Eiskalte Liebe
Ein Weihnachtsfest mit der Mafia
TONJA GOLD
Inhaltsverzeichnis
Wichtiger Hinweis
Glossar
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Danksagung
Tonja Gold
Eiskalte Liebe – Ein Weihnachtsfest mit der Mafia
Eiskalte Liebe
Ein Weihnachtsfest mit der Mafia
©Tonja Gold, 2024, Deutschland
Lektorat und Korrektorat: Aurora Flemming
Covergestaltung und Vorsatz: Schattmaier Design
Illustrationen: Tonja Gold
Charakterzeichnung: Miroslava Hrebeňárová
Bildmaterial: Shutterstock.com, Pexel.com, Fotografien von Tonja Gold
Buchsatz und Innendesign: Tonja Gold
ISBN: 978-375-926-569-2
Alle Rechte vorbehalten
Antonia Gebhardt
Heegermühler Weg 5
13156 Berlin
Instagram: @tonja_gold_autorin
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Für alle Blumen in dieser Welt, die davor Angst haben zu blühen:
Denkt daran, Eure Umgebung muss sich verändern; nicht ihr.
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Ich werde Weihnachten in meinem Herzen ehren und versuchen, es das ganze Jahr hindurch aufzuheben.
- Charles Dickens
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Alles, was zu dir gehört, kann man dir nicht nehmen. Alles, was nicht oder nicht mehr zu dir gehört, kannst du nicht behalten. Egal, wie viel Mühe du dir gibst. – R. Uhlrich
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Wichtiger Hinweis
Liebe Lesenden,
dieses Buch beinhaltet sehr ausführlich beschriebene Szenen zu sensiblen Themen. Die hier dargestellten Familienverhältnisse sind von grausamer Ausgrenzung, Beeinflussung, Liebesentzug, Mobbing, psychischer Gewalt und Vernachlässigung gezeichnet, die in dieser Geschichte frei erfunden sind.
Dazu hat die Protagonistin mit großem Misstrauen zu kämpfen, weshalb viele ihrer Handlungen anfänglich davon geprägt sind.
Das Verhalten zwischen den Hauptprotagonisten ist zu Beginn von eifersüchtigen Umgangsformen geprägt. Das Handlungselement von Feinden/Fremden zu Liebenden ist hier bitte wörtlich zu verstehen.
Weiterhin kommen in dem Buch Thematiken wie Angststörungen, Atemkontrolle, BDSM-Elemente, Beleidigungen, Bindungsängste, Bisse, Blutspiele, Depression, Dominanz, Einsamkeit, Gewalt, (traumatische) Geburten, ausführliche sexuelle Inhalte, Kriminalität, Messerspiele, kontrollierte Orgasmen, Panikattacken, Traumata, Selbstzweifel, selbstverletzendes Verhalten, derbe Sprache, der Thematisierung einer Uterusruptur, dem organisierten Verbrechen (Mafia), Verlustängste, Vertrauensproblemen und Wochenbettdepression.
Unter Umständen ist diese Liste nicht vollständig.
Bitte lies dieses Buch nur, wenn du dir sicher bist, dass du dich mit den oben aufgeführten Themen wohlfühlst. Wenn dem so ist, wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen.
Zum besseren Verständnis für das Buch, empfehle ich als erstes das Glossar zu lesen.
Glossar
Die höfliche Anrede im Russischen:
Im Russischen besteht die förmliche Anrede aus dem Namen und dem Vaternamen, wobei nach Geschlecht ein -o/witsch (m) oder -o/wna (w) an den Vaternamen gehangen wird.
Der Vatername:
Der Vatername ist der Vorname des Vaters, der jeweiligen Person.
Kurzformen und Kosenamen im Russischen:
Im Russischen wird selten der Vorname verwendet, sondern immer die Kurzform des jeweiligen Namens. Der Kosename, wie hierzulande der Spitzname.
Die Kurzformen und Kosenamen der wichtigsten Figuren:
Aljona: Lena, Aljonuschka
Karina: Kara, Karischa
Pawel: Pascha, Paschenka
Maria: Mascha, Maschenka
Nikolaj: Kolja, Koljenka
Konstatin: Kosta, Kostik
Der Nachname:
Im Russischen wird bei der Frau ein A an den Nachnamen gehangen.
Beispiel: Alexej Karenin, Anna Karenina
Russisch – Deutsche Übersetzungen
(Hinweis: Die russischen Wörter sind so ausgeschrieben, wie sie im Russischen ausgesprochen werden.)
- Iswinij, Pakhan
Kapitel 1
Aljona
“You see a sight that almost stops your heart. You try to scream but terror takes the sound before you make it.” – Thriller, Michael Jackson
Ich hasste meine Familie.
Nein, das stimmte nicht. Ich hasste sie nicht, zumal sie nicht einmal meine Familie waren, sondern Leute, mit denen ich zufällig verwandt war. Und ich verachtete sie – das war ein Unterschied.
Was ich tatsächlich hasste, war, dass ich meinen alljährlichen Weihnachtsurlaub auf Kuba unterbrechen musste, um nach Russland zurückzufliegen, nur weil ich Idiotin, meinen Laptop vergessen hatte. Mein Arbeitsgerät, mit dem ich Geld verdiente und auf dem sich wichtige Daten befanden, die ich für meine Arbeit brauchte. Darum war der Kauf eines neuen Computers keine Alternative. Und so etwas wie OneDrive oder sonstige Cloud-Dienste waren viel zu gefährlich, wenn einem seine privaten Daten am Herzen lagen.
„Och, blin[1]!“
Ich knirschte mit den Zähnen, legte genervt den Kopf gegen die Nackenstütze und schloss die Augen. Verdammte Scheiße! Wie hatte mir das nur passieren können? Wahrscheinlich war der vorgezogene Abflugtermin schuld daran gewesen, dass ich meinen geliebten Laptop im Zimmer liegen gelassen hatte. Die Mail hatte mich eiskalt erwischt, gerade als ich dabei gewesen war, den Koffer für meinen Weihnachtsurlaub auf Kuba zu packen. Ich wollte bis Februar dortbleiben und an den Covern und Lektoraten meiner Kunden arbeiten, bevor ich für vier Wochen weiter zu meiner Oma nach Berlin flog.
Tja – einen Scheiß konnte ich heute früh! Als ich am Morgen meinen Koffer geöffnet hatte und nach meinem Laptop im Geheimfach greifen wollte, hatte mich nicht nur gähnende Leere, sondern auch kurzzeitig panische Angst gepackt. Angst, das wichtigste Instrument meiner Selbstständigkeit verloren zu haben. Doch mit ein paar Anrufen im vorherigen und jetzigen Hotel und Überlegungen war ich zu dem verdammt ernüchternden und frustrierenden Schluss gekommen, dass ich meinen Laptop in Weliki Nowgorod vergessen hatte.
Weliki Nowgorod – die Stadt, in die ich seit sieben Jahren einmal jährlich zurückkehren musste, nur weil Oma damals beschlossen hatte, dass es Zeit für eine verfluchte Familienzusammenführung wäre! Na ja, … und weil es da noch diesen Treuhandfonds für mich gab, auf den ich nur dann Zugriff bekommen würde, wenn ich ihrer Forderung nachkäme. Pah! Und warum? Hoffte sie etwa, dass meine Erzeuger auf einmal doch noch so etwas wie elterliche Gefühle für mich entwickeln würden? Unwahrscheinlich – sie hatten mich schließlich sofort nach der schrecklichen Neuigkeit zu meinen Großeltern nach Berlin abgeschoben. Außerdem war ich nicht der erhoffte Sohn!
Omas Erklärung, dass ich vor allen Dingen deswegen zwei Tage nach der Geburt außer Landes geschafft worden war, weil einer von Pawel Lwowitschs Feinden mich damals töten wollte, konnte ich kaum Glauben schenken. Dass Karina Konstantinowa wegen der niederschmetternden Diagnose der Ärzte und der Wochenbettdepression sich nicht um mich kümmern konnte, schon eher. Außerdem hatten Pawel Lwowitsch und Karina Konstantinowa ja jetzt ihren ersehnten Sohn: Nikolaj Pawlowitsch. Wo sie ihn aufgegabelt hatten, wusste ich nicht; Blutsverwandt war er mit diesen beiden Unmenschen aber nicht, so viel wusste ich. Sie hatten mich mit ihm ersetzt. Punkt. Er musste als erkorener Unterboss Pawel Lwowitschs ganzer Stolz sein – laut meiner Oma. Es war mir das geringste Bedürfnis, diese Monster zu sehen.
Ich seufzte.
Eigentlich würde ich jetzt draußen auf meiner Terrasse sitzen, einen Cocktail schlürfen und am Coverentwurf meiner Kundin weiterarbeiten. Stattdessen sitze ich schon wieder in einem Flugzeug.
Ein Schauder erfasste mich und ich verzog das Gesicht. Bljat! Das war überhaupt nicht eingeplant gewesen. Ob ich meinen Aufenthalt als Kurzbesuch für das nächste Jahr verbuchen konnte? Keine Ahnung, aber in zwanzig Minuten würde das Flugzeug landen - wieder – und ich 364 Tage zu früh das Haus meiner Erzeuger betreten. Wie ich das hasste. Ich hätte am liebsten kotzen können. Über mich, über die Tatsache, dass ich meinen Laptop vergessen hatte und darüber, so früh wieder in dieses verfluchte Haus zurückzumüssen. Das Positive an dieser Situation war, dass der Militärflughafen dieses Jahr als ziviler Flughafen fertiggestellt worden war und ich nicht mehr über St. Petersburg fliegen musste.
Das zweite Positive war, wie mir gerade einfiel, dass ich keinen dieser Unmenschen sehen musste. Die befanden sich nämlich bereits zusammen mit ihren bekloppten Freunden und Clanmitgliedern in ihrem abgelegenen Waldhaus, irgendwo in den Tiefen der russischen Tundra, wo sie über Silvester bleiben würden. Also war es nur ein Rein und Raus.
Rein ins Haus, den Laptop holen; raus aus dem Haus, wieder zurück zum Flughafen.
Ich seufzte erneut. Ich hätte mir den Laptop nicht einmal zuschicken lassen können. Weder hatte ich die Telefonnummer des Anwesens noch von einer der beiden Personen, die dort lebten. Und Oma brauchte ich erst gar nicht zu fragen, da sie mir höchstens geraten hätte, selbst in die Stadt zu fliegen, um doch gleich Weihnachten mit diesen Unmenschen zu verbringen. Bei dem Gedanken wurde mir übel.
Wenn ich so darüber nachdachte, hatte ich Pawel Lwowitsch und Karina Konstantinowa – ja, wie lange? Zwei Jahre? Drei Jahre? – nicht mehr gesehen.
Fünf Jahre. Es sind fünf Jahre! Das letzte Mal, als ich das Haus verlassen hatte, um mich zum Flughafen fahren zu lassen.
Karina Konstantinowa war damals gerade aus ihrem Auto gestiegen. Ich wusste nicht einmal, ob sie mich überhaupt bemerkt hatte, da sie am Telefonieren gewesen war. Ich war die Treppe hinuntergelaufen, an ihr und ihrem Maserati vorbei, und in das Taxi gestiegen, das mich zum Flughafen gebracht hatte. Seitdem hatten nur etwaige Sicherheitsmänner bezeugen können, mich auf dem überwachten Grundstück gesehen zu haben; so wie es mir am liebsten war – auch wenn Oma das absolut nicht in Ordnung fand. Schließlich war ihr Plan, mit meinen Zwangsbesuchen eine kleine nette Familienzusammenführung zu gestalten. Doch ich wollte mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Die Menschen, die mich eigentlich hätten lieben und behüten sollen, waren mein größter Albtraum geworden.
Ich schüttelte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Zurückzumüssen war absolut beschissen, doch ich konnte auf meinen Laptop nicht verzichten.
Es ist nur ein Rein und Raus. Nur einmal kurz rein. Und dann wieder ganz schnell raus.
Mein Magen begann zu grummeln und ich hatte das Gefühl, dass er sich allmählich zu einem fetten Knoten zusammenschnürte. Noch dazu bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Bljat! Ich wollte nicht zurück. Nicht jetzt schon. Überhaupt nicht. Selbst das eine Mal im Jahr war schon zu viel! Eine Gänsehaut fraß sich meine Arme hinauf. Am liebsten wollte ich den Piloten bitten, sofort wieder umzukehren und erst gar nicht in Weliki Nowgorod zu landen.
Ein Zittern erfasste meine Hände und mein Herz schlug schneller. Alles in mir sträubte sich dagegen, jetzt schon wieder in diese Stadt, in dieses Haus, zurückzukehren.
Aber ich muss. Verfluchter Mist!
Meine Augen zusammenkneifend, rief ich mich zur Räson. Keine Schwäche zeigen. Ich durfte keine Schwäche zeigen! Und dazu gehörte auch, keine Panikattacke in einem Flugzeug zu bekommen. Es war besser, wenn ich erst gar nicht so viel nachdachte. Klüger, wenn ich mich ablenkte. Ich atmete tief ein, massierte kurz meine Nasenwurzel und starrte dann fokussiert aus dem Fenster. Weiße Flocken flogen an der Maschine in einer dichten Wand aus gefrorenen Eiskristallen vorbei und ließen kaum etwas von den ersten Ausläufern der Stadt unter mir erkennen. Anscheinend setzten wir bereits zur Landung an. Hatte der Pilot denn schon die Ansage durch das Flugzeug gegeben?
Während mein Herz immer noch gegen meine Rippen donnerte, als würde es gegen die Enge in meiner Brust protestieren, zwang ich mich, ruhig zu atmen. Ein und aus. Ein und aus. Plötzlich schoss ein heftiger Schmerz durch meine rechte Hand und ich spürte Blut aus meinem linken Nasenloch fließen.
„Ach Scheiße!“, fluchte ich leise und suchte in meiner Jeans nach einem Taschentuch. Dabei bemerkte ich die roten Striemen auf meinem Handrücken. Ich stöhnte genervt. Die Kratzspuren meiner Fingernägel zeichnete sich deutlich auf der Haut ab. Das künstliche Licht der Flugzeuglampen über mir wurde von dem Gold der vielen Ringe an meinen Fingern reflektiert. Wieder warf ich einen Blick auf meinen malträtierten Handrücken. Die vorzeitige Rückkehr machte mir mehr zu schaffen, als ich zugeben wollte. Ich drückte das Taschentuch, gegen mein blutendes Nasenloch und legte den Kopf zurück. Das Zittern meiner Hände und der Kloß in meinem Hals verstärkten sich, weshalb ich doch wieder die Augen schloss und tief durchatmete.
Alles ist gut. Alles ist gut.
„Fräulein! Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie bluten!“
Ich zuckte erschrocken zusammen und schaute mit klopfendem Herzen zu der Stewardess, die mich besorgt musterte.
„Wie …? Was? Ach so, … Ja, ja! Alles gut. Passiert, wenn ich Stress habe!“ Unter meinem Taschentuch hindurch lächelte ich ihr freundlich und unbesorgt zu.
„Brauchen Sie etwas?“
„Nein, danke schön! Sehr nett von Ihnen, ich brauche nichts!“, antwortete ich mit einem gehetzten Blick.
„Wenn ich Ihnen anderweitig helfen kann, sagen Sie Bescheid.“
„Ja. Natürlich.“ Nicht. Ich brauchte keine Hilfe. Von niemandem. Und ich würde auch niemanden um Hilfe bitten. Nie wieder. Aber das konnte die Frau nicht wissen und ich würde es ihr auch nicht sagen. Taten sprachen mehr als Worte. Darum lächelte ich nur freundlich und zog mir bereits ein neues Taschentuch aus der Plastikverpackung. Ich drückte es mir gegen die immer noch blutende Nase, bevor ich meinen Kiefer anspannte und nochmals tief ein- und ausatmete. Schwer schluckend, versuchte ich die Anspannung meines Körpers fallen zu lassen, die mich in den letzten Minuten übermannt hatte, und schaute wieder aus dem Fenster. Schon immer hatte ich dem Fall des Schnees gern zugesehen. Es hatte etwas Beruhigendes, Tröstliches. Und während ich hinaussah und spürte, wie der Wind das Monstrum von Metall in sanften Böen leicht schaukeln ließ, hörte das vermaledeite Nasenbluten endlich auf. Auch mein Herzschlag beruhigte sich allmählich und ich konnte die blutigen Taschentücher in eine Tüte in meiner Tasche verstauen. Ein kurzer Blick auf meinen Handrücken ließ mich den Kopf schütteln. Ich hatte lange nicht mehr so geistesabwesend, so heftig und plötzlich, meine Haut dort aufgekratzt.
Das letzte Mal mit sieben, als ich mit Oma zum ersten Mal dorthin zurückgekehrt war und diese Unmenschen so getan haben, als wäre ich gar nicht da. Es war meine allererste Begegnung mit ihnen gewesen. Und sie war fürchterlich.
Ich verdrängte den Gedanken an das damalige Erlebnis. Deshalb richtete ich meinen Blick auf den Sitzbildschirm vor mir und schüttelte mir dabei meine widerspenstigen Locken aus dem Gesicht. Auf dem Bildschirm war der Wetterbericht für Weliki Nowgorod zu sehen: Minus zwölf Grad. Wie gut, dass ich in weiser Voraussicht nicht nur meinen Wintermantel, sondern auch die Schapka und Handschuhe in die Tasche gepackt hatte. Selbst wenn ich in Kuba in der Jeans und dem Top wahnsinnig geschwitzt hatte, war ich froh, mich nicht noch auf der Bordtoilette umziehen zu müssen. Ich holte meinen Kaschmirpullover aus der Tasche, zog ihn über und warf mir meinen dicken Mantel über die Schultern. Handschuhe und Mütze würde ich später anziehen.
Das Flugzeug hatte bereits einige Schleifen über dem Flughafen gedreht, und der Pilot hatte sich über den Lautsprecher für die Verspätung entschuldigt, doch nun endlich setzten wir zum Sinkflug an.
Der Wind ließ das Flugzeug einige Male heftig schwanken, und ich war sicher nicht die Einzige, deren Magen sich dabei zusammenkrampfte. Kurz hatte ich das Gefühl, dass mir die Galle die Kehle hochkroch. Durch das Schneegestöber erkannte ich die Lichter der Landebahn, die immer näherkamen. Sicherheitshalber schloss ich die Augen, da mich ein unerträgliches Schwindelgefühl bei dem Anblick der näherkommenden Erde überkam. Ich steckte mir noch ein Kaugummi in den Mund, damit der Druck auf meine Ohren verschwand, und versuchte, mich zu entspannen. Wenige Minuten später spürte ich das sachte Holpern und Ruckeln des Flugzeugs, dessen Fahrwerke nun endlich die Rollbahn berührt hatten, und wir gelandet waren.
Einige Frauen und Männer sprangen sofort auf, ruckelten ihre Taschen oder Rucksäcke aus der Gepäckverstauung über den Sitzen und begannen sich laut und ausgelassen zu Unterhalten. Unterschiedliche Sprachen halten mit einem Mal laut und deutlich durch das Flugzeug, darunter nicht nur Russisch, sondern auch Französisch, Spanisch oder Deutsch und Englisch. Nach einer gefühlten Ewigkeit wankte ich, zusammen mit den anderen Passagieren, die nicht sofort aufgesprungen waren und wie ich anscheinend mit der Landung noch zu kämpfen hatten, aus der Blechbüchse. Während wir über eine verglaste Brücke zum Terminal und zur Gepäckausgabe liefen, konnte ich dem dichten Schneechaos draußen dabei zusehen, wie es den einkehrenden Abend in eine schneeweiße Wüste verwandelte.
Ich zog meinen Koffer vom Gepäckband, knöpfte meinen Mantel zu, bevor ich Mütze und Handschuhe noch in der Halle anzog und danach aus dem Gebäude trat. Die Kälte biss sich sofort in meine Wangen und Nase fest, und im Wirbel aus dichten Schneeflocken konnte ich den Taxistand kaum ausmachen. Ich zog meine Schultern hoch, um mich vor der Kälte zu schützen – Kinn und Mund verschwanden in dem dichten Kragen meines Mantels. Scheiße, war das kalt! Ich kannte russische Winter und das hier waren die Anfänge eines verdammten Schneesturms!
Der Taxistand war fast leer. Zielstrebig lief ich auf das letzte noch verfügbare Auto zu und reichte dem Fahrer, der ausgestiegen war, meinen Koffer. Ich nannte dem Fahrer noch die Zieladresse, setzte mich steif auf die Rückbank und schloss dann die Augen.
„Steigen Sie ein!“, erklang es plötzlich von vorn. Die Fahrertür war geöffnet worden, sodass die Stimme des Fahrers zu mir in den Wagen drang.
Hä? Warum soll ich einsteigen? Ich sitze doch bereits.
In dem Moment öffnete sich die andere Hintertür.
Ein Kerl setzte sich zu mir auf die Rückbank. Er war groß und breit gebaut und versprühte eine allumfassende Dominanz, die sich wie Wasser im Wageninneren ausbreitete.
„Der Herr möchte mitfahren. Es gibt kein weiteres, verfügbares Taxi mehr“, richtete sich der Fahrer mit seiner Erklärung an mich. Mein Blick schoss zu ihm, ehe ich mich wieder dem Fremden zuwandte. Mit dem Zuschlagen der Wagentür sperrte er die Kälte und die hineinwehenden Schneeflocken aus, wodurch sein Geruch nach Moschus und Zedernholz im Wageninneren präsenter wurde.
„Äh, Moment mal! Nein! Das geht nicht!“
„Ach nein?“ Der Fremde schaute zu mir, nahm mich ins Visier. Sein dunkles Timbre jagte mir Schauder über den Rücken. Ich kniff die Augen zusammen, auch weil ich seine Iriden wegen der aufgesetzten Kapuzen nicht deuten konnte. Ich hatte keine Lust auf Umwege und ihn zum Anwesen der Damilows mitnehmen konnte ich nicht - oder eher durfte ich nicht.
„Ja. Es tut mir leid, aber Sie müssen den Wagen wieder verlassen!“, erklärte ich souverän, wenn auch ein wenig spitz. Er blickte nach vorn und schaute dabei auf seine Uhr. „Dort, wo ich hinfahre, kann leider niemand mit. Und ich aber keine Lust und auch keine Zeit, einen Umweg zu machen, um Sie als Erstes abzusetzen. Also steigen Sie wieder aus!“ Ich funkelte den Kerl gereizt an. In dem Moment nahm der Fremde seine Kapuze ab, sodass ich sein Profil erkennen konnte: Ovale, kantige Züge, mit einer geraden Nase. Unter den kurz rasierten Haaren an der Seite konnte ich die Schatten von Tattoos erkennen. Der Nasenring und die vielen Ohrringe in seinem linken Ohr warfen dunklere Schatten auf seine Haut. Ein Bartschatten zierten seine Wangen und das Kinn. Durch die hohen Wangenknochen hatte sein Gesicht etwas Wölfisches, aber dennoch verdammt Attraktives. Als er sein Gesicht wieder zu mir wandte, umspielte ein Lächeln seine Lippen, das einnehmend wie verführerisch war.
Sein Blick richtete sich auf mich und er wirkte für eine Sekunde wie erstarrt, als wäre er vom Blitz getroffen worden. Für einen Augenblick schien es, als wäre er zu nichts Weiterem in der Lage, blickte mich einfach nur an, blinzelte nicht und wirkte, als würde ihm gerade der Messias erschienen sein.
„Hey! Hören Sie mir überhaupt zu?“, fragte ich streng, allerdings kam meine Frage mehr verunsichert als harsch hervor. Als hätten meine Worte ihn wachgerüttelt, atmete er scharf ein, hielt für einen Moment die Luft an und atmete dann lange aus. Das Licht seines Handybildschirms verfing sich auf seinem Gesicht und zeigte seine geweiteten Pupillen. Unterschiedliche Emotionen tanzten über seine Züge, die ich nicht wirklich deuten konnte. Erstaunen, Überraschung, Verwunderung? Lust?
Ganz kurz huschte mein Blick zu dem Fenster und ihm Schein, der Laternen erkannte ich, dass der dichte, schneebedeckte Wald, der an den Flughafen grenzte, an uns vorbeizog. Jedoch hatte ich nicht weiter Zeit, mir darum Gedanken zu machen, denn ich wurde abgelenkt.
„Du fährst dorthin, wo niemand anderes erlaubt ist? Und wo soll das sein, Täubchen? Der Knast? Ein Geheimversteck?“, fragte er jetzt, doch seine Stimme klang säuselnd und wie bei einem Echo: weit weg und hallend. Außerdem war sein Timbre einige Oktaven tiefer gerutscht, was mir eine Gänsehaut auf den Armen bereitete. Plötzlich schien die Luft zwischen uns zu knistern – was ich überraschenderweise aufregend fand.
Für einen Augenblick blinzelte ich verwirrt, ehe ich sagte: „Dann wäre ich wohl kaum mit einem Taxi unterwegs!“ Der Klang meiner Worte war dünn. Der eigentlich intendierte gereizte Tonfall war halbherzig und wacklig, wahrscheinlich auch, weil die Attraktivität des Fremden mich immer mehr in den Bann zog. Dann schüttelte ich das Gefühl von mir ab und erinnerte mich wieder daran, weshalb der Mann nicht in diesem Taxi sitzen durfte. „Und ich bin kein Täubchen! Was fällt Ihnen ein, mich so zu nennen? Außerdem, woher weiß ich denn, dass Sie nicht auf dem Weg in den Knast oder ein flüchtender Serienmörder sind?“
Er musterte mich amüsiert, zog die Augenbrauen hoch, ehe er langsam seinen Blick aufreizend über mein Gesicht gleiten ließ. „Sie sind nicht mein Typ.“ Seine Worte erzeugten etwas in mir, das sich wie eine Explosion mit tausend Funken anfühlte. Seine Blicke sprachen mehr als Worte ausdrücken konnte und ich fühlte mich von seinem spielerischen, neckenden Tonfall herausgefordert.
Gleichzeitig blinzelte ich verwirrt. „Nicht Ihr Typ generell oder für so eine Tat?“, rutschte es mir heraus. Ich wusste nicht wieso, aber einerseits wollte ich meiner Empörung Luft machen, andererseits konnte ich mich nicht gegen seinen Charm wehren, mit dem er mich gerade erfolgreich um den Finger wickelte. Dennoch widerstand ich dem Drang, mir wegen der Frage auf die Unterlippe zu beißen. Erschrocken über meinen eigenen Satz sog ich dennoch scharf die Luft ein, inhalierte damit den einnehmenden Duft des Fremden und verkrampfte leicht meine Finger.
„Mh … na, wenn es darum geht … Von der Bettkante würde ich dich garantiert nicht stoßen“, säuselte er. Seine Worte bekamen aber mit einem Mal etwas … Schmalziges und Gestelztes. Etwas, das er schon zu oft zu jemandem gesagt hatte, sodass es seinen Charme eingebüßt hatte.
Ich schnaubte und fühlte mich von dem Zauber, der sich zwischen uns entwickelt hatte, kuriert. „Und da war er auch schon vorbei“, murmelte ich und rollte mit den Augen. Ich schaute nach vorn und mein Blick fiel auf das Taximeter.
Wieso …?
„Was?“, fragte er.
„Der Zauber. Ich muss schon sagen … Sie haben mir besser gefallen, als Sie nichts Schnulziges von sich gegeben haben.“
Als ich jetzt wieder zu ihm blickte, tanzten Neugier und Interesse in seinen haselnussbraunen Augen, wobei ein schelmischer Ausdruck über seine Züge huschte.
Er musterte mich eingehend, was eine Gänsehaut auf meinem Körper verursachte und mich leicht erschaudern ließ. Langsam zog er seine Handschuhe aus, die er auf seinen breit auseinander gestellten Oberschenkeln ablegte, ehe er sich eine seiner dunkelbraunen Haarsträhnen aus dem Gesicht wischte. Dabei registrierte ich die Tätowierungen an seiner Hand und den Fingern: Eine untergehende Sonne, mit angedeuteten Wellen, die mich an eine Klein-Jungen-Zeichnung erinnerten. Und direkt darunter das Wort Север, das Norden bedeutete. Ein orthodoxes Kreuz und ein tätowierter Siegelring, das ein schwarz und weißes Karomuster bildete, waren die beiden prägnantesten Tattoos an seinen Fingern. Es gab noch weitere Ring-Symbole, doch die fünf schwarzen Punkte, links oben an seiner Mittelhand, die wie bei einem Würfel angeordnet waren, zogen meine Aufmerksamkeit von seinen Fingern weg.
Das alles waren eindeutige Symbole die ihn als Mitglied der Bratwa auszeichneten. Ich hatte mich mit den Knast-Tattoos der russischen Mafia eingehend beschäftigt.
Oh, nein! Bitte nicht!
Ich schluckte den schalen Geschmack, der sich auf meiner Zunge gebildet hatte, hinunter, bevor ich angestrengt wieder nach vorn schaute.
Moment! Was …?
Erst jetzt registrierte ich, dass das Taximeter lief. Verdammt! Wir waren losgefahren! Gereizt blickte ich aus dem Fenster. Das durfte doch nicht wahr sein! Wie kam der Taxifahrer darauf, einfach loszufahren?
Bljat[2]!
Der Schnee wirbelte an dem Fenster vorbei und ich konnte nur mit sehr viel Fantasie die Ufer des Wolchow erahnen - ein Fluss, der sich links von der Straße durch die russische Tundra schlängelte und einige Kilometer weiter nordwestlich durch Weliki Nowgorod floss. Vereinzelnd zogen Häuser an uns vorbei und ich meinte etwas von den ersten Kirchen und Wahrzeichen der Stadt zu erkennen.
„Warum ist eigentlich eine so schöne Frau allein unterwegs?“ Seine Stimme klang tief, rau und verführerisch – und riss mich damit aus meinen Gedanken.
„Sie meinen, wenn ich nicht gerade auf dem Weg zum Knast bin? Oder Taxi fahre, in die sich unverschämte Kerle ohne zu fragen setzen?“ Ich drehte meinen Kopf erneut zu ihm und schaute ihn gereizt an. Allerdings konnte ich nicht leugnen, dass mein Funkeln weniger wütend als … schelmisch ausfiel? Obwohl ich wusste, dass es besser wäre, die Klappe zu halten, zu schweigen und ihn zu ignorieren, konnte ich nichts dagegen tun, dass sich auf meine Lippen ein provozierendes Lächeln legte und ich sagte: „Wahrscheinlich das Gleiche wie Sie.“
In seinen Augen glitzerte es amüsiert auf und sein intensiver Blick jagte schon wieder eine Gänsehaut über meinen Körper, sodass ich das Gefühl bekam, unter ständigen Stromstößen zu leiden.
„Nach Hause fahren und sich dem angenehmen Teil des Abends widmen?“, fragte er und sein Schmunzeln wurde einnehmender. Ein süffisantes Grinsen ließ meine Mundwinkel zucken, wobei ich mir eine meiner braunen Locken aus dem Gesicht wischte.
„Und Sie?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht vor, lange zu bleiben.“
„Sie glauben, bei dem Schneesturm die Stadt wieder verlassen zu können?“ Er zog fragend eine seiner schmalen Augenbrauen hoch. Auch wenn er skeptisch dreinblickte, wirkte seine Mimik immer noch gewinnend und charmant, und unter seinem fesselnden Blick wurde mir ganz heiß. Jetzt öffnete er ein Stück seine Jacke. Das Tattoo einer Schlange mit einem Dolch im Kopf blitzte unter dem Hemdkragen hervor.
„Schickes Tattoo“, murmelte ich. Ich wusste, dass eine Schlange um den Hals bedeutete, dass das jeweilige Clanmitglied Drogenabhängig war, doch eine Schlange mit einem Dolch darin hatte ich noch nie gesehen. Er öffnete die Jacke noch ein Stück weiter und entblößte ein Sammelsurium von silbernen Ketten. Nervös schaute ich weg, versuchte meinen Blick auf etwas anderes zu fokussieren, doch wie ferngesteuert huschte er immer wieder dorthin zurück. Seine muskulöse Brust, die ich unter dem dunklen Hemdstoff erahnen konnte, versuchte ich zu ignorieren.
„Gefällt dir, was du siehst?“, raunte er und seine Stimme hatte eindeutig an Dunkelheit zugenommen. Meine Augen glitten hoch zu seinen Iriden, die jetzt etwas Lustverhangenes hatten und ich konnte nichts dagegen tun, dass mir die Röte in die Wangen schoss.
Verdammt! Was geschieht hier? Wieso fühle ich mich so fiebrig?
„Vielleicht“, entgegnete ich verheißungsvoll und senkte verstohlen den Blick. Ich hatte das Gefühl, dass es gerade um einige Grad heißer in dem Wagen geworden war.
Ich lauschte der leisen Stimme des Nachrichtensprechers im Radio, der gerade verkündete, dass sich das Schneegestöber in einen Sturm verwandelte. „Bitte seien Sie auf der Straße vorsichtig und verlassen Sie ihr Haus bestenfalls nicht. Wir werden Sie weiterhin auf dem Laufenden halten und melden uns in den nächsten Nachrichten zur momentanen Wetterlage wieder zurück.“
„Ich glaube nicht, dass aus deinen Plänen noch etwas wird“, erklärte der Fremde jetzt unheilschwanger, was mich nervös auf dem Sitz herumrutschen ließ. Ein unsicheres, gequältes Lachen verließ meinen Mund.
Was? Nein! Ruhig, ganz ruhig. Das ist nur Panikmache …
„Na ja, … hoffen wir, dass es nur das ist, was ich vermute … Panikmache!“ Ich lächelte ihm zuversichtlich zu, wusste jedoch, dass es viel zu wackelig war. Ich musste heute noch zurück nach Kuba! Eine Alternative gab es nicht.
Kurz entstand ein unangenehmes Schweigen zwischen dem Fremden und mir, bevor ich mich ihm wieder zuwandte und fragte: „Was genau verstehen Sie eigentlich unter einem angenehmen Abend?“
Keine Ahnung, warum ich wieder flirtete, aber sein charmantes Lächeln und die warmen, haselnussbraunen Augen machten es mir leicht, meine anfängliche Wut zu vergessen. Außerdem war es eine gute Ablenkung; schließlich hatte ich genau verstanden, dass er mit seiner Äußerung wahrscheinlich das Vögeln einer Frau meinte.
Das Lächeln des Fremden wurde anzüglicher. Plötzlich streckte er unerwartet seine Hand aus und wischte die Locke aus meinem Mundwinkel, die sich dorthin verirrt hatte. Als seine Finger dabei sanft meine Lippen berührten, zuckte ein Stromstoß durch mich hindurch und breitete sich wie eine Flutwelle in jeder Zelle meines Körpers aus. Die sachte Berührung seiner warmen Finger ließ die Härchen auf meinem Körper sich aufstellen, und ich spürte ganz deutlich, wie mein Herz einen aufgeregten Hüpfer machte. Am liebsten wollte ich, dass seine Finger noch ein Weilchen dort verharrten, doch ich unterdrückte den Impuls seine Hand festzuhalten. Fast ein wenig wehmütig sah ich dabei zu, wie er langsam seine Hand, mit meiner Haarsträhne zwischen seinen Fingern, zurückzog. Doch anstatt die Strähne loszulassen, zwirbelte er sie einige Male zwischen seinen Fingern, als wollte er die Struktur meines Haares testen. Als ich meinen Blick zu seinen Augen richtete, bemerkte ich den leicht verschleierten Glanz darin. Das Haselnuss hatte jetzt den Ton von glänzendem Honiggold angenommen.
Was mache ich hier eigentlich? Bin ich vollkommen plemplem?
Ich ließ es zu, dass er mir meine Haarsträhne hinters Ohr klemmte. Dass seine Finger danach wie zufällig, sanft und federleicht, über meine Kieferkonturen strichen, bis hin zu meinem Kinn, ließ mich aufgeregt die Luft anhalten. Die Berührung war derartig intensiv, dass ich spürte, wie jeder Millimeter meiner Haut unter diesem Kontakt Feuer fing. Ich starrte den Fremden an. Auf seinen Zügen lag ein Verlangen, das mich tief in meinem Inneren berührte; das ich aber weder gerade verstehen noch begreifen wollte. Für eine Sekunde schienen alle Ängste und Komplexe wie ausgeschaltet zu sein, sodass ich diesen Moment, in dem ein fremder, verdammt heißer Mann, mich praktisch mit seinen Blicken auszog, einfach nur genießen konnte. Da war keine Angst oder Bedenken in mir, wie ich es sonst kannte, wenn ich mit Männern in Kontakt trat. Zu oft hatte ich mit Ablehnung oder Ausnutzung Aufgrund meiner Geschäftskontakte Erfahrungen gemacht. Doch jetzt gerade gab es nur diesen Fremden, der nichts von mir wusste, und mich, die ebenso wenig über ihn wusste. Und das war irgendwie magisch.
Doch der Taxifahrer versaute es prompt: „Wir sind da!“
Mit klopfendem Herzen blickte ich durch die Windschutzscheibe. Das herrschaftliche Anwesen mit den vielen Zwiebeltürmen ragte imposant vor uns empor. War da Licht in den Fenstern? Es sollte doch eigentlich niemand da sein! Und Moment …!
„Sie hätten den Mann als Erstes zu seiner Adresse fahren sollen! Ich dachte, ich hatte deutlich gemacht …“
„Er sagte, dass ich Sie auf jeden Fall vorher nach Hause bringen soll und außerdem haben Sie beide …“
„Ach, egal. Er bekommt ja von Pawel Lwowitsch Ärger, nicht ich“, murmelte ich mehr zu mir selbst. Meine Worte klangen unfreundlicher, als sie gemeint waren. Ich war gerade nur sehr durcheinander und überrascht, schon da zu sein. Eigentlich hatte ich mich noch mental auf den Besuch vorbereiten wollen.
„Was soll das heißen? Woher kennt du Pascha? Außerdem – was machst du da? Ich will …“, begann der Fremde, doch ich unterbrach ihn.
„Moment, Moment. Ich bezahle, dann alles andere!“, rief ich und hatte gar nicht richtig zugehört, was der Mann neben mir alles für Fragen gestellt hatte.
Ich kramte in meiner Tasche nach meinem Portemonnaie, ehe ich dem Fahrer sein Geld in die Hand drückte und ausstieg. Schneeflocken stoben mir kalt und beißend ins Gesicht, weshalb ich die Schultern hochzog „Und äh …“, begann ich, wobei ich mich wieder zum Inneren des Wagens hinunterbeugte, um mich von dem Fremden zu verabschieden. Doch dieser war ebenfalls ausgestiegen und wir beiden starrten uns über das Taxi hinweg verwirrt an.
In dem Moment ertönte eine Stimme: „Kolja! Du hast es geschafft! Sehr schön!“
Ich drehte mich zum Hauseingang um, wo Pawel Lwowitsch im Türrahmen der geöffneten Eingangstür stand.
„Kolja?“ Ich echote den Namen geschockt, doch mich beachtete niemand.
Kapitel 2
Aljona
“Would anyone care, would anyone cry, if I finally stepped off of this ledge tonight?” – Would Anyone Care, Citizen Soldier
O nein! Was will der denn hier? Er sollte doch in seiner Waldhütte sein!
Ich erkannte in dem Licht der Außenbeleuchtung die große, mukulöse Gestallt von Pawel Lwowitsch, sah seine braunen kurzen Haare, die bereits vereinzelnt mit grauen Strähnen durchzogen waren und bemerkte meine Ähnlichkeit zu die- sem mir unbekannten Mann, die ich in seinen Gesichtskontu- ren fand, wie eine fremde Kuriosität aus einem frenem Land.
Pawel Lwowitsch ging eilig die Stufen der kleinen Treppe vor dem Haus hinunter und dann auf Kolja zu, um ihn zu umarmen. Auch wenn die Umarmung etwas steif wirkte, wurde sofort deutlich, dass sie eine innige Beziehung hatten. Da war ein Strahlen in Pawel Lwowitschs Gesicht, das ich diesem Mann niemals zugetraut hätte. Voller Glück, Stolz und Freude. Auch Kolja Lächelte, wie es nur ein Junge tat, der zu seinem Vater ehrwürdig aufsah. Er drückte Pawel Lwowitsch für einen kurzen Moment fester an sich.
Dennoch schien es, als würde dieses Leuchten von etwas überschattet werden, das ich nicht einordnen konnte, was die Herzlichkeit, mit der sie sich begrüßten, abschwächte. Für ein paar lange Sekunden starrte ich beide einfach nur an. Das Leuchten in den Gesichtern beider Männer bröckelte mit jedem verstreichenden Augenblick wie bröseliger Ton, bis Pawel Lwowitsch einen Schritt von Kolja wegmachte und ihm verhalten gegen die Schulter stieß. Die Geste wirkte unsicher, als versuchte er, sein unterschwelliges Unbehagen damit wettmachen zu wollen.
In dem Moment blickte Pawel Lwowitsch zu mir und seine Gesichtszüge entgleisten ihn. „Was machst du denn hier?“
Doch ich ignorierte ihn und schaute zurück zu dem Fremden – oder besser gesagt; nicht mehr Fremden.
Das soll Pawel Lwowitschs Ziehsohn sein?
„Aljona Pawlowna! Was. Tust. Du. Hier?”
„Aljona Pawlowna?”, wiederholte nun Kolja und starrte mich ebenso überrascht wie schockiert an.
„Och, blin!”, keuchte ich und wich angeekelt von dem Wagen zurück; als könnte das etwas daran ändern, was in dessen Inneren passiert war. Ich schaute zwischen Pawel Lwowitsch und Nikolaj Pawlowitsch hin und her, als würde ich einem spannenden Tennisspiel zusehen.
Fuck! Das ist Nikolaj Pawlowitsch?Pawel Lwowitschs Schoßhündchen! Der Unterboss des Damilow-Clans. Bljat! Er siehtaber wirklich gut aus.
Hä? NEIN! Selbst wenn! Das ist vollkommen egal!
Angewidert verzog ich das Gesicht, schüttelte den Kopf, während der heiße Fremde - pah! – langsam zu realisieren schien, was ich schon vor fünf Sekunden begriffen hatte. Schnell griff ich nach meinem Koffer, den der Taxifahrer inzwischen aus dem Kofferraum geholt hatte, stapfte an dem dumm dreinblickenden Unterboss des Damilow-Clans vorbei, und lief die Stufen zum Haus hinauf. Hinter mir hörte ichschwere Schritte, die mir folgten und lief noch schneller durch den hohen Schnee. Mein Herz hämmerte rasend gegen meine Brust, während meine Kehle staubtrocken war. Scheiße! Ich wollte nicht. Ich wollte nicht!
Nur einmal rein. Und dann wieder raus. Kein Grund, in Panik zu verfallen! Außer vielleicht wegen der Tatsache, dass du gerade mit dem zweitschlimmsten Menschen auf diesem Planeten geflirtet hast.
Ich schluckte schwer, biss mir auf die Unterlippe und umklammerte den Griff meines Koffers fester, damit ich nicht umkippte, als sich Pawel Lwowitsch mir in den Weg stellte.
„Ich verlange sofort eine Erklärung! Warum bist du hier? Du warst in diesem Jahr schon einmal auf dem Grundstück, Aljona Pawlowna!“ Ich atmete tief ein und drängte mich an meinem Erzeuger vorbei, der sich keinen Millimeter gerührt hatte. Ich ignorierte ihn, weil es das Beste war, was ich tun konnte. Tschjert wasmi! Ich war darauf nicht vorbereitet. Und jetzt? Nun schien hier der gesamte fucking Clan versammelt zu sein!
SCHEIßE!
Der halbrunde Eingangsbereich lag fremd und unerwartet hell vor mir. Schnell trat ich in das warme Haus, klopfte meine Schuhe ab und ignorierte das heftige Wortgefecht zwischen Nikolaj Pawlowitsch und Pawel Lwowitsch hinter mir. Der riesige Kronleuchter ließ den hellen Estremoz-Marmor in einem sanften Rosaweiß erstrahlen und die protzig vergoldeten Möbel, mit den Kristallvasen und den Blumen, drückten nichts als Zurschaustellung von Reichtum und Macht aus. Immer noch schwer atmend, zwang ich mich schlussendlich, das Haus zu betreten. Doch ich brauchte mehr Zeit! Zeit, um zu realisieren, dass ich zurück war, dass ich diese Leute nach all den Jahren wiedersah. Und trotzdem konnte ich nicht einfach stehen bleiben und tief durchatmen, denn so dicht hinter einem Mann zu stehen, der mich als Kind konsequent verbannt hatte, machte mich krank!
Und der gleichzeitig doch ein Herz zu haben schien. Denn so, wie er gerade Nikolaj Pawlowitsch begrüßt hat … das … das hat er bei mir nie gemacht!
Die Erkenntnis tat weh. So sehr, dass ich den Stich in meiner Brust zittrig wegatmen musste, damit ich wieder klar denken konnte.
Schnell weg hier!
Eilig lief ich los und verließ die Eingangshalle. Hinter mir hörte ich Pawel Lwowitsch wüten, doch ich beschloss, ihn auch weiterhin nicht zu beachten. Ich hatte keine Kraft, mich mit ihm auseinanderzusetzen, er war in meinem Plan nicht inbegriffen!
Wieso war er hier?
Der quadratische Flur, den ich jetzt betrat, war statt mit Marmor mit dunklem Holz ausgestattet und zeigte den alten Charme des Hauses. Ganz im russischen Stil eingerichtet, erkannte ich neue Dekorationen, die Karina Konstantinowa in den vierzehn Tagen nach meinem letzten Besuch angeordnet haben musste. Zwei neue Gemälde des Hauses, mit seinen verschnörkelten Zwiebeltürmchen und der Fensterverzierung, hingen an der Wand zum Eingangsbereich.
Also hatte ich Glück gehabt, dass ich das letzte Mal allein im Haus gewesen war. Bljat! Hätte ich doch nur früher nach meinem Laptop gesehen, dann hätte ich mir das hier ersparen können!
Doch statt der erwarteten Dunkelheit und Ruhe im Haus, umgab mich jetzt strahlendes Licht und alles vernichtender Lärm. Männer in Anzügen liefen durch den Flur, die Treppen hoch oder runter und hatten sich im Wohnzimmer vor mir versammelt, dessen Eingang am gegenüberliegenden Ende der Tür zur kleinen Eingangshalle lag. Ich erkannte Karina Konstantinowa, die auf dem Sofa saß und irgendwie unförmig wirkte.
Tief einatmend zwang ich mich, das alles nicht weiter zu beachten. Ich durchquerte mit schnellen Schritten den großen Flur und ging auf die imposante, nach oben geschwungene Treppe zu, die sich links und rechts von der Tür des Wohnzimmers in einem Halbbogen in den ersten Stock wand.
„ALJONA PAWLOWNA!“, drang Pawel Lwowitschs Stimme brüllend durch den Flur, sodass jeder in unmittelbarer Nähe verstummte. Ich spürte, wie die Blicke der Leute auf mir lagen. Schweiß brach mir auf der Stirn aus, doch ich lief weiter. Nur rein und dann wieder raus. Nur hoch, den Laptop holen und dann wieder verschwinden. Ganz. Einfach.
„Ich will …!“
„Jaja! Ich hole nur etwas!“, blaffte ich jetzt doch zurück. Meine Hände wurden schwitzig und mein Herzschlag verdoppelte sich. Ich beeilte mich, mit meinem schweren Koffer die Treppe hinaufzukommen, und verfluchte Pawel Lwowitschs Regel, dass fremde Autos lediglich für fünf Minuten auf dem Grundstück parken durften. Ich wusste, dass er diese Regel aufgestellt hatte, um sicherzugehen, dass niemand Unbefugtes etwas von den Geschäften und Machenschaften mitbekommen sollte, die er trieb. Denn fünf Minuten reichten nicht aus, um etwas von dem mitzubekommen, was auf diesem Grundstück geschah. Und zehn Minuten reichten, damit nicht der gleiche Fahrer zum Haus zurückgerufen wurde.
Wenn es diese dämliche Regel allerdings nicht geben würde, wäre ich wesentlich schneller aus diesem Gruselhaus wieder raus.
Keiner der Männer, die wie angewurzelt auf der Treppe standen und gelegentlich auch im Weg, halfen mir mit dem Koffer. Sie waren wegen des Wutausbruchs ihres Bosses zu Salzsäulen erstarrt. Alle starrten mich an, als wäre ich ein fucking Ufo. Aljona Pawlowna, die unerträgliche Tochter des großen Clanoberhauptes, die ihr Leben lang für etwas die Schuld trug, für das sie gar nichts konnte.
Verdammte Hurensöhne!
Oben im ersten Stock angekommen, lief ich den Gang in Richtung Ostflügel entlang und nahm noch eine weitere Treppe. Ich bog in einen anderen Flur ein und spürte, wie die Temperatur immer weiter abnahm. In diesem Teil des Hauses war schon seit Jahren nicht mehr geheizt worden.
Eigentlich hätte der Osttrakt zu den Privatgemächern der Familie Damilow werden sollen; das Schlafzimmer ganz vorn und die Kinderzimmer den Flur hinunter, in dem ich mich gerade befand. Doch nach mir war diese Möglichkeit nicht mehr gegeben gewesen. Die Ärzte hatten Karina Konstantinowa nach meiner Geburt verkündet, dass ihre Gebärmutter beschädigt worden war, weshalb eine erneute Schwangerschaft ausgeschlossen sei. Die Option bestand zwar noch, dass alles heilen und über die Jahre eine erneute Schwangerschaft möglich werden könnte, doch den gewünschten Sohn hatten sie nie bekommen. Die Tochter – mich – hatten sie gleich nach der Geburt zu ihren Eltern nach Deutschland gegeben und dann mit der Vereinbarung vor sieben Jahren im Ostflügel einquartiert. Allerdings hatte ich auch bei meinen Großeltern kein familiäres Umfeld genossen. Beide waren sie viel auf Geschäftsreisen gewesen, sodass sie kaum zu Hause waren, weshalb ich die meiste Zeit allein oder zusammen mit dem Kindermädchen verbracht hatte.
Hinter mir hörte ich die aufgebrachten Stimmen; vor allem die von Karina Konstantinowa. Sie hatte immer etwas Schrilles, Spitzes wenn sie schrie.
Ich jedoch trat jetzt mit etwas mehr Leichtigkeit in mein Zimmer am Ende des Flures, das einen wunderschönen Erker nach hinten zum Garten besaß, und schaltete das Licht ein. Ich sog den altbekannten und vertrauten Geruch nach Rosen ein, unter den sich eine feine Note von Kaffee mischte, die von zwei Duftspendern verströmt wurden. Meinen Koffer stellte ich bei der Tür ab, zog meine Schapka aus, legte sie auf die Kommode daneben und schenkte dem kleinen, aber filigranen Kronleuchter ein Lächeln. Das Schimmern der Kristalle, die das Licht reflektierten, wurde von dem mit gelben und grauen Schlieren durchzogenen Calacatta-Marmor zurückgeworfen. Diese Besonderheit hatte mich mein Zimmer schon immer an das einer Prinzessin erinnert. So stellte ich mir die Gemächer von der schönen Wassilissa vor, einer der berühmtesten russischen Märchenprinzessinnen. Genau mit diesen rosafarbenen Stofftapeten zwischen den Marmorfeldern an der Wand, die von der mit stuckverzierter Decke bis zum Boden reichten. Und dem Himmelbett, das mit durchscheinenden Chiffon-Stoffen behangen war und das direkt gegenüber von einem riesigen Bücherregal stand. Hunderte Bücher, kleine Figuren, Tassen und Andenken standen darin – mein Sammelsurium aus vergangenen Urlauben. Ich liebte diesen Raum.
Ich warf einen Blick auf meine Fotogalerie, die sich auf der langen Kommode neben dem Bett erstreckte. Alle Fotos zeigten mich vor unterschiedlichen Wahrzeichen - dem Eiffelturm, der Freiheitstatue und auf der Fifth Avenue. Vor dem Roten Rathaus in Moskau und der Eremitage in St. Petersburg, dem Kolosseum und dem schiefen Turm von Pisa. Mich in einer Gondel auf dem Canal Grande und vor der Christusstatue in Rio.
Die einzig andere Person, die noch auf einem Foto vor dem Brandenburger Tor zu sehen war, war meine Oma. Mein Großvater hatte das Foto aufgenommen.
Ich drehte mich zu meinem Bett und erblickte den Grund, weshalb ich zurückgekommen war: Meinen Laptop. Halb von meiner Tagesdecke verdeckt, blitzte das silberne Aluminiumgehäuse in dem Licht des Kronleuchters. Lächelnd ging ich darauf zu, schnappte ihn mir und steckte ihn in meine Tasche, bevor ich mich auf dem Hocker vor dem Bett niederließ. Ich holte mein Handy hervor und entsperrte es. Mit einem Blick auf den Bildschirm hatte ich plötzlich das Gefühl, das Blut würde in meinen Adern gefrieren.
Ich schaute für einen Moment vollkommen geschockt auf mein Handy. Konnte das sein? Halluzinierte oder fantasierte ich? Lag ich etwa noch in Kuba in meinem Bett und träumte das alles nur? Erlebte ich vielleicht gerade einen schrägen Fiebertraum?
Nein. Nein … nein! Bitte! Das kann nurein Spaß sein! Ein verdammter Scherz!
Mein Herz begann wild in meiner Brust zu rasen und Panik breitete sich in mir aus wie ätzende Säure. Zunehmend atmete ich hektisch und flach, ehe ich die Mail öffnete, die mir unter der unheilvollen Kurzanzeige angezeigt wurde.
---ENDE DER LESEPROBE---