Eiskalt – Wenn Kinder morden - Carsten Schütte - E-Book + Hörbuch
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Eiskalt – Wenn Kinder morden E-Book und Hörbuch

Carsten Schütte

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Beschreibung

Den schrecklichen Anblick wird der Hausmeister niemals vergessen. Er findet bei seinem morgendlichen Rundgang auf dem Schulgelände ein schwer verletztes, junges Mädchen gefesselt auf einer Tischtennisplatte. Die Ärzte verlieren den verzweifelten Kampf um ihr Leben. Sämtliche Mordermittlungen führen in die Schule. Während der Tatrekonstruktion des OFA-Teams des LKA Niedersachsen erhält der Fall eine erschreckende Dimension, mit der niemand gerechnet hatte. Die fiktive Handlung beschreibt nicht nur die Entwicklung von jungen Menschen, die zu Mördern mutieren, sondern ebenso ihre Fantasien sowie die unerträgliche Ohnmacht des familiären und schulischen Umfelds. Was löst diese traumatische Tat in der Familie des Opfers aus? Welche Rolle spielt eigentlich die Familie des Täters? Ist nicht auch sie Opfer ihres eigenen Kindes? Die beschriebene Entwicklung der Protagonisten vor, während und nach der Tat soll sensibilisieren, die oft mediale Pauschalisierung solcher Taten differenzierter zu betrachten.

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Zeit:8 Std. 48 min

Sprecher:Julius Faehndrich

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Der Roman spielt hauptsächlich in fiktiven Regionen, die Geschehnisse bleiben reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Carsten RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e): 123rf.com, Foto von Alina LegierkoEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9770-2

Carsten SchütteEISKALT–Wenn Kinder morden

Für Nico

Prolog

Der Hausmeister der Kooperativen Gesamtschule Bargenstedt ging seine erste Runde kurz vor 7 Uhr bei anhaltendem Nieselregen. Er hatte die Kapuze seiner Regenjacke tief ins Gesicht gezogen. Trotzdem legten sich die feinen Tropfen auf seine Brillengläser und nahmen ihm die Sicht. Aus langjähriger Erfahrung hatte er einen blauen Müllsack und Handschuhe dabei. Gerade an den Wochenenden nutzten Schüler und andere Jugendliche das Schulgelände als Treffpunkt. Am Vorabend war es trocken und warm. Es wurde gegrillt und nicht gerade wenig Alkohol konsumiert. Nicht alle nahmen ihren Abfall mit, sondern hinterließen oft riesige Müllhaufen. Das Schulzentrum betreute über 600 Schülerinnen und Schüler und war entsprechend dimensioniert. Auf dem Gelände befanden sich neben einem Fußballplatz mit festen Metalltoren auch Sitzecken und feste Tischtennisplatten, an denen der Hausmeister plötzlich stutzte.

Durch seine nasse Brille sah er nur schemenhaft eine Gestalt auf einer der Tischtennisplatten liegen. Er musste erst seine klobigen Handschuhe ausziehen und seine Brille an dem noch trockenen T-Shirt putzen, um besser sehen zu können.

Das nunmehr deutlichere Bild ließ ihn erstarren, und sein spärlicher Mageninhalt aus einem Kaffee und einem Marmeladentoast erbrach sich unkontrolliert auf dem nassen, leicht federnden Boden des Schulhofes.

Auf der Tischtennisplatte lag der blutüberströmte, leblose Körper eines Mädchens. Ihr T-Shirt und der BH waren aufgerissen, ihr Unterkörper mit weit gespreizten Beinen war nackt. Sie trug weiße Chucks aus Stoff, die mit Blut von den frei hängenden Beinen durchtränkt waren. Das Gesicht war zur Unkenntlichkeit zertrümmert. Auf ihrem Kopf, am gesamten Oberkörper, auf dem Bauch und am linken Oberschenkel waren blutende Wunden zu erkennen.

Ihre Arme waren nach oben überstreckt, weil ihre Hände beidseitig an dem Tischtennisnetz aus Metall mit einer Kordel fixiert waren.

Der Hausmeister musste sich zwingen, den Blick abzuwenden, und kramte nach seinem Handy. Er wählte zittrig den Polizeinotruf.

„Krause hier. Ich bin der Hausmeister der KGS. Hier liegt ein totes Mädchen auf einer Tischtennisplatte. Es ist schrecklich. Kommen Sie schnell. Bitte!“

Der Beamte der Notrufzentrale versuchte, den Anrufer zu beruhigen und weitere Informationen zu erlangen.

„Herr Krause, bleiben Sie bitte ruhig und schildern Sie mir genau, was Sie sehen. Sind Sie allein oder sind noch weitere Personen in der Nähe?“

Der Hausmeister konnte keine klaren Gedanken fassen.

„Hier ist sonst niemand. Es ist alles voller Blut. Kommen Sie schnell, bitte, schnell.“

„Herr Krause, ein Notarzt, Rettungswagen und die Polizei sind unterwegs. Ist die Person noch ansprechbar? Atmet sie noch? Trauen Sie sich zu, den Puls zu prüfen?“ Der Beamte wollte den völlig verstörten Hausmeister zum Handeln ermutigen, was ihm allerdings nicht gelang.

„Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht“, stotterte er in sein Handy.

„Herr Krause, beruhigen Sie sich. Die Einsatzkräfte müssten in wenigen Minuten vor Ort sein. Bleiben Sie bei mir am Telefon und sagen Sie mir, wenn Sie die Martinshörner hören! Dann gehen Sie bitte meinen Kollegen entgegen und weisen Sie sie ein. Haben Sie das verstanden, Herr Krause?“, forderte der Beamte des Lagezentrums. Parallel dazu hatte er einen Einsatz mit den erhaltenen Informationen angelegt und die Rettungskräfte alarmiert. Über seinen Monitor konnte er feststellen, dass der Streifenwagen des Polizeikommissariats Bargenstedt etwa vier Minuten vor den Rettungskräften eintreffen sollte.

Der Hausmeister hielt Abstand zu der Tischtennisplatte, denn der Regen hatte die Blutlache darunter ausgedehnt. Von Weitem hörte er jetzt die ersten Martinshörner. Als wenn er der leblosen Person sagen wollte, dass er kurz zur Einfahrt eile, um den Notarzt einzuweisen, drehte er sich für einen Moment um, erschrak zu Tode und schrie auf.

Die Beine des Opfers zuckten plötzlich, aus Richtung des Kopfes kam ein Röcheln und aus dem Bereich, wo er die Nase vermutete, schlugen blutige Blasen hoch.

„Herr Krause, was ist los?“, rief der Beamte in das Telefon.

Der Hausmeister rannte wie von Sinnen zur Einfahrt des Schulgeländes und brüllte panisch: „Schnell! Sie lebt noch! Sie lebt!“

Kapitel 1 Bargenstedt steht kopf

Barbara und Helmut Meininger errichteten Samstagmorgen um 6 Uhr ihren Marktstand mit Gemüse aus eigenem Anbau auf dem Wochenmarkt in Bargenstedt. Das Ehepaar betrieb einen kleinen Hofladen auf ihrem Bauernhof am Rande der Stadt, der mittwochs, freitags und samstags an den Markttagen in der Region geschlossen war.

Eine der ersten Kundinnen war die Mutter einer Freundin ihrer 15-jährigen Tochter Kim.

Barbara Meininger begrüßte sie freundlich.

„Guten Morgen, Anni. Na, du bist ja wieder früh unterwegs. Willst du den beiden Mädels ein gesundes Frühstück auftischen?“

„Moin, ihr beiden. Meiner Tochter muss ich mit Gemüse und Obst nicht kommen, und ich vermute, eurer Kim auch nicht, oder? Ich warte ja immer noch auf den Tag, an dem Kim euch hier am Stand unterstützt“, frotzelte die Kundin und fragte nach: „Wie geht’s Kim denn? Kommt sie in der neuen Klasse gut zurecht?“

„Das kannst du sie ja beim Frühstück selbst fragen, sie hat ja heute Nacht bei Sina geschlafen“, stellte Barbara Meininger fest.

„Das kann ich mir kaum vorstellen. Sina hatte heute erstmalig ihren Freund als Schlafgast in ihrem Zimmer. Wir haben kaum ein Auge zugekriegt. Auch wenn sie gerade 16 Jahre alt geworden ist, bleibt es ein komisches Gefühl. Wie kommst du denn darauf, dass Kim bei uns übernachtet hat?“, hinterfragte die Mutter von Sina.

Barbara Meininger zog verunsichert ihr Handy aus ihrer Fleecejacke hervor und zeigte die WhatsApp von Kim, die sie am Vorabend um 21:57 Uhr geschrieben hatte.

„Hallo Mama, ich schlafe heute bei Sina und bin nach dem Frühstück zurück.“

„Also bei uns war sie definitiv nicht“, versicherte Sinas Mutter.

Barbara Meininger rief umgehend bei Kim an, wo sofort die Mailbox ansprang. „Verdammt, Kim. Wo bist du? Wir sind auf dem Markt, bitte melde dich schnellstens“, forderte sie ihre Tochter auf und war stinksauer über diesen Vertrauensbruch, den sie von Kim noch nicht kannte.

„Vielleicht hat Kim auch einen neuen Freund und traute sich noch nicht, es euch zu sagen. Die meldet sich schon. Seid nicht so streng zu ihr. Bis bald, macht’s gut“, verabschiedete sich die Mutter von Sina und schmunzelte. „Diese Kim, das fängt ja früh an.“

Helmut Meininger hatte alle Kisten aus dem Transporter auf den Marktstand geladen, das Gespräch nebenbei registriert und versuchte, seine Frau zu beruhigen. „Hey, Schatz, mach da kein Drama draus. Sie wird sich schon offenbaren. Wir reden heute Nachmittag mit ihr. Okay?“

Am Stand bildete sich die erste Schlange an diesem Tag und die Kundschaft ging vor. Das Thema war erst mal vergessen.

Es dämmerte schon, als die Viererclique die angesagte Diskothek in Eimbeckhausen verließ. Sie hatten ausgelassen getanzt und ausgiebig den achtzehnten Geburtstag von Annika gefeiert. Ihr Freund Sven hatte sich bei ihr eingehakt. Sie stützten sich gegenseitig, sangen noch den letzten Song und wankten gemeinsam zum Parkplatz. Sonja stützte ihren Partner Nils, dem die Mischungen, die er alle durcheinandergetrunken hatte, in den Kopf gestiegen waren. Sonja hatte sich bereit erklärt zu fahren und lediglich beim Reinfeiern um Mitternacht mit einem Glas Sekt angestoßen. Sie half ihren alkoholisierten Freunden in ihren kleinen Renault Clio, wobei Nils auf dem Beifahrersitz sofort Beats Radio aktivierte und sich die Stimmung von der Tanzfläche im Auto fortsetzte. Sonja fühlte sich fit und wippte mit ihrem Körper zu den rhythmischen Technoklängen, während sie auf die Bundesstraße 442 in Richtung Bad Münder auffuhr.

An diesem Samstagmorgen war nicht viel Verkehr, wobei ein Nieselregen einsetzte und die Intervalleinstellung des Scheibenwischers nicht mehr ausreichte. Vor ihr saß ein älterer Herr in einem Golf Plus, der unsicher nicht mehr als 80 Kilometer pro Stunde fuhr, obwohl hier 100 km/h erlaubt waren. Sonja ließ sich nicht anstecken, als ihre Mitfahrer sie lautstark animierten, ihn zu überholen. Die Strecke war kurvenreich und unübersichtlich und sie hatten Zeit. Auch ihr Freund stieg kräftig mit ein, trommelte im Takt der Musik auf das Armaturenbrett. Als er die Musik noch lauter aufdrehte, war Sonja genervt und wollte nur schnell nach Hause. Sie wartete, bis sie den Gegenverkehr weit einsehen konnte, und setzte zum Überholen an, als frei war. Ihre Mitfahrer feuerten sie weiter an. Sie stellte den Scheibenwischer auf die höchste Stufe und war froh, auf der Gegenspur keine Scheinwerfer zu sehen. Wie aus dem Nichts wurde Sonja plötzlich direkt von vorn geblendet, als ein großer Traktor von links aus einem Feldweg auf die Bundesstraße einbog. Sonja hatte weder die Gelegenheit zu bremsen noch auszuweichen. Der Renault Clio krachte frontal mit etwa 100 km/h in die landwirtschaftliche Maschine, die vorn auf der Ballengabel zwei große Strohballen transportierte. Die Insassen hatten nicht den Hauch einer Chance. Ihre Körper wurden durch die starken Ballengabeln durchstoßen, bevor die überdimensionalen Reifen des Treckers den Kleinwagen überrollten und unter seinem Gewicht wie ein Panzer förmlich zermalmten. Der Fahrer des VW Golf war von dieser unvorhergesehenen Gefahrensituation völlig überfordert. Der Pkw wurde beim Versuch einer Vollbremsung von der Fahrbahn geschleudert und kollidierte mit einer massiven Eiche am Straßenrand.

Der Landwirt wurde in seinem Führerhaus hin und her geschleudert, überlebte den Unfall aber mit leichten Verletzungen und konnte zitternd den Notruf absetzen.

Als die Meldung in der Einsatzzentrale der zuständigen Polizeiinspektion in Bargenstedt einging, hatten sich die Beamten der Nachtschicht schon auf ihren verdienten Feierabend eingestellt. Daraus wurde nichts. Sämtliche verfügbaren Einsatzkräfte wurden alarmiert und in diesen Einsatz beordert.

„Deister an alle, Deister an alle. Schwerer Verkehrsunfall auf der B 442 zwischen Eimbeckhausen und Bad Münder. Frontalzusammenstoß mit Landmaschine. Ein weiterer Pkw soll von der Fahrbahn abgekommen und mit einem Baum kollidiert sein. Mehrere Personen vermutlich schwer verletzt und eingeklemmt. Einsatzführung übernimmt 76.1. Deister 76.3 und 76.4 koordinieren die Absperrmaßnahmen und Einweisung der Rettungskräfte. Feuerwehr und Notärzte sind auf der Anfahrt. Aus Hannover unterstützt euch Christoph 4. Sobald die Frühschicht vor Ort ist, werdet ihr rausgelöst. Deister 76.1: Erwarte Erstmeldung bei Eintreffen. Deister Ende.“

Der 38-jährige Einsatzführer des Polizeikommissariats Bargenstedt, Polizeioberkommissar Andreas Kessler, und seine 27-jährige Kollegin, Polizeikommissarin Susanne Reimann, hielten sich zum Zeitpunkt der Alarmierung im Zentrum Bargenstedts auf und wunderten sich, nicht bei dem schweren Unfall eingesetzt zu werden.

„Deister von 76.2. Sollen wir auch mit zur B 442 rüberziehen?“, fragte POK Kessler nach.

„Nein, ich habe gerade Beschwerden von den Standbetreibern des Wochenmarktes. Hier sind wieder Fahrzeuge geparkt, die den Aufbau behindern. Fahrt bitte rüber und regelt die Abschleppmaßnahmen. Ihr seid zudem meine eiserne Reserve, bis die Frühschicht übernommen hat. Deister Ende.“

„76.2 verstanden“, bestätigte die junge Polizeikommissarin.

„Und dass bei diesem Wetter auch noch zum Feierabend“, bemerkte sie.

Solche Einsätze waren für die Polizisten am Deister leider Routine. Die Bundesstraße 442 war seit Jahren ein Brennpunkt schwerster Unfälle, die oft tödlich endeten.

Am Marktplatz angekommen, wurden sie wieder einmal von aufbrausenden Händlern empfangen. An den Markttagen war dort ein temporäres Halteverbot eingerichtet. Einige Anwohner dachten abends einfach nicht daran, ihre Fahrzeuge pünktlich zu entfernen. Über eine Halterfeststellung versuchte die Streifenbesatzung die Anwohner zu erreichen, damit sie kurzfristig ihren Pkw wegfahren konnten. Gelang das nicht, wurde ein Abschleppunternehmen beauftragt, was sich schon personell auf die Markttage und bevorstehenden Einsätze vorbereitet hatte.

Barbara Meininger hatte die Polizisten schon gesehen, verließ ihren Marktstand und begrüßte den Einsatzführer. „Moin Andi, hast du mal einen Moment?“

„Hallo Barbara, na klar, aber ich sehe, ihr baut schon auf und braucht unsere Hilfe heute Morgen nicht“, erwiderte der Polizist.

Die beiden kannten sich aus der Schule, denn Kim Meininger und Conrad Kessler gingen in dieselbe Klasse.

„Darum geht es nicht. Kim hat uns gesagt, dass sie gestern Abend bei einer Freundin übernachten würde. Von der Mutter habe ich gerade erfahren, dass Kim definitiv nicht bei ihr war und die Mutter davon auch nichts wusste. Wir machen uns Sorgen, dass sie irgendwo ist und wir das nicht erfahren sollten. Kannst du in deiner Schicht mal die Augen aufhalten?“, bat Barbara Meininger besorgt.

„Wir sind noch die Nachtschicht“, erklärte der Beamte, als ihn seine Kollegin unauffällig in die Seite stieß. Ihr Kollege, der die Kommissarin ausgebildet hatte, verstand sofort.

„Mach dir keine Sorgen. Kim ist ja schon 15 und vielleicht hat sie bereits ihren ersten Freund, den sie euch noch geheimhält. Ich gebe das aber gerne an die Kollegen der Frühschicht weiter“, versuchte er die Mutter zu beruhigen.

„Vermutlich hast du recht, Andi. Dann schlaft euch mal aus. Schönes Wochenende und bis bald“, verabschiedete sie sich.

„Ich dachte, du wolltest ihr gegenüber schon den schweren Unfall auf der B 442 erwähnen. Die hätte einen Schock erlitten“, befürchtete die junge Beamtin.

„Dann hoffen wir mal, dass sie nicht dabei ist. Ach, da ist ja der Abschlepper für den ersten Einsatz“, stellte er fest und beide kümmerten sich um die Beeinträchtigung der Marktbetreiber.

Polizeioberkommissar Andreas Kessler und Polizeikommissarin Susanne Reimann hatten in diesem Augenblick den dritten Falschparker auf dem Markt abschleppen lassen, als ein Einsatz sie erreichte: ‚Lebloses Mädchen mit starken Blutungen auf dem Gelände der KGS aufgefunden. Notarzt und RTW rollt. Ich habe keine freien Kräfte aus der Frühschicht. Ihr müsst noch mal ran. Sonderrechte frei! Der Hausmeister der Schule, Herr Krause, weist euch ein. Ich halte ihn am Draht und gebe euch aktuelle Infos‘.

Der Wochenmarkt war keine fünf Minuten Fahrtzeit von der KGS entfernt und an einem Samstagmorgen war kaum Verkehr zu erwarten.

Polizeioberkommissar Kessler war stellvertretender Dienstschichtleiter und ein erfahrener Beamter. Er wohnte mit seiner Familie in Bargenstedt und sein 13-jähriger Sohn ging in die 7. Klasse der KGS. Sogar Herrn Krause, den Hausmeister, und das Schulgelände kannte POK Kessler gut.

Mit seiner jungen Kollegin verstand sich Kessler. Sie waren mittlerweile gut eingespielt und fuhren regelmäßig gemeinsam Streife.

Während der rasanten, aber besonnenen Anfahrt folgten weitere Informationen des Lagezentrums. „Deister an alle eingesetzten Kräfte KGS: Der Anrufer meldet nun doch vitale Zeichen an der aufgefundenen Person. Deister 76.2: Ihr werdet etwa drei Minuten vor dem Notarzt vor Ort sein. Herr Krause weist euch an der Einfahrt ein.“

Nach kurzer Abstimmung unter den Einsatzkräften griff Polizeikommissarin Reimann das Funkgerät. „Deister von 76.2. Wo genau ist der Fundort? Andi kennt das Gelände sehr gut. Der Zeuge soll beim Opfer bleiben. Wir kommen zurecht.“

„76.2 von Deister: Das ist verstanden. Der genaue Fundort sind die Tischtennisplatten auf dem Schulgelände“, bestätigte der Einsatzbeamte.

„Herr Krause, die Kollegen wissen, wo sie hinmüssen. Bleiben Sie jetzt doch bitte bei der Person. Können Sie die Verletzte in eine stabile Seitenlage bringen?“, fragte der Beamte der Leitstelle.

„Nein, das geht nicht! Sie ist ja an die Platte gefesselt“, offenbarte der Zeuge erstmalig.

„Wie gefesselt?“, hakte der Polizist nach, als die erste Standortmeldung der Streife einging.

„Deister 76.2 vor Ort, steigen aus.“

POK Kessler stoppte unmittelbar vor den Tischtennisplatten und beide sprinteten auf die Verletzte zu.

„Ach du Scheiße! Susi, schnapp dir Herrn Krause und Abstand“, forderte er seine Kollegin auf. Ihm war auf den ersten Blick klar, dass dieser Einsatz eine Dimension einnimmt, die in dem kleinen Städtchen mit 25.000 Einwohnern alles andere als alltäglich ist.

„Deister von 76.2: Erster Lagebericht: Mädchen oder junge Frau auf Tischtennisplatte in Rückenlage an den Händen gefesselt. Massive Stichverletzungen am gesamten Körper, Gesicht zertrümmert. Vitalzeichen dennoch vorhanden. Der Notarzt soll Gas geben, und ihr könnt schon die Tatortgruppe sowie das FK 1 mit großem Programm alarmieren. Ich mache erste Handyfotos und löse die Fesseln für die Reanimation,“ meldete der Oberkommissar.

„Deister hat verstanden“, bestätigte der Einsatzleitbeamte.

POK Kessler schoss eine Vielzahl von Fotos aus allen Richtungen, um die Situation am Tatort, die sich in den nächsten Minuten total verändern sollte, zumindest so gut wie möglich zu sichern.

Der Beamte zog sein Leatherman aus dem Holster, zog sich Latexhandschuhe zur Spurenvermeidung über, zerschnitt mittig die zur Fesselung beider Arme genutzte Kordel und versuchte, auf das Opfer einzureden. Erst jetzt bemerkte er unter dem Blut im Gesicht, dass ein schwarzes Panzertape zweimal um den Mund und Hinterkopf fixiert war. Der erfahrene Beamte hob den Kopf der Verletzten kurz an, durchtrennte im Nackenbereich die Lagen des Klebebandes, hob es vorsichtig vom Mund ab und legte es seitlich auf die Betonplatte.

„Hallo, ich bin Andi von der Polizei. Der Notarzt ist gleich bei dir. Kannst du mich verstehen?“

Das Opfer versuchte sich zu artikulieren, was allerdings wieder nur von einem Röcheln samt blutiger Blasenbildung begleitet wurde.

Der Polizist wurde plötzlich grob am Arm zurückgezogen und der Notarzt Dr. Oltendorf samt der Rettungssanitäter übernahmen die weiteren Maßnahmen.

Die junge Kommissarin sprach mit dem Fahrer des Notarztwagens, der die Personalien der Verletzten erfragen wollte.

„Sorry, wir haben nichts. Keinen Ausweis, und schau sie dir an, die würden nicht einmal die eigenen Eltern erkennen“, stellte Susi Reimann fest.

„Was für ein Morgen. Wir kommen gerade von der B 442, wo die Feuerwehr gerade die Leichen von vier jungen Leuten aus dem Auto schneidet. Frontalzusammenstoß mit einem riesigen Trecker, der auch noch seine Ballengabeln ausgefahren hatte. Sie hatten keine Chance. Ein älterer Autofahrer, der überholt wurde, ist durch den Schreck gegen einen Baum geknallt. Auch ihm war nicht mehr zu helfen. Der Treckerfahrer hat bis auf ein paar Prellungen nichts abbekommen. Deshalb konnten wir so schnell hier sein“, schilderte der Feuerwehrmann betroffen.

Susi musste an die besorgte Mutter vom Markt denken, wurde aber aus ihren Gedanken gerissen.

Nach einer ersten Diagnose verlor der versierte Notarzt keine Zeit.

„Ab mit ihr in den RTW und dann Vollgas. Das wird verdammt eng.“

POK Kessler legte die mit einem schweren Gegenstand beschwerte Rettungsdecke auf die Tischtennisplatte, um die verbliebenen verknoteten Reste der Kordel sowie des Klebebandes und die Fläche vor dem Regen zu schützen. Vielleicht waren doch noch Spuren eines Täters zu sichern.

Das Team nahm die erste Aussage des Hausmeisters auf und wartete auf das Eintreffen der Tatortgruppe.

Während der gesamten Fahrt versuchte das Rettungsteam die Blutungen zu stoppen, Infusionen zu legen und die Vitalfunktionen aufrechtzuerhalten. In Abstimmung mit Dr. Oltendorf erfolgte über den Fahrer des Rettungswagens die Ankündigung im Kreiskrankenhaus.

„Junge Patientin mit multiplen Stich- und Schnittverletzungen, Zertrümmerung des Gesichtsschädels, massiver Blutverlust, Vitalfunktionen aktuell über extern. Wir brauchen etwa sieben Minuten. Drückt uns die Daumen!“

In der Notaufnahme des Kreiskrankenhauses Bargenstedt erklang ein schriller Ton und eine rote Rundumleuchte auf den Fluren wurde aktiviert.

Anna Kessler war Stationsschwester in der Notfallambulanz und wollte gerade eine ältere Dame, die sich den kleinen Zeh gebrochen hatte, ins Behandlungszimmer führen, als der Alarm für akute Notfälle ausgelöst wurde.

„Es tut mir leid, ich muss Sie noch mal ins Wartezimmer zurückbringen, wir haben einen Notfall, der gleich mit einem Rettungswagen gebracht wird. Vielen Dank für Ihr Verständnis“, erklärte die Schwester höflich.

Die ältere Dame war empört. „Ich bin auch ein Notfall und war viel eher hier. Das geht hier doch wohl der Reihe nach. Ich werde mich über Sie beschweren und bestehe darauf, sofort den Arzt zu sprechen.“

Anna Kessler waren derartige Reaktionen und auch der Umgang mit dem Personal insbesondere der Notaufnahme nicht unbekannt. Sie ließ die ältere Dame schimpfen, schob sie in einem medizinischen Rollstuhl zurück in den Wartebereich.

„Ich werde dem Doktor Bescheid geben. Er wird sich Ihrer sicher annehmen, wenn er das Leben der anderen Patienten im OP gerettet hat und Zeit für Sie findet“, versuchte die Schwester zu erklären.

Unter externer Beatmung und stetiger Herzdruckmassage wurde die Schwerstverletzte in den Schockraum gebracht, in dem ein Team an Spezialisten um das Leben des Mädchens kämpfen wollte.

Sie schafften es nicht mehr. Der Todeseintritt wurde um 07:53 Uhr bescheinigt.

Die Ärzte und das Schwesternteam standen fassungslos neben dem Leichnam, blickten wütend auf die massiven Verletzungen und die beiden durchtrennten Kordeln um die Handgelenke. Sie waren in ihrem Alltag so einiges gewohnt, blieben aber auch nur Menschen und stießen manchmal an die Grenzen des physisch und psychisch Erträglichen.

Dr. Oltendorf war völlig durchgeschwitzt und erschöpft, seine Kleidung blutbeschmutzt. Er brach das betroffene Schweigen. „Vielen Dank für euer Engagement. Auch wir hatten keine Chance mehr, dieses junge Leben zu retten. Das ist jetzt eine Polizeileiche. Da geht jetzt keiner mehr ran, alles bleibt unverändert. Der Tag hat für einige von euch gerade erst begonnen und wir müssen nun auch allen anderen Patienten, die draußen auf uns warten, gerecht werden. Anna, ich springe kurz unter die Dusche, dann können wir weitermachen, bis die Polizei sicherlich einige Fragen an mich hat. Auf geht’s, Leute.“

Anna Kessler wechselte die verschmutzte OP-Kleidung, machte sich frisch und wollte sich wieder den wartenden Patienten in der Notaufnahme widmen, als ihr Mann mit seiner Kollegin Susi Reimann vor ihr stand.

Auf den fragenden Blick der beiden Polizisten konnte sie nur den Kopf schütteln und ihren Mann in die Arme schließen.

„Wer, um Himmels willen, macht so etwas? Es ist ein Albtraum. Ich möchte mir nicht vorstellen, wenn Conny plötzlich hier eingeliefert wird. Schrecklich!“, stöhnte die Krankenschwester sichtlich berührt.

„Wir kriegen diese Bestie und dann gnade ihm Gott“, kündigte der Einsatzführer des Kommissariats unter nickender Zustimmung seiner Kollegin an.

„So, jetzt muss ich den Hebel umlegen. Im Wartezimmer sitzen Patienten in Lebensgefahr. Bis nachher, Schatz. Tschüss, Susi. Passt auf euch auf“, verabschiedete sich Anna von ihrem Mann mit einem Kuss und einer Umarmung von seiner Kollegin.

„Das wurde ja auch Zeit, Schwester. Wir warten hier stundenlang und es gibt nicht einmal was zu essen. Wo ist der Arzt dieses unfähigen Ladens?“, wurde sie von der älteren Dame mit dem verletzten kleinen Zeh begrüßt.

Ein super Start in den Tag mit sicherlich vielen weiteren Herausforderungen.

Kapitel 2Die ersten Ermittlungen

Dr. Oltendorf hatte die Polizei über das Ableben des Mordopfers aus der KGS informiert.

Durch den Leiter des Fachkommissariates 1, den Ersten Kriminalhauptkommissar Jan Radek, war die Tatortgruppe zum Fundort des Opfers zur Tatortaufnahme und ein Team der Mordbereitschaft ins Kreiskrankenhaus zur kriminalpolizeilichen Leichenschau beordert worden. Außerdem wurde die Bereitschaft des rechtsmedizinischen Instituts der Medizinischen Hochschule Hannover durch das Fachkommissariat 1 angefordert. Dr. Sandra Stockinger sagte telefonisch zu, unmittelbar ins Kreiskrankenhaus zu fahren. So konnte die Mordbereitschaft mit der Rechtsmedizinerin gemeinsam die Leichenschau durchführen und einen zeitnahen Obduktionstermin einplanen.

POK Kessler hatte umgehend dem FK 1 die ersten Fotos der Fundsituation zugesandt, die an EKHK Radek weitergeleitet wurden. Der Kommissariatsleiter sagte unverzüglich den Einsatz der Mordbereitschaft und die organisatorische Einrichtung einer Mordkommission zu. Außerdem informierte er seine Vorgesetzten und den Bereitschaftsdienst der Staatsanwaltschaft Bargenstedt über den außergewöhnlichen Fall.

Die beiden Beamten der Mordbereitschaft trafen fast zeitgleich mit der Rechtsmedizinerin Dr. Sandra Stockinger in der Notfallambulanz ein. Das Trio suchte erst das Gespräch mit dem verantwortlichen Notarzt Dr. Oltendorf über seine Wahrnehmungen vor Ort und die ersten medizinischen Maßnahmen. Der Notarzt konnte sich erinnern, dass weder er noch sein Team die Kordeln an den Handgelenken bewusst verändert hatten. Gegenstände oder gar Ausweispapiere, die über die Identität des Opfers Aufschluss gaben, hatten sich nicht finden lassen. Alle eingesetzten Rettungskräfte waren mit einer Speichelprobe zum Abgleich mit eventuellen Täterspuren einverstanden.

Die Beamten der Mordbereitschaft dokumentierten die aktuelle Situation des Leichnams im Schockraum des Krankenhauses sowohl foto- als auch videografisch. In gegenseitiger Abstimmung entschlossen sie sich, die aktuelle Lage des Leichnams nicht zu verändern und sich nur auf die sichtbare Beschreibung zu beschränken.

In der eigentlichen Obduktion sollten dann die kriminaltechnischen Spurensicherungsmaßnahmen durchgeführt und detaillierte rechtsmedizinische Diagnosen getroffen werden.

Leider war der Zustand des Gesichts nicht geeignet, jemandem Fotos für eine Identifizierung des Opfers vorzulegen.

Tattoos und Narben waren auf den ersten Blick nicht wahrzunehmen. Eine parallel verlaufende Überprüfung von Vermisstenfällen verlief negativ. Bei der ersten Inaugenscheinnahme der Verletzungen fiel Dr. Stockinger eine dünne Goldkette auf, die durch die massiven Blutantragungen im Halsbereich zunächst kaum sichtbar war. Die Kriminalbeamten fotografierten den Bereich mit einem Makroobjektiv und konnten in der Vergrößerung im Kameradisplay sehen, dass ein Anhänger durch einen Stich in den Hals in dem Stichkanal steckte. Die Rechtsmedizinerin zog vorsichtig an der Kette und brachte videografisch dokumentiert einen kleinen goldfarbenen Anhänger mit den Buchstaben ‚KM‘ zum Vorschein.

Auf dem im vorderen Bereich aufgerissenen, ehemals cremefarbenen T-Shirt war ein Aufdruck vom Hard Rock Cafe Amsterdam sichtbar.

Der Fall hatte sich wie ein Lauffeuer in der Kleinstadt herumgesprochen. Die ersten Pressefotografen und Kamerateams waren an der KGS eingetroffen, sodass die Polizeiinspektion Bargenstedt Pressesprecher vor Ort einsetzten, um die Medienvertreter mit gesicherten und vertretbaren Informationen zu versorgen.

Auch auf dem Markt war nun nicht nur der tragische Unfall, sondern ebenso der Fund eines schwer verletzten Mädchens auf dem Schulgelände allgegenwärtiges Thema. Der Tod des Mädchens war allerdings noch nicht bekannt geworden.

Die Mutter von Sina reihte sich wieder in die Schlange am Gemüsestand ein und war total aufgewühlt.

„Na, Anni, hast du noch etwas vergessen?“, begrüßte Barbara Meininger die Mutter der Freundin ihrer Tochter.

„Hat sich Kim mittlerweile gemeldet?“, fragte sie unsicher und mit einem Unterton, der Frau Meininger Angst machte.

„Nein, bislang keine Nachricht. Wahrscheinlich ist sie längst zu Hause und der Akku ist leer. Wieso fragst du so besorgt? Hast du was gehört?“, hakte Kims Mutter nach.

„Habt ihr noch nichts gehört? Auf der B 442 ist ein schwerer Unfall mit mehreren Toten geschehen und auf dem Gelände der KGS soll ein junges Mädchen schwer verletzt aufgefunden worden sein. Sie ist wohl unter Notarztbegleitung ins Kreiskrankenhaus gebracht worden. Mehr weiß ich auch nicht“, informierte sie Anni.

Helmut Meininger hatte andere Kunden bedient und von dem Gespräch nichts bemerkt.

„Helmut, mach meine Kunden mal kurz mit. Ich muss mal telefonieren“, rief sie ihrem Mann zu.

Barbara Meininger versuchte es erst wieder auf dem Handy ihrer Tochter, jedoch vergeblich. Mailbox. Mit zittrigen Fingern gab sie auf Google ‚Kreiskrankenhaus Bargenstedt‘ ein und wählte die Nummer der Notfallambulanz.

„Notaufnahme, Schwester Anna, wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine freundliche Stimme.

„Hallo, mein Name ist Barbara Meininger, ich vermisse meine 14-jährige Tochter Kim und habe gerade von dem verletzten Mädchen gehört, das bei Ihnen eingeliefert wurde“, schluchzte die Anruferin ins Telefon.

Bei der freundlichen Krankenschwester zog sich alles zusammen. Was war das für ein Tag? Sollte alles noch viel schlimmer kommen?

„Hallo Frau Meininger. Wir kennen uns. Ich bin Anna Kessler. Mein Sohn Conny und Kim gehen in die gleiche Klasse. Bleiben Sie bitte kurz dran. Ich leite Sie weiter“, vertröstete sie die verzweifelte Mutter.

Sie konnte und durfte ihr nicht sagen, dass sie dem Mädchen nicht mehr helfen konnten, und eilte in den Schockraum, um das Gespräch Dr. Oltendorf zu übergeben. Anna Kessler traf aber nur die Kriminalbeamten und die Rechtsmedizinerin an. Ihr Blick war anscheinend so verzweifelt, dass Kriminaloberkommissarin Monika Albert sie ansprach. „Was ist passiert? Können wir helfen?“

„Ich habe eine Mutter in der Leitung. Wir kennen uns. Sie heißt Barbara Meininger und vermisst ihre Tochter Kim. Sie geht mit meinem Sohn in dieselbe Klasse. Ich kann ihr doch nicht sagen, dass Kim ...“

Weiter kam sie nicht. Die Schwester brach in Tränen aus und die Polizistin nahm das Gespräch an, während die Rechtsmedizinerin auf den Kettenanhänger zeigte und flüsterte: „KM. Kim Meininger!“

„Guten Tag Frau Meininger, mein Name ist Albert von der Kriminalpolizei. Frau Kessler erwähnte, dass Sie Ihre Tochter Kim vermissen. Wann haben Sie Kim das letzte Mal gesehen?“, hinterfragte die Oberkommissarin sensibel.

Barbara Meininger bekam kaum einen vollständigen Satz heraus, schilderte aber den Ablauf des gestrigen Abends und die WhatsApp-Nachricht, die sich heute Morgen als falsch herausstellte. Als sie ergänzte, dass sie ihre Tochter auch heute Morgen nicht erreichen konnte, ahnte Monika Albert, was kommen musste. Sie brauchte aber Gewissheit.

„Frau Meininger, auch wenn es Ihnen aktuell schwerfällt, können Sie Ihre Tochter beschreiben? Was hatte sie gestern Abend an? Hat sie Tattoos, trägt sie Schmuck?“

Für die Mutter war die Situation voller Ungewissheit beängstigend, aber sie riss sich zusammen. „Kim hat keine Tattoos. Gestern Abend trug sie einen hellen Sommerrock, helle Chucks und ich glaube, ihr T-Shirt der letzten Klassenfahrt nach Amsterdam aus dem Hard Rock Cafe. An Schmuck trägt sie immer ihre Kette mit ihren Initialen. Hilft Ihnen das?“, hakte die Mutter resigniert nach.

Die Kriminalbeamtin ging nicht darauf ein, sondern stellte eine neue Frage. „Frau Meininger, wo sind Sie zurzeit? Ist jemand bei Ihnen oder sind Sie allein?“

„Warum ist das jetzt wichtig? Mein Mann und ich sind gerade auf dem Wochenmarkt auf dem Marktplatz und verkaufen unsere Erzeugnisse“, schluchzte die besorgte Mutter ins Telefon.

In diesem Moment ergriff ihr Ehemann das Telefon. „Meininger, wer spricht dort? Was machen Sie mit meiner Frau?“

„Herr Meininger, mein Name ist Kriminaloberkommissarin Monika Albert. Es geht um Ihre Tochter. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind, und bleiben Sie vor allem bei Ihrer Frau. Ich schicke umgehend zwei Kollegen zu Ihnen, die alles erklären werden. Kann ich mich auf Sie verlassen, Herr Meininger? Wo genau stehen Sie auf dem Marktplatz?“, ließ die Kriminalbeamtin nicht locker.

„Direkt gegenüber dem Rathaus“, konkretisierte der Landwirt und beendete verunsichert das Gespräch.

„Bei dem Opfer wird es sich um eine Schülerin der KGS, Kim Meininger, handeln. Ihre Eltern vermissen sie seit gestern Abend und betreiben momentan einen Stand auf dem Wochenmarkt“, klärte die Polizistin auf und entschied: „Bevor wir andere Kollegen einweisen, fahren wir selbst rasch rüber. Hier sind wir erst mal fertig. Bis nachher, Sandra.“

„Okay, ich drücke euch die Daumen, das wird nicht einfach. Ich kümmere mich um die Obduktion und melde mich. Bis nachher“, sicherte die Rechtsmedizinerin zu.

Helmut Meininger hatte seinen Gemüsestand geschlossen und gerade die Ware in seinen Kleintransporter verstaut, als sich ihm Kriminaloberkommissarin Albert sowie ihren jungen Kollegen vorstellte und direkt fragte: „Herr Meininger, wo ist Ihre Frau?“

Der Landwirt blickte in Richtung einer Parkbank, auf der eine Frau zusammengekauert zu Boden blickte und ihr eine weitere Frau tröstend die Hände hielt. „Wer ist die andere Frau, Herr Meininger?“, musste die Polizistin wissen.

„Das ist Anni, die Mutter von Kims Freundin, bei der sie angeblich übernachtet hatte“, klärte der Vater von Kim auf.

Er hatte den Rettungswagen zwar registriert, aber nicht damit gerechnet, dass er eigentlich für seine Frau und ihn angefordert worden war. Als nun noch ein Notarzt und Notfallseelsorger hinzutraten, war für ihn klar, was kommen musste.

„Kommen Sie bitte mit, Herr Meininger. Ihre Frau braucht Sie jetzt.“

Sie hatten keine Chance, auf dem Wochenmarkt einen ruhigen, unbeobachteten Platz aufzusuchen. Monika Albert kniete sich vor die Parkbank und legte ihre Hand auf ein Knie von Barbara Meininger. „Hallo Frau Meininger, mein Name ist Monika Albert von der Polizei. Wir hatten gerade telefoniert. Ist es okay, wenn Ihre Freundin neben Ihnen sitzen bleibt?“

Barbara Meininger nickte nur schwach. Ihr Mann setzte sich ebenfalls auf die Bank und nahm seine Frau in den Arm, die nun in der Mitte zwischen zwei vertrauten Menschen saß.

Die Oberkommissarin hatte des Öfteren solche Botschaften übermitteln müssen. Routine war es nie. Bei einer gewissen Empathie war es eine enorme psychische Belastung, Menschen vom Tod naher Angehöriger zu informieren und dann sogar auf Einzelheiten der Todesumstände eingehen zu müssen.

„Es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Kim heute Morgen durch den Hausmeister der KGS schwer verletzt auf dem Schulhof aufgefunden wurde. Sie ist noch ins Krankenhaus eingeliefert worden und die Ärzte haben mit allen Mitteln um ihr Leben gekämpft, es aber nicht geschafft, Kim zurückzuholen. Mein aufrichtiges Beileid. Wir würden Sie jetzt gerne nach Hause bringen und uns mit Ihnen über Kim unterhalten, um die Todesumstände aufzuklären. Wären Sie damit einverstanden?“

Die Beamtin versuchte, sie von der Frage abzulenken, die sie in dieser akuten Phase noch nicht beantworten wollte. Aber genau diese Frage kam unmittelbar von Helmut Meininger: „Was sollen wir zu Hause? Wir fahren ins Krankenhaus und wollen sie sehen!“

Barbara Meininger saß, am ganzen Körper bebend, nach vorn übergebeugt auf der Bank und gab Geräusche von sich, die kaum zu beschreiben waren. Von fast Atemnot über ein Schnaufen und Brummen wechselten die Laute zu Weinen und Schreien. Der Notarzt und eine empathische Rettungssanitäterin griffen ihr unter die Arme und führten sie zum Rettungswagen. Der Notfallseelsorger begleitete sie.

„Anni, kannst du auch mitfahren? Ich baue den Stand ab, bringe ihn nach Hause und komme ins Krankenhaus. Ist das auch für Sie in Ordnung?“, fragte Helmut Meininger die Kriminaloberkommissarin.

„Natürlich, aber ich fände es angemessen, wenn mein Kollege den Transporter fährt. Wir helfen Ihnen beim Abbau. Sind Sie einverstanden, Herr Meininger?“, schlug Monika Albert vor.

Helmut blickte an seinem Körper herunter und bemerkte, dass er das Zittern überhaupt nicht unter Kontrolle hatte.

Den anderen Marktbetreibern und auch Kunden war die Situation nicht verborgen geblieben. Von den anderen Ständen kamen Bauern, Schlachter und Fischhändler betroffen hinzu. Sein direkter Standnachbar ergriff die Initiative.

„Helmut, du bleibst bei deiner Frau und fährst mit der Polizei. Gib uns den Schlüssel. Wir fahren deine Ware auf den Hof und werfen den Schlüssel in den Briefkasten. Wenn ihr uns braucht, sind wir da. Okay?“

Helmut Meininger umarmte dankbar seinen Kollegen und händigte ihm die Fahrzeugschlüssel aus.

Dann folgte er Monika Albert und dem jüngeren Kriminalbeamten in ihren Dienstwagen und sie fuhren dem Rettungswagen, der ohne Sonderrechte langsam in Richtung des Krankenhauses fuhr, hinterher.

„Herr Meininger, ich möchte offen zu Ihnen sein, auch wenn es die Situation für Sie noch verschlimmert. Kim ist Opfer eines Verbrechens geworden und wird in den nächsten Stunden obduziert. Es müssen noch Spuren gesichert werden. Sie können Ihre Tochter jetzt leider nicht sehen und persönlich Abschied nehmen. Es tut uns sehr leid, aber das geht nicht anders und ist erforderlich, um den Mörder Ihrer Tochter zu ermitteln“, versuchte die Beamtin sensibel zu erklären.

„Mein Gott, was gibt es für Menschen? Wer tut Kim so etwas an? Ist sie ...?“ Er konnte es nicht aussprechen und setzte mehrfach an. „Ist sie vergewaltigt worden?“

„Das wissen wir noch nicht und können Näheres erst nach der Obduktion klären. Vielleicht könnten Sie mit Ihrer Frau sprechen, dass ein Abschied aktuell nicht möglich ist“, bat Kriminaloberkommissarin Albert und bedankte sich, als sie ein leichtes Nicken des Vaters wahrnahm.

Kapitel 3Rückblick aus „Kanarenblut“ Die neue Situation des Teams der Operativen Fallanalyse des LKA Niedersachsen

Vor ein paar Wochen hatte sich das Team der OFA Niedersachsen auf einem Kreuzfahrtschiff, das die Kanarischen Inseln bereiste, an einer Crime Cruise beteiligt. Hier hielten hochkarätige Experten der Polizei, der Staatsanwaltschaft, des Gerichts und der Rechtsmedizin Fachvorträge. Das Profilerteam bot einen mehrtägigen Workshop zur Tatrekonstruktion und Täterprofilerstellung an. Während der Landausflüge konnten die Passagiere an fiktiven Tatorten Spuren sichern, die sie interpretieren und daraus ein Täterverhalten ableiten mussten. Mit jeder neuen Tat sollten sie den Täter einkreisen und sein Profil immer detaillierter skizzieren. Als das OFA-Team plötzlich mit echten Opfern und Tatorten konfrontiert wurde, eskalierte das Szenario unter den Teilnehmern und Experten.

Bei der Rückkehr im Hafen von Las Palmas auf Gran Canaria wurde der Leiter der OFA des LKA Niedersachsen, Thorsten Büthe, plötzlich von hinten niedergestochen (aus Kanarenblut, erschienen im März 2023).

Die hannoversche Rechtsmedizinerin Sandra Stockinger hatte sich vor dem Kreuzfahrtschiff, der MS Canaria, von den niedersächsischen Profilern verabschiedet. Mit den anderen Bandmitgliedern von Monday Five belud sie gerade das Großraumtaxi vor dem Kreuzfahrtterminal im Hafen von Las Palmas, als sie Schreie und Schüsse hörte.

Das Team der Ärzteband zögerte nicht und sprintete in Richtung der schreienden Menschen. Am Boden sah die Rechtsmedizinerin zwei Personen liegen, um die sich eine Blutlache ausbildete. Eine Frau am Boden wurde von mehreren bewaffneten Polizisten umlagert, als Sandra Stockinger in der anderen Person am Boden den LKA-Beamten Thorsten Büthe erkannte, um den seine Kollegen des OFA-Teams knieten.

„Kristin, lass mich mal ran. Was ist passiert?“, fragte sie die Profilerin.

„Die Psychologiestudentin aus unserem Workshop ist gerade auf Thorsten zugestürmt und hat ihm ein Messer in den Rücken gerammt“, klärte sie die Ärztin auf. Der Griff eines großen Schlachtermessers ragte aus der rechten Seite des Rückens heraus. Die Klinge steckte noch vollständig im Körper. Als ein Sanitäter herbeistürmte und das Messer herausziehen wollte, schrie die Rechtsmedizinerin laut: „Stop! Don’t move the knife!“

Der OFA-Leiter hatte die Augen geschlossen und war nicht ansprechbar. Die Rechtsmedizinerin legte den Körper des Profilers in eine stabile Seitenlage, wobei sie darauf achtete, dass das Messer in der Wunde nicht bewegt wurde. Sie legte zwei Finger auf eine Halsseite und spürte nur einen schwachen Puls.

Ihre Bandkollegen kehrten von der anderen Person, die von drei Schüssen der Guardia Civil in die Brust getroffen war, zurück und schüttelten den Kopf. Ihr war nicht mehr zu helfen. Durch die schnelle und konsequente Reaktion hatten die spanischen Polizisten weitere Stiche auf den Profiler sicher verhindert.

„Wir brauchen einen Rettungswagen, schnell. Thorsten muss sofort in den OP. Das Messer steckt tief in der Niere. Wird es bewegt oder gar herausgezogen, stirbt er uns unter der Hand weg“, diagnostizierte die erfahrene Rechtsmedizinerin. Ein durch Capitán Anna Ramos alarmierter Notarztwagen fuhr vor. Dr. Sandra Stockinger übergab den Schwerstverletzten ihren spanischen Kollegen, die ihre Einschätzung teilten und das Messer mit einem festen Verband um den Körper versiert in seiner Position fixierten. Die Rechtsmedizinerin der Medizinischen Hochschule Hannover informierte ihre Bandkollegen, dass sie den Transport ins Krankenhaus begleiten und später am Flughafen dazustoßen würde.

„Kristin, ich begleite Thorsten bis in den OP. Kommt ihr nach, dann wissen wir mehr. Das hier wird verdammt eng. Bis gleich“, verabschiedete sich Sandra Stockinger und verschwand im Rettungswagen, der sich lautstark mit Sirene und Blaulicht einen Weg durch die Passagiere der Canaria bahnte.

Das gesamte OFA-Team war geschockt. Jetzt kamen auch Kapitän Ole Watermann und der Security Director Gerrit Sander auf die Pier und ließen sich in die Situation einweisen.

„Was ist mit Thorsten, Kristin?“, fragte Gerrit Sander besorgt.

„Die Psychologiestudentin Anke Kerner aus unserem Workshop war die Komplizin und auch die Mörderin des Täters. Sie hatte Carlotta Bayer-Westholdt die Tat und die Situation an Bord gestanden, als sie plötzlich ein Messer zog, auf Thorsten zulief und es ihm mit voller Wucht in den Rücken stieß. Das Team von Anna Ramos konnte nur noch verhindern, dass sie weiter auf ihn einstach, und erschoss Anke Kerner“, klärte sie den Security Director und auch den Kapitän auf, der fassungslos bei ihnen stand.

Carlotta kämpfte mit den Tränen, als sie Thorstens Handy vom Boden neben seiner großen Blutlache aufhob und es ungläubig anstarrte.

„Thoooorsten ...!“, hörte sie Viccis verzweifelte Schreie aus dem Telefon.

„Hallo Vicci, ich bin’s, Carlotta. Es tut mir so leid. Du musst jetzt ganz stark sein“, versuchte die LKA-Psychologin Thorstens Ehefrau auf das vorzubereiten, was gerade geschehen war, und schilderte ihr unter Tränen die aktuelle Situation.

„Lebt er? Wie schwer ist er verletzt, Carlotta?“, flehte Vicci um beruhigendere Informationen.

„Ich weiß es nicht, Vicci. Der Rettungswagen ist gerade losgerast. Sandra Stockinger, unsere Rechtsmedizinerin, ist bei ihm und begleitet Thorsten ins Krankenhaus. Weiteres kann ich im Moment nicht sagen. Wir melden uns, sobald wir Näheres wissen. Mehr kann ich aktuell nicht tun. Tut mir wirklich leid“, entschuldigte sich die Psychologin und ließ Vicci mit der quälenden Ungewissheit zurück.

Carlotta ging mit Thorstens Handy zu ihrem Team, was sich gerade zusammenfand und ebenso schockiert war.

Die Psychologin berichtete von dem Telefonat mit Vicci, worauf Kristin das Zepter in die Hand nahm.

„Hier können wir nichts mehr für Thorsten tun. Ich kümmere mich um sein Gepäck, fahre ins Krankenhaus und bleibe hier. Ihr schnappt euch unsere Ausrüstung und fliegt zurück nach Hannover. Ich werde euch und auch Vicci über Thorstens Zustand benachrichtigen und melde mich bei euch, sobald ich Neues weiß“, entschied die stellvertretende OFA-Leiterin.

Carlotta fühlte sich für den Angriff auf Thorsten verantwortlich. Sie hatte Anke Kerner provoziert und eine derartige Reaktion einkalkulieren müssen.

„Ich bleibe auch und lasse mich von niemandem davon abbringen“, kündigte die Psychologin unmissverständlich an. Kristin zögerte kurz, aber nicht einmal sie hatte Widerworte.

„Okay, Maik, Saskia, Leander, bekommt ihr das hin? Ich werde auch Iris Höppner aus dem Krankenhaus informieren. Die Details könnt ihr dann ja morgen persönlich vortragen. Vielleicht haben wir dann aus dem Krankenhaus auch schon gute Nachrichten“, hoffte die Profilerin.

„Geben Sie uns bitte schnellstmöglich Bescheid, wie es Thorsten Büthe geht“, bat Kapitän Ole Watermann betroffen und verabschiedete sich mit Gerrit Sander von dem Profiler-Team. Die LKA-Beamten teilten sich auf zwei Taxis auf und machten sich auf den Weg ins Krankenhaus von Las Palmas und zum Flughafen.

Kristins Handy klingelte und der Name von Vicci Büthe erschien im Display.

„Hallo Vicci, Carlotta und ich sind gerade auf dem Weg ins Krankenhaus. Wir haben noch keinen neuen Stand und melden uns, sobald wir etwas Neues erfahren“, kündigte die Profilerin an.

Vicci und Kristin kannten sich seit 30 Jahren und vertrauten sich.

„Ich habe unsere Töchter Celina und Emma informiert und in drei Stunden einen Direktflug von Hannover nach Las Palmas gebucht. Egal wie das alles ausgeht, wir werden bei ihm sein. Wir kommen um 18 Uhr an und fahren dann direkt ins Krankenhaus. Ich werde dich nach der Landung anrufen, um zu erfahren, wo genau wir hinkommen müssen“, kündigte Vicci an.

„Okay, Dr. Sandra Stockinger begleitet Thorsten auch im Krankenhaus und wird für eine kompetente Behandlung sorgen. Wir können aktuell nur die Daumen drücken. Bis nachher“, verabschiedete sich Kristin.

Die Szenarien in den Köpfen der beiden LKA-Beamtinnen wollte keine von ihnen offen formulieren, sodass die Fahrt ins Krankenhaus beklommen schweigend erfolgte.

Thorstens Leben hing am seidenen Faden, als er von einem Ärzteteam in der Notaufnahme des Hospital Universitario de Gran Canaria Dr. Negrín übernommen wurde. Der jungen Rechtsmedizinerin wurde die Anwesenheit im OP zugesagt, wobei eine aktive Rolle nicht beabsichtigt war. Versiert wurden Thorsten Büthe unzählige Zugänge gelegt, während seine Kleidung vorsichtig zerschnitten und entfernt wurde. Nach den ersten Blutuntersuchungen waren entsprechende Blutkonserven beschafft und vorbereitet worden. Einer erforderlichen Kreislaufstabilisierung schloss sich ein CT an, um den Stichkanal samt dem feststeckenden Messer exakt beurteilen zu können.

Schon hier konnte festgestellt werden, dass die 17 Zentimeter lange Klinge des Fleischermessers die rechte Niere komplett durchstochen hatte. Kaum hatte das vierköpfige Ärzteteam das Messer entfernt, musste es die dann entstehende massive Blutung stoppen, wobei die Niere wohl nicht mehr zu retten war. Jetzt kam es auf die Gesamtkonstitution ihres Patienten an, ob er diese Operation überstehen würde.

Sandra Stockinger schrieb aus dem OP eine WhatsApp an Kristin. „Thorsten ist stabil. Wir beginnen jetzt mit der OP. Das Ärzteteam ist äußerst kompetent. Drückt uns die Daumen.“

Celina und Emma hatten mit ihren Ehemännern spontan eine Lösung gefunden, wie sie die Betreuung der Kinder in den nächsten Tagen gewährleisten konnten. Die erwachsenen Töchter trafen fast zeitgleich in der Doppelhaushälfte von Büthes in Isernhagen ein und fielen sich mit Vicci tränenreich in die Arme.

Nicht zu wissen, wie es um ihren Vater und Ehemann stand, machte sie wahnsinnig. Sie hatten auf die Schnelle je einen kleinen Koffer gepackt, der als Handgepäck deklariert werden konnte. So würden sie auf Gran Canaria nicht auf ihre Koffer warten müssen und konnten direkt nach der Landung ins Krankenhaus fahren. Während sie von Celinas Ehemann zum Flughafen gefahren wurden, ging die von Kristin weitergeleitete WhatsApp der Rechtsmedizinerin bei Vicci ein, die sie ihren Töchtern zeigte. Sie drückten sich die Hände und nickten sich motivierend zu, wobei sie ihre Tränen nicht zurückzuhalten vermochten.

Die Zeit vom Check-in bis zum Boarding kam ihnen unendlich lange vor, wobei die Boing von Condor pünktlich um zwanzig Minuten nach 13 Uhr in Richtung Las Palmas abhob. Während des Fluges über knapp fünf Stunden bis zur Landung von jeglicher Information abgeschnitten zu sein, war unerträglich und für die Familie Büthe kaum auszuhalten.

Das Taxi hielt am Eingang des Krankenhauses und ließ Kristin Bäumer und Carlotta Bayer-Westholdt samt ihren Koffern und auch dem Gepäck von Thorsten Büthe zurück. Nach der Anmeldung an der Rezeption der Klinik nahmen sie in der Cafeteria Platz und hofften auf ein erlösendes Signal von Sandra Stockinger. Kaum hatten sie sich einen Kaffee geholt, winkte ihnen am Eingang Capitán Anna Ramos in ihrer grünen Uniform der Guardia Civil zu.

„Hallo, ihr beiden. Habt ihr schon etwas gehört?“, fragte sie besorgt interessiert.

„Wir haben auch nur die Info, dass Thorsten gerade operiert wird. Unsere Rechtsmedizinerin darf dem Eingriff beiwohnen und wird uns schnellstmöglich in Kenntnis setzen. Thorstens Frau und beide Töchter sind gerade in Hannover abgeflogen und werden um 18 Uhr in Las Palmas landen. Sie melden sich dann bei uns“, brachte sie die spanische Kollegin auf Stand, die dann die LKA-Psychologin direkt ansprach.

„Carlotta, du hattest den letzten Kontakt zu Anke Kerner und hast den Angriff auf Thorsten unmittelbar beobachtet. Ich müsste dich dazu noch offiziell vernehmen. Können wir das vielleicht hier in einem Nebenzimmer machen?“, bat die spanische Polizistin. Die Psychologin war mit der Befragung einverstanden.

„Besser jetzt, das Warten ist unerträglich.“

Anna Ramos wandte sich an Kristin.

„Können wir dich kurz allein lassen? Dann entführe ich Carlotta für dreißig Minuten. Ich werde Kollegen zum Flughafen schicken. Kristin, du kannst gern mitfahren und Thorstens Familie abholen. Hier kannst du aktuell nichts tun“, bot die Polizistin an. Nachdem sie das gesamte Gepäck in den Nebenraum verstaut hatten, wartete Kristin auf die Kollegen der Guardia Civil, die zum Flughafen fahren sollten.

Sie nutzte die Zeit, um ihren Mann Henrik und Iris Höppner, die Dezernatsleiterin der Zentralstelle Gewalt im LKA Niedersachsen, über die Ereignisse vor Ort zu informieren.

Das Ärzteteam musste die Operation mehrfach unterbrechen, da der Kreislauf des Patienten kollabierte. Sie holten ihn jedoch wieder zurück und setzten die erforderlichen lebenserhaltenden Maßnahmen fort. Ihnen wurde bewusst, dass Thorsten Büthe bei Weitem nicht über den Berg war und noch ein langer Tag vor ihnen lag.

„Wir sind gelandet“, erschien auf dem Display von Kristins Handy, die bereits mit zwei Beamten der Guardia Civil im Terminal wartete.

Durch die Glasabtrennung konnte sie Vicci und ihre Töchter ausmachen, denen die Betroffenheit deutlich anzusehen war. Kristin hatte Celina und Emma schon im Kindergartenalter kennengelernt. Als sich die Schiebetür öffnete und sich ihre Blicke trafen, waren sie froh, ein vertrautes Gesicht zu sehen, und lächelten sich kurz an. Die folgende Umarmung geschah in Tränen aufgelöst.

„Danke, dass du uns abholst, Kristin. Hast du schon neue Informationen?“, fragte Vicci direkt.

„Thorsten ist noch im OP, was ein gutes Zeichen ist“, versuchte die Profilerin zu trösten.

Sie begrüßten die spanischen Polizisten, bedankten sich bei ihnen und wurden in dem zivilen Mercedes Vito mit abgedunkelten Scheiben ins Krankenhaus gefahren. Carlotta empfing Vicci und ihre Töchter herzlich und ebenso emotional. Eine attraktive Polizistin mit langen, pechschwarzen Haaren kam auf Vicci und die beiden Töchter zu und stellte sich in akzentfreiem Deutsch als Capitán Anna Ramos von der Guardia Civil vor.