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In der beschaulichen Stadt Hürth häufen sich die Ereignisse: Zunächst verschwindet ein kleiner Junge spurlos. Dann wird die brutal zugerichtete Leiche einer jungen Frau im Wald nahe des Otto-Maigler-Sees aufgefunden. Alles dreht sich nur noch um die eine Frage: Wer ist der Täter? - Mit diesen grausamen Bildern im Kopf versucht Roman Konkork krampfhaft seine kleine Tochter vor dem frei herumlaufenden Mörder zu beschützen. Und plötzlich wird er ungewollt ein viel größerer Teil der Tragödie ...
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Seitenzahl: 285
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Das Buch:
In der beschaulichen Stadt Hürth häufen sich die Ereignisse: Zunächst verschwindet ein kleiner Junge spurlos. Dann wird die brutal zugerichtete Leiche einer jungen Frau im Wald nahe des Otto-Maigler-Sees aufgefunden. Alles dreht sich nur noch um die eine Frage: Wer ist der Täter? – Mit diesen grausamen Bildern im Kopf versucht Roman Konkork krampfhaft seine kleine Tochter vor dem frei herumlaufenden Mörder zu beschützen. Und plötzlich wird er ungewollt ein viel größerer Teil der Tragödie …
Der Autor:
Manuel Konsik, 1979 in Herten/NRW geboren, lebt seit 2005 in seiner Wahlheimat Hürth bei Köln.
Seine Freizeit verbringt er am liebsten auf dem Golfplatz und in den Wäldern in der Umgebung, die ihn zum Schreiben inspiriert. So spielt dort sein Debütroman »Einsame Wahrheit«.
Momentan arbeitet er an einem weiteren Thriller, der im Herzen Kölns spielt.
Sie finden den Autor auf Instagram (Manuel.Konsik. Autor), auf Facebook (Manuel Konsik) und auf seiner Website (www.Manuel-Konsik.de).
Für Josephine und Samuel
Winter
Sommer, einige Monate zuvor
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Herbst
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Winter
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Frühling, heute
Nachwort, Danksagung
Blut strömte aus der klaffenden Wunde auf ihrer Stirn. Färbte ihre blonden Haare purpurrot und rann über ihr Gesicht. Floss unaufhörlich in den blutigen Teich, der sich in ihrem linken Auge gesammelt hatte. Die Nase entlang, über den Nasenflügel, den Mundwinkel hinunter. Tropfte vom Hals weiter auf den kalten Küchenboden und bedeckte die weißen Kacheln mit dickflüssiger Lache.
Noch immer hallte der Aufschlag in mir nach und überzog meinen gesamten Körper mit Gänsehaut.
Zuerst waren die Beine unter ihrem Gewicht weggeknickt. Dann schlug ihre Hüfte auf und ihr Oberkörper verdrehte sich. Der rechte Arm in unnatürlicher Haltung weit nach hinten abgespreizt. Zuletzt knallte ihr Kopf auf. Ein Knacken, als werfe man eine Melone vom Balkon auf hartes Pflaster. Nie werde ich dieses Geräusch vergessen.
Es überlief mich eiskalt, und ich begann am ganzen Körper zu zittern.
Mein Herz raste.
Erst jetzt, nach all der Grausamkeit, wich sämtliche Kraft aus meinem Körper. Meine Hand entkrampfte. Alle Muskeln lösten sich, und der Golfschläger glitt mir aus den Fingern.
Ich hörte, wie zunächst der Schlägerkopf zu Boden fiel. Ein kaltes Klirren auf den Fliesen. Es folgte der dumpfe Schlag der Gummilegierung der Griffhalterung. Das 7er-Eisen kam zum Liegen.
Der Raum um mich herum fiel in tote Stille. Alles schien sich von mir zu entfernen.
Ich war in einem Film gefangen, der in Zeitlupe lief. Mein Blick auf Zoom gestellt sah ich sie. Wie sie vor mir lag. Von oben bis unten blutverschmiert in einer dunkelroten, immer größer werdenden Pfütze. Völlig regungslos. Sämtliches Leben wich aus ihrem Körper.
Was habe ich getan?
Noch bevor ich begriff, legte sich Nebel – wie ein Schleier – über meine Netzhaut und füllte sich mit Dunkelheit. Ich merkte, wie ich mein Bewusstsein verlor. Und gerade an der Grenze zum Übergang zur Bewusstlosigkeit sah ich mit einem Mal ganz deutlich. Ein Blitz schoss durch mich hindurch und die Erinnerungen waren zurück. Für diesen kurzen Augenblick sah ich ganz klar. In dem Moment, als ich dachte, das Schlimmste wäre überstanden, zog sich die Schlinge um mein Herz wie ein Kabelbinder ganz fest zu.
Ein brutaler Schmerz, dessen Kraft ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorzustellen vermochte, schnürte mir die Luft zum Atmen ab.
Dieses eine Wort. So zart und unschuldig. Flehend und wimmernd zugleich. Es zerstörte alles, woran ich jemals geglaubt hatte und brach meine Seele. Ich wollte nach Erlösung schreien, doch dieses einzige Wort, das durch den Raum schallte, kam nicht aus meinem Mund.
Ich verlor den Verstand. Doch bevor ich mein Bewusstsein verlor, hörte ich noch ein letztes Mal diese sanfte, zerbrechliche Stimme:
»Mami!«
Jede einzelne Entscheidung, nicht nur die eigene, bestimmt meine Zukunft. Das Leben ist nicht einsehbar. Viel zu komplex es zu begreifen.
Gibt es niemanden, der auf mich aufpasst, wenn ich an der Gabelung stehe und den falschen Weg einschlage? Und was, wenn ich die Auswirkungen zu spät begreife? Kann ich meine zum Scheitern verurteilte Zukunft dann noch positiv beeinflussen?
Fragen, die ich nicht beantworten kann. Nur eins weiß ich:
Hätte ich gewusst, dass ich dadurch das Leben meiner Familie aufs Spiel setze, hätte ich nie mit dem Joggen angefangen.
Mein Rücken schmerzte. Damit begann der Anfang vom Ende.
Ich wusste, ich hatte meinem Körper lange Zeit verwehrt, wonach er nicht mehr nur lechzte, sondern mittlerweile lauthals schrie. Und ich begriff, dass ich reagieren musste. Seit meinem achtzehnten Lebensjahr hatte ich nicht mehr regelmäßig Sport getrieben.
In meiner Kindheit hatte ich geturnt. Später versuchte ich mich an Basketball. Ich spielte Volleyball und blieb lange Zeit beim Tennis hängen. Mit sechzehn ging es in die Tanzschule, nachdem ich Dirty Dancing mindestens dreißigmal rauf und runter gesehen hatte.
Mit dem Tanzen kamen die Mädchen in mein Leben, und die Interessen wurden innerhalb der folgenden Jahre neu ausgelotet.
Wir bildeten eine Clique, die mal größer, mal kleiner war, doch der Kern blieb stets zusammen.
Es war die bis dahin interessanteste Zeit meines Lebens. Die Zeit des Suchens und Findens, in der aus Teenagern Möchtegern-Erwachsene wurden und in der das Tanzen nach und nach in den Hintergrund rückte.
Man liebte sich. Verliebte sich neu.
Wir lebten unsere Jugend und tanzten in den Tag hinein. Wir hielten uns für Halbstarke, Rebellen. Träumer und Idealisten. Letztlich schlugen wir alle – jeder für sich – eigene Wege ein.
Während die einen ins Studium einstiegen, begannen die anderen ihre Ausbildung. So verloren wir uns schleichend; letztlich wortlos.
Mich spülte die Ausbildung in neue Dimensionen. Direkt in die Welt des Erwachsenenseins, in der ich versuchte mich zu orientieren und meinen Weg zu finden. Dabei vergaß ich die Wichtigkeit des körperlichen Ausgleichs.
Ich war doch jung, kräftig und zäh und konnte die Alten nicht verstehen, wenn sie ständig klagten, es zwicke hier und drücke dort.
Ich würde nicht so sein mit vierzig, fünfzig.
Ich war vierunddreißig und mittlerweile seit neun Jahren im Außendienst. Meine Augen flackerten und mein Rücken brachte mich noch um.
Beruflich hatte ich mein Ziel erreicht und keine Sekunde gezögert, als ich das Angebot bekam, firmenintern zu wechseln. Vom gelernten Industriekaufmann raus aus der Finanzbuchhaltung, als Bezirksleiter rein in den Vertrieb.
Auch der damit verbundene Umzug aus dem tiefsten Ruhrgebiet in die Rheinmetropole Köln klang sehr verlockend.
Meine Frau und ich ließen uns in Hürth nieder. Ein kleiner, beschaulicher Ort. Nach Auslauf des Kohleabbaus heute vorwiegend durch Massenmedien bekannt.
Wir hatten uns gleich in die umliegende Natur verliebt, mit gleichzeitiger Nähe zum Kölner Dom und den knapp zwanzig Minuten mit dem Auto in die Stadt am Rhein.
Schnell lebten wir uns ein und wurden kurz darauf Eltern einer bezaubernden Tochter. Der Liebe unseres Lebens. Und bei all dem Glück nahm ich gerne in Kauf, Tag für Tag hinter dem Lenkrad zu sitzen und im Monat um die fünftausend Kilometer abzuspulen. Mir machte das Fahren nichts aus. Zudem lernte ich schnell die Freiheiten meiner neuen Tätigkeit zu schätzen, und plante eigenständig meine Touren und Tage. Ebenso genoss ich die frische Luft, die ich gegen den Büromief eingetauscht hatte.
Ich war rundum glücklich und zufrieden und lebte meinen Traum. Doch ich wusste, dass ich dieses Pensum körperlich auf Dauer nicht durchhalten würde, sollte ich meinem Körper keinen regelmäßigen Ausgleich zustehen.
Jemand hatte mir mal gesagt, man solle beim Joggen keine Musik hören. Sich stattdessen vielmehr auf die Natur konzentrieren und sich auf sie einlassen. Die frische Luft einatmen. Riechen. Schmecken. Fühlen. Leben.
Das funktionierte für mich nicht.
Joggen gehörte nicht zu den Sportarten, für die ich Luftsprünge machte.
So manchen Frühling grub ich die Laufschuhe aus und machte mich auf den Weg. Noch schneller jedoch verschwanden die Treter nach wenigen Pseudometern wieder in der Versenkung.
Allein zu joggen war stets eine Herausforderung, an der ich jedes Mal kläglich scheiterte. Zu zweit oder gar in Gruppen kam nicht infrage. Wer würde sich mir und meiner Kondition schon freiwillig anschließen?
Mir fehlte schlicht die Motivation. Die Mahnungen meines Rückens waren nicht Ansporn genug. Der Einklang mit der Natur nicht einmal im Ansatz ausreichend. Auch hörte ich immer wieder von diesem Flow, in den man irgendwann fand.
Blödsinn! Und doch fühlte ich nach jeder Runde, wie gut es mir tat.
Mir musste es gelingen, mich selbst auszutricksen. Den inneren Schweinehund zu überwinden. Aber eines war klar: Ohne ein Ziel wäre jeder weitere Versuch dazu verurteilt, mit Pauken und Trompeten unterzugehen und die Joggingschuhe endgültig an den Nagel zu hängen.
Ich las gerne und, wenn es die Zeit erlaubte, auch viel. So brachte ich es im Jahr auf gut dreißig Bücher. Ordentlich, aber mir selbst nicht genug.
Im Kreislauf zwischen Außendienst, Frau, Kind, Haus und Garten war Zeit ein dehnbarer Begriff. Die Zeit zum Lesen blieb oft nur am Wochenende und gelegentlich unter der Woche, wenn im Home-Office der Stecker gezogen war, unsere Kleine im Hochbett – bis zum Kinn im Bettlaken eingekuschelt – friedlich schlummerte und meine Frau vor dem Fernseher saß und Germanys Next Topmodel, The Voice of Germany oder Deutschland sucht den Superstar schaute. Dann schleppte ich mich ins Bett und versank in Büchern.
Eines Abends, als ich unsere Tochter zu Bett brachte und ihr nach der Gutenachtgeschichte ein Hörspiel anmachte und ihr eine Strähne der dichten dunkelbraunen Haare aus der Stirn wischte und ihr einen Kuss auf den Mund drückte, kam mir die Erkenntnis.
Noch in derselben Nacht lud ich mir ein Hörbuch runter und schon am nächsten Morgen legte ich los. So gelang es mir, das Angenehme – Bücher zu hören – mit dem Nützlichen – Joggen – zu verbinden. Und, welch ein Wunder, ich blieb dran.
Im ersten Monat lief ich einmal die Woche und steigerte mich im Verlauf von zunächst fünfzehn Minuten auf eine Dreiviertelstunde. Ich machte schnell Fortschritte und fand mein persönliches Pensum, das ich mit meinen Verpflichtungen vereinbaren konnte.
Seitdem war ich zweimal die Woche für je eine Stunde unterwegs. Nicht einmal Regen und Schnee konnten mich davon abhalten.
Alles in allem war es mir gelungen, mich selbst zu überlisten, und meine Rückenschmerzen gehörten schon bald der Vergangenheit an.
»Sieh nur!«, rief Jenny durch die geschlossene Tür aus dem Badezimmer heraus. »Wir haben sogar einen Whirlpool.«
Im Nebenzimmer warf Eva ihre Tasche aufs Bett. »Hast du was dagegen, wenn ich am Fenster schlafe?«, fragte sie.
»Was?« Vor lauter Euphorie hatte Jenny vergessen wie sehr ihre Blase zuvor gedrückt hatte. Sie klappte den Toilettendeckel hoch. Keine Sekunde zu früh. Denn gerade als sie saß, lief der erlösende Strahl unaufhaltsam. Jenny atmete tief aus. »Nein«, sagte sie erleichtert. »Mach ruhig.«
Als sie aus dem Bad trat, sah sie, wie ihre Freundin bereits ihre Klamotten in dem Schrank verstaute.
Typisch Eva, schmunzelte Jenny und staunte über die vollgepackte Reisetasche ihrer Freundin.
Eine Auswahl von Kaschmirpullovern in gedeckten Farben landete genauso im Kleiderschrank wie die eleganten, farblich abgestimmten Chinos. Dazu die passenden High Heels.
Wir sind doch nur zwei Nächte hier, dachte Jenny. Dazu die meiste Zeit im Bademantel. Sonst macht ein Wellness-Wochenende doch wenig Sinn. Sie lächelte in sich hinein und ihre Blicke glitten verschämt über Evas Körper. Sie bewunderte deren langes blondes Haar. Verführerisch wild fielen sie ihr über die definierten Schultern.
Evas gesamte Figur war sehr sportlich und durchtrainiert. Kaum unterschieden sich Schultern, Brust und Taille in ihrem Umfang voneinander.
Der Traum aller Männer, dachte Jenny, drehte sich ab, um sich selbst im Spiegel zu betrachten.
Mit ihren 1,63 Metern war sie fünfzehn Zentimeter kleiner als Eva und war schon früher nie die Schlankste gewesen. Doch nach der Geburt ihrer Tochter wurde sie ihre Problemzonen gar nicht mehr los.
Ihre kurzen dunkelbraunen Haare waren frisch getönt und überdeckten den ersten Ansatz von grau, der bereits vor sechs Jahren mit der Geburt ihrer Tochter eingesetzt hatte.
Jenny fuhr mit ihren Händen über den bequem-legeren Nicki-Jumpsuit. Wischte sich über ihren Bauch, den sie schon automatisch einzog.
Fünf Kilo weniger wären schon schön, dachte sie und streifte weiter über ihren runden Po. Etwas straffer könntest auch du sein.
Strich über ihre weiblichen Hüften, die deutlich breiter waren als ihre Schultern und der Rest des Köpers. Dann gelangten ihre Hände an ihre üppigen Brüste. Umfassten sie und pressten sie prall nach oben.
Roman liebt deine Rundungen, rief sie sich selbst in Gedanken zu und ergänzte: Sagt er.
Sie blickte zurück zu Eva, die immer noch auspackte, und wieder sah Jenny diese perfekte Figur ihr gegenüber. Im Gegensatz zu der ihren völlig makellos.
Jenny holte tief Luft und versuchte ihre Gedanken zur Seite zu schieben.
»Lässt du mir auch noch etwas Platz übrig?«, fragte sie und warf sich aufs Bett. Die weiche Matratze unter sich spürend reckte sie sich unter leisem Stöhnen. »Die Fahrt hat ganz schön geschlaucht, hm?«, schob sie nach.
Da Eva keinen Führerschein besaß, war es Jenny, die die weite Strecke als einzige hinter dem Lenkrad gesessen hatte und bis auf eine kurze Pause durchgefahren war. Nach gut fünf Stunden waren die zwei endlich am Wellnesshotel angekommen.
Eva bückte sich und hievte die leere Tasche auf den obersten Schrankboden. Hierzu streckte sie sich, wodurch ihr knackiger Po noch deutlicher zur Geltung kam. Dann schloss sie die Kleiderschranktür und drehte sich zu Jenny um.
»Was wollen wir als Erstes machen?«, fragte sie und schob die Antwort direkt hinterher: »Am liebsten würde ich gleich in die Sauna.«
»Da bin ich dabei«, freute sich Jenny. »Meine Sachen kann ich auch später auspacken.«
»Okay«, sagte Eva. »Ich rufe nur noch schnell Rolf in der Praxis an und sag ihm, dass wir angekommen sind. – Geh ruhig schon mal vor.«
An jenem Freitag hatte ich mein Wochenende etwas früher eingeläutet. Bereits am Vormittag war Jenny mit ihrer Freundin zum Wellness-Wochenende aufgebrochen.
Im Vorfeld hatte ich Eva zu Rate gezogen und das Hotel samt Erholungspaket gebucht.
Jennys Freude über ihr diesjähriges Geburtstagsgeschenk war riesig und steigerte sich noch, als sie hörte, dass ihre beste Freundin sie begleiten würde.
An ihrem kinderfreien Wochenende erwartete ich sie nicht vor Sonntagabend zurück, und ich freute mich auf die gemeinsame Vater-Tochter-Zeit. Nur Emma und ich, das hatten wir lange nicht mehr gehabt, und ich hatte viel für uns zwei geplant. Das bedeutete aber auch, dass ich am Sonntag nicht zum Joggen kommen würde. So zog ich meine Laufschuhe an jenem Freitagmittag an und griff nach den Kopfhörern.
Hätte ich mir tags zuvor nicht einen neuen Krimi heruntergeladen, hätte ich vermutlich auf die Runde verzichtet und Emma früher vom Kindergarten abgeholt.
Sicher hätte dies nichts an der Zukunft geändert. Doch hätte ich gewusst, dass ich einen Monat später an derselben Stelle auf dem Spielplatz stehen würde und über den Gartenzaun dem Horror in seine finsterste Fratze blicken sollte, wäre ich möglicherweise umgekehrt und um mein Leben gerannt.
Ich startete das Hörbuch und passierte den Spielplatz, vorbei am Haus von Eva und Rolf, und wunderte mich nicht einmal, dass Rolfs Wagen um diese Zeit in der Einfahrt stand.
Ich lief weiter … und so nahmen die Dinge ihren Lauf.
Zur selben Zeit blickte Rolf aus dem Küchenfenster über den Garten hinweg. Er sah, wie Roman Richtung Wald joggte.
Mr. Iron-Man himself, dachte Rolf und verfolgte ihn mit seinen Blicken. Die schwarzen Haare wippten mit jedem Laufschritt auf und ab. Rolf fasste sich wehmütig an seinen kahlen Schädel und sah zu, wie Roman um die Ecke bog. Ein letzter Blick auf dessen strammen Waden. Dann war die große, drahtige Gestalt aus Rolfs Gesichtsfeld verschwunden.
Groß war Rolf auch. Er fuhr sich mit der Hand über die von Fastfood und Kölsch geformte Wampe.
Dieses Joggen, dachte er. Ungesund für die Gelenke.
Er selbst war sichtlich kein Paradebeispiel. Auch wenn ihm mehr Bewegung deutlich gutgetan hätte. Vielleicht hätte er dann auf die Medikamente verzichten können.
Diese verfluchten Angststörungen.
Für die Diagnose brauchte er keinen Facharzt. Als Gynäkologe wusste er seit seinem Medizinstudium selbst, dass seine Angst in keinem angemessenen Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung stand.
Die Struktur der Krankheit kannte er aus Sachbüchern und hatte diese bereits während seines Studiums klar verstanden. Doch nun selbst mit der Erkrankung zu kämpfen, war nicht so leicht. Wie meist, wenn Theorie und Praxis aufeinanderprallen. Als Betroffener erlebte er die Angst – physisch und psychisch – gleichwohl intensiver, als er es sich hätte vorstellen können.
Auch wenn er zwar erkannte, dass seine Angst unangemessen und unbegründet war, konnte er sie nicht kontrollieren und schon gar nicht ausschalten. Nein. Er selbst konnte sich nicht davon lösen und befreien. Die Angsterlebnisse traten immer wieder auf.
Was er jedoch konnte, war sich die Medikation selbst zu verordnen, die ihm über den Augenblick hinweghalf.
Rolf legte die Tablette auf seine Zunge und ließ sie zergehen. Er kippte einen großen Schluck Cola nach und beendete sein Mittagessen.
Er steckte die Blisterpackung in die Hosentasche und verließ die Küche, wobei er die leere Currywurstschale von Bärbels Imbiss stehenließ.
Gähnend griff er sich an die Stirn, kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu konzentrieren.
Denk nach.
Doch die Kopfschmerzen – immer heftiger – ließen es kaum mehr zu. Es dröhnte zwischen seinen Ohren. Dazu die innere Stimme, die immer lauter wurde und in Dauerschleife fragte: Wo, wo, wooo …?
Bei dem ganzen Chaos in seinem Kopf hörte er zunächst nicht das Handyklingeln. Doch schließlich drang der monotone, eindringliche Klang zu ihm durch.
Lichtblitze schossen vor seinem inneren Auge umher. Durch ständiges Reiben der Lider schmerzten seine Augen noch mehr und brannten. Tränen liefen.
Dazu dieser nun deutliche, penetrant-nervende Ton, der keine Ruhe gab.
Zu viel. Von allem zu viel!
Rolf griff sich an die Schläfe. Er massierte sie in kreisenden Bewegungen und erhöhte den Druck, dass das Augenflimmern schwächer wurde.
Dann verstummte das Telefon. Endlich.
Rolf öffnete die Augen und das viel zu grelle Licht blendete ihn.
Leicht schwankend fand er sein Gleichgewicht wieder und ging langsam auf die Schlafzimmertür zu. Er stützte sich einen Moment an der Klinke ab. Drückte sie runter und betrat den Raum.
Es war seine letzte Chance, nachdem er den Vormittag über bereits das ganze Haus auf links gezogen hatte.
Einen Moment lang verharrte er vor dem geschlossenen Kleiderschrank. Schließlich öffnete er entschlossen die Tür und durchwühlte sämtliche Klamotten. Er prüfte die Hosentaschen, fand nicht das, wonach er suchte. Dann griff er nach dem Bastkorb, in dem Eva ihre Schals und Tücher aufbewahrte.
Nach kurzem Stöbern traf ihn die Erkenntnis, dass er nicht finden würde, wonach er suchte.
Wieder vibrierte das Handy in seiner Jeans. Mit Daumen und Zeigefinger fischte er es gekonnt aus der Tasche. Darauf bedacht, nicht aus Versehen das Gespräch anzunehmen. Dann warf er es auf das trostlose Ehebett. Nahm sich den zweiten Korb vor. Wühlte sich durch Evas Unterwäsche und tastete einen harten Gegenstand. Packte zu und zog einen Vibrator heraus. Stutzte irritiert. Sah angewidert darüber hinweg und kramte weiter. Gerade als er auch diesen Korb zurückstellen wollte, stieß er auf ein kleines, festes Teil. Keine fünf Zentimeter groß und scheinbar oval. Doch bevor er es richtig zu fassen bekam, verlor er es gleich wieder.
Hitzig begann sein Herz zu pochen.
Aufgeregt kippte er den gesamten Inhalt auf das Ehebett. Slips und BHs fielen heraus und vergruben das noch immer blinkende Handy, auf dessen Display er noch kurz den Namen seiner Frau lesen konnte.
Eva hatte viele Satinslips in den unterschiedlichsten Farben mit wenig bis kaum Stoff. Diese schien sie allerdings nur zu tragen, wenn sie das Haus verließ. Vor allem abends, wenn Rolf neben ihr im Bett lag, hatte sie immer einen dieser fleischfarbenen Baumwollschlüpfer an, die nun die Spitze der Wäschepyramide bildeten. Doch sein Blick klebte auf dem kleinen, silbernen Gegenstand, der auf dem obersten Schlüpfer liegengeblieben war.
Mit seinen riesigen Pranken griff er danach und betrachtete den USB-Stick.
Hab ich dich?, fragte er sich.
Gleich sollte er es wissen. Er ging ins Wohnzimmer und fuhr sein Notebook hoch.
Es duftete nach Eukalyptus. Gemischt mit fruchtigen Aromen von Zitrone und Orange.
Jenny nahm einen letzten, tiefen Zug. Dann stand sie auf. Ging und schloss die Glastür hinter sich. Fühlte sich leicht ermattet und spürte die Schweißperlen auf ihrer nackten Haut. Die Erfrischung unter der Erlebnisdusche hauchte ihr neues Leben ein. Da erblickte sie Eva und bemerkte gleich, dass etwas nicht stimmte.
Sie trat aus der Dusche hervor und wickelte sich in das Handtuch. »Alles okay?«, fragte sie.
Eva schien blass. »Ich kann Rolf nicht erreichen«, sagte sie.
»Das ist doch nichts Ungewöhnliches, oder? Bestimmt hat er gerade eine Patientin in Behandlung.«
»Ich habe seine Sprechstundenhilfe gesprochen. Rolf war heute gar nicht in der Praxis.« Eva hielt inne. »Das verstehe ich nicht. Heute früh hat er wie immer pünktlich das Haus verlassen und nichts gesagt.«
»Hast du es schon zu Hause probiert?«
»Sicher.« Evas Stimme wirkte unruhig. »Und an sein Handy geht er auch nicht.«
»Mach dir keine Gedanken. Bestimmt gibt es eine ganz simple Erklärung.«
»Und welche?«
»Vielleicht ist er mit Toni unterwegs«, sagte Jenny.
Ich fragte mich, ob Rolf sich den Tag frei genommen hatte, um Zeit mit seinem Sohn zu verbringen, und verwarf den Gedanken direkt wieder.
Von Jenny wusste ich, dass Rolf kein Vater war, der viel mit seinem Kind unternahm. Jedenfalls war es das, was Eva meiner Frau ständig klagte. Sie wünschte sich mehr Vater-Sohn-Beziehung zwischen ihren beiden Männern. Stattdessen mutierte Rolf immer mehr zum Eigenbrötler, der die meiste Zeit vor dem Fernseher hockte. Und seit er das Sport-Abo abgeschlossen hatte, war es noch schlimmer.
»Wenn du ständig vor der Kiste sitzen würdest«, hatte mir Jenny damals gedroht, »ließe ich mich scheiden.« Nicht ohne noch ein Augenzwinkern hinterherzuschieben.
Bei unseren wenigen gemeinsamen Familienausflügen hatte auch ich einen sehr lustlosen, fast schon gleichgültigen Vater kennengelernt, der mit seinem Sohn nicht viel anzufangen wusste.
Über Rolf wusste ich, dass er gerne Golf spielte. Ein Hobby, das du mit einem fast Dreijährigen sicherlich noch nicht teilen kannst, dachte ich mir oft. Ganz zu schweigen davon, ob Rolf es wollte?
Andererseits stand es mir auch nicht zu, darüber zu urteilen. Meine Tochter, im letzten Kindergartenjahr, war mit ihren sechs Jahren fast zwei Köpfe größer. Was den beiden Kindern jedoch nichts ausmachte. Sie spielten gerne zusammen, und Emma genoss es, die Große zu sein und kümmerte sich liebevoll um Toni. Sie hatten viel Spaß zusammen, und wenn wir alle gemeinsam im Kölner Zoo, auf dem Spielplatz oder auf dem Bauernhof waren, nahm ich die Kinder und wir tobten und spielten und lachten, während die Frauen sich meist zurückzogen, um sich in Ruhe zu unterhalten. Rolf wirkte dann wie das fünfte Rad am Wagen.
So war ich mir sicher, dass er die letzten freien Stunden des Wochenendes eher damit verbrachte, auf dem Sofa zu liegen, um irgendeinen Blockbuster-Ballerfilm zu sehen, und die Ruhe vor dem Sturm genoss.
Zum zweiten Saunagang hatte Eva Jenny begleitet. Jenny bemerkte, wie Eva langsam anfing sich zu entspannen. Die Hitze schien sie vergessen zu lassen und Eva hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen.
Dies hatte Jenny Gelegenheit gegeben, Evas nackten Körper zu betrachten. Der flache Bauch, sogar mit einem leichten Ansatz eines Sixpacks, dem man nicht anmerkte, dass jemals ein Baby darin herangewachsen war. Im Vergleich hierzu Jennys ausgeleierter Bauch, dem man nur zu gut die vergangene Schwangerschaft mit ihrer Tochter ansah. Ebenso ihre Brüste. Vom Stillen völlig ausgesaugt. Passte früher ein Bleistift drunter, war es heute eine Schreibmaschine. Zwar erregte es Roman, wie ihr üppiger Busen beim Sex, wenn sie auf ihm saß, gegeneinander wippte. Und doch zweifelte sie, ob er sie mit ihren Dingern, die wie leere Fahrradschläuche an ihr herunterhingen, noch attraktiv fand.
Evas Brüste hingegen waren zwar klein, doch standen sie noch immer prall aufrecht.
»Natürlich stille ich nicht«, hatte Eva ihr bei einer ihrer ersten Begegnungen auf dem Spielplatz erzählt, als sie sich gerade kennenlernten. »Ich will doch keinen Hängebusen.«
Nach dem Wechselspiel zum kalten Wasserbad lagen die beiden Freundinnen im Anschluss auf den Liegen im Ruheraum. Zugedeckt unter weichen, kuscheligen Decken entspannten sie vor dem prasselnden Kaminfeuer.
Gelöste, melodische Klänge mit Meeresrauschen füllten den Raum aus, der mit Bambus und Klangschalen asiatisch ausgestattet war.
Jenny sah, wie Eva einen Schluck stilles Wasser trank und die Atmosphäre aufsog, und fragte sich, ob es Eva an ihren Yoga-Kurs erinnerte, von dem sie so oft schwärmte.
»So schade, dass ich Roman einfach nicht für die Sauna begeistern kann. Er weiß nicht, was er verpasst.« Jenny griff nach einer der Zeitschriften, die auf dem Beistelltisch auslagen.
»Rolf kommt nur zu gerne mit«, sagte Eva. »Allerdings nur, um die Frauen anzustarren.«
»Ach, Quatsch«, lächelte Jenny, doch sah sie in Evas Mimik, dass es ihrer Freundin ernst war.
»Das ist so!«, verlieh Eva ihren Worten Nachdruck. »Vor allem die mit den dicken Titten. Sein Handtuch hebt sich dann ständig. Und wenn ich gehen will, kann er nicht gleich mit. Es ist einfach widerlich. Ich frage mich, ob er bei seinen Patientinnen auch ständig einen Steifen bekommt, wenn er sie untersucht und betatscht.« Eva schüttelte sich und wandte sich angewidert ab.
Ein breites Lächeln zog sich über Rolfs Gesicht. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Beendete den Videofile und fuhr den Rechner herunter. Dann zog er den USB-Stick heraus und ging in die Garage. Dort nahm er den Hammer aus dem Werkzeugkasten und hämmerte auf den Datenträger ein. Wieder und wieder. Dabei bekam er das erleichterte Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht.
Rolf fragte sich, ob Eva eine Kopie gemacht haben könnte. Zwar hielt er es für relativ unwahrscheinlich. Doch das Risiko musste er eingehen. Er würde es ohnehin bald wissen. Seine Tat war vollbracht. Jetzt konnte er frei durchatmen und endlich planen, wie es weitergehen sollte. Jetzt, wo er frei war.
Es war windstill und die Luft war feucht.
Als ich den Wald erreichte, wo dichte Baumwipfel die Sonnenstrahlen nur noch gefiltert hindurchließen, spürte ich direkt den Temperaturumschwung. Gleich wurde es angenehmer und das Laufen fiel leichter. Doch wollte ich keinen Funken von Jammern und Stöhnen über die langersehnte Wärme zulassen.
In diesem Jahr hatten wir laut Wetterdienst den düstersten Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnung gehabt und mit Minusgraden und Schneetreiben bis weit nach Ostern zu kämpfen gehabt. Ein wahres Schlaraffenland für Depressionen. Und auch wenn ich es nicht beurteilen konnte, war mir die letzten Jahre nicht entgangen, dass mein Gemütszustand anfing sich zu verdunkeln, wenn es draußen trist und trüb wurde. Umso erquickender und intensiver war ich den Frühling durchlaufen, als die Natur endlich erwacht war. Ich hatte einige Laufrunden mehr eingelegt und genoss das Zwitschern der Vögel, die mich morgens aus dem Schlaf in die Realität holten. Der frische Duft von Gras und Blättern. Das Kribbeln der Wärme auf der Haut.
Meine körperliche und geistige Schwere hatte ich mir somit schon von der Seele gelaufen und nun war er da, der langersehnte Sommer. Und laut Wetterbericht sollte es die nächsten Tage noch drückender werden. Laut Vorhersage stand uns das heißeste Wochenende des Jahres bevor.
Grillwurst nicht vergessen, schoss es mir in Erinnerung. Und eine Tüte Marshmallows. Damit würde ich meine Tochter überraschen. Emma liebte diese Dinger. Über offenem Feuer geröstet oder auch gleich aus der Tüte.
Meine Gedanken kreisten um die bevorstehende Vater-Tochter-Zeit und ich bemerkte, wie ich abschweifte. Schließlich musste ich das letzte Kapitel des Hörbuchs noch einmal von neuem starten.
Am Rande des Otto-Maigler-Sees gab es eine kleine Bucht, umgeben von dichtbewachsenen Sträuchern und Bäumen, mit einer engen Zufahrt, gerade breit genug, um mit dem Wagen unbemerkt zu bleiben. Gleichwohl waren Autos hier nicht erlaubt.
Rolf hatte diesen Ort vor wenigen Wochen per Zufall entdeckt. Nun manövrierte er die Limousine gekonnt hindurch und brachte den Wagen zum Stehen.
Durch das dichte Gebüsch führte die steile Böschung direkt runter zum See. An die Stelle, an der die Schwäne und Enten meist anzutreffen waren. So auch an diesem Tag.
Rolf öffnete die hintere Tür. Selbst wenn Toni etwas kräftiger wäre, würde er sie nicht aufbekommen. Noch schaffte er es nicht einmal, den Anschnallgurt zu lösen. Doch man konnte nie vorsichtig genug sein, war Rolfs Devise. Schon bald würde sein Sohn groß und stark genug sein. Und eine geöffnete Tür auf der Autobahn bei vollem Tempo wäre nicht sonderlich spaßig. So hatte er noch vor der ersten Fahrt mit seinem Sohn, als er Eva und ihn aus dem Krankenhaus nach Hause brachte, die Kindersicherung scharf gestellt.
Vom Anschnallgurt befreit – Toni hasste es, gefesselt zu sein – sprang der kleine Junge aus dem Wagen und lief, seinen Papa an der Hand haltend, durch das wildwuchernde Gestrüpp die steile Böschung hinunter. Mit dem freien Arm drückte er sein Lieblingsstofftier an sich.
Jumbo, den grünen Elefanten, hatte er im Kölner Zoo bekommen und direkt liebgewonnen. Seither nahm er ihn überall mithin.
Auch den Abhang hinunter, wo seine kurzen Beine abrupt Fahrt aufnahmen. Allein wäre er bereits nach zwei Schritten gestürzt und hinuntergerollt. Doch Rolf hatte ihn fest im Griff. Gleichwohl konnte er nicht verhindern, dass Toni sich mit seinem kleinen Fuß in einer Astgabel verhedderte. Der Junge kam ins Straucheln, ließ reflexartig sein Kuscheltier los, und Jumbo kullerte ein Stück weit den Hügel hinunter.
Rolf gelang es, seinen Sohn aufzufangen. Dazu musste er sich an einem Baumstamm festkrallen, um nicht selbst zu stürzen. Er befürchtete im Hangeln, dass Toni anfangen würde zu weinen. Schnell schickte Rolf ein Stoßgebet nach oben – das würde er mit seinen Kopfschmerzen nicht ertragen – und wurde erhört. Sein Sohn hatte bereits den See entdeckt. Riss sich aus der Hand seines Vaters und rutschte das restliche Stück auf dem Popo herunter.
»Langsam«, rief Rolf ihm noch sinnloserweise hinterher, doch der kleine Junge hörte schon nicht mehr.
»Hallo, Swäne«, rief er begeistert und bekam von seinem Papa, als dieser auch endlich unten angekommen war, ein Stück trockenes Brot in die Hand gedrückt. Seinen Elefanten hatte er da längst vergessen, der – einen Baumstamm umklammernd – im Dreck lag.
In meinem Pensum umrundete ich für gewöhnlich den See. Hätte ich mir an jenem Tag die Zeit für die komplette Runde genommen, wäre ich Rolf und seinem Sohn begegnet. Und Toni … – er wäre diesem grausamen Schicksal nicht zum Opfer gefallen.
Da der Kindergarten jedoch in einer halben Stunde das Wochenende einläutete, kürzte ich die Runde ab und passierte den heruntergekommenen, vergilbten Wohnwagen, der seit kurzem am Waldrand stand.
Vor den zugezogenen Gardinen leuchtete ein rotes Neonherz und die Tür stand offen. Aus den Augenwinkeln sah ich sie, wie sie in der offenen Tür stand. In provokantknappem Slip und einem Spitzen-BH, der mindestens eine Nummer zu klein schien und ihre Brüste herauspresste.
Seitdem der Caravan aufgestellt war, berichtete der Stadtanzeiger regelmäßig. Besonders über massenhafte Beschwerdebriefe. Die Stadt, so der Bürgermeister in einem offenen Brief, kontrolliere die Situation vor Ort im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Man verstehe die Sorgen und den Standpunkt der Bürgerinnen und Bürger – insbesondere mit Blick auf die Kinder – und nehme diese ernst. Darüber hinaus prüfe man die Einrichtung eines Sperrbezirks durch die Bezirksregierung. Betone jedoch, dass Prostitution legal sei.
Für mich war die Lösung das Meiden des Wegstückes, was ich an diesem Tag versäumt hatte.
»Ich fühle mich wie neugeboren.« Jenny reckte sich in ihrem Bademantel. Dann machte sie sich weiter über ihren Salat mit Putenbrust her und ließ ihren Blick schweifen.
Das zur Wellnessanlage dazugehörige Bistro war zur Mittagszeit gut gefüllt.
»Sauna macht ganz schön hungrig«, sagte sie. »Wie ist dein Essen?«
»Ganz okay«, antwortete Eva wortkarg.
»Das sollten wir häufiger machen«, schlug Jenny vor. »Worauf hast du als Nächstes Lust?«
»Am liebsten würde ich nach Hause fahren«, sagte Eva.
»Du machst dir noch immer Sorgen, hm? Versuch etwas abzuschalten und das Wochenende zu genießen.«
»Das kann ich nicht. Ich gehe besser aufs Zimmer. Sonst verderbe ich dir noch den ganzen Spaß.«
»Nichts da. Das ist doch Quatsch. Vielleicht ist es ja auch genau das, was Rolf damit bezwecken möchte. Möglicherweise gönnt er dir das Wochenende nicht und versucht es dir zu vermiesen. Willst du ihm diese Genugtuung geben?«
Eva schüttelte den Kopf.
»Na siehst du. Wir machen mal richtig einen drauf«, riss Jenny sie mit.
»Du hast Recht. Also okay. Was hältst du von einer Massage?«
»Na, da bin ich dabei. Schließlich sind wir nicht zum Spaß hier«, lachte Jenny, und zum ersten Mal seit ihrer Ankunft sah sie auch ein Lächeln im Gesicht ihrer Freundin.
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