polo hatte sie für Marion schon angekündigt. Nicht selten griffen die Menschen sich hier noch unter die Arme, halfen sich, um vielleicht auch ein bisschen Information für den nächsten Dorfklatsch abzustauben. Doch Marion wusste, Helga hatte ihr Herz am rechten Fleck, war zwar neugierig, aber man konnte auf sie zählen. Mit stolzgeschwellter Brust ging sie in der Küche wie selbstverständlich ihrer Tätigkeit nach, bereicherte den Raum durch Düfte und ihre modischen Abenteuer.

Im Raum standen fünf Stellwände, beklebt mit Fotos, Dokumenten, Zeitungsartikeln und unleserlichen Notizen. Marion staunte nicht schlecht. »Was hat die olle Katrin denn da geritten?«, fragte sie Helgas Rücken. Die erschrak, das laute Blubbern der Kaffeemaschine hatte Marions Ankunft übertönt, und blickte sie über die Schulter schelmisch an. »Dit isn Sonderkommando. Alle müssen helfen, dass die Frauen wieder nach Hause kommen.« Marion überforderte die herzliche Hilfsbereitschaft. Sie grinste verlegen und schaute sich im Raum um. Zwei Laptops, Kamera, Drucker, allerhand Büromaterial, Telefon und Whiteboard. Wo hatte Katrin das alles in so kurzer Zeit aufgetrieben? Ein ohrenbetäubendes Gähnen ließ sie zusammenzucken. Katrin drehte sich auf einer uralten Campingliege in einem Erker des Raumes und blinzelte Marion an. »Da staunst du was?«

Marion schaute sich im Raum um. »Du hast dich mal wieder selbst übertroffen! Wie hast du das angestellt?«, fragte sie und verschaffte sich über die detailreichen Informationen einen Überblick. »Ich hab den Oberheini gebeten, uns auf einen angemessenen Standard für unsere Arbeit zu setzen. Dann fällt es nicht auf ihn zurück, wenn wir keine Ermittlungsergebnisse haben, weil wir nur so alten Plunder haben.« Sie stand auf, schloss den Reißverschluss ihrer grünen Hose und knöpfte das weiße Hemd zu. »Der hat uns kistenweise Zeug geschickt und um vier war der Fahrer da. Ich habe alles ausgeräumt, Helga bestellt und schon einmal angefangen. So sieht’s aus.« Marion drückte ihren Dank mit einer Tasse dampfendem Kaffee aus.

Sie setzten sich an den gemeinsamen Schreibtisch, klappten ihre Laptops auf. Sofort erschien eine Zusammenstellung der Ermittlungsergebnisse. Zwei andere Kollegen hatten drei Meldungen erhalten. Carola Friedhelm, Fatma Jilzim und Elke Martinius. Bei ihnen direkt waren nur Ines König und Anna Schmidt als vermisst gemeldet worden. »Was hast du rausgefunden?«, fragte Marion. »Eigentlich habe ich nur begonnen, die wichtigsten Informationen zu den vermissten Personen zu sammeln. Jede von ihnen hat eine Stellwand. Dort hängen jetzt Fotos von ihnen, der jeweiligen Familie und Zeitungsartikel, die ich über die Personen im System und im Internet gefunden habe. Außerdem auf welchen Social-Media-Kanälen sie unterwegs waren. Auch die Arbeitsstellen habe ich durchleuchtet. Ihre Partner und ihre Kinder. Mehr habe ich noch nicht.« Leise ging Marion mit auf dem Rücken verschränkten Armen an die Aufsteller. »Gib mir eine Stunde, bitte«, sagte sie und machte dann das, was sie so besonders machte. Sie zog sich ihre Jeans hoch, steckte beide Hände in die Hosentaschen und begann alle Fakten zu inhalieren.

Alles sollte mit einer Personenbeschreibung beginnen. Sie musste die äußeren Merkmale der Frauen kennen. Nachher sollte ihnen noch eine von ihnen im Supermarkt über den Weg laufen, sie würden sie nicht erkennen, dabei war die Gesuchte gar nicht in Gefahr, sondern nur sehr lange einkaufen. So unwahrscheinlich es auch klang, Menschen ließen sich gern irgendwo einschließen. Die Nacht im Möbelhaus, im Museum oder in einem Rathaus reizte den einen oder anderen. Ihre absurden Gedanken schob Marion beiseite und nahm sich jede einzelne Wand vor, um die Frauen anzuschauen.

Fatma. Ein bisschen rundlich, ein Meter und fünfundsechzig Zentimeter klein, eine Deutsch-Türkin. Sie hatte hellbraune Augen, auf dem Foto ihres Personalausweises waren sie weit aufgerissen. Umrandet mit Falten, die schwer als Sorgen- oder Lachfalten zu identifizieren waren. Keine Brille, aber ein kleines Muttermal über der rechten Augenbraue. Sonst hatte sie gewellte dunkle Haare mit silbrigen Strähnen, die zur linken Seite gescheitelt waren. Marion schaute die Frau an und bat Katrin darum, noch weitere Aufnahmen der Gesuchten zu finden und auf Fatmas Stellwand zu kleben.

Anna. Jung, schön, sportlich. Mindestens zehn Bilder hingen bereits an ihrer Wand. Irgendwie wirkte sie, als inszenierte sie sich gerne in verschiedenen Outfits, mit wechselnden Frisuren, aber in dieser Everybody‘s-Darling-Attitüde. Immer richtig gezupfte Augenbrauen, die bronzene Hautfarbe und natürlich wirkenden Strähnchen im blonden Haar. Keine Brille. Marion stand vor der Wand und wollte gerade fragen, ob es noch eine andere Art von Bildern gab, auf dem die Frau nicht so beliebig aussah, als Katrin sich neben sie stellte und ihre Hände in die Hüfte stemmte. »Das ist wahrscheinlich unser medienwirksamstes Opfer. Keine Ecken und Kanten, mit der können sich viele identifizieren. Sie ist die geeignete Schwiegertochter, die repräsentative Mitarbeiterin und mitleiderregend.« Trocken sprach ihre Kollegin das aus, was sich Marion schon insgeheim dachte.