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Gefangen im ewigen Eis.
Mehr als vierzig Meter unter grönländischem Eis liegt die ehemalige US-Station Camp Century begraben. Hier sind große Mengen kontaminiertes Material und Diesel aus der Zeit des Kalten Krieges eingeschlossen – eine tickende Zeitbombe angesichts der abtauenden Eismassen. Als ausgerechnet hier eine Forschungsexpedition spurlos verschwindet, begibt sich Sonderermittler John Kaunak auf die Suche. Mit seinem Team arbeitet er sich tief in die weiße Wüste vor, wo er feststellen muss, dass die Station alles andere als verlassen ist. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
Ein brisanter Thriller am Puls der Zeit – John Kaunaks zweiter Fall
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Seitenzahl: 383
Veröffentlichungsjahr: 2025
Als in der Nähe der ehemaligen US-Station Camp Century in Grönland eine Forschungsexpedition spurlos verschwindet, wird Sonderermittler John Kaunak mit einem Spezialteam losgeschickt. Die Wissenschaftler sollten Messungen zum Abtauen des Eises rund um die Station vornehmen, denn hier liegen tonnenweise kontaminiertes Material und Dieselmengen aus dem Kalten Krieg begraben, und die Gefahr einer ökologischen Katastrophe wächst. Doch was als Suche nach einem vermissten Wissenschaftsteam beginnt, führt Kaunak tief ins Eis – und zu einer Entdeckung, die nie für die Öffentlichkeit bestimmt war: Die Station ist nicht so verlassen, wie sie scheint, und um dieses Geheimnis zu schützen, ist jemand bereit, über Leichen zu gehen. Während NCIS und CIA auf den Plan gerufen werden, läuft John und seinem Team die Zeit davon. Denn der Feind ist tödlich nah.
Roland Muller ist Texter und Kreativdirektor. Bereits während seines Ethnologie-Studiums in Göttingen und Mainz faszinierten ihn die Arktis und ihre Bewohner, und als er später in Frankfurt eine Werbekarriere startete, fand er Gelegenheit zu ausgedehnten Reisen an den Polarkreis, nach Dänemark, Kanada und in die USA. Bis heute lässt ihn das »Arktis-Virus«, wie er es nennt, nicht los. Muller ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und mehreren Sibirischen Katzen in Hofheim am Taunus.Im Aufbau Taschenbuch ist bereits sein Thriller »Eisrausch« lieferbar, der 2025 für den Glauser-Preis nominiert wurde.
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Roland Muller
Eisfalle
Thriller
Cover
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
NACHWORT
DANKSAGUNG
Impressum
Schwärze. Stille. Eiseskälte. Böen wirbelten den frisch gefallenen Schnee auf. Das Schleifen der Kufen auf dem gefrorenen Boden sang ein Lied von Leid und Tod inmitten einer lebensfeindlichen Umgebung. Das Gespann kämpfte sich mühsam durch den unberührten Schnee. Immer wieder sanken die Hunde bis zum Bauch ein, kämpften sich verbissen wieder heraus. Einmal kamen sie in der Dämmerung vom Weg ab und blieben im weichen Schnee stecken.
Das Inlandeis kannte keine Gnade. Es kauerte einfach da, wie eine Kappe auf dem felsigen Hohlspiegel Grönlands. Es fraß alles Lebendige, schmirgelte in Eisstürmen die Haut von den Knochen, fror ein, was übrig blieb, bedeckte es mit Schneewehen. Menschen, ja, Menschen waren wahnsinnig genug, sich hinauszuwagen, ihr Schicksal herauszufordern. In ihrem Wahn verließen sich die Zweibeiner auf ihre Ausrüstung, missachteten die Natur. Dem Eis war es gleich. Es verlangte keine Demut. Es existierte einfach. Es wartete, bis die Kräfte schwanden, bis die Sinne erlahmten. Es öffnete Schluchten und Risse, baute ganze Labyrinthe, in denen Menschen, Tiere, Material verschwanden, als hätte es sie nie gegeben. Überlebte es einer und fand zurück, nannte man ihn Qivittoq. Verschlang ihn das Eis, blieb er namenlos.
Das Gespann kämpfte ums nackte Überleben, wie schon seit Tagen, seit sie den Schlittenanker losgerissen hatten. Neun Hunde in der dritten Reihe, vier in der zweiten. Mit Arnaq, der Leithündin, an der Spitze, arbeiteten sie sich zurück auf die Fährte, die sie auf dem Hinweg hinterlassen hatten. Die Duftspur von Kot und Urin, die das Gespann beim Aufstieg auf den Eisschild gelegt hatte, stieg Arnaq in die Nase. Klar und deutlich wie ein Leuchtfeuer. Genauer als jede Navigationselektronik.
Sie spürte es, trieb das Gespann weiter, gegen alle Erschöpfung. Das Ziel war nahe. Rauchgeruch stieg ihr in die Nase. Der Rauch einer Ansiedlung. Ihre Pfoten waren wund und aufgescheuert, Raureif puderte ihr Fell, zottig und struppig wie das ihrer Rudelgenossen. Jeder Atemzug, den die Hunde ausstießen, fiel sofort als Wolke von Frostkristallen wieder herab. Noch eine letzte Anstrengung, dann waren sie am Ziel. Mit letzter Kraft stürzten sie den Hügel hinunter, der fernen Kette von Lichtpunkten entgegen. Der Schlitten tanzte hinter ihnen über den Hang wie ein Boot in der Brandung des Fjords.
Da: Qaanaaq lag vor ihnen. Ein paar Dutzend Häuser, verstreut in einer langen Senke. In der Dämmerung nur an dem wenigen Licht zu erkennen, das aus den Fenstern sickerte. Sie hatten es geschafft. Sie waren wieder am Ausgangspunkt ihrer Reise angelangt.
Als das Gespann, gezogen von vierzehn erschöpften Grönlandhunden, die ersten Häuser am Ortsrand passierte, blieb das nicht unbemerkt. Türen öffneten sich, Einheimische traten heraus und wunderten sich. Die am Ortsrand angebundenen Schlittenhunde begrüßten die Ankömmlinge mit freudigem Geheul. Arnaq antwortete. Das Gespann kam langsam zum Stehen, die Hunde warfen sich hin, hechelten. Jemand bewegte sich auf sie zu. Ein Inuk. Er warf den Hunden ein, zwei Brocken Robbenfleisch und einige Heilbutte hin. Gierig stürzten sie sich darauf, Arnaq voran.
Während die Hunde das Futter herunterschlangen, umringten die Einheimischen ratlos den Schlitten. Der Schlitten war leer. Das Gespann war ohne Schlittenführer und Passagiere zurückgekehrt.
John Kaunak stand am Fenster, die Schultern leicht vornübergebeugt. Seit er und sein Team die Büros im Nuuk-Center bezogen hatten, fühlte er sich unwohl. Gewiss, die neu gegründete Abteilung, deren Leitung man ihm angetragen hatte, bot Perspektiven. Die ungelenke bürokratische Bezeichnung Specialafdeling for forsvar mod miljøfarer – Spezialabteilung zur Abwehr von Umweltgefahren – hatte er zu einem handlichen SPEC‑M abgekürzt. Aber: Sie waren gerade einmal fünf Leute. Zu wenig für die großspurige Bezeichnung Spezialabteilung. Zumal sie sich in einer rechtlichen Grauzone bewegten. Unabhängig von der Polizei, direkt der Innenministerin unterstellt und nicht, wie man hätte erwarten können, dem Umweltministerium. Am ehesten zu vergleichen mit einem Inlandsgeheimdienst. Den wiederum durfte es auf Grönland gar nicht geben, oblagen solche hoheitlichen Aufgaben doch nach wie vor der dänischen Krone. Und die Bezahlung? Na ja … John wiegte den Kopf. War es richtig gewesen, dem Kvanefjeld-Tagebau den Rücken zu kehren? Das Gehalt, das ihm die Minengesellschaft für seine Dienste als Sicherheitschef gezahlt hatte, war, gelinde gesagt, opulent gewesen.
»Wieder am Grübeln, John?«
Der heitere Sopran von Silpa Skov Jørgensen, gefolgt von einem glucksenden Lachen, riss ihn aus seinen Betrachtungen.
»Gibt ja sonst nicht viel zu tun«, antwortete er, ohne sich umzudrehen.
»Ich dachte, du bist ein Stadtmensch, da müsste es dir in Nuuk doch gefallen.«
»Klar, ist ja eine echte Metropole.«
»Immerhin fast zwanzigtausend Einwohner, jeder dritte Grönländer lebt hier in der Hauptstadt …«
»Sag ich doch.«
»Und wir residieren im größten und höchsten Gebäude des Landes, das ist doch fast wie bei dir zu Hause in Aarhus.« Silpa stellte sich neben ihn und starrte hinaus ins Schneetreiben.
»Ich bin jetzt hier zu Hause, und ich beklage mich weiß Gott nicht darüber«, sagte John.
»Klingt aber so.«
John seufzte und wandte sich seiner Kollegin zu. »Alles gut. Sogar meine Wohnung unten am Hafen. Aber ich hasse dieses Nichtstun, das Warten darauf, dass etwas passiert. Dann stehe ich hier, schaue raus und weiß, dass doch etwas geschieht: Meine neue Heimat erwärmt sich drei- bis viermal so schnell wie der Rest der Welt. Während jeden verdammten Tag Touristen hier einfallen, die Wunder der Arktis bestaunen, die paar verbliebenen Eisbären fotografieren und wieder verschwinden. Nur um zu Hause, wo immer das sein mag, von der Weite, dem Meer, dem Eis zu schwärmen. Das macht mich einfach mürbe …«
»Ach was. Ich glaube, du bist nur sauer, weil sie uns nach dem spektakulären Einsatz im Kvanefjeld einen Maulkorb verpasst haben.«
»Mag sein …«
»Oder liegt es daran, dass die Chinesen so billig davongekommen sind?«
John knurrte etwas Unverständliches in den längst zum Rasieren anstehenden Bart. Er starrte durch die bodentiefe Scheibe an der verspiegelten Fassade des Nuuk-Centers entlang, das zugleich Regierungsgebäude war. Und weiter hinaus über die Landzunge ins Herbstgrau des Fjords. Davor ein paar versprengte Wohnhäuser in den üblichen Ochsenblutrot-, Gelb- und Blautönen, eine Holzkirche, eingeschneite Autos …
»Hast du schon etwas von Aka gehört? Sie wollte doch herkommen, oder?« Silpa blinzelte ihm über den Rand des Kaffeebechers zu.
»Am Wochenende, ja.« Der Hauch eines Lächelns wanderte über Johns Gesicht und ließ sich in seinen Augen nieder. »Die hiesige Sozialstation hat ihr einen Job angeboten. Wenn das klappt, will sie zu mir ziehen. Dann können wir endlich mehr Zeit miteinander verbringen.«
»Und was hältst du von den Neuen, Astrid, Nuka und Stig?« Silpa, die Plaudertasche, ließ nicht locker.
»Unsere Isländerin Astrid? Die ist okay. An der hiesigen Uni sagen sie, dass sie eine Topumweltchemikerin sei. Und von Humanmedizin hat sie auch Ahnung.«
»Und Nuka?«
»Weiß nicht. Er redet nicht viel. Aber er war der Einzige, der sich auf unsere Anfrage nach einem IT‑Spezialisten gemeldet hatte.«
»Merkwürdig.«
»Schon. Ich habe mich mal in Kopenhagen umgehört, er ist von der Universität geflogen …«
»Warum das?«
»Hatte wohl in einem ziemlich spektakulären Hack einen Regierungsserver lahmgelegt.« John verzog die Mundwinkel zur Andeutung eines Grinsens. »Handwerklich scheint er also ziemlich begabt zu sein.«
»Genau das, was wir brauchen.« Silpa nickte bedächtig.
»Mal sehen. Bei diesem Stig hingegen habe ich noch meine Zweifel …«
»Wieso? Nur weil er eine Spaßbremse ist und ähnlich verschlossen wie du?«
»Ich bin doch nicht …«
Die ersten Takte der grönländischen Nationalhymne Nuna asiilasooq unterbrachen das Gespräch.
»Ein Video-Call«, sagte Silpa, »ich gehe dran …« Sie eilte zu ihrem Schreibtisch, um das Gespräch anzunehmen. Der Wandmonitor aktivierte sich, das Gesicht der Innenministerin erschien. Silpa winkte John herbei. »Ich glaube, das ist für dich!«
»Gut, dass ich dich antreffe, John. Ich hoffe, du hast dich gut eingelebt?«
»Bestens, Frau Ministerin, danke der Nachfrage«, sagte John. »Was können wir für Sie tun?« Es fiel ihm immer noch schwer, die Ministerin zu duzen, wie es den hiesigen Gepflogenheiten entsprach.
»Es ist vielleicht nur eine Kleinigkeit, aber ich denke, ihr solltet euch darum kümmern: Wir haben den Kontakt zu einem Team von Wissenschaftlern verloren, die Klimadaten im Nordwesten der Insel sammeln. Gestern ist ein Schlittenhundgespann der Expedition nach Qaanaaq zurückgekehrt, dem Ausgangspunkt.« Die Ministerin schob eine Kunstpause ein. »Der Schlitten war leer!«
»Mit leer meinen Sie kein Schlittenführer und keine Passagiere?«
»Genau. Nur die Hunde und der Schlitten.«
»Mit wie vielen Gespannen waren die Wissenschaftler denn aufgebrochen? Und warum sind sie nicht einfach geflogen?«
»Die Wetterbedingungen ließen keine Flüge zu. Und die Daten der automatischen Messstationen hatten ein beunruhigendes Ansteigen der Temperaturwerte angezeigt. Das sechsköpfige Team wollte schnellstmöglich vor Ort überprüfen, wodurch der Anstieg ausgelöst worden ist. Frag mich bitte nicht nach Details. Ich bin keine Wissenschaftlerin.« Die Innenministerin runzelte die Stirn. »Soweit ich weiß, bestand die Expedition aus einem ortskundigen Führer mit besagtem Schlittenhundgespann und drei Motorschlitten mit den Wissenschaftlern und ihrer Ausrüstung.«
»Sie hatten doch sicher Satellitentelefone dabei?«
»Ja, natürlich. Wir bekommen aber keine Verbindung zustande.«
»Okay. Schicken Sie uns alle Daten zu dieser Expedition auf den Server. Wir werden uns morgen früh auf den Weg nach Qaanaaq machen.«
Die Miene der Ministerin entspannte sich. »Wie gesagt, vielleicht handelt es sich nur um eine Kleinigkeit, aber seit der Sache im Kvanefjeld bin ich, ehrlich gesagt, etwas nervös.« Sie stockte kurz. »Ach ja, John, noch eine Bitte: Ich schicke meine Assistentin vorbei, Mette Broberg. Sie wird euch begleiten.«
»Muss das sein?«
»John!«
»Wenn Sie darauf bestehen, Frau Ministerin …«
John verabschiedete sich mit einer fahrigen Geste und beendete die Verbindung.
»Ein Gespann, das ohne seinen Schlittenführer zurückkehrt?« John schüttelte den Kopf. »Das klingt wie in einem schlechten Film.« Er wandte sich an Silpa. »Ruf die anderen her, sie sitzen, glaube ich, unten im Pascucci Corner und drücken sich vor der Arbeit. Briefing in fünfzehn Minuten – und sie sollen mir einen Caffé Latte mitbringen!«
Statt der Viertelstunde verging fast eine halbe, bis das Team endlich im Konferenzraum Platz genommen hatte. John kniff die Augen zusammen. Seine Laune war abgekühlt wie der Milchkaffee, um den er gebeten hatte und der jetzt vor ihm stand. Immerhin. Er lehnte sich zurück, ließ den Blick in die Runde schweifen. Silpa Skov Jørgensen, seine Assistentin, so schnippisch wie redselig; Nuka Rasmussen, der junge ITler mit einer dubiosen Hacker-Vita; Astrid Jónsdottir, die isländische Umweltchemikerin und Ökotoxikologin, die wie ein Robbenbaby in die Welt schaute und ähnlich gesprächig war wie Silpa; Stig-Daniel Steensgård, Dauerleihgabe und Verbindungsmann des dänischen Inlandsnachrichtendienstes PET, von dem John kaum mehr kannte als Name und Dienstgrad.
Wir fünf Leute sollen Grönlands Umwelt vor Gefahren und Anschlägen schützen? Ernsthaft? Fünf Menschen für mehr als zwei Millionen Quadratkilometer Eis, Schnee und Felsen, umgeben von einem schmalen, gerade eben so bewohnbaren Streifen Küste? Wieso hatte er sich auf diesen Wahnsinn eingelassen?
John schob die rhetorische Frage beiseite. Es war müßig, einmal getroffene Entscheidungen im Nachhinein in Zweifel zu ziehen. Immerhin lagen die Infos der Ministerin mittlerweile vor. Sie hatte umgehend alles hochgeladen, was sie über die verschollene Expedition wusste. Diese Schnelligkeit schätzte John am meisten an der grönländischen Hauptstadt. In seinem früheren Leben in Aarhus hingegen … Nein, daran mochte er jetzt nicht denken. Er klappte den Laptop auf und fuhr den Beamer hoch.
»Hat einer von euch schon mal von GEUS gehört, der Geological Survey of Denmark and Greenland?« Er blickte in die Runde und nickte. »Ich auch nicht. Bis jetzt.« Er klickte die Website der geologischen Forschungsanstalt an. »Hier!« John deutete auf die Tätigkeitsbeschreibung und schaltete in schneller Folge weiter bis zu einer unbedeutenden Subpage. »Darum geht’s: das Camp-Century-Klima-Monitorprogramm. 2017 von der dänischen und der grönländischen Regierung beschlossen. Camp Century sagt vermutlich auch keinem was, oder?« Betretenes Schweigen in der Runde bewies, dass er mit seiner Vermutung richtiglag. »Na, da habe ich ja die Chance, euer historisches Wissen auf Vordermann zu bringen … ja, Stig?« Ausgerechnet der wortkarge Steensgård hatte sich gemeldet.
»Geheime Militärbasis der Amerikaner. Im Kalten Krieg unterm grönländischen Eis angelegt. 1959 gebaut, 1966 verlassen. Sollte mal sechshundert Atomraketen beherbergen. Project Iceworm. Als Kopenhagen ihnen draufkam, mussten die Amis den Laden dichtmachen. Gammelt seitdem vor sich hin.«
»Wow, Stig, du kannst sprechen?« John bemühte sich, seine Belustigung zu unterdrücken. Steensgårds Miene verzog sich um kein Jota. John nickte. »Stimmt alles. Hinzu kommt, dass in der damals aufgegebenen Station bis heute kontaminiertes, teils strahlendes Material lagert. Dazu eine Viertelmillion Liter Diesel. Und Gott weiß, was noch.« Er klickte weiter. »Mit dem zunehmenden Abtauen der Arktis kam Bewegung in Camp Century. Wortwörtlich. Deshalb wurden rund um die Station automatische Messstationen eingerichtet, die regelmäßig Klima- und Temperaturdaten erfassen. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft droht das Schmelzwasser den ganzen vergifteten Scheiß zu unterhöhlen und das sensible arktische Ökosystem zu verseuchen.«
John öffnete auf dem Display einen Ordner des Innenministeriums.
»Der Zeitpunkt, wann das passieren könnte, war bisher für Mitte des Jahrhunderts hochgerechnet worden. Vor ein paar Monaten begannen aber die Temperaturmesswerte rund um die Station sprunghaft anzusteigen.« John trank einen Schluck von seinem längst erkalteten Caffé Latte und schüttelte sich. Hatte die Milch einen Stich?
»Deshalb diese wissenschaftliche Expedition?« Jónsdottir, die Umweltchemikerin, rückte ihre Brille zurecht, schlagartig hellwach.
»Richtig, Astrid. Ein Team von fünf Glaziologen und Klimaforschern sollte vor Ort nachschauen, wodurch das ausgelöst worden ist.«
»Es könnte auch ein Messfehler gewesen sein. Die Messstationen können einfach gesponnen haben.«
»Genau deshalb wollten die Wissenschaftler nachschauen.« John schob den noch halbvollen Kaffeebecher angewidert zur Seite.
»Und was genau ist passiert?«, fragte Nuka. Er hatte fleißig Notizen in sein Tablet getippt und einige der Charts abfotografiert.
»Gestern ist ein führerloses Schlittenhundgespann der Expedition nach Qaanaaq zurückgekehrt. Von den Wissenschaftlern fehlt jede Spur. Ihre Satellitentelefone sind tot.« John trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Und wer darf sich darum kümmern?« Er breitete seine Hände aus. »Wir!«
»Klingt nach einem gemütlichen Ausflug«, sagte Silpa.
»Nicht gemütlich und nicht für dich, Silpa. Du hältst hier mit Astrid die Stellung und organisierst unsere Logistik. Ein Rettungshubschrauber soll sich in Qaanaaq bereithalten, um Verletzte auszufliegen, wenn wir welche finden.«
Silpa zuckte die Achseln, ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen.
»Wir anderen brechen morgen früh auf. Wir treffen uns am Flughafen. Punkt acht Uhr. Mette Broberg, unsere Aufpasserin vom Innenministerium, wird dort zu uns stoßen. Der Flug wird knapp sechs Stunden dauern. Zieht euch warm an. Denn ab Qaanaaq geht’s rustikal weiter. Wir werden mit Schlittengespannen und Schneescootern unterwegs sein müssen. Bei der aktuellen Wetterlage vor Ort kann es Tage dauern, bis ein Flug Richtung Camp Century wieder möglich ist.« John klappte den Laptop zu.
Nuka wiegte den Kopf. »Sieht alles nach einer Search-and-Rescue-Mission aus. Wieso sollen wir das übernehmen?«
»Weil niemand sonst es macht. Und weil die Innenministerin sichergehen will.« John fuhr sich prüfend durch den stoppeligen Bart. »Ist vielleicht ganz gut, wenn wir mal rauskommen aus unserem Glashaus …« Er grinste. »Speziell du, Nuka. Du starrst eh den ganzen Tag nur auf deine Bildschirme. Apropos: Such uns für morgen alles raus, was es über diese verlassene US‑Station zu wissen gibt. Ein- und Ausgänge, Baupläne, Zustand, eben alles.«
»Waffen?« Steensgård meldete sich erneut zu Wort, ohne eine Miene zu verziehen.
John zögerte. »Ja, natürlich, wir könnten auf Eisbären treffen.«
Steensgård nickte. »Oder Schlimmeres …«
Als die anderen gegangen waren, um ihre Reisevorbereitungen zu treffen und die Ausrüstung zu organisieren, blieb nur Nuka zurück.
»Ist noch was?«, fragte ihn John, ohne aufzublicken.
Nuka druckste herum. »Das ist doch merkwürdig, oder?«
»Was denn?«
»Na, Camp Century ist eine alte US‑Basis. Und nicht weit davon entfernt liegt die Pituffik Space Base. Warum schicken nicht die Amerikaner ein Team? Die haben’s doch viel näher und ganz andere Ressourcen als wir …«
»Gute Frage.« John schaute auf. »Die Innenministerin hatte im US‑Konsulat um Unterstützung gebeten. Die gaben sich aber reichlich zugeknöpft. Da müsse man erst in Washington anfragen, hieß es. Von der Seite ist also erst mal nichts zu erwarten.«
»Wissen die, dass wir unterwegs sind?« Nuka ließ nicht locker.
»Anzunehmen. Spätestens dann, wenn wir in Qaanaaq eintreffen. Ich glaube nicht, dass denen irgendeine Bewegung dort oben entgeht.« John musterte Nuka, bemerkte das leichte Flackern in dessen Augen. »Irgendein Problem mit unseren lieben Verbündeten?«
»Nein, nein, überhaupt nicht«, beeilte sich Nuka zu versichern. »War mir nur aufgefallen.« Er wandte sich ab, griff nach seinem Tablet und hastete aus dem Konferenzraum.
John glaubte ihm kein Wort.
Kaum war Nuka verschwunden, meldete Johns iPhone mit einem Ping den Empfang einer Nachricht.
Hi, John, ich lande schon morgen Mittag in Nuuk. Früher als geplant. Sehen wir uns? Alles Liebe Aka
John schluckte. Perfektes Timing, wieder einmal. Irgendwie schienen die Götter der Insel ihrer Beziehung jedes Mal neue Eisbrocken in den Weg zu werfen.
Das wird schwierig, tippte er. Muss mit dem Team nach Qaanaaq, ein Notfall. Wird aber nicht lange dauern.
Schade, antwortete Aka, verbunden mit einem Trauer-Smiley. Kann ich bei dir übernachten? Dann sehen wir uns, wenn du zurück bist. Wieder ein Smiley, mit Herzchen.
Klar, gern. Der Schlüssel liegt unter der Fußmatte. War das zu unpersönlich? John schüttelte den Kopf. Ich bin ein Idiot! Ich freue mich auf dich!!! Kaum war die Nachricht rausgegangen, bereute er bereits die drei Ausrufezeichen. Das war nun wieder zu viel des Guten. Wieso tue ich mich ausgerechnet bei Aka so schwer? Aus ihrer spontanen Freundschaft war längst mehr geworden. Das wussten sie beide. Trotzdem eierte er herum wie ein Schuljunge. Er seufzte.
Takuss! antwortete sie, auf Wiedersehen. Dahinter Herzchen. Drei diesmal.
Er war sich bis heute nicht darüber im Klaren, was sie an ihm fand. Er sähe aus wie Mads Mikkelsen mit Bart, hatte sie irgendwann gescherzt. Nicht die schlechteste Beschreibung. Zumal sie ihm schmeichelte. Zugleich erinnerte ihn ihre Bemerkung an den Altersunterschied zwischen ihnen. Sie achtundzwanzig, er, nun ja, bereits in seinen Enddreißigern. Konnte das gutgehen? Er runzelte die Stirn. Wozu weiter darüber grübeln? Sie hatten einen Auftrag zu erfüllen. Er schob das iPhone zurück in die Hosentasche.
Der mit knapp vier Stunden veranschlagte Flug von Nuuk nach Qaanaaq, der nördlichsten Stadt Grönlands, zog sich hin. Nach der Zwischenlandung im Touristen-Mekka Ilulissat, wo die de Havilland Dash 8 eine Horde Treckingverrückter ausspie, die kurz vor Ende der Saison noch die Disko-Bucht unsicher machen wollten, ging es erst einmal nicht weiter. Ein Unwetter. Nach gut zwei Stunden hob die Maschine endlich ab. Außer Johns Team und zwei mürrisch dreinblickenden, stiernackigen Männern mit tief ins Gesicht gezogenen Baseballkappen unter ihren Kapuzen waren keine weiteren Passagiere an Bord.
Die lange Narbe an Johns Hals juckte. Eine Erinnerung an die Geschehnisse im Kvanefjeld vor einem Jahr. Er kratzte daran. Gedankenverloren. Dann ging er mit seinem Team noch einmal die nächsten Schritte durch. Unter den wachsamen Augen von Mette Broberg, der Assistentin der Innenministerin. John hatte gestutzt, als sie sich vor dem Flug kurz vorgestellt hatte. Eine junge Frau Anfang zwanzig, großgewachsen für eine Inuk, schwarzhaarig, mit abenteuerlustig blitzenden braunen Augen hinter einer filigranen Brille und bemerkenswert selbstbewusst. Wer in diesem jugendlichen Alter bereits zum Stab einer Ministerin zählte, der musste entweder über gute Kontakte oder einen scharfen Verstand verfügen. John hoffte auf Letzteres und erklärte, was er plante. Bis auf Nuka, der immer wieder zu den Stiernacken zwei Reihen schräg hinter ihnen starrte, waren alle bei der Sache.
Die beiden Mitpassagiere schauten während des ganzen Fluges aus dem Fenster, mieden jeden Blickkontakt.
Als die Maschine endlich zur Landung ansetzte, dämmerte es bereits. Die Flutlichtmasten rund um die Landebahn brannten weiße Löcher ins Halbdunkel. Wolken von Schneekristallen stoben auf und wirbelten umher wie betrunkene Geister, als das Fahrgestell der de Havilland die ruppige Piste touchierte. Der Pilot startete noch einmal kurz durch, um eine Böe zu neutralisieren, und setzte dann makellos auf. Für einen Moment fühlte sich John versucht zu applaudieren. Noch bevor die Dash 8 ihre Parkposition erreicht hatte, schnallten sich alle ab. John erhob sich.
»Seht zu, dass ihr nichts an Bord zurücklasst«, sagte er. »Hier oben werden wir Materiallücken kaum wieder auffüllen können.«
»Immerhin gibt’s in Qaanaaq einen Supermarkt«, wandte Mette Broberg ein. »Ich brauche noch ein paar Pflegeartikel …«
»Ich auch«, sagte Stig. »Ein Sixpack Bier!« Dann wuchtete er seine schwere Corduratasche aus dem Gepäckabteil über dem Sitz und griff nach dem Gewehrkoffer, der zwischen dem leeren Fensterplatz und dem Vordersitz eingeklemmt stand.
Als sie die Maschine verließen und die Gangway hinunterpolterten, blieben die beiden restlichen Passagiere noch einen Moment sitzen, bevor sie sich erhoben und ihnen folgten.
»Qaanaaq International Airport nennt sich das hier?«, unkte Nuka, als die Gruppe die wenigen Hundert Meter zum Abfertigungsgebäude durch den frisch gefallenen Schnee stapfte.
»Was hast du erwartet? Das hier ist nicht Kopenhagen, du Geek!« John wies auf den kompakten blauen Zweckbau, der auf unbehandelten Betonfundamenten ruhte. Eine eingeschossige Halle mit drei Rolltoren wie eine x‑beliebige Feuerwache und ein wenig höheres Satteldachgebäude mit einem auf den First aufgesetzten, rundum verglasten Tower. Das war alles, was sie in der Einöde Nordwestgrönlands begrüßte.
»Schon gut, könnte alles schlimmer sein …« Nuka zuckte die Achseln, warf einen Blick über die Schulter. Er war der Letzte in der Reihe. Die Passagiere aus der Dash 8 marschierten gut hundert Meter hinter ihm und blickten konzentriert unter sich. Sie führten nur leichtes Gepäck mit sich, lediglich Rucksäcke mit Tarnmuster. Scheinen nicht lange bleiben zu wollen, dachte Nuka. Irgendwoher kenne ich die Typen, nur woher? Er blieb stehen, posierte ein wenig, manipulierte die Schärfe seines iPhones und schoss ein Selfie von sich. Dann schloss er wieder zu seinem Team auf.
Es war eng in dem Volvo, der sie abholte und die vier Kilometer hinunter in den Ort brachte. Insbesondere Stigs sperrige Corduratasche war allen im Weg.
»Was hast du denn eingepackt, Stig?«, wunderte sich Mette. »Planst du eine Ausgrabung?« Sie gluckste, während sie ihre Brille putzte, die immer noch beschlagen war vom schnellen Wechsel der Umgebungstemperatur. »Wir müssen doch nur ein paar Wissenschaftler finden, die sich verlaufen haben.« Sie setzte ihre Brille wieder auf und fand zurück zu ihrer ministeriellen Sachlichkeit.
»Werkzeug«, befand Stig, kurz angebunden wie immer.
»Wegen Ursus maritimus …«, vermutete Mette.
Er warf ihr aus graublauen Augen einen langen Blick zu.
»… und Homo sapiens«, sagte er.
»Hier sind wir richtig!« John deutete zu dem langgestreckten, eingeschossigen Holzhaus, das einzig aufgrund seiner verblichenen ochsenblutroten Farbe aus einer Gruppe ähnlicher Bauten hervorstach. Der Fahrer, ein Inuk, stoppte den Volvo etwas abrupt und nickte fröhlich. »Qaanaaq Hotel, gutes Haus.«
»Ja, und das einzige außerdem.« John ließ den Gurt aufschnappen. »Dann mal raus mit euch. In einer halben Stunde treffen wir uns mit der hiesigen Polizei und einer Wissenschaftlerin von GEUS, die hier auf die Rückkehr ihrer Kolleginnen und Kollegen wartet.«
Nachdem sie ihre Zimmer belegt hatten – und damit die Hälfte des Hotels –, sammelten sie sich in der Lounge. Niemand beachtete die in den Regalen stehenden Bücher oder die ausgestellten Artefakte der lokalen Inuit-Kultur. Auch den atemberaubenden Ausblick auf die im Halbdunkel liegende Inglefield-Bucht würdigte keiner.
Mette lugte misstrauisch durchs Fenster. »Ist nicht bald Polarnacht? Ich war noch nie so weit oben im Norden. Dann wird’s hier für Monate zappenduster.« Sie rückte ihre Brille zurecht, als könne sie so einen Blick in die nachtschwarze Zukunft werfen.
»Blödsinn!«, sagte Nuka. »Kaperlak, wie sie die Polarnacht hier nennen, beginnt am vierundzwanzigsten Oktober und endet am siebzehnten Februar.« Er zog sein Mini-Tablet aus der Tasche und rief seine Notizen auf. »Der Abschied von der Sonne wird dann groß gefeiert mit Veranstaltungen und Musik. Bis in den November rein ist es dann nicht wirklich Nacht, auch wenn die Sonne hinter den Bergen verborgen bleibt. Allerdings sollte man die Stadt nicht mehr verlassen, sobald es dunkel ist. Wegen der Eisbären, die …«
Bevor er weiterdozieren konnte, unterbrach ihn John. »Okay, mehr müssen wir jetzt nicht wissen. Danke, Nuka.« Er wies zur Tür. »Lasst uns keine Zeit verschwenden!«
Der Weg zur Polizeistation im östlichen Teil des Ortes war schnell zurückgelegt. Im Vorbeigehen deutete Nuka, der weiter mit seinem Wissen protzte, auf etliche Häuser, die sich zur Seite neigten, als wollten sie vor der Klimakatastrophe davonlaufen. »Alles hier ist auf Permafrostböden gebaut. Kein solider Fels, nirgendwo, nur Lehm und Sand«, sagte er. »Der Permafrost ist alles, nur nicht mehr Perma. Ein Drittel der Häuser wird in ein, zwei Jahren unbewohnbar sein.«
»Mach’ voran, Klugscheißer!« Stig, der hinter ihm marschierte, ein Jagdgewehr wie bei einem Biathleten über den Rücken geschnallt, gab ihm einen Stoß. Nuka stolperte, fing sich aber wieder. Er warf Stig einen zornigen Blick zu, was der ungerührt zur Kenntnis nahm. Schweigend trafen sie vor der Polizeistation ein.
»Kein Begrüßungskomitee?«, maulte Mette und schob die Kapuze des Daunenparkas in den Nacken.
John angelte sein Smartphone aus der Hosentasche und wischte darauf herum. Ratlos.
»Was für ein Wochentag ist heute?«, fragte er in die Runde.
»Mittwoch«, sagte Mette.
»Pech für uns.«
»Wieso? Sag’ nicht, die haben heute geschlossen …«
»Doch, genau das. Mittwochs bleibt die Polizeistation geschlossen. Am Wochenende auch.« John schüttelte den Kopf und gab eine Telefonnummer ein. Ein kurzes Gespräch später klärte er sein Team über die weitere Vorgehensweise auf.
»Alles gut. Sie warten auf uns nicht weit von hier. Bei den Schlittenhunden.« John drehte sich um seine Achse, verharrte kurz und wies die verschneite Straße hangabwärts. »Da lang! Das letzte Haus auf der rechten Seite.« Ohne sich umzuschauen, stapfte er los. Bei jedem Schritt stoben feine Eispartikel auf und sanken dann zurück in die frischen Sohlenabdrücke der Stiefel. Mette, Nuka und zuletzt Stig folgten ihm.
Nach wenigen Hundert Metern wurde offensichtlich, dass sie sich einer größeren Zahl von Hunden näherten. Ketten klirrten, leises Jaulen war zu hören. Und es roch. Ein klein wenig nach Hundekot und Urin, deutlich intensiver nach Robbenfleisch. Mette verzog die Nase. Das eingeschossige Holzhaus am Ortsrand hatte schon bessere Zeiten gesehen. Die gelbe Farbe blätterte hier und da ab, die Stufen zur Eingangstür waren ausgetreten. Zwei Hundeschlitten lehnten hochkant an der Schmalseite des Hauses. Auf den Treppenstufen saß ein etwa dreißig Jahre alter Inuk in der dunkelblauen Uniform der dänischen Polizei und zog die iPods aus den Ohren, über die er Musik gehört hatte.
»Sauwestari, starke Truppe! Die einzige grönländische Reggae-Band. Wollt ihr mal hören?« Er erhob sich und hielt ihnen das Smartphone hin.
John schüttelte nur den Kopf. »Klingt spannend«, sagte er. »Aber deswegen sind wir nicht hier …«
»Klar.« Der Polizist nickte. »Ihr kommt wegen dem Geisterhundeschlitten.« Er steckte iPhone und iPods zurück in die Hosentasche. »Ich heiße Vitus. Isak, der Schlittenführer hier im Ort, ist mein Cousin. Er ist mit dieser Wissenschaftlerin drüben bei den Hunden. Kommt mit!«
Die kleine Gruppe folgte dem jungen Polizisten die leicht abschüssige Schneefläche hinab zu einer Gruppe im Gelände verstreuter Verschläge. Zahlreiche Schlittenhunde lagerten in Schneekuhlen. Die meisten von ihnen an langen Ketten. Im Gelände verteilt standen hölzerne Hundehäuser. Neben einem Verschlag etwas abseits warteten zwei Personen vor einem leeren Schlitten inmitten einer Gruppe von einem Dutzend abgeschirrter Schlittenhunde. Die meisten lagen offenbar erschöpft auf der Seite. Einige dösten. Einer kackte in den Schnee. Die größere Person trug einen orangefarbenen Expeditionsparka, die andere eine dunkle Northface-Jacke über einem Hoodie und Hosen aus Eisbärfell. Die beiden gestikulierten. Die kleinere der beiden Personen beugte sich zu einem Grönlandhund hinab, kraulte ihn. Er schaute auf, als die Gruppe sich näherte.
»Ich hab’s nicht so mit Hunden«, sagte Nuka zu John. »Vielleicht geht ihr einfach vor, ich warte hier solange.« John nickte und schloss mit Mette und Stig zu Vitus, dem Polizisten, auf. Im Vorbeigehen raunte Stig Nuka ein »Wieso wundert mich das nicht, du Loser?« ins Ohr. Nuka warf ihm einen grimmigen Blick hinterher.
Als die Gruppe schließlich beisammenstand, Nuka in einigem Abstand zu den anderen, wandte sich Isak an seinen Cousin: »Die Leute hier kommen aus Nuuk und wollen sich den Schlitten und die Hunde ansehen … Kannst du schon was sagen?«
Der Hoodieträger musterte die vier Besucher. Er schien nicht viel älter als der Polizist, aber sein Gesicht war zerfurcht wie das Inlandeis, wenn man es aus großer Höhe betrachtete.
Er muss schon viel gesehen haben, dachte John. Und manches davon hat Spuren hinterlassen.
»Isak Kreutzmann«, stellte sich der Hoodieträger vor. Leicht lispelnd aufgrund einer breiten Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. »Ihr kommt den ganzen, weiten Weg aus Nuuk wegen dem Geistergespann?« Isak blickte abschätzig in die Runde. »Es geht euch wohl kaum um die Hunde. Wohl eher um die Menschen, die verschwunden sind. Dazu kann ich nichts sagen. Da müsst ihr sie fragen …« Er deutete mit der behandschuhten Rechten auf die Frau in Orange, die mittlerweile neben ihm stand.
»Doktor Lisbeth Nielsen«, sagte die hochgewachsene GEUS-Wissenschaftlerin, »aber ihr könnt mich einfach Lis nennen.« Sie schob die Kapuze zurück und entließ einen Schwall grauer Haare in die eisiger werdende Polarluft. »Ich hatte gehofft, dass sich endlich jemand hier blicken lässt. Wir warten schon seit Tagen. Und mit jeder zusätzlichen Stunde werden die Chancen geringer, dass wir unser Team noch retten können.«
»Nun sind wir ja da«, sagte John. »Über Ihre vermissten Kolleginnen und Kollegen reden wir gleich. Vorher möchte ich mir den Schlitten und diese ominösen Geisterhunde ansehen … Isak?«
Der Schlittenführer nickte und löste sich aus der Gruppe. Ein paar Meter weiter kniete er sich hin und nahm eine Hündin in den Arm. Sie stieß ihm heftig die Schnauze in die offene Hand. Er kraulte sie mit beiden Händen unterm Kinn.
»Das ist das Leittier des Geisterschlittens«, sagte er. »Sie muss sehr erfahren sein. Es gibt nicht viele Leithunde, die ein Gespann ohne ihren Schlittenführer zurückbringen können. Nicht vom Eisschild herunter. Und nicht bei dem Wetter …«
John beugte sich zu der Hündin hinunter. »Aber …«, begann er und ging in die Hocke. »Ich glaub’s nicht!« Er deutete auf das mehrfach eingerissene linke Ohr der Hündin. »Das ist Arnaq, das Leittier von Moses Enoksens Gespann!«
»Ja, sicher. Moses hat die Wissenschaftler zur alten US‑Station bringen wollen. Ein Freund von dir?«
»Ja. Moses und ich … Das ist eine lange Geschichte. Er hat mir vieles beigebracht. Wir waren ein paar Wochen zusammen jagen. Unten an der Ostküste. Ich wusste nicht …« Erneut stockte John. Erinnerungen stiegen in ihm auf. An Moses Enoksen, den alten Jäger, seinen Lebensretter, seinen Mentor, der ihm zum Freund geworden war. Damals, nicht weit von Tasiilaq, als ihn Yu Lynn Huas Schergen auf dem Eisschild ausgesetzt hatten, sicher, dass er das nicht überleben würde. Er verdankte dem alten Mann alles. Sein Überleben, seine Einsichten in die Kultur der Inuit, das Gefühl, endlich, endlich irgendwohin zu gehören. John schluckte. Bot sich jetzt die Chance, etwas davon zurückzugeben? Eine Schuld zu begleichen? John erhob sich. Die lange Narbe an seinem Hals juckte wieder. Die Spur, die Yus Klinge gezogen hatte, bevor Moses’ Kugel die Agentin traf. Noch ein Zeichen?
»Wir werden ihn finden. Wir holen ihn zurück. Ihn und das ganze GEUS-Team. Wo immer sie auch sein mögen!«
Sie hatten sich in Isaks Haus zurückgezogen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Isak, sein Cousin Vitus, John, Nuka, Stig, Mette und Lis Nielsen, die GEUS-Glaziologin, saßen an einem langen Tisch. Isak hatte es sich nicht nehmen lassen, aus der Beratungsrunde einen typisch grönländischen Kaffemik zu machen. Maren, seine Frau, tischte auf. Von irgendwoher zauberte sie einen Blaubeerkuchen und Krähenbeeren-Muffins auf den Tisch. Lachend. Wie die untersetzte, glänzend schwarzhaarige Frau überhaupt alles mit einem Lachen präsentierte. Auch den Kaffee. Erneut stiegen in John Heimatgefühle auf. Ausgerechnet ihm. Er rieb sich über die Narbe am Hals.
Lis Nielsen berichtete. Das GEUS-Expeditionsteam war mit zwei Schlittenhundgespannen und drei Schneescootern Richtung Camp Century aufgebrochen. Geführt von Moses Enoksen. Das zweite Hundegespann wurde von einem jungen Musher aus Qaanaaq geführt, namens Tupaanaq, ein entfernter Verwandter von Isak und Maren, wie sich herausstellte. Der junge Schlittenhundführer war Feuer und Flamme gewesen, den erfahrenen Enoksen zu begleiten. Der alte Jäger war eine Legende, selbst hier im hohen Norden der Insel. Die Gespanne führten das Futter für die Hunde mit. Die Schneemobile zogen auf Anhängern die Ausrüstung der Forscher. Nielsen zählte die Teammitglieder auf: die Glaziologen und Klimatologen Doktor Christian Nyborg und Doktorin Janine De Cuyper, die Hydrologin Professorin Lise Mette Solgaard Stein und ihr Doktorand David Boyd. Sie selbst, Klimatologin, sei in Qaanaaq geblieben, um die Verbindung zwischen dem Team und der GEUS-Dependance in Nuuk sicherzustellen. Als die GPS-Signale ausblieben und die Satellitentelefone des Teams plötzlich verstummten, hatte sie Alarm geschlagen.
»Wir brauchen dringend einen Helikopter oder eine Twin Otter«, sagte Mette Broberg. »Bis zu Camp Century und den Messstationen sind es mehr als zweihundertzwanzig Kilometer.«
»Eher zweihundertfünfzig.« Nuka hatte eine Satellitenkarte aufgerufen. »Aber den Heli können wir uns abschminken. Im Tower waren sie sich sicher, dass in den nächsten Tagen keine Flüge möglich sein werden. Zu gefährlich. Zu viel Nebel, und schneien wird es auch.«
John schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Zeit, zu warten, bis das Wetter mitspielt. Wer weiß, was der Expedition zugestoßen ist.«
»Für die Schneemobile haben wir nicht mehr genug Benzin für eine so lange Strecke. Die nächste Lieferung trifft erst in gut einer Woche ein. Ihr müsst euch mit Schlittenhundgespannen auf den Weg machen«, sagte Isak, »und ich komme mit!«
»Ausgeschlossen!«
»Ich muss wissen, was mit Tupaanaq los ist. Es war die erste lange Tour, die der Junge mitgemacht hat. Maren wird es mir nicht verzeihen, wenn ich hierbleibe.«
Maren lachte diesmal nicht.
»Also gut.« John trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Dann werde ich das Gespann von Moses übernehmen. Die Leithündin kennt mich. Und Moses hat mir alles beigebracht, was ich wissen muss. Wir benötigen noch ein drittes Gespann. Wer führt das?«
»Das kann Jesper übernehmen, mein Cousin«, meldete sich Vitus, der Polizist, zu Wort.
»Mein Gott, wie viele Cousins hast du denn?«
»Hm, lass mich überlegen … sieben? Nein, acht!«
»Also gut. Dann hätten wir das geklärt. Ich rufe jetzt Silpa in Nuuk an und bringe sie auf den aktuellen Stand. Wenn wir das Expeditionsteam gefunden haben, werden wir Hilfe brauchen, medizinische oder was auch immer. Bis dahin sollten die Helis wieder fliegen können.«
»Bevor du anrufst, John, wie lange werden wir unterwegs sein?« Eine tiefe Falte bildete sich auf Astrids Stirn, als sie die unumgängliche Frage stellte.
»Keine Ahnung«, sagte John. Er blickte hinüber zu Isak, dem erfahrenen Schlittenführer. Fragend. Der zuckte die Achseln.
»Vielleicht drei Tage, vielleicht vier. Es gibt auf unserem Weg zwei alte Jagdhütten, in denen wir Rast machen können. Ansonsten werden wir Zelte aufschlagen und übernachten müssen. Es hängt alles von den Wetterverhältnissen ab.« Isak schaute aus dem Fenster. »Ich denke, morgen früh können wir los.« Er lachte in die Runde. »Oder auch nicht. Wer weiß das schon? Früher hat ein Blick zum Himmel genügt, um vorauszusagen, wie das Wetter der nächsten drei Tage wird. Aber heute? Alles ist viel unberechenbarer geworden.«
Sie hatten je Gespann vierzehn Hunde im Fächer angeleint, das Leittier vorneweg. Was nur mit großer Mühe, dem Vertrauen darauf, dass die Schlittenanker hielten und einigen beherzten Tritten zu schaffen war. Die Hunde rangelten miteinander, jaulten, knurrten, schnappten und kämpften um ihre Position. Alle spürten, dass es hinausgehen würde. Sie lechzten danach, zu rennen, zu ziehen, voranzustürmen. Ihr Vorwärtsdrang war grenzenlos. Es war ihre Natur.
Johns Team trug Winteroveralls über wattierten Hosen, Anoraks, Hauben und Thermounterwäsche. Lis Nielsen wartete im orangenen Expeditionsoverall mit dem GEUS-Logo auf der Brust. Die beiden Inuit hatten ihre Northface-Parkas mit Hosen aus Eisbärfell kombiniert. Nur die grönländischen Geister mochten wissen, was sie darunter trugen. Ein Jagdgewehr in jedem Schlitten, dazu Stigs Expeditionskoffer mit seinem »Spielzeug«. Moschusochsenfelle bedeckten die Schlafsäcke nebst Isoliermatten, die in einer Schutzhülle verstaut und über die Länge des Schlittens ausgebreitet lagen. Darunter war das eigentliche Gepäck verstaut. Vorne im Schlitten lagerte eine kleine Proviantkiste. Nur das Nötigste für ein paar Tage. Skier, Stöcke und ein Gewehr wurden im Heck stehend fixiert. Daneben klapperte und rasselte das Kochgeschirr bei jedem kleinen Buckel auf der harten Schneebahn, die aus Qaanaaq herausführte, Richtung Inlandeis. Richtung Camp Century oder das, was noch davon übrig war.
John überließ Arnaq, der Leithündin seines Gespanns, die Führung. Sie wusste, auf welchem Weg sie zurückfinden würde zu Moses Enoksen und den Vermissten. Mit ihrer feinen Nase nahm sie die Reste der Duftspur aus Kot und Urin auf, die das Gespann beim Herweg hinterlassen hatte. Ein Ariadnefaden, der sich nur den Grönlandhunden offenbarte. Mit lautem »Hok, hok! – Azuk, azuk! – Ak, ak!« dirigierten Isak und Jesper ihre Gespanne hinter Johns her. Links, rechts oder geradeaus, sie hielten Sichtkontakt. Mit gut zwanzig Stundenkilometern preschten die Gespanne los.
Auf der harten Schneebahn kamen sie gut voran. Anfangs. Bis sie am Aufstieg zum Inlandeis ankamen. Eine Stelle, die nur einer Handvoll Inuit bekannt war. Die meisten wissenschaftlichen Expeditionen nahmen ihren Ausgang von der Pituffik Space Base, der früheren Thule Air Base, weiter südlich und dann über die alte Rampe bei Camp Tuto hinauf zum Inlandeis. Die Route, die in den Fünfzigerjahren die Teams des US‑Ingenieurkorps genommen hatten auf ihrem Weg zur Baustelle von Camp Century. Kaum jemand wusste, dass es auch bei Qaanaaq einen Aufstieg hinauf auf die Eiskappe gab, der mit einiger Mühe mit Gespannen zu bewältigen war. Das Gelände wurde steiler. Sie mussten absteigen. Leichtes Schneetreiben setzte ein, durchmischt von Regentropfen. Der Wind, bisher verhalten, frischte auf. Das Treiben nahm zu. Bei tiefer werdendem Schnee und immer mühsamerem Anstieg gingen sie hinter den Schlitten auf Skiern, um den Hunden ihre Arbeit zu erleichtern. Auf dem erschreckend nassen Untergrund benötigten sie fast den ganzen Tag, um sich über die Gletscherzunge auf das Inlandeis hinaufzukämpfen. Wie von Isak angekündigt, erreichten sie die erste der beiden Hütten, die Jäger hier vor Jahren aufgebaut hatten. Gerade noch rechtzeitig, bevor gegen zehn Uhr abends die Dämmerung hereinbrach.
Die Hunde legten sich neben die Schlitten und fraßen Schnee. Isak und Jesper, die beiden Inuit-Schlittenführer, bereiteten das mitgebrachte Futter für sie vor. Gefrorenes Robbenfleisch. Während sich die wilde Horde draußen um die Fleischbrocken stritt, gossen die Menschen drinnen in der Hütte heißes Wasser aus Thermoskannen in ihre Trinkbecher und verrührten es mit Instantsuppe.
»Mein Gott, ich bin tot«, sagte Nuka, »ich hätte keinen Meter weitergekonnt.«
»Weichei!« Stig schlürfte an seinem Trinkbecher. Wie üblich ließ er keine Gelegenheit aus, Nuka zu sticheln. Ein Blick von John hieß ihn, zu verstummen.
»Der Anstieg war heftig, ich weiß. Aber ab jetzt sollten wir besser vorankommen. Die Hunde haben ihre alte Spur immer noch in der Nase. Arnaq will zurück zu Moses. Das kann ich spüren!« John stellte seinen Becher ab und knetete sich die Hände. Die schweren Handschuhe hatte er neben sich auf die Holzbank gelegt.
»Vielleicht kann mir mal jemand erzählen, was es mit diesem ominösen Camp Century auf sich hat, zu dem wir unterwegs sind?« Mette Broberg fuhr sich mit den Händen durchs Haar und zupfte Eispartikel heraus. Sie sah aus wie ein Grönlandhund, der unversehens in einen Eisregen geraten war.
Nukas Stichwort. Mette hatte ihre Frage kaum beendet, da sprudelte es aus ihm heraus.
»Camp Century, ja, das war schon ein Ding! Im November 1952 hatten die USA bei Pituffik ihre Thule Air Base fertiggestellt. Vor dem Bau war die gesamte Inuit-Bevölkerung des Ortes zwangsumgesiedelt worden ins heutige Qaanaaq.«
Isaks und Jespers Blicke verhärteten sich. Nuka erzählte weiter.
»Der Kalte Krieg kochte hoch, und die Vereinigten Staaten waren auf dem besten Weg, Grönland in eine Festung zu verwandeln. Mehrere Radar-Frühwarnstationen waren bereits in Betrieb. Dazu ein paar kleinere Basen. Und gut dreihundertfünfzig Kilometer östlich von Thule Camp Fistclench, wo man neue Methoden für den Bau von Tunnelanlagen unter dem Eis testete. Mit den dort gewonnenen Erkenntnissen begann man mit dem Bau von Camp Century. Es sollte das Herzstück des geheimen Projekts Iceworm werden, das in Washington aufgelegt wurde. Herz eines gigantischen Tunnelsystems unter der Eiskappe, in dem sechshundert Atomraketen startbereit gehalten werden sollten. Verteilt auf eine Fläche von einer Viertelmillion Quadratkilometern. Und geschützt von Eis und Schnee. Ein Wahnsinn!«
Nuka holte tief Luft.
»1959 haben die USA dann von der dänischen Regierung die Erlaubnis zum Bau von Camp Century eingeholt. Allerdings war dabei die Rede von einer wissenschaftlichen Forschungsstation. Keine Ahnung, ob man ihnen das in Kopenhagen wirklich abgenommen hat. Die Baugenehmigung wurde jedenfalls erteilt. Ursprünglich sollte die Basis genau hundert Meilen vom Rand der Eiskappe entfernt liegen. Daher der Name Camp Century. Da der vorgesehene Standort zu uneben war und damit den Anforderungen der Ingenieure nicht genügte, verlegte man ihn weiter ostwärts. Im Juni 1959 rückten die Bautrupps an. Und im September 1960 war Camp Century betriebsbereit …«
Nuka nahm einen Schluck von seiner mittlerweile abgekühlten Instantsuppe. Ein Tropfen verlief sich in seinem Mundwinkel. Er achtete nicht darauf.
»Mehr als zweihundert Kilometer von der Thule Air Base entfernt, in einer Höhe von zweitausend Metern überm Meeresspiegel, hatte man einundzwanzig Tunnel ins Eis getrieben, mit einer Gesamtlänge von fast drei Kilometern. Auf einer Fläche von einem halben Quadratkilometer verteilten sich Küche, Messe, Mannschaftsquartiere aus abgewandelten Standard-Armybaracken, eine Zentrale, Lagerräume für Verpflegung und Treibstoff, Garagen, zwei riesige, verschließbare Zufahrtsrampen, die in die Tiefe führten und …« Nuka machte eine Kunstpause. »… und ein modularer Atomreaktor zur Energieversorgung der Station. Allerdings, wie sich später herausstellte, mit Strahlungswerten, die um ein Vielfaches höher lagen als das, was in den offiziellen Dokumenten stand.«
»Autsch!«, sagte Stig.
Nuka nickte. »Es gab zwar Korrespondenz zu dem Thema. Aber offiziell wusste Dänemark nichts von diesem Kernreaktor und drang auch gegenüber den amerikanischen Partnern darauf, dass nichts darüber in US‑Medien erscheinen durfte. Keine Ahnung, ob man die tatsächlich militärische Ausrichtung von Camp Century ahnte. Ein paar Dutzend Forschungsprojekte im Eis erweckten den Anschein, dass es sich lediglich um eine etwas groß geratene Forschungsbasis handelte. Von Project Iceworm hatte man jedenfalls keine Ahnung. Das war top secret.«
»Und wie lange war Camp Century in Betrieb?«, fragte Mette, ein wenig bleich um die Nase, als sie sich vorzustellen versuchte, was sie an ihrem Ziel erwarten mochte.
»Ende 1963 wurde der Reaktor abgeschaltet und im Sommer 1964 abgebaut. Camp Century wurde noch bis 1966 während der Sommermonate genutzt und dann endgültig stillgelegt. Mittlerweile waren wohl Details der militärischen Nutzung durchgesickert, die der dänischen Regierung nicht gefielen und die sich auch nicht länger deckeln ließen.«
»Krasse Geschichte«, sagte John. »Haben wir Lagepläne von der Station?«
»Klar. Darin gibt’s allerdings ein paar Ungereimtheiten, wenn man sich die genauer anschaut.«
»Und wie sieht’s mit Hinterlassenschaften aus der Zeit aus, Müll, Gifte und so was? Die Ministerin macht sich da echt Sorgen.« Die Falte auf Mette Brobergs Stirn grub sich tiefer ein.
»Puh, das ist ziemlich übel. Da hat wohl keiner so wirklich aufgeräumt.« Nuka wischte über sein Tablet. »Laut Wikipedia liegen noch mehr als neuntausend Tonnen Baumaterial rum, zweihundert Kubikmeter Dieseltreibstoff und PCB, zweihundertvierzig Kubikmeter Abwasser und Reaktor-Kühlflüssigkeit; vermutlich auch abgelaufene Dosennahrung und sonstiger Müll. Und sicher noch jede Menge Zeug, das in keinen offiziellen Dokumenten auftaucht.«
»Okay, die Ungereimtheiten in den Plänen werden wir ausräumen, wenn wir dort angekommen sind«, sagte John. »Und die Tatsache, dass Camp Century eine Müllhalde ist, war ja wohl der Grund, warum die GEUS-Leute überhaupt Messstationen eingerichtet haben. Was ist übrigens mit denen? Wie finden wir sie?«
»Das ist einfach«, sagte Lis Nielsen. »Die Stationen verfügen alle über GPS-Marker, die Nuka anmessen kann.«
»Dann hoffen wir mal, dass die vermisste Expedition es zumindest bis zu den Messstationen geschafft hat und nicht irgendwo unterwegs verunglückt ist. Sonst haben wir ohne Hubschraubereinsatz keine Chance, sie zu finden.«
»Wir sollten uns jetzt hinlegen und schlafen.« Isak pfiff das »f« regelrecht durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. »Haben eine kalte Nacht vor uns. Der Tag morgen wird lang und anstrengend.« Er gab Jesper einen Wink und erhob sich. Er deutete auf die Schlafsäcke. »Mit den ersten Sonnenstrahlen kurz nach neun brechen wir auf.« Wieder das Pfeifen.
Später, als sie schon in den Schlafsäcken lagen, dicht an dicht in der windschiefen Hütte, flüsterte Mette Broberg zu Stig hinüber: »Was denkst du, was wir finden werden?«
