Einzelheiten eines Sonnenuntergangs - Vladimir Nabokov - E-Book

Einzelheiten eines Sonnenuntergangs E-Book

Vladimir Nabokov

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Beschreibung

Erzählungen 1921 bis 1932 Dieser Band enthält in chronologischer Reihenfolge die frühen, ursprünglich russisch geschriebenen Erzählungen von 1921 bis 1932, die Nabokov zum Großteil unter dem Pseudonym W. Sirin veröffentlichte, teilweise während seiner Zeit in Berlin. Sie legen die Grundsteine für Nabokovs künstlerischen Weg und lassen bereits seine einzigartige Sicht auf die Welt erahnen, die seinen späteren Werken ihren unnachahmlichen Stil verleiht. Die beiden Bände mit Nabokovs gesammelten Erzählungen (Bd.1: 1921-32; Bd. 2: 1933-52) schließen die Neuausgaben von Nabokovs Gesamtwerk ab.

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Seitenzahl: 763

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Vladimir Nabokov

Einzelheiten eines Sonnenuntergangs

Sämtliche Erzählungen 1921 bis 1932

Aus dem Englischen von Gisela Barker, Jochen Neuberger, Blanche Schwappach, Rosemarie Tietze, Thomas Urban, Marianne Wiebe und Dieter E.Zimmer

Herausgegeben von Dieter E. Zimmer

Über dieses Buch

«Die Pfützen, die noch nicht getrocknet und von den Striemen dunkler Feuchtigkeit umgeben waren (die lebendigen Augen des Asphalts), spiegelten die sanfte Glut des Abends. Die Häuser waren so grau wie immer; doch die Dächer, die Formen über den oberen Geschossen, die goldgesäumten Blitzableiter, die Steinkuppeln, die Säulchen – die am Tage niemand bemerkt, denn Tagmenschen blicken selten in die Höhe – waren jetzt von einem tiefen Ockerton überzogen, der luftigen Wärme des Sonnenuntergangs …» («Einzelheiten eines Sonnenuntergangs»)

 

Nabokovs frühe Erzählungen, die in den Jahren 1921 – 1932 entstanden, legen bereits die Grundsteine für seinen künstlerischen Weg. Sie lassen seine einzigartige Sicht auf die Welt erahnen, die seinen späteren Werken ihren unnachahmlichen Stil verleiht.

 

«Wer sich also in der Deutung der rätselhaften Wirklichkeit üben will, sollte unbedingt Nabokovs Erzählungen lesen.» (Neue Zürcher Zeitung)

Vita

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 2. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges). Dieter E. Zimmer starb im Juni 2020.

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Geisterwelt

ICH ZOG GEDANKENVERLOREN mit der Feder den zitternden runden Schatten des Tintenfasses nach. In einem fernen Zimmer schlug die Uhr, und mir Träumer wollte es scheinen, als klopfe wer an die Tür – erst leise, dann immer lauter; er klopfte zwölfmal hintereinander und verharrte erwartungsvoll.

«Ja, ich bin da, treten Sie ein …»

Die Türklinke knarrte schüchtern, die Flamme der tränenden Kerze neigte sich, und seitwärts tauchte er aus dem Rechteck der Finsternis – grau, gebeugt, besät mit dem Blütenstaub einer frostigen Sternennacht.

Ich kannte sein Gesicht – oh, ich kannte es lange!

Das rechte Auge lag noch im Schatten, das linke sah scheu mich an, länglich und rauchgrün, und rot die Pupille, ein rostiger Tupfer … Dies moosgrüne Haarbüschel an der Schläfe, die blässlich silbrige, kaum sichtbare Braue, und erst das lächerliche Fältchen am schnurrbartlosen Mund – wie rüttelte, wie wühlte das alles mein Gedächtnis auf!

Ich erhob mich – er schritt näher.

Das dünne Mäntelchen war nicht nach rechts geknöpft, sondern auf Frauenart; in der Hand hielt er die Mütze – nein, ein dunkles, ungefüges Bündel, eine Mütze hatte er überhaupt keine …

Ja natürlich, ich kannte ihn, hatte ihn wohl gar geliebt – nur fiel mir einfach nicht ein, wo und wann wir uns begegnet waren, dabei waren wir uns sicher oft begegnet, sonst hätten sich diese preiselbeerroten Lippen mir nicht so fest eingeprägt, die spitzen Ohren, der spaßige Adamsapfel …

Unter Willkommensgemurmel drückte ich seine leichte, kalte Hand, griff ich zur Lehne des altersschwachen Sessels. Er ließ sich nieder wie eine Krähe auf einen Baumstumpf und fing überstürzt an zu sprechen.

«Grausig, draußen auf den Straßen. Darum komm ich auch rein. Komm dich besuchen. Erkennst mich? Haben wir zwei doch so manchen lieben Tag herumgetollt, uns im Wald getummelt … Dort – in der Heimat … Das hast du doch nicht vergessen?»

Seine Stimme blendete mich förmlich, mir flimmerte es vor den Augen, schwindelte der Kopf; ich entsann mich des Glücks – vibrierenden, maßlosen, unwiederbringlichen Glücks …

Nein, unmöglich! Ich bin allein. Alles nur ein bizarres Hirngespinst! Doch neben mir saß tatsächlich jemand – knochig, linkisch, an den Füßen deutsche Stiefelchen, und seine Stimme tönte, rauschte, golden, saftig grün, vertraut, und was er sagte, war so schlicht, wie die Leute reden …

«Siehst du, du entsinnst dich noch … Ja, ich bin’s, der Waldgeist von früher, der neckische Schalk. Auch ich habe flüchten müssen …»

Er seufzte tief, und erneut war mir, als sähe ich ziehende Wolken, hoch wogendes Laub, Birkenrinde, schimmernd wie Schaumspritzer, und über allem ein ewiges, wonniges Tosen … Er neigte sich zu mir, schaute mir sanft in die Augen.

«Weißt du noch, unser Wald, die schwarzen Tannen, weißen Birken? Alles haben sie abgeholzt … Ein solches Leid, unerträglich, vor meinen Augen krachten, stürzten die Birken – doch wie sollte ich helfen? In den Sumpf haben sie mich gescheucht, geheult hab ich, geplärrt, wie die Rohrdommel geröhrt – und dann Hals über Kopf in den nächsten Forst.

Dort war mir so weh zumut, das Schluchzen nahm kein Ende … Gerade wollte ich mich eingewöhnen – schwupp! war der Forst weg, nur noch graue Asche. Musste ich also wieder auf Wanderschaft. Hab mir ein schönes Wäldchen gesucht, ein dichtes, dunkles, frisches – aber irgendwas war nicht geheuer … Oft hab ich gespielt vom Abendrot zum Morgenrot, grimmig gepfiffen, in die Hände geklatscht, Leute erschreckt … Weißt ja selbst: In meinem Dickicht hast du dich einst verirrt, du und ein weißes Kleidchen, und ich hab die Pfade zu Knoten geschlungen, die Baumstämme Karussell fahren lassen, hab durchs Laubwerk geirrlichtert – die ganze Nacht dich gefoppt. Aber war ja alles nur Spaß, zu Unrecht haben die Leute mich angeschwärzt … Nun jedoch wurde ich zahm, es war keine fröhliche neue Heimstatt. Tag und Nacht ringsum ein Knacken. Erst denk ich, einer von den Unsern, ein Bruder Waldgeist treibt sein Wesen, hab gerufen, gelauscht. Das knackt sich eins und rattert – nein, unsre Art ist das nicht. Eines Abends komme ich auf eine Lichtung gesprungen, seh, da liegen Menschen – auf dem Rücken, auf dem Bauch. Oho, denk ich, die weck ich auf, denen mach ich Beine. Also, die Zweige geschüttelt, mit Zapfen geschmissen, geraschelt, geblökt … Eine volle Stunde hab ich mich abgeplagt – alles umsonst. Und wie ich näher hinseh, steh ich starr vor Schreck. Beim einen hängt der Kopf nur noch an einem roten Fädchen, beim nächsten ist der Bauch ein Haufen dicker Würmer … Das ging über meine Kraft. Mit Gebrüll bin ich auf und davon …

Lang hab ich die Wälder durchstreift, da und dort, doch nirgends war’s ein Leben. Mal Stille, alles ausgestorben, todlangweilig, dann wieder solch ein Grauen, ich denk lieber nicht dran zurück. Schließlich hab ich mich aufgerafft, mich in ein Bäuerlein verwandelt, einen Vagabunden mit Schnappsack, und bin fort für immer: Leb wohl, altes Russland! Mein Bruder, der Wassergeist, kam mir da zu Hilfe. Hat sich auch in Sicherheit gebracht, der arme Tropf. Nicht genug wundern konnte er sich: Was für Zeiten, sagt er, ein Elend! Schon wahr. Obwohl, er hat einiges ausgeheckt früher, Menschen angelockt, arg gastfrei war er, doch wie hat er sie dafür gehätschelt, liebkost auf seinem güldenen Grund, mit was für Liedern eingelullt! Heutzutag, sagt er, kommen bloß noch Leichen geschwommen, schockweis, massenweis, und das Wasser im Fluss – wie flüssiges Erz, dick, warm und klebrig, den Atem verschlägt’s einem … Er hat mich dann mitgenommen. Nun kümmert er in einem fernen Meer dahin, mich hat er unterwegs an einem neblichten Ufer abgesetzt: Geh, Bruder, such dir ein Strauchwerk. Nichts hab ich gefunden, und so kam ich hierher in diese fremde, schreckliche, steinerne Stadt. Siehst du, ich bin nun ein Mensch worden – steife Kragen, Stiefelchen, alles, was dazugehört, sogar zu reden wie sie hab ich gelernt …»

Er verstummte. Seine Augen glänzten wie feuchte Blätter, die Arme hielt er verschränkt, und im schwankenden Widerschein der zerschmolzenen Kerze glimmerten aufs seltsamste die fahlen, nach links gekämmten Haare.

Die helle Stimme ertönte von neuem: «Ich weiß, auch dir ist weh zumut, deine Wehmut aber – gegen meine unbändige, stürmische ist sie nichts als das gleichmäßige Atemholen eines Schlafenden. Bedenk doch: Aus unserm Stamm ist keiner mehr in Russland. Die einen stiegen auf als Nebelschwaden, die andern sind verstreut über die ganze Welt. Die heimischen Flüsse sind voll Trübsal, keines Necks schalkhafte Hand verspritzt Mondenflitter, verwaist, verstummt sind die Glockenblumen, die noch nicht abgemähten, vordem des leichten Flurgeists, meines Nebenbuhlers, blaues Glockenspiel. Der struppige, gutmütige Hausgeist hat weinend dein entehrtes, besudeltes Haus verlassen, und es verdorren die Haine, die lieblich lichten, zauberisch düsteren Haine …

Doch wir, Russland, sind dein Schöpfergeist, deine unfassliche Schönheit, Zauber aus Jahrhunderten … Und sind nun alle fort, sind fort, vertrieben von dem wahnsinnigen Landmesser.

Freund, ich sterbe bald, sag mir etwas, sag, dass du mich liebst, das heimatlose Gespenst, rück näher, gib mir deine Hand …»

Zischend verlosch die Kerze. Kalte Finger berührten die meinen, das traurige, vertraute Lachen klang auf und erstarb.

Als ich das Licht anzündete, saß niemand mehr im Sessel … niemand … Doch im Zimmer roch es wundervoll zart nach Birkenrinde, nach feuchtem Moos …

Das Wort

VON EINEM INSPIRIERTEN TRAUMWIND aus der Nacht des Tales getragen, stand ich unter einem klaren Himmel aus reinem Gold am Rand einer Straße in einem außerordentlich bergigen Land. Ohne hinzusehen, ahnte ich den Glanz, die Ecken und Facetten eines ungeheuren Klippenmosaiks, blendende Abgründe und das spiegelgleiche Glitzern einer großen Menge von Seen, die irgendwo unter, hinter mir lagen. Meine Seele war ergriffen von dem Gefühl eines himmlischen Irisierens, der Freiheit, der Erhabenheit: Ich wusste, ich war im Paradies. Dennoch erhob sich in dieser Erdenseele ein einziger Erdengedanke wie eine stechende Flamme – und wie eifersüchtig, wie finster schirmte ich ihn ab gegen die Aura der gewaltigen Schönheit um mich her. Dieser Gedanke, diese nackte Leidensflamme, war der Gedanke an meine irdische Heimat. Barfuß und ohne einen Pfennig erwartete ich am Rand dieser Bergstraße die gütigen, leuchtenden Himmelsbewohner, indes ein Wind wie das Vorgefühl eines Wunders in meinem Haar spielte, die Schluchten mit einem kristallenen Summen füllte und in der sagenhaften Seide der Bäume raschelte, die zwischen den Felsklippen entlang der Straße in Blüte standen. Hohes Gras leckte an den Baumstämmen empor wie die Zungen eines Feuers; große Blüten lösten sich geräuschlos von ihren glitzernden Zweigen, schwebten wie bis zum Rand mit Sonnenschein gefüllte fliegende Pokale durch die Luft und blähten ihre durchscheinenden konvexen Blätter. Ihr süßes, feuchtes Aroma erinnerte mich an die besten Dinge, die ich in meinem Leben erfahren hatte.

Plötzlich füllte sich die Straße, an der ich atemlos von all dem Schimmer stand, mit einem Sturm von Flügeln. Aus den blendenden Tiefen strömten die Engel herbei, die ich erwartete, und ihre zusammengelegten Flügel wiesen scharf nach oben. Ihr Schritt war ätherisch; sie waren wie farbige Wolken in Bewegung, und bis auf das verzückte Zittern ihrer strahlenden Wimpern waren ihre transparenten Gesichter unbewegt. Zwischen ihnen flogen türkisfarbene Vögel mit einem glücklichen Mädchenlachen, und mit ihnen des Wegs kamen mit federnden Sprüngen geschmeidige, orangefarbene, phantastisch schwarz getüpfelte Tiere. Die Wesen wanden sich durch die Luft und streckten lautlos ihre Seidenpfoten nach den fliegenden Blüten aus, während sie sich mit blitzenden Augen an mir vorbeidrängten.

Flügel, Flügel, Flügel! Wie kann ich ihre Windungen und ihre Farben beschreiben? Sie waren ohne Maßen stark und weich – gelbbraun, violett, samtschwarz, mit feurigem Staub an den abgerundeten Enden ihrer gebogenen Federn. Wie steile Wolken standen sie gebieterisch über den leuchtenden Schultern des Engels; gelegentlich entfaltete einer in einer Art wunderbarer Verzückung, als könne er sein Glück nicht länger zurückhalten, plötzlich einen einzigen Augenblick lang seine geflügelte Schönheit, und es war, als bräche die Sonne hervor wie das Funkeln von Millionen Augen.

Sie schritten in Scharen an mir vorüber, den Blick himmelwärts gerichtet. Ihre Augen waren wie jubelnde Abgründe, und in diesen Augen sah ich die Synkope des Flugs. Sie kamen mit gleitenden Schritten, überschüttet mit Blumen. Die Blumen verloren im Flug ihren feuchten Schimmer; die glatten, strahlenden Tiere spielten, während sie wirbelten und kletterten; die Vögel tönten vor Glück, während sie hochstiegen und niedertauchten. Ich, ein geblendeter zitternder Bettler, stand am Rand der Straße, und in meiner Bettlerseele plapperte immer wieder der gleiche Gedanke: Rufe ihnen zu, ach, sag ihnen doch, dass es auf diesem herrlichsten von Gottes Sternen ein Land gibt – mein Land –, das in qualvoller Dunkelheit zugrunde geht. Ich hatte das Gefühl, wenn ich mit der Hand nur einen zitternden Schimmer zu fassen bekäme, würde ich meinem Land eine solche Freude bringen, dass die Menschenseelen auf der Stelle erleuchtet wären und sich unter dem Plätschern und Knistern des wiedergeborenen Frühlings zum goldenen Donner wiedererwachter Tempel zu drehen begännen.

In dem Wunsch, den Engeln den Weg zu verlegen, streckte ich meine bebenden Hände aus, klammerte mich an die Säume ihrer hellen Messgewänder, an die sich wellenden, sengend heißen Ränder ihrer gebogenen Flügel, die mir wie daunenweiche Blumen durch die Hände schlüpften. Ich keuchte, ich stürzte hierhin und dorthin, ich bat sie, außer mir, um Nachsicht, aber die Engel schritten immer nur voran, ohne Notiz von mir zu nehmen, die scharfgeschnittenen Gesichter nach oben gewandt. In Scharen strömten sie zu einem himmlischen Fest, zu einem unerträglich herrlichen Versammlungsplatz, wo eine Gottheit wütete und atmete, an die ich nicht zu denken wagte. Ich sah feurige Spinngewebe, Spritzer, Muster auf riesigen karminroten, rostbraunen, lila Flügeln, und über mich zog in Wellen ein flaumiges Rascheln dahin. Die regenbogengekrönten Vögel pickten, die Blüten lösten sich von schimmernden Ästen und entschwebten. «Warte, hör mich zu Ende an», rief ich und versuchte, die dunstigen Beine eines Engels zu umarmen, aber die Füße glitten ungreifbar und unaufhaltsam durch meine ausgestreckten Hände, und im Vorbeirauschen versengten die Ränder der breiten Flügel nur meine Lippen. In der Ferne füllte sich eine goldene Lichtung zwischen üppigen, farbig leuchtenden Felsen mit dem aufziehenden Gewitter; die Engel entschwanden, das hohe, aufgeregte Gelächter der Vögel versiegte, die Blüten schwebten nicht mehr von den Bäumen; ich wurde schwach, ich verstummte …

Dann geschah ein Wunder. Einer der letzten Engel hielt inne, wandte sich um und kam langsam zu mir herüber. Ich sah seine ausgehöhlten, starrenden, diamantenen Augen unter den imposanten Bögen seiner Augenbrauen. Auf den Rippen seiner ausgebreiteten Flügel glänzte etwas, das wie Reif wirkte. Die Flügel selbst waren grau, ein unbeschreiblicher Grauton, und jede Feder endete in einer silbrigen Sichel. Sein Gesicht, der leicht lächelnde Umriss seiner Lippen und seine gerade klare Stirn, erinnerte mich an Züge, die ich auf Erden gesehen hatte. Es war, als verschmölzen die Rundungen, das Strahlen, der Zauber aller Gesichter, die ich geliebt hatte – die Züge der Menschen, die ich seit langem verloren hatte –, zu einem wunderbaren Antlitz. Als vereinten sich all die vertrauten Töne, die einzeln an mein Gehör drangen, zu einer einzigen vollkommenen Melodie.

Er trat zu mir heran. Er lächelte. Ich brachte es nicht fertig, ihn anzusehen. Aber als ich zu seinen Beinen hinspähte, bemerkte ich ein Netz blauer Adern und ein bleiches Muttermal auf seinen Füßen. Diese Adern, dieser kleine Fleck machten mir klar, dass er die Erde noch nicht ganz verlassen hatte, dass er meine Bitten vielleicht verstünde.

Dann hob ich an, den Kopf gesenkt und meine mit hellem Lehm beschmierten verbrannten Handflächen an meine halbgeblendeten Augen pressend, mein Leid noch einmal zu schildern. Ich wollte erklären, wie wunderbar meine Heimat war und wie schrecklich seine schwarze Synkope, aber ich fand die Worte nicht, die ich brauchte. Hastig und mich wiederholend plapperte ich über Bagatellen, über irgendein abgebranntes Haus, wo einst ein schräger Spiegel den sonnigen Glanz des Parketts reflektiert hatte. Ich plapperte über alte Bücher und alte Linden, über Nippes, über meine ersten Gedichte in einem kobaltblauen Schulheft, über einen grauen, von wilden Himbeeren überwachsenen Feldstein mitten in einem Feld voller Skabiosen und Gänseblümchen – aber das Wichtigste vermochte ich einfach nicht auszudrücken. Ich verhaspelte mich, hörte auf, begann von vorn, und in meiner hilflosen hastigen Rede sprach ich von Zimmern in einem kühlen und hallenden Landhaus, von Linden, von meiner ersten Liebe, von Hummeln, die auf den Skabiosen schliefen. Es kam mir vor, als würde ich jeden Augenblick – jeden Augenblick! – zum Wichtigsten kommen und das ganze Leid meiner Heimat darlegen. Aber aus irgendeinem Grund kamen mir nur winzige, alltägliche Dinge in den Sinn, die außerstande waren zu sprechen oder jene dicken, brennenden, schrecklichen Tränen zu weinen, von denen ich sprechen wollte und nicht konnte …

Ich verstummte, hob den Kopf. Der Engel lächelte ein stilles, aufmerksames Lächeln, sah mich unverwandt mit seinen länglichen Diamantaugen an. Ich hatte das Gefühl, er verstehe mich.

«Verzeih», rief ich und küsste demütig das Muttermal auf seinem hellen Fuß. «Verzeih, dass ich nur von trivialen Nebensachen sprechen kann. Du verstehst trotzdem, mein gutherziger, mein grauer Engel. Antworte mir, hilf mir, sag mir, was meine Heimat retten kann.»

Der Engel umfasste meine Schultern einen Augenblick lang mit seinen taubenartigen Flügeln, sprach ein einziges Wort, und in seiner Stimme erkannte ich alle jene geliebten, jene zum Schweigen gebrachten Stimmen. Das Wort, das er aussprach, war so wunderbar, dass ich seufzend die Augen schloss und meinen Kopf noch tiefer senkte. Der Duft des Wortes und seine Melodie breiteten sich durch mein Geäder aus, gingen in meinem Gehirn auf wie die Sonne; die zahllosen Höhlen in meinem Bewusstsein griffen sie auf und wiederholten sein leuchtendes paradiesisches Lied. Es füllte mich aus. Wie ein fester Knoten pochte es in meiner Schläfe, seine Feuchte bebte auf meinen Wimpern, sein süßer Frostschauer fächelte mein Haar, und himmlische Wärme schüttete es in mein Herz.

Ich rief es, ich schwelgte in jeder seiner Silben, ich hob ungestüm die Augen, die sich mit den strahlenden Regenbogen von Freudentränen füllten …

O Gott – grünlich glüht die Winterdämmerung im Fenster, und ich kann mich nicht erinnern, welches das Wort war, das ich rief.

Flügelschlag

1

WENN EINE SKISPITZE über die andere fährt, fällt man vornüber. Schnee dringt brennend in die Ärmel, und das Aufstehen fällt einem schwer. Kern, der lange nicht auf Skiern gestanden hatte, geriet sofort ins Schwitzen. Er spürte einen leichten Schwindel, riss sich die Wollmütze vom Kopf, die ihn an den Ohren juckte, und schlug sich die feuchten Funken von den Wimpern.

Vor dem sechsstöckigen Hotel ging es fröhlich und azurblau zu. In all dem leuchtenden Glanz wirkten die Bäume schwerelos. Von den Schultern der schneebedeckten Hügel fielen unzählige Skispuren wie Schattenhaare. Und ringsum jagte die gigantische, weiße Weite in den Himmel und loderte dort immer wieder auf.

Mit knirschenden Skiern erklomm Kern den Hang. Als sie seine breiten Schultern, sein Pferdeprofil und den kräftigen Glanz auf seinen Backenknochen bemerkte, hatte jene Engländerin, die er gestern, am dritten Tag seines Hierseins kennen gelernt hatte, ihn für einen Landsmann gehalten. Isabel – die fliegende Isabel, so nannte sie die Meute von glatten und matthäutigen jungen Leuten argentinischen Einschlags, die ihr überall nachliefen, im Ballsaal des Hotels, auf den weichen Treppen und auf den schneebedeckten Hängen im Spiel des funkelnden Gestiebes … In ihrer Erscheinung lag etwas Schwebendes und Ungestümes; ihr Mund war so leuchtend, dass man meinte, der Schöpfer habe heißes Karmesin genommen und es ihr mit der hohlen Hand in die untere Hälfte des Gesichts gedrückt … In ihren flauschigen Augen spielte ein spöttisches Lächeln. Wie ein Flügel ragte der spanische Kamm aus den dichten Wellen ihrer schwarzen, seidig glänzenden Haare. So hatte Kern sie gestern gesehen, als das dumpfe Dröhnen des Gongs sie aus ihrem Zimmer mit der Nummer 35 zum Dinner rief. Dass sie Zimmernachbarn waren – ihre Zimmernummer entsprach dabei der Zahl seiner Jahre –, dass sie ihm an der Table d’hôte gegenübersaß – hochgewachsen, fröhlich, in einem tief ausgeschnittenen schwarzen Kleid mit einem schwarzen Seidenband um den bloßen Hals –, all das erschien Kern so bedeutsam, dass sich die düstere Schwermut, die ihn nun schon ein halbes Jahr lang bedrückte, vorübergehend etwas hob.

Isabel sprach als Erste, und das verwunderte ihn nicht: Das Leben in diesem großen Hotel, das einsam in einem Gebirgstal in hellem Licht erstrahlte, sprudelte rauschhaft und unbeschwert nach den toten Kriegsjahren; außerdem war ihr, Isabel, alles erlaubt – der schräge Wimpernaufschlag und auch das Lachen, das in ihrer Stimme mitklang, als sie Kern den Aschenbecher zuschob und sagte: «Wir beide scheinen die einzigen Engländer hier zu sein …», und die von einem schwarzen Bändchen umfasste zarte Schulter über den Tisch beugend, fügte sie hinzu:

«… das halbe Dutzend alter Weiber natürlich nicht mitgezählt … und den da, der den Kragen verkehrt herum trägt.»

Kern antwortete:

«Sie irren sich. Ich habe keine Heimat. Es stimmt schon, ich habe viele Jahre in London gelebt. Aber darüber hinaus …»

Am Morgen des folgenden Tages spürte er plötzlich – nach der ihm so vertrauten Gleichgültigkeit des vergangenen halben Jahres –, wie wohltuend es war, unter den betäubenden Kegel der eiskalten Dusche zu treten. Um neun Uhr, nach einem kräftigen und ausgiebigen Frühstück, knirschten seine Skier über den roten Sand, der über das nackte Funkeln des Weges vor dem Hoteleingang gestreut war. Als er den verschneiten Hang erklommen hatte – im Grätschschritt, wie es sich für einen Skiläufer gehörte –, erblickte er zwischen den karierten Breeches und erhitzten Gesichtern Isabel.

Sie begrüßte ihn auf englische Art: mit einem Schwingen ihres Lächelns. Ihre Skier schillerten olivgrün-golden. Schnee klebte an dem Riemengeflecht um ihre Füße; ihre unweiblich kräftigen, aber wohlgeformten Beine steckten in festen Stiefeln und eng anliegenden Gamaschen. Ein violetter Schatten folgte ihr auf der Schneedecke, als sie, die Hände lässig in die Taschen ihrer Lederjacke vergraben und den linken Ski leicht vorgeschoben, den Abhang hinunterglitt, immer schneller, mit flatterndem Schal, in Wolken von aufwirbelndem Schnee. Dann machte sie in vollem Lauf einen scharfen Bogen, beugte gewandt ein Knie, richtete sich wieder auf und jagte weiter, vorbei an den Tannen, vorbei an der türkisfarben schimmernden Eisbahn. Zwei Jünglinge in bunten Sweatern und ein bekannter schwedischer Sportler mit Terrakottagesicht und farblosen, nach hinten gekämmten Haaren jagten hinter ihr her.

Wenig später traf Kern sie wieder, in der Nähe des blauen Weges, auf dem mit leisem Gepolter Menschen vorüberhuschten – wollige Frösche, die bäuchlings auf niedrigen Schlitten lagen. Isabel war mit aufblitzenden Skiern hinter einer Schneewehe verschwunden, und als Kern, der sich seiner ungeschickten Bewegungen schämte, sie in einer kleinen Mulde einholte, inmitten von silbrig umwobenen Zweigen, machte sie mit den Fingern Zeichen in der Luft, stampfte mit den Skiern auf und glitt weiter. Kern blieb einen Moment lang im violetten Schatten stehen, als plötzlich die Stille mit wohlbekanntem Grauen über ihm zusammenschlug. Die Spitzengebilde der Zweige erstarrten in der Emailluft wie in einem unheimlichen Märchen. Wie seltsames Spielzeug erschienen ihm die Bäume, die Schattenmuster und seine Skier. Er spürte auf einmal, dass er müde war, dass er sich eine Ferse aufgescheuert hatte; und die ihm in den Weg ragenden Zweige streifend, machte er kehrt. Über das glatte Türkis schwebten mechanisch die Läufer. Weiter oben auf dem Schneehang half der Schwede mit dem Terrakottagesicht einem langen, dünnen Herrn mit Hornbrille, der ganz voller Schnee war, wieder auf die Beine. Der zappelte im glitzernden Schnee gleich einem plumpen Vogel. Wie ein abgebrochener Flügel glitt ein Ski, der sich von seinem Fuß gelöst hatte, schnell den Hang hinunter.

In sein Zimmer zurückgekehrt, zog Kern sich um, und als die dumpfen Schläge des Gongs ertönten, bestellte er sich kaltes Roastbeef, Weintrauben und eine Flasche Chianti aufs Zimmer.

Er spürte in Schultern und Hüften einen bohrenden Schmerz.

«Warum musste ich auch hinter ihr herlaufen», dachte er und lächelte sarkastisch. «Ein Mensch schnallt sich ein Paar Bretter unter die Füße und genießt das Gesetz der Schwerkraft. Lächerlich.»

Gegen vier begab er sich in den geräumigen Lesesaal, wo der Rachen des Kamins orangefarbene Hitze atmete und unsichtbare Menschen in tiefen Ledersesseln ihre Beine hinter einem Vorhang von aufgeschlagenen Zeitungen hervorstreckten. Auf dem langen Eichentisch lag ein Berg Zeitschriften, voll von Modeanzeigen, Photos von Ballettmädchen und Abgeordneten in Zylindern. Kern fand eine völlig zerlesene Nummer des Tatler vom Juni des vergangenen Jahres und betrachtete darin lange das Lächeln jener Frau, die sieben Jahre lang seine Frau gewesen war. Er dachte an ihr lebloses Gesicht, das so kalt und hart geworden war – und an die Briefe, die er in dem Kästchen gefunden hatte.

Er legte die Zeitschrift mit einer heftigen Bewegung weg, nachdem er die glänzende Seite mit dem Fingernagel zerkratzt hatte.

Schwerfällig bewegte er die Schultern und zog geräuschvoll an seiner kurzen Pfeife, als er sich auf die überdachte Veranda begab, wo das Orchester fröstelnd spielte und Menschen in bunten Schals starken Tee tranken, bereit, von neuem hinaus in den Frost zu eilen, auf die Skihänge, die mit tosendem Glanz gegen die breiten Fensterscheiben schlugen. Suchend sah er sich auf der Veranda um. Jemandes neugieriger Blick durchbohrte ihn wie eine Nadel, die den Zahnnerv getroffen hat. Er machte jäh kehrt und ging hinaus.

Im Billardzimmer, in das er, die Eichentür geschickt aufdrückend, seitwärts eintrat, beugte sich Monfiori, ein blasser, rothaariger kleiner Mann, für den nur die Bibel und Karambolage existierten, über das smaragdgrüne Tuch und zielte auf die Kugel, wobei er das Queue vor- und zurückgleiten ließ. Kern hatte in diesen Tagen seine Bekanntschaft gemacht, und der andere hatte ihn sogleich mit Zitaten aus der Heiligen Schrift überschüttet. Er hatte erzählt, er schreibe eine große Arbeit, in der er nachzuweisen suche, dass man das Buch Hiob nur auf ganz bestimmte Weise erforschen müsse und dass dann … Aber weiter hatte Kern ihm nicht zugehört, weil er plötzlich auf die Ohren seines Gesprächspartners aufmerksam geworden war – spitze Ohren voller kanariengelber Körnchen mit rotem Flaum auf den Ohrläppchen.

Die Kugeln stießen zusammen, rollten wieder auseinander. Monfiori zog die Augenbrauen hoch und schlug eine Partie vor. Er hatte traurige, leicht vorstehende Augen, wie man sie bei Ziegen findet.

Kern war drauf und dran anzunehmen, er hatte sogar schon die Queuespitze mit Kreide eingerieben, da überfiel ihn plötzlich ein Gefühl heftigen Überdrusses, das ihm das Herz zusammenpresste und ein Sausen in den Ohren hervorrief. Er schützte Schmerzen im Ellbogen vor und ging, im Vorbeigehen einen Blick auf das zuckerweiße Leuchten der Berge werfend, in den Lesesaal zurück.

Dort ließ er sich nieder, schlug ein Bein über das andere, wippte mit dem Lackschuh und betrachtete aufs neue das perlgraue Bild – die Kinderaugen und die schemenhaften Lippen einer Londoner Schönheit – seiner verstorbenen Frau. In der ersten Nacht nach ihrem Freitod war er mit einer Frau mitgegangen, die ihm an der Ecke einer düsteren Straße zugelächelt hatte; damit hatte er Rache genommen an Gott, an der Liebe, am Schicksal.

Und jetzt diese Isabel mit dem großen, roten Mal anstelle eines Mundes. Wenn man doch nur …

Er presste die Zähne zusammen; die Muskeln seiner kräftigen Backenknochen traten hervor. Sein ganzes bisheriges Leben erschien ihm als schwankende Reihe verschiedenfarbiger Wandschirme, mit denen er sich vor kosmischen Zugwinden geschützt hatte. Isabel war der letzte leuchtende Fetzen. Wie viele dieser seidenen Lumpen hatte es nicht schon gegeben, wie hatte er sich bemüht, mit ihnen den schwarzen Abgrund abzudecken! Reisen, Bücher in weichen Einbänden, eine siebenjährige ekstatische Liebe. Im trügerischen Wind hatten sie sich aufgebläht, diese Fetzen, waren zerrissen und einer nach dem anderen hinabgefallen. Aber der Abgrund ließ sich nicht schließen, der Schlund atmete, sog ihn an. Das hatte er begriffen, als der Polizeispitzel mit Wildlederhandschuhen …

Kern spürte, dass er vor und zurück schaukelte und dass irgendein blasses Fräulein mit rosigen Augenbrauen ihn hinter einer Zeitschrift hervor musterte. Er nahm die Times vom Tisch und schlug die riesigen Seiten auf. Eine Papierdecke über dem Abgrund. Die Menschen denken sich Verbrechen, Museen, Spiele nur deswegen aus, um sich vor dem Unbekannten zu verstecken, vor dem schwindelerregenden Himmel. Und jetzt diese Isabel …

Er legte die Zeitung weg, rieb sich die Stirn mit seiner gewaltigen Faust und fühlte wieder jemandes erstaunten Blick auf sich ruhen. Dann ging er langsam aus dem Raum, vorbei an den lesenden Beinen, vorbei an dem orangefarbenen Rachen des Kamins. Er verirrte sich in den hallenden Korridoren, geriet in einen Saal, wo sich die weißen Beine der gebogenen Stühle im Parkett spiegelten und an der Wand ein großes Bild hing: Wilhelm Tell, der den Apfel auf dem Kopf seines Sohnes mit Blicken durchbohrt; dann betrachtete er lange sein rasiertes, ernstes Gesicht, die Blutäderchen im Weiß der Augen, die Schleife des karierten Halstuchs in dem Spiegel, der in der hellen Toilette blinkte, wo das Wasser musikalisch rauschte und in der porzellanenen Tiefe ein goldener Zigarettenstummel schwamm, den jemand dort hineingeworfen hatte.

Und draußen erlosch der Schnee und bekam einen bläulichen Schimmer. Sanft erblühte der Himmel. Die Flügel der Drehtüren am Eingang zum hallenden Vestibül blitzten zögernd auf und ließen Wolken von Dampf und lachende Menschen mit frischen Gesichtern herein, die von den Schneespielen müde waren. Die Treppen hallten wider von ihren Schritten, ihren Rufen und ihrem Lachen. Dann erstarb das Hotel; man zog sich zum Dinner um.

Kern, der in seinem Sessel in der Dämmerung des Zimmers unruhig eingenickt war, wurde von dem Dröhnen des Gongs geweckt. Erfreut über seine plötzliche Munterkeit, knipste er das Licht an, steckte die Manschettenknöpfe in das frisch gestärkte Hemd und zog die schwarzen Hosen unter der quietschenden Presse hervor. Fünf Minuten später fühlte er eine kühle Leichtigkeit, die Fülle seiner Haare am Scheitel und jede Linie seiner ausgesuchten Kleidung und begab sich nach unten in den Speisesaal.

Isabel war nicht da. Die Suppe wurde gereicht, der Fisch – sie erschien nicht.

Kern betrachtete verächtlich die matthäutigen Jünglinge, das ziegelrote Gesicht der alten Dame mit dem Schönheitspflästerchen, das einen Pickel verdeckte, das Männlein mit den Ziegenaugen – und starrte dann finster auf die gezierte Pyramide der Hyazinthen in einem grünen Blumentopf.

Sie erschien erst, als in dem Saal, in dem der Tell hing, die Negerinstrumente zu schlagen und zu heulen begannen.

Von ihr ging ein Duft von Frost und Parfüm aus. Ihre Haare schienen feucht zu sein. Irgendetwas in ihrem Gesicht setzte Kern in Erstaunen.

Sie lächelte strahlend und zog das schwarze Bändchen auf ihrer durchsichtigen Schulter zurecht.

«Wissen Sie, ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Ich hatte kaum Zeit, mich umzuziehen und ein Sandwich zu essen.»

Kern fragte: «Sind Sie wirklich bis jetzt Ski gelaufen? Es ist doch schon dunkel.»

Sie sah ihn unverwandt an, und Kern begriff, was ihn so fasziniert hatte: ihre Augen; sie strahlten, als seien sie mit Raureif bestäubt.

Isabel glitt leicht über die sanften Vokale der englischen Sprache:

«Natürlich. Es war wunderbar. Ich bin im Dunkeln die Abhänge hinuntergejagt, von den Buckeln nach oben geflogen. Direkt zwischen die Sterne.»

«Sie hätten sich umbringen können», sagte Kern.

Sie wiederholte, die Augen flauschig zusammengezogen:

«Direkt zwischen die Sterne», und fügte hinzu, wobei sie ihr bloßes Schlüsselbein aufblitzen ließ:

«Und jetzt möchte ich tanzen …»

Im Saal dröhnte das Negerorchester, und jemand sang dazu. In bunter Vielfalt schwebten überall japanische Laternen. Auf Zehenspitzen, mal mit schnellen, mal mit verhaltenen Schritten, seine Handfläche gegen ihre Handfläche gedrückt, rückte Kern eng an Isabel heran. Ein Schritt, und ihr schlankes Bein presste sich gegen ihn, noch ein Schritt, und sie gab ihm federnd nach. Die duftende Kühle ihrer Haare kitzelte ihn an den Schläfen. Unter der Kante seiner rechten Hand spürte er das geschmeidige Vibrieren ihres entblößten Rückens. Mit angehaltenem Atem ging er in die Klangpausen hinein und glitt dann von neuem von Takt zu Takt … Um sie herum schwebten angespannte Gesichter, linkische Paare und lasterhaft-zerstreute Augen. Und das ausdruckslose Singen der Saiten wurde unterbrochen von dem Hämmern barbarischer Schlagzeuge.

Die Musik wurde schneller, schwoll an, prasselte auf sie herab und verstummte. Alle blieben stehen und begannen dann zu klatschen, forderten damit eine Fortsetzung dieses Tanzes. Aber die Musiker hatten beschlossen, eine Pause einzulegen.

Kern zog ein Tuch aus der Manschette, wischte sich die Stirn ab und folgte Isabel, die, mit ihrem schwarzen Fächer wedelnd, zur Tür ging. Sie setzten sich nebeneinander auf die Stufen der breiten Treppe.

Isabel sagte, ohne ihn anzusehen:

«Verzeihung. Mir war, als sei ich immer noch draußen im Schnee, zwischen den Sternen. Ich habe nicht einmal gemerkt, wer Sie sind und ob Sie gut tanzen.»

Kern blickte sie stumm an – und wirklich: Sie war ganz in ihre strahlenden Gedanken versunken, Gedanken, zu denen er keinen Zugang hatte.

Eine Stufe tiefer saßen ein Jüngling in einem sehr engen Jackett und ein knochiges Mädchen mit einem Muttermal auf dem Schulterblatt. Als die Musik wieder einsetzte, forderte der Jüngling Isabel zum Boston auf. Kern musste mit dem knochigen Mädchen tanzen. Sie roch nach säuerlichem Lavendel. Im Saal wurden bunte Papierschlangen entrollt, die sich um die Tanzenden wickelten. Einer der Musikanten klebte sich einen weißen Schnurrbart an, und Kern schämte sich irgendwie für ihn. Als der Tanz zu Ende war, ließ er seine Dame stehen und stürzte davon, um Isabel zu suchen. Sie war nirgends zu sehen, weder am Buffet noch auf der Treppe.

«Schluss. Ab ins Bett», dachte Kern knapp.

In seinem Zimmer zog er den Vorhang zurück, bevor er sich hinlegte, und blickte gedankenleer in die Nacht hinaus. Vor dem Hotel lagen auf dem dunklen Schnee die Abbilder der Fenster. In der Ferne schwammen die metallenen Berggipfel im Grabeslicht.

Ihm schien es, als habe er für einen kurzen Augenblick den Tod gesehen. Er zog die Falten des Vorhangs so eng zusammen, dass nicht ein einziger nächtlicher Strahl ins Zimmer fallen konnte. Aber als er das Licht gelöscht hatte, bemerkte er vom Bett aus, dass der Rand eines kleinen Glasgestells aufleuchtete. Da stand er auf, machte sich lange am Fenster zu schaffen und verfluchte das Mondlicht. Der Fußboden war kalt wie Marmor.

Als Kern die Augen geschlossen und den Gürtel seines Pyjamas gelöst hatte, glitten unter ihm die eisigen Hänge hinweg – und sein Herz begann laut zu klopfen, als ob es den ganzen Tag geschwiegen hätte und sich jetzt die Stille zunutze mache. Ihm wurde angst, als er auf dieses Klopfen lauschte. Er musste daran denken, wie er einmal an einem stürmischen Tag mit seiner Frau an einem Fleischerladen vorbeigegangen war, in dem ein geschlachtetes Tier an einem Haken baumelte und dumpf gegen die Wand schlug. So wie jetzt sein Herz. Und seine Frau hatte vor dem Wind die Augen zusammengekniffen, ihren breitkrempigen Hut festgehalten und gesagt, dass das Meer und der Wind sie um den Verstand brächten, dass sie wegfahren müsse, wegfahren …

Kern wälzte sich auf die andere Seite, vorsichtig, damit sein Brustkorb von den hohlen Schlägen nicht zerspränge.

«So kann es nicht weitergehen», murmelte er in sein Kissen und zog beklommen seine Beine an. Er lag auf dem Rücken und sah an die Decke, wo schwach ein paar vorwitzige Strahlen schimmerten – wie Rippen.

Als er die Augen wieder zusammenkniff, tanzten vor ihm kleine Funken, dann durchsichtige Spiralen, die sich unaufhörlich ineinander verdrehten. Isabels Schneeaugen und ihr Feuermund tauchten kurz vor ihm auf – und wieder Funken und Spiralen. Sein Herz zog sich für einen Moment zu einem stechenden Klumpen zusammen. Dann blähte es sich auf, hämmerte.

«So kann es nicht weitergehen, ich verliere noch den Verstand. Statt einer Zukunft nur eine schwarze Wand. Nichts.»

Ihm war, als ob Papierschlangen über sein Gesicht glitten, leicht raschelten und dann zerrissen. Dann wogten japanische Laternen bunt über das Parkett. Er tanzte, drängte sich heran. «Man brauchte sie nur zu öffnen. Weit zu öffnen … Und dann …»

Der Tod erschien ihm wie ein ruhiger Schlaf, wie ein sanftes Fallen. Keine Gedanken, kein Herzklopfen, keine Schmerzen.

Die Mondrippen an der Decke hatten unbemerkt ihre Lage verändert. Auf dem Flur hörte man leichte Schritte, irgendwo knackte ein Riegel, dann ein leises Läuten – und wieder Schritte: ein Gemurmel von Schritten, ein Stammeln von Schritten …

«Das heißt, der Ball ist zu Ende», dachte Kern. Er drehte das stickige Kissen um.

Ringsum trat jetzt eine große Stille ein. Nur sein Herz hämmerte, schwer und mühsam. Kern tastete auf dem Nachttischchen nach der Karaffe, trank daraus. Ein eisiger Strom brannte im Hals, in der Kehle.

Er fing an, sich Einschlafhilfen in Erinnerung zu rufen: stellte sich Wellen vor, die gleichmäßig an das Ufer schlugen. Dann wollige graue Schafe, die sich langsam über einen Flechtzaun rollten. Ein Schaf, zwei, drei …

«Und im Nebenzimmer schläft Isabel», dachte Kern, «da schläft Isabel; bestimmt in einem gelben Pyjama. Gelb steht ihr. Spanische Farbe. Wenn ich an der Wand kratzte, würde sie es hören. Ach, dieser unregelmäßige Herzschlag …»

Er schlief in dem Moment ein, als er überlegte, ob er das Licht anmachen und lesen sollte. Auf dem Sessel lag ein französischer Roman. Ein Papiermesser glitt über die Seiten, schnitt sie auf. Die erste, die zweite …

Er wachte mitten im Zimmer auf, geweckt von einem Gefühl unerträglichen Grauens, das ihn aus dem Bett geworfen hatte. Er hatte geträumt, dass die Wand, an der das Bett stand, sich langsam auf ihn niedersenkte – und da war er, krampfartig ausatmend, zurückgewichen.

Kern suchte tastend nach dem Kopfende des Bettes, fand es und wäre sofort wieder eingeschlafen, hätte er nicht hinter der Wand ein Geräusch gehört. Er verstand nicht gleich, woher das Geräusch kam. Durch das angespannte Lauschen wurde sein Bewusstsein, das wieder in den Schlaf hinübergleiten wollte, plötzlich ganz klar. Das Geräusch wiederholte sich: ein Winseln – und der volle, zitternde Klang einer Gitarre. Kern schoss es durch den Kopf: Im Nebenzimmer war doch Isabel. Als wollte sie auf seine Gedanken antworten, ertönte in diesem Augenblick hinter der Wand leise ihr perlendes Lachen. Zweimal, dreimal erzitterte und verklang die Gitarre. Danach ertönte erneut das seltsame, abgerissene Bellen und verstummte wieder. Kern saß auf dem Bett und lauschte mit großer Verwunderung. Ein absurdes Bild erstand vor seinen Augen. Isabel mit einer Gitarre und einer riesigen Dogge, die sie von unten selig anstarrte. Er legte das Ohr an die kalte Wand. Das rasselnde Bellen erklang wieder, die Gitarre knisterte wie Seide, dann erhob sich ein unerklärliches Rascheln, das wellenförmig auf und ab schwoll, als hätte sich im Nebenzimmer eine gewaltige Windbö gefangen. Das Rauschen ging in ein leises Säuseln über, und die Nacht versank wieder in absoluter Stille. Dann schlug ein Fensterrahmen: Isabel schloss das Fenster.

«Sie kennt keine Ruhe», dachte er, «der Hund, die Gitarre, eisiger Zugwind.»

Jetzt war alles still. Isabel hatte nun die Geräusche verscheucht, die in ihrem Zimmer ihr Spiel getrieben hatten, sicher hatte sie sich hingelegt und schlief.

«Zum Teufel! Ich verstehe überhaupt nichts. Nichts ist mir geblieben. Zum Teufel noch einmal!», stöhnte Kern und vergrub das Gesicht in seinem Kissen. Eine bleierne Müdigkeit presste ihm die Schläfen zusammen. In seinen Beinen war sehnsüchtige Schwere, unerträgliche Schauer liefen über seinen Körper. Lange quälte er sich noch in der Dunkelheit, warf sich schwer von einer Seite auf die andere. Die Strahlen an der Decke waren lange verloschen.

2

Am nächsten Tag erschien Isabel erst zum zweiten Frühstück.

Vom frühen Morgen an war der Himmel in blendendes Weiß getaucht, die Sonne glich dem Mond, dann fiel Schnee, langsam und senkrecht. Die dichten Flocken, wie Tupfen auf weißem Voile, verhängten den Blick auf die Berge, auf die schwer werdenden Tannen, das trübe Türkis der Eisbahn. Große und weiche Schneeflocken wirbelten gegen die Fensterscheiben, fielen, fielen ohne Ende. Wenn man ihnen lange zusah, wollte es einem scheinen, als ob das ganze Hotel langsam aufwärtsschwebte.

«Gestern war ich so müde», wandte sich Isabel an ihren Nachbarn, einen jungen Mann mit hoher, olivgrüner Stirn und spitzbogenförmigen Augen, «so schrecklich müde, dass ich einfach beschloss, länger im Bett zu bleiben.»

«Sie sehen heute überwältigend aus», sagte der junge Mann gedehnt mit exotischer Liebenswürdigkeit.

Sie blähte spöttisch die Nasenflügel.

Kern, der sie durch die Hyazinthen hindurch ansah, sagte kühl:

«Ich wusste gar nicht, Miss Isabel, dass Sie einen Hund im Zimmer haben und dazu noch eine Gitarre.»

Es schien ihm, als verengten sich ihre flauschigen Augen in einem Anflug von Verwirrung noch mehr. Dann setzte sie ein strahlendes Lächeln auf: Karmesin und Elfenbein.

«Sie haben gestern Abend bei der Musik wohl zu lange gefeiert, Mister Kern», gab sie zurück, und der olivgrüne Jüngling und das Männchen, für das es nur die Bibel und Billard gab, lachten, der eine klangvoll und laut, der andere ganz leise mit hochgezogenen Brauen.

Kern sah finster drein und sagte:

«Überhaupt möchte ich Sie darum bitten, nachts nicht zu spielen. Ich schlafe sehr schlecht.»

Isabels kurzer, strahlender Blick traf sein Gesicht wie ein Messerstich.

«Das können Sie Ihren Traumbildern sagen, aber nicht mir.»

Und sie begann mit ihrem Nachbarn ein Gespräch über das Skirennen, das am morgigen Tag stattfinden sollte.

Kern spürte schon seit einigen Minuten, dass sich seine Lippen krampfartig zu einem spöttischen Lächeln auseinanderzogen, welches er nicht zurückhalten konnte. Es zuckte quälend in seinen Mundwinkeln, und plötzlich hatte er den unwiderstehlichen Wunsch, die Tischdecke vom Tisch zu reißen und den Topf mit den Hyazinthen an die Wand zu werfen.

Er stand auf, versuchte, das unerträgliche Zittern zu verbergen, und ging, ohne jemanden anzusehen, aus dem Raum.

«Was ist nur mit mir los?», wandte er sich an seine Schwermut. «Was ist das nur?»

Er öffnete seinen Koffer mit einem Tritt und begann, seine Sachen einzupacken, als ihm auf einmal schwindlig wurde; er gab sein Vorhaben auf und lief wieder im Zimmer auf und ab. Wütend stopfte er seine kurze Pfeife. Setzte sich in den Sessel am Fenster; draußen schneite es mit widerwärtiger Gleichmäßigkeit.

Er war in dieses Hotel, in diesen eleganten und eiskalten Winkel von Zermatt gekommen, um die Wirkung der weißen Stille mit der Annehmlichkeit unkomplizierter und mannigfaltiger Bekanntschaften zu verbinden, denn völlige Einsamkeit fürchtete er mehr als alles andere. Aber jetzt begriff er, dass auch die Gesichter der Menschen ihm unerträglich waren, dass ihm vom Schnee der Kopf dröhnte und dass ihm jene beflügelnde innere Lebendigkeit und zarte Beharrlichkeit fehlten, ohne die Leidenschaft kraftlos ist. Für Isabel aber war das Leben sicher ein herrlicher Flug auf Skiern, ein ungestümes Lachen, Parfüm und Frost.

Wer war sie? Eine Diva, die sich aus einer Photographie befreit hatte? Oder die heimlich weggelaufene Tochter eines hochmütigen und bösartigen Lords? Oder einfach eine jener Pariser Frauen, deren Geld wer weiß woher kommt? Ein abgeschmackter Gedanke …

«Aber einen Hund hat sie, das braucht sie gar nicht abzustreiten: irgend so eine wohlgenährte Dogge. Mit kalter Nase und warmen Ohren. Und es schneit immer noch», dachte Kern zusammenhanglos. «Aber in meinem Koffer habe ich [es war, als entspannte sich klickend eine Feder in seinem Hirn] eine Parabellum.»

Wieder wanderte er bis zum Abend ziellos durch das Hotel, blätterte teilnahmslos in den Zeitungen im Lesesaal, sah aus dem Fenster des Vestibüls, wie Isabel, der Schwede und einige junge Leute in Sweatern, über denen sie Sportsakkos trugen, einen wie ein Schwan geschwungenen Schlitten bestiegen. Scheckige Pferdchen läuteten in ihrem festlichen Geschirr. Der Schnee fiel leise und dicht. Isabel, ganz mit weißen Schneekristallen bedeckt, saß laut rufend und lachend zwischen ihren Begleitern, und als der Schlitten sich in Bewegung setzte und davonstob, lehnte sie sich zurück, schlug die Hände zusammen und applaudierte mit ihren Pelzhandschuhen.

Kern wandte sich vom Fenster ab.

«Fahr nur, fahr nur … Mir ist es gleich …»

Später, während des Abendessens, war er bemüht, sie nicht anzusehen. Sie war in einer irgendwie festlichen und fröhlich-erregten Stimmung – und schenkte ihm keinerlei Beachtung. Um neun Uhr begann die Negermusik wieder dumpf zu hämmern und zu quarren. Kern stand fröstelnd vor Sehnsucht am Türpfosten und blickte auf die ineinander verschlungenen Paare und auf Isabels üppigen schwarzen Fächer.

Eine leise Stimme sagte direkt an seinem Ohr:

«Kommen Sie, gehen wir in die Bar. Ja?»

Er drehte sich um und erblickte die melancholischen Ziegenaugen, die Ohren mit dem rötlichen Flaum.

In der Bar herrschte rotes Halbdunkel, die Volants der Lampenschirme spiegelten sich in den Glastischen. An der metallisch glänzenden Theke saßen drei Herren mit untergeschlagenen Beinen – alle drei in weißen Gamaschen – auf hohen Barhockern und schlürften mit Strohhalmen grellbunte Getränke. Hinter der Theke, wo verschiedenfarbige Flaschen in den Regalen funkelten wie eine Sammlung dicker Käfer, mixte ein feister Mann in himbeerfarbenem Smoking und mit schwarzem Schnurrbart außerordentlich geschickt Cocktails. Kern und Monfiori wählten einen Tisch in der samtenen Tiefe der Bar. Der Ober klappte eine lange Getränkekarte auf, behutsam und andächtig wie ein Apotheker, der ein wertvolles Buch zeigt.

«Wir werden der Reihe nach von jedem ein Glas trinken», sagte ihm Monfiori mit seiner traurigen, kaum vernehmbaren Stimme, «und wenn wir durch sind, fangen wir wieder von vorne an. Wir werden dann nur das nehmen, was uns geschmeckt hat. Vielleicht bleiben wir bei einem Getränk und lassen es uns eine Zeitlang schmecken. Dann beginnen wir wieder von vorne.»

Er blickte den Ober versonnen an:

«Haben Sie verstanden?»

Der Ober beugte seinen Scheitel.

«Das ist eine sogenannte Bacchusreise», wandte Monfiori sich mit einem wehmütigen Lächeln an Kern. «Einige Menschen gehen auch im Leben so vor.»

Kern unterdrückte ein fröstelndes Gähnen.

«Dies hier endet mit Erbrechen.»

Monfiori seufzte. Trank aus. Schnalzte mit der Zunge. Machte mit einem Drehbleistift ein Kreuzchen hinter der ersten Nummer auf der Karte. Von seinen Nasenflügeln liefen zwei tiefe Furchen zu den Winkeln seines schmalen Mundes.

Nach dem dritten Glas steckte sich Kern schweigend eine Zigarette an. Nach dem sechsten – irgendeine widerliche Mischung aus Schokolade und Champagner war an der Reihe – verspürte er das Bedürfnis zu sprechen.

Er stieß einen Rauchtrichter aus, kniff die Augen zusammen und schnippte dann mit seinem gelben Fingernagel die Asche ab.

«Sagen Sie, Monfiori, was halten Sie von dieser, wie heißt sie doch noch – Isabel?»

«Sie werden nichts bei ihr erreichen», sagte Monfiori. «Sie gehört zur Gattung der Glatthäuter. Sie sucht nur flüchtige Beziehungen.»

«Aber sie spielt nachts Gitarre, hat einen Hund bei sich. Das ist abscheulich, nicht wahr?», sagte Kern, die Augen starr auf sein Glas gerichtet.

Monfiori seufzte wieder:

«Lassen Sie sie in Ruhe. Gewiss …»

«Das ist ja wohl der pure Neid, der …», begann Kern von neuem.

Der andere unterbrach ihn ruhig:

«Sie ist eine Frau. Ich aber habe, wissen Sie, andere Neigungen.»

Er hüstelte bescheiden. Bekreuzigte sich.

Die rubinroten Getränke wurden von goldfarbenen abgelöst. Kern hatte das Gefühl, dass sein Blut süß wurde. Sein Kopf vernebelte sich. Die weißen Gamaschen verließen die Bar. Verstummt waren die Wirbel und die Melodien der fernen Musik.

«Sie sagen, dass man wählen muss …», sagte er dumpf und träge, «aber ich bin an einem Punkt angelangt … Hören Sie, ich hatte eine Frau. Sie liebte einen anderen. Der erwies sich als Dieb. Er stahl Autos, Schmuck, Pelze … Und sie hat sich vergiftet. Mit Strychnin.»

«Sie glauben doch an Gott?», fragte Monfiori mit dem Ausdruck eines Menschen, der auf sein Steckenpferd zu sprechen kommt. «Denn es gibt Gott.»

Kern lachte gezwungen.

«Der Gott der Bibel, ein gasförmiges Wirbeltier … Nein, an den glaube ich nicht.»

«Das stammt von Huxley», bemerkte Monfiori sanft. «Aber es gab den biblischen Gott … Die Sache ist die, dass Er nicht der einzige ist. Es sind ihrer viele, der biblischen Götter … Eine ganze Schar … Von ihnen ist mir der liebste … ‹Sein Niesen glänzt wie ein Licht. Seine Augen sind wie die Wimpern der Morgenröte.› Verstehen Sie, können Sie verstehen, was das bedeutet? Ja? Und weiter: ‹… Die Gliedmaßen seines Fleisches hangen aneinander und halten hart an ihm, dass er nicht zerfallen kann.› Wie? Was? Begreifen Sie das?»

«Hören Sie auf», schrie Kern.

«Nein, versuchen Sie doch zu begreifen. ‹Er macht, dass der tiefe See siedet wie ein Topf und rührt ihn ineinander, wie man eine Salbe mengt. Nach ihm leuchtet der Weg, er macht die Tiefe ganz grau.›»

«Hören Sie endlich auf», unterbrach ihn Kern. «Ich wollte Ihnen sagen, dass ich beschlossen habe, meinem Leben ein Ende zu machen …»

Monfiori sah ihn trübe und aufmerksam an, während er mit der Handfläche sein Glas zudeckte. Er schwieg.

«Ich dachte es mir», begann er unerwartet sanft. «Heute, als Sie auf die Tanzenden blickten, und vorher, als Sie vom Tisch aufstanden … Da war etwas in Ihrem Gesicht … Eine Furche zwischen den Brauen … Eine von besonderer Art … Ich habe es sofort verstanden …»

Er verstummte, strich mit der Hand über den Rand des Tisches. «Hören Sie, was ich Ihnen sage», fuhr er fort, und seine schweren, violetten Lider versanken in den Furchen seiner Wimpern. «Ich suche überall nach Menschen wie Sie – in teuren Hotels, in Zügen, in Seebädern am Meer –, nachts auf den Uferstraßen der Großstädte.»

Ein kleines, träumerisches Lächeln glitt über seine Lippen.

«Ich weiß noch, einmal in Florenz …»

Er hob langsam seine Ziegenaugen.

«Hören Sie, Kern – ich möchte dabei sein … Darf ich?»

Kern saß starr mit gebeugtem Rücken und spürte unter dem gestärkten Hemd Kälte in der Brust.

«Wir sind beide betrunken», ging es ihm durch den Kopf. Er ist ein Ungeheuer.

«Darf ich?», wiederholte Monfiori mit spitzen Lippen. «Ich bitte Sie sehr.»

Er berührte ihn mit seiner kalten, behaarten Hand …

Kern zuckte zusammen und stand, heftig schwankend, vom Stuhl auf.

«Zum Teufel! Lassen Sie mich in Ruhe … Es war nur ein Scherz …»

Monfiori sah ihn immer noch aufmerksam an, sog sich mit seinen Blicken an ihm fest.

«Ich habe Sie satt! Alles habe ich satt!» Kern riss sich los und schlug die Hände zusammen – und Monfioris Blick löste sich abrupt, wie mit einem Schmatzen.

«Grillen! Puppentheater! … Ein Spiel mit Worten! … Genug davon! …»

Er stieß sich schmerzhaft die Rippen an der Tischkante. Der himbeerfarbene Dicke hinter seiner schlingernden Theke glotzte ihn an, schwamm wie in einem Hohlspiegel inmitten seiner Flaschen. Kern schritt über die wankenden Wellen des Teppichs, stieß mit der Schulter gegen die schwingende Glastür.

Das Hotel lag in tonlosem Schlaf. Als er sich mit Mühe die weiche Treppe hinaufgeschleppt hatte, suchte er sein Zimmer. In der Tür nebenan steckte der Schlüssel. Jemand hatte vergessen abzuschließen. Im trüben Licht schlängelten sich die Blumen im Korridor. In seinem Zimmer suchte er lange nach dem Lichtschalter an der Wand. Dann fiel er in den Sessel am Fenster.

Er dachte daran, dass er gewisse Briefe schreiben müsse. Abschiedsbriefe. Aber der zähe und klebrige Rausch hatte ihn geschwächt. In seinen Ohren war ein dumpfes Sausen, über seine Stirn strichen eisige Wellen. Er musste den Brief schreiben – und noch etwas ließ ihm keine Ruhe. So als ob er aus dem Haus gegangen wäre und seine Brieftasche vergessen hätte. Das spiegelnde Schwarz des Fensters reflektierte einen Streifen seines Kragens und seine blasse Stirn. Mit trunkenen Tropfen hatte er vorn sein Hemd besudelt. Er musste den Brief schreiben, nein, das war es nicht. Und plötzlich tauchte etwas vor seinem inneren Auge auf. Der Schlüssel! Es war der Schlüssel, der in der Tür des Nebenzimmers steckte … Kern erhob sich mühsam und trat in den matt erleuchteten Korridor hinaus. An dem riesigen Schlüssel hing ein blinkendes Schildchen mit der Zahl 35. Er blieb vor dieser weißen Tür stehen. Ein begehrliches Zittern lief durch seine Beine.

Ein eisiger Wind schlug ihm entgegen. In dem geräumigen, erleuchteten Schlafzimmer stand das Fenster weit offen. Auf dem breiten Bett lag rücklings in einem gelben, offenen Pyjama Isabel. Ihre helle Hand hing herunter, zwischen den Fingern glomm eine Zigarette. Der Schlaf hatte sie offensichtlich unversehens übermannt.

Kern setzte sich an ihr Bett. Er stieß mit dem Knie an den Stuhl, auf dem die Gitarre ganz leise zu klingen begann. Isabels blauschwarze Haare ringelten sich auf dem Kopfkissen. Er betrachtete ihre dunklen Lider, den zarten Schatten zwischen ihren Brüsten. Er berührte die Bettdecke. Sie schlug augenblicklich die Augen auf. Da sagte Kern und beugte sich leicht zu ihr hinunter:

«Ich brauche Ihre Liebe. Morgen erschieße ich mich.»

Er hätte sich nie träumen lassen, dass sich eine Frau – auch wenn sie überrumpelt wird – so erschrecken kann. Isabel erstarrte zunächst, wandte sich um, warf einen Blick auf das offene Fenster, glitt blitzschnell vom Bett herunter und an Kern vorbei – mit gesenktem Kopf, als erwarte sie einen Schlag von oben.

Die Tür schlug zu. Briefpapier flatterte vom Tisch.

Kern blieb inmitten des geräumigen und hellen Zimmers stehen. Auf dem Nachttisch schimmerten violett und golden Weintrauben.

«Sie ist verrückt», sagte er laut.

Er zuckte schwerfällig die Schultern. Von der Kälte überkam ihn ein anhaltendes Zittern, wie bei einem Pferde. Und plötzlich erstarrte er.

Draußen wuchs, flog, näherte sich erregt und stoßweise ein rasches und freudiges Bellen. Einen Augenblick später füllte und belebte sich die Fensterhöhle, das Quadrat aus schwarzer Nacht, mit dichtem, wogendem Fell. Mit einem weit ausholenden und geräuschvollen Schwung verdeckte dieser schlaffe Pelz den Nachthimmel von Rahmen zu Rahmen. Ein weiterer Augenblick, und er blähte sich angestrengt auf, stürmte schief herein, breitete sich aus. In dem pfeifenden Schwingen des wogenden Pelzes blitzte ein weißes Antlitz auf. Kern ergriff den Hals der Gitarre und schlug mit aller Kraft in dieses weiße Antlitz, das auf ihn zuflog. Die Rippe eines gewaltigen Flügels, ein flauschiger Sturm riss ihn zu Boden. Raubtiergeruch hüllte ihn ein. Kern riss sich los und stand auf.

In der Mitte des Zimmers lag ein riesiger Engel.

Er füllte das ganze Zimmer, das ganze Hotel, die ganze Welt. Der rechte Flügel war gekrümmt und stützte sich mit einer Ecke gegen den Spiegelschrank. Der linke schwang hilflos in der Luft und verfing sich in den Beinen des umgekippten Stuhles. Der Stuhl polterte vor und zurück über den Boden. Das braune Fell auf den Flügeln dampfte, schimmerte wie Raureif. Betäubt von dem Schlag stützte sich der Engel auf die Hände wie eine Sphinx. Auf den weißen Händen traten blaue Adern hervor, auf den Schultern hatte er an den Schlüsselbeinen dunkle Gruben. Die Augen länglich – gleichsam kurzsichtig –, blassgrün, wie die Luft vor Tagesanbruch, blickten Kern unter den geraden, zusammengewachsenen Brauen hervor ohne Blinzeln an. Kern, dem der scharfe Geruch des feuchten Pelzes fast den Atem nahm, stand unbeweglich, mit der Ruhe äußerster Angst, und betrachtete die gigantischen dampfenden Flügel und das weiße Antlitz.

Draußen auf dem Korridor erhob sich dumpfer Lärm. Da überwältigte Kern ein anderes Gefühl: beklemmende Scham.

Er spürte diese Scham schmerzhaft bis zum Entsetzen, dass jetzt jemand hereinkommen könnte und ihn und dieses unglaubliche Wesen hier fände.

Der Engel atmete geräuschvoll, machte eine Bewegung. Seine Arme erschlafften. Er fiel auf die Brust und schlug leicht mit einem Flügel. Kern beugte sich über ihn, mit knirschenden Zähnen und bemüht, nicht hinzusehen, und umfasste eine Wölbung feuchten, stinkenden Fells, die kalten, glitschigen Schultern. Mit unerträglichem Widerwillen bemerkte er, dass die Beine des Engels blass waren und ohne Knochen, sodass er auf ihnen nicht stehen konnte. Der Engel leistete keinen Widerstand. Kern zog ihn eilig zum Schrank, öffnete die Spiegeltür und mühte sich, die Flügel in die knarrende Tiefe zu stoßen und zu quetschen. Er fasste sie an den Rippen, versuchte sie zu biegen und zusammenzupressen. Die Falten im Fell, die in Bewegung geraten waren, schlugen ihm gegen die Brust. Schließlich stieß er mit einem kräftigen Druck die Tür auf. Im selben Augenblick erhob sich drinnen ein durchdringender und unerträglicher Jammerschrei – der Jammerschrei eines Raubtieres, das von einem Rad überrollt wird. O weh, er hatte ihm einen Flügel eingeklemmt. Ein Ende des Flügels ragte aus dem Türspalt. Kern öffnete die Tür ein wenig und schob den krausen Teil mit der Handfläche hinein. Er drehte den Schlüssel im Schloss.

Es wurde sehr still. Kern spürte, wie ihm heiße Tränen über das Gesicht liefen. Er seufzte auf und stürzte in den Korridor. Isabel, ein gekrümmtes Häuflein schwarzer Seide, lag an der Wand. Er hob sie auf, trug sie in sein Zimmer und legte sie aufs Bett. Dann nahm er die schwere Parabellum aus dem Koffer, legte das Magazin ein und stürzte, ohne Atem zu holen, zurück ins Zimmer 35.

Die beiden Hälften eines zerbrochenen Tellers schimmerten weiß auf dem Teppich. Die Weintrauben lagen verstreut herum.

Kern sah sich in der Spiegeltür des Schrankes: eine Haarsträhne, die ihm ins Gesicht gefallen war, ein gestärkter Hemdausschnitt mit roten Spritzern, der längliche Schein an der Mündung der Pistole.

«Man muss ihm den Garaus machen», rief er dumpf und öffnete den Schrank.

Nur ein Büschel stinkenden Flaums. Braune, fettige Flocken wirbelten durch das Zimmer. Der Schrank war leer. Unten leuchtete weiß ein zerdrückter Hutkarton.

Kern ging zum Fenster, blickte hinaus. Zottige, kleine Wolken schwebten auf den Mond zu und strahlten in seiner Nähe in matten Regenbogenfarben. Er schloss das Fenster, stellte den Stuhl an seinen Platz, schob die brauen Flaumflocken unter das Bett. Dann trat er vorsichtig auf den Korridor. Es war immer noch still. Die Menschen schlafen fest in Berghotels.

Aber als er in sein Zimmer zurückkam, sah er, wie Isabel, deren nackte Beine aus dem Bett hingen, zitterte und sich den Kopf hielt. Er schämte sich, wie vorher, als der Engel ihn mit seinen seltsamen, grünlichen Augen angeblickt hatte.

«Sagen Sie mir … wo ist er?» Isabel atmete schnell.

Kern wandte sich ab, ging zu seinem Schreibtisch, setzte sich, öffnete die Schreibmappe und gab zur Antwort:

«Weiß ich nicht.»

Isabel zog die bloßen Füße aufs Bett.

«Kann ich bei Ihnen bleiben … vorerst? Ich habe solche Angst …»

Kern nickte schweigend. Er versuchte, das Zittern in seiner Hand zu unterdrücken, und schickte sich an zu schreiben. Isabel begann wieder zu sprechen – erregt und tonlos –, aber aus irgendeinem Grund erschien ihm ihr Erschrecken echt weiblich und natürlich.

«Ich habe ihn gestern getroffen, als ich im Dunkeln Ski gefahren bin. Er war in der Nacht bei mir.»

Kern, bemüht, ihr nicht zuzuhören, schrieb in schwungvoller Handschrift:

«Mein lieber Freund. Dies ist mein letzter Brief. Ich habe nie vergessen, wie Du mir geholfen hast, als das Unglück über mich hereinbrach. Er lebt sicherlich auf einem Gipfel, wo er Bergadler fängt und sich von ihrem Fleisch ernährt …»

Plötzlich besann er sich, strich alles durch und nahm ein neues Blatt Papier. Isabel schluchzte, das Gesicht in das Kopfkissen vergraben.

«Was soll ich jetzt tun? … Er wird sich an mir rächen … Oh, mein Gott …»

«Mein lieber Freund», schrieb Kern schnell, «sie hat unvergessliche Beziehungen gesucht, und jetzt wird sie ein geflügeltes Untier zur Welt bringen … Ach … zum Teufel!»

Er zerknüllte das Blatt.

«Versuchen Sie einzuschlafen», sagte er über die Schulter zu Isabel, «und morgen fahren Sie ab. Ins Kloster.»

Ihre Schultern hoben und senkten sich schnell. Dann wurde sie still.

Kern schrieb. Vor sich hatte er die lächelnden Augen des einzigen Menschen auf der Welt, mit dem er frei reden und schweigen konnte. Er schrieb ihm, dass sein Leben vorbei sei, dass er seit kurzem das Gefühl habe, statt der Zukunft bewege sich eine schwarze Wand auf ihn zu, und dass gerade jetzt etwas geschehen sei, wonach ein Mensch nicht mehr leben könne und dürfe. «Morgen Mittag werde ich sterben», schrieb Kern, «morgen, weil ich im Vollgefühl meiner Kräfte und bei nüchternem Tageslicht sterben will. Jetzt bin ich zu sehr erschüttert.»

Als er fertig war, setzte er sich in den Sessel am Fenster. Isabel schlief und atmete kaum hörbar. Eine lastende Müdigkeit umfing seine Schultern. Der Schlaf senkte sich wie ein sanfter Nebel auf ihn herab.

3

Er erwachte von dem Klopfen an der Tür. Frostiges Azurblau strömte durch das Fenster.

«Herein», sagte er und streckte sich.

Der Kellner stellte lautlos das Tablett mit einer Tasse Tee auf den Tisch, verbeugte sich und ging hinaus.

Kern lachte vor sich hin: «Und ich bin noch im zerdrückten Smoking.»

Im selben Moment fiel ihm ein, was in der Nacht passiert war. Er fuhr hoch und warf einen Blick auf das Bett. Isabel war nicht da. Sicher war sie gegen Morgen in ihr Zimmer gegangen. Und jetzt ist sie natürlich abgereist … Braune, schlaffe Flügel tauchten für einen Moment vor ihm auf. Er stand schnell auf und öffnete die Tür zum Korridor.

«Warten Sie», rief er dem sich entfernenden Rücken des Kellners nach, «nehmen Sie bitte den Brief mit.»

Er ging zum Tisch, suchte. Der Kellner wartete an der Tür. Kern klopfte alle Taschen ab, sah unter dem Sessel nach.

«Sie können gehen. Ich werde ihn später dem Portier geben.»

Der Scheitel machte eine Verbeugung, und leise schloss sich die Tür.

Kern war ärgerlich, dass der Brief nicht zu finden war. Gerade dieser Brief. In ihm hatte er so treffend, so flüssig und einfach alles das gesagt, was nötig war. Aber jetzt konnte er sich nicht mehr an den Wortlaut erinnern. Es kamen ihm nur unsinnige Phrasen in den Sinn. Nein, der Brief war großartig gewesen.

Er setzte sich hin, um einen neuen zu schreiben, aber was dabei herauskam, war kalt und schwülstig. Er siegelte ihn. Schrieb deutlich die Adresse drauf.

Ihm wurde merkwürdig leicht ums Herz. Heute Mittag würde er sich erschießen, denn der Mensch, der sich zum Selbstmord entschlossen hat, ist ja selbst ein Gott.

Der zuckerartige Schnee leuchtete ins Fenster. Es zog ihn dorthin, zum letzten Mal.

Die Schatten der bereiften Bäume lagen auf dem Schnee wie bläuliche Federn. Von irgendwoher ertönte süßes Schellengeläute. Menschen waren in hellen Scharen unterwegs: junge Mädchen in Wollmützen,