Eismusik - Angela Lund - E-Book
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Eismusik E-Book

Angela Lund

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Beschreibung

Zwei Menschen – zwei Träume – eine Liebe, die nur einen Traum erfüllen kann … Der historische Roman »Eismusik« erzählt die wahre Liebesgeschichte zwischen dem Polarforscher Fridtjof Nansen und der Sängerin Eva Sars, die so gegensätzlich wie zwei Pole sind – und doch ist ihre Liebe Legende. Oslo, Ende des 19. Jahrhunderts: Der junge Zoologe und Polarforscher Fridtjof Nansen ist ein Draufgänger und Frauenheld, ebenso launisch wie zielstrebig. Noch größer als sein Lebenshunger ist nur sein Forscherdrang. Die emanzipierte Professorentochter Eva Sars, eine begabte Sängerin, will die Bühnen Europas mit ihrer Stimme erobern. Als Eva und Fridtjof beim Wintersport in den Bergen bei Oslo aufeinandertreffen, sehen sie ineinander den einen Menschen, der ihre Träume teilt. Doch um die Arktis zu erforschen, wird Fridtjof die Frau verlassen müssen, die er liebt. Und wenn Eva bei ihm bleibt, setzt sie ihren Lebenstraum von der großen Gesangskarriere aufs Spiel. Angela Lunds historischer Roman erzählt die bewegende Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe vor der atemberaubenden Kulisse Norwegens und der eisigen Arktis. Entdecken Sie mit »Die Ouvertüre« die kostenlose und exklusive Vorgeschichte zu Angela Lunds biografischen Roman "Eismusik": Der legendäre Polarforscher Fridtjof Nansen an der Schwelle zum größten Abenteuer seines Lebens. 

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Seitenzahl: 506

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Angela Lund

Eismusik

Fridtjof Nansens größte LiebeRoman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Der junge Zoologe und Polarforscher Fridtjof Nansen ist ein Draufgänger und Frauenheld, ebenso launisch wie zielstrebig. Noch größer als sein Lebenshunger ist nur sein Forscherdrang. Die emanzipierte Professorentochter Eva Sars, eine begabte Sängerin, will die Bühnen Europas mit ihrer Stimme erobern. Als Eva und Fridtjof beim Wintersport in den Bergen bei Oslo aufeinandertreffen, sehen sie ineinander den einen Menschen, der ihre Träume teilt. Doch um die Arktis zu erforschen, wird Fridtjof die Frau verlassen müssen, die er liebt. Und wenn Eva bei ihm bleibt, setzt sie ihren Lebenstraum von der großen Gesangskarriere aufs Spiel ...

Angela Lunds historischer Roman erzählt die wahre Liebesgeschichte zwischen dem Polarforscher Fridtjof Nansen und der Sängerin Eva Sars, die so gegensätzlich wie zwei Pole sind – und doch ist ihre Liebe Legende.

Inhaltsübersicht

WIDMUNG

ANMERKUNG DER AUTORIN

PERSONEN

TEIL I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

TEIL II

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

TEIL III

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

TEIL IV

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

ABSPANN

NACHWORT

DANK

LITERATURLISTE

GLOSSAR

ZITATNACHWEISE

Den 28 Hunden gewidmet, die mit Nansen und Johansen Richtung Nordpol zogen und von denen kein einziger zurückkehrte.

 

Kvik

Baro

Lilleræven

Sjølike

Narrifas

Freia

Barbara

Potifar

Klapperslangen

 

Suggen

Barnet

Haren

Gulen

Flint

Kaifas

Blok

Bjielki

Sultan

 

Barrabas

Kvindfolket

Perpetuum

Katta

Livjægeren

Storræven

Isbjørn

Russen

Pan

Ulenka

 

Hier gruppenweise genauso aufgelistet, wie sie die Schlitten zogen.

ANMERKUNG DER AUTORIN

Dieses Buch ist ein biografischer Roman. Er schildert die Liebesgeschichte von Eva Sars und Fridtjof Nansen und eine legendäre Reise zum Nordpol. Obwohl fast alle Personen tatsächlich existierten und sich meine Beschreibungen auf eine Fülle von Quellen aus Büchern, Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Biografien und Expeditionsberichten stützen, ist dieses Buch in manchen Teilen ein Produkt meiner Fantasie.

Hinweis zur Nennung der Ortsnamen 1880–1900

Ende des 19. Jahrhunderts, in den Jahren, in denen dieses Buch spielt, trugen nicht wenige Orte Skandinaviens andere Namen.

Die Hauptstadt Norwegens Oslo beispielsweise hieß damals »Kristiania« (norwegische Schreibweise), die südnorwegische Stadt Larvik war als »Laurvig« bekannt, und Helsinki kannte man unter dem Namen »Helsingfors«.

Auch die nationalen Grenzen und Besitzverhältnisse in Skandinavien unterschieden sich teilweise deutlich von der Gegenwart: Norwegen war nicht unabhängig, sondern von 1814–1905 Teil der »schwedisch-norwegischen Union«, Grönland war von Norwegen noch keine siebzig Jahre zuvor an Dänemark abgetreten worden, und Finnland gehörte zum russischen Zarenreich.

PERSONEN

Die mit *gekennzeichneten Figuren sind fiktiv, alle anderen basieren auf einem historischen Vorbild

IN KRISTIANIA (seit 1. Januar 1925 Oslo)
Familie Nansen

Fridtjof Nansen (im Buch meist »Frido« genannt), Polarforscher, Zoologe und Ozeanograf, Leiter der Fram-Expedition zum Nordpol

Alexander Nansen, sein jüngerer Bruder, ein Rechtsanwalt

Marthe Larsen, einst Haushälterin in Fridos Elternhaus, nach dem frühen Tod der Mutter Hauptbezugsperson der Nansen-Brüder

Familie Sars

Eva Sars, Mezzosopran und Grieg-Interpretin, jüngstes von vierzehn Kindern, ab 1889 Ehefrau von Fridtjof Nansen

Maren Sars, Evas verwitwete Mutter, eine bekannte Salonnière und die Schwester von »Norwegens Nationaldichter« Johan Welhaven

Ossian Sars, Evas Bruder, Ozeanograf und Professor für Zoologie an der Universität Kristiania

Cecilie Thoresen, erste Studentin an einer norwegischen Universität, Frauenrechtlerin und Evas Freundin

Andere

Henrik Mohn, Meteorologie-Professor und Ozeanograf, bester Freund von Ossian Sars und Ideengeber für die Fram-Expedition

Eleonora Siemens*, Weltreisende, Mitglied der Industriellenfamilie Siemens aus Berlin

Eivind Astrup, norwegischer Polarforscher und Abenteurer

Edvard Grieg, Norwegens bekanntester Komponist (»Peer-Gynt-Suite«) und Förderer von Eva Nansen

AUF DER FRAM & IM HOHEN NORDEN

Otto Sverdrup, Polarforscher und Kapitän des Schoners Fram

Hjalmar Johansen, als Heizer angeheuert, später Fridtjof Nansens alleiniger Begleiter bei seinem Vorstoß zum Pol

Peter Henriksen, ein ehemaliger Harpunier auf Walfängern

Ola Christofersen, Nansens Sekretär

Henrik Blessing, der Schiffsarzt (zudem reisen mit der Fram acht weitere Männer Richtung Pol: Sigurd Scott-Hansen, Ivar Mogstad, Theodor Jakobsen, Bernard Nordahl, Anton Amundsen, Adolf Juell, Lars Petterson, Bernt Bentsen)

Alexander Iwanowitsch Trontheim, ein Ex-Sibirienverbannter (Sibni) mit lettisch-norwegischen Wurzeln

Juri Nerkagi*, ein Schamane der Juraken

Frederick Jackson, ein britischer Polarforscher und Abenteurer

Colin Archer, ein gefragter Schiffbauer, Konstrukteur der Fram

IN STOCKHOLM

Adolf Erik Freiherr von Nordenskiöld, finnlandschwedischer Polarforscher, in den Adelsstand erhobener Baron und »Bezwinger der Nordost-Passage«

König Oskar II. von Schweden-Norwegen aus dem Hause Bernadotte

Königin Sophia von Schweden-Norwegen, seine Gemahlin, eine Prinzessin Nassau, geboren in Wiesbaden. Sophia weilte 1892–1906 regelmäßig zur Sommerfrische am Drachenfels bei Bonn

Prinz Eugen, Kunstmäzen und jüngster Sohn des Königspaares

TEIL I

AUFTAKT

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

Es gibt nichts so wunderbar Schönes wie die arktische Nacht (…) Keine Formen; alles ist schwache, träumerische Farbenmusik. Eine ferne, unendliche Melodie auf gedämpften Seiten.

 

(Fridtjof Nansen: In Nacht und Eis, Band 1, 1897)

 

 

 

 

 

 

 

12. Juni 1896, die Hocharktis bei Franz-Josef-Land, etwa 80 Grad nördlicher Breite, 51 Grad östlicher Länge … oder am kalten Ende der Welt

Frido konnte sie nicht hören. Doch das Vibrieren der noch jungen Eisschicht unter seinem Körper, die auch die kleinste Regung in der Tiefe des Polarmeeres übertrug wie schwingendes Parkett, verriet es ihm. Er biss die Zähne zusammen.

Sie sind wieder da, diese Teufel.

Sein Magen zog sich zusammen, sein Puls begann zu rasen, und als wäre dies nicht schon genug, schoss ihm ein scharfer Schmerz ins Kreuz, die verfluchte Bandscheibe. Doch Johansen durfte er nicht rufen. Zu heikel war seine Lage: bäuchlings auf der sensiblen Eisfläche. Frido erahnte ihn im Nebel weit voraus, die dünn zugefrorene Rinne hatte er gemeistert und zerrte soeben seinen Kajak samt Mast und Takelage auf festeres Packeis. Und wozu überhaupt rufen, wie wäre es dann um seine Autorität bestellt? Was würde Johansen von ihm halten, wenn er angesichts eines vagen Bebens in der Tiefsee jegliche Contenance verlor? Sollte er womöglich denken, die vergangenen fünfzehn Monate zu zweit in der Eiswüste hätten die Nerven seines Vorgesetzten nun endgültig zerrüttet?

Frido verharrte reglos auf dem Bauch, nur die Ellenbogen waren leicht angewinkelt. Die Hände zittrig und fast taub in den eisverkrusteten Fäustlingen, betastete er das Eis. Sachte, ganz sachte! Sein Puls raste, und er musste damit rechnen, dass sich seine Unruhe auf den Untergrund übertrug. Sie werden es spüren. Er spähte durch das milchige Grau des Eises, versuchte, im Dunkel darunter bewegliche Schatten auszumachen, doch da war nichts. So hilflos die Biester an Land auch wirkten – träge und fett wie Presswürste –, unter Wasser verwandelten sie sich in pfeilschnelle Torpedos. Frido versuchte, sich zu fassen, konzentrierte sich auf seinen Atem. Ein und aus. Beruhige dich, die Teufelsbrut kriegt dich nicht, es ist nur ein dummer Aberglaube. Sibirischer Hokuspokus, wissenschaftlich nicht haltbar. Meereisblumen aus hoch konzentrierter Salzlake überzogen das Eis um ihn herum. Ein weiter Teppich aus glitzernden Kristallen, sternförmig wie die Buschwindröschen daheim im Frühling.

Hvitveis, Evas Lieblingsblumen.

Er hatte ihr damals das erste Bund geschenkt, als sie ihn noch gar nicht kannte; die krautigen Blütenstängel hatten ihm beim Pflücken die Finger und Handflächen grün gefärbt. Was für eine unschuldige Zeit! Wie rein seine Hände da noch gewesen waren, vor seiner allerersten Fahrt ins Eis. Bevor er mit ihnen die erste Robbe getötet hatte. Wie viele Robben waren es seitdem gewesen? Wie viele Walrosse, wie viele Wale, wie viele Bären? Und obgleich Frido das Schlachten der Hunde überwiegend Johansen übertragen hatte, klebte es nicht auch an seinen Händen, das Blut von Bjielki, von Lilleræven … von Kvik?

Gestern dann die Walrossherde auf der treibenden Eisscholle. Muttertiere und ihre Kälber, dazu ein riesiger Bulle. Frido mochte nicht mehr daran denken, aber die Bilder folgten ihm so hartnäckig wie die Schemen unter dem Eis.

Wären wir nur nicht so gierig gewesen! Der Proviant reichte doch eigentlich, und die fettesten Tiere waren bereits abgetaucht. Wir hätten die Mütter und ihre Jungtiere leben lassen sollen. Das wird uns der Bulle nicht vergessen …

Frido erinnerte sich an das ohnmächtige Prusten des Tieres, als er und Johansen auf der mächtigen Eisscholle kaum zehn Meter entfernt die Beute aufgebrochen und zerlegt hatten. Sah wieder den massigen Kopf des Bullen mit den bleichen Hauern, wie er sich in den Rinnen rechts und links aus dem Wasser hob, ebenso unfähig, die Seinen zu beschützen wie sie zu verlassen. Und erst als sie auf ihn schossen, war er abgetaucht. Doch jetzt hat er unsere Witterung in der Nase. Ist er zurück? Wird er sich rächen? Ja, ich kann’s ihm nicht verdenken, dass er mich jagt. Dass er mich töten und ein Ende machen will mit meiner jämmerlichen Existenz.

In einem plötzlichen Anfall von Gleichmut rollte sich Frido auf den Rücken. Über ihm am Himmel zogen drei Ringelgänse, er betrachtete sie ohne großes Interesse und ächzte leise, alles tat ihm weh. Was sagte der Tadibey? So wurde es entschieden, schon lange vor deiner Zeit. Vorsichtig bewegte er seine Handgelenke. Die hart gefrorenen Ränder seiner Ärmel schürften sie jeden Tag neu auf, schnitten ihm ins Fleisch und hatten seine Haut grotesk verfärbt, rostbraun und aschgrau. Ihm wurde bewusst, dass er leise vor sich hinmurmelte, die Stimme brüchig und dünn wie die eines Greises.

Eva … ich kann nicht mehr. Ich will heim, Eva … Eva …

Sein Blick verlor sich im Himmel, und es kam ihm mit einem Mal vor, als befände er sich dort oben bei den Gänsen und sähe sich selbst hier unten liegen. Geschlagen. Am Ende. Ein Nervenbündel. Was werden Nordenskiöld und Archer sagen, was Dr. Olsen vom Museum? Wahrscheinlich: Je nun, Doktor Nansen, schauen Sie sich an, was ist aus Ihnen geworden? Ein Wilder im Bärenfell, die Fetzen stinkend von Tran und Schweiß, mit Zotteln statt eines gepflegten Bartes und einem Blick, so fiebrig glühend wie im Wahn. Und was soll das heißen: Teufel … sind Sie noch bei Trost? Es sind Walrosse dort unten, nichts weiter, Walrosse! Es gibt Millionen dieser Tiere in der Arktis, Sie haben einen nicht unwesentlichen Teil davon in den vergangenen drei Jahren geschossen, gehäutet und zerlegt. Sie wissen, es ist das widerlichste Fleisch, doch die ergiebigste Schwarte und der beste Lampentran. Und jetzt kommen Sie endlich zur Vernunft. Unter Ihnen im Meer schwimmen lediglich ein paar Tausend Kilo Tran und Speck.

Dies alles rief sich Frido ins Bewusstsein, während er dort auf dem Eis lag und versuchte, wieder Herr seiner selbst zu werden. Denn bei Gott, er war ein Doktor der Zoologie! Das Verhalten dieser Spezies dort unten, ihre Morphologie, ihr Nervensystem waren ihm vertraut, herrje, er hatte über die Nervenbahnen mariner Lebewesen promoviert. Warum also versetzten diese Kreaturen ihn derart in Angst und Schrecken?

Drei Tage später zeigten sie es ihm.

Johansen und er hatten mit ihren zu einem Katamaran aneinandergeschnürten Kajaks halt an einer Insel gemacht. Auch sie gehörte zu Franz-Josef-Land, diesem gottverlassenen Archipel im Eismeer, der sie einfach nicht entlassen wollte. Sie befestigten den Katamaran – an Bord ihre ganze Habe – mithilfe einer Brasse aus Walrosshaut unweit der Eiskante. Dann wanderten sie los.

Ah, was war es für eine Erlösung, nach stundenlangem Rudern im schwankenden Kajak zwischen tückischen Untiefen und treibenden Eisschollen, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren! Sie erstiegen die erstbeste Erhebung des Eilands und spähten in alle Richtungen. Sie hofften, einen Hinweis auf ihre Position zu erhalten. Seitdem Frido über ein Jahr zuvor an einem Unglückstag vergessen hatte, seine Armbanduhr aufzuziehen, war jede Ortsbestimmung blindes Tasten. Ihr Ziel war Svalbard, die »kühle Küste« der Norweger – oder Spitzbergen, wie der Rest der Welt diesen Ort nannte. Irgendwo in diesem eisigen Archipel musste es ihn geben, den Ausweg zum offenen Meer, der sie süd-westwärts heimführte, zur kühlen Küste, wo Menschen waren, sogar Landsleute, und Rettung.

Frido spähte mit seinem Fernglas nach Westen, nach Süden und Norden. Überall sah er nur Eis und Wasser. Und Wasser und Eis. Verdammt. Es kann doch nicht sein, dass wir mit dieser Karte keine einzige Küstenlinie korrekt bestimmen können?! Er schnaubte wütend.

Johansen stieß ihn an und wies auf einen schmalen dunklen Streifen. »Schau, Nansen, könnte das nicht Kap Flora sein?«

Frido winkte ab. »Niemals, Payers Karte sagt, wir sind dafür zu weit nördlich.«

Johansen nickte stumm. Er würde Fridos Einschätzung abwarten, fünfzehn Monate Elend im Eis und ein geteilter Schlafsack hatten den Standesunterschied zwischen ihnen nicht aufgelöst. Zwar hatten sie eines Tages begonnen, sich zu duzen, doch riefen sie sich stets beim Nachnamen.

Die umliegenden Inseln waren von Gletschern bedeckt. Ihre Höhen ragten wie die Rücken gigantischer Wale aus der bewegten See. Über allem spannte sich ein grauer Himmel, der nun, mitten im arktischen Sommer, von Seevögeln belebt wurde. Auf den Basalttreppen der Klippen brüteten Lummen und Eissturmvögel. Während Frido die Küstenlinie studierte, taumelten über ihm zwei Alke im auffrischenden Wind.

Und irgendwo dort draußen liegt Svalbard. Aber wo?

Frido fragte sich später immer wieder, ob er die Bewegung unten am Eisufer in diesem Moment tatsächlich gesehen hatte oder ob es nur eine Art Eingebung gewesen war. Ein Kribbeln auf der Haut, das Trugbild eines schlammbraunen Buckels zwischen Eiskante und Katamaran, ein lautloses Auftauchen und Zurückgleiten, fahle Knochen, ein kurzer Ruck an der Brasse. Und los …

Der Wind fuhr in die Takelage und begann, seine Beute flink vor sich herzutreiben. Als Frido und Johansen oben auf ihrem Hügel das Unglück bemerkten, lagen zwischen ihrem Gefährt und dem Ufer bereits fünfzig Meter grauschwarzes, von unzähligen Eisklumpen durchsetztes Wasser, das zäh dahinschwappte, von unsichtbaren Kräften in der schwarzen Tiefe bewegt.

»Die Kajaks!«, brüllte Johansen.

Ja, die Kajaks, du Idiot. Die Kajaks, dachte Frido.Er riss sich die Uhr vom Handgelenk, drückte sie seinem verstörten Begleiter in die Hand und stürmte los. Er stolperte den Hang hinunter, rutschte mehr, als dass er rannte, schlitterte über die vereisten Felsen den Abhang hinab zum Ufer. Unten erwartete ihn eine dicke Schicht überfrorenen Schnees. Er kämpfte sich hindurch, war viel zu langsam im knarzenden Firn. Im Lauf zog er sich die oberste Hülle vom Oberkörper, den speckigen, selbst genähten Anorak aus Robbenfell.

An der Eiskante angekommen, stieg er aus den Lederklumpen, die man wohl kaum mehr Stiefel nennen konnte. Er musste seine Beine und Füße bewegen können in der Zeit, die ihm blieb. Ehe er das Bewusstsein verlieren würde im eisdurchsetzten Wasser. Frido spähte über die Wellen zum Ende der Brasse. Vom Fuß des Hanges kam Johansens verzweifelter Ruf, doch er sah nicht zurück.

Er sprang.

Als er eintauchte, löste sich aus seinem Innern ein Schrei, der in einem erstickten Japsen endete.

KALT!

Sein Herz begann zu rasen, und sein Atem wurde hektisch, geriet fast außer Kontrolle. Himmel, bleib ruhig und beweg dich langsam. Nicht verkrampfen. Du hast es so oft geübt, das Eisschwimmen, schon zu Hause in Lysaker. Du hast der Kälte ihr Überraschungsmoment genommen, erinnerst du dich? Es ist nichts, nur der Schock.

Frido schwamm los. Das Ende der Brasse konnte er nur erahnen. Er hielt auf den Katamaran zu, konzentrierte sich darauf, möglichst gleichmäßige Schwimmzüge zu machen. Er mühte sich, die Angst und die Kälte weit wegzuschieben.

Irgendwo da unten …

Sein ganzer Körper brannte, er kannte das Phänomen, doch so intensiv wie hier im Eiswasser hatte er es noch nie erlebt. Die Kälte schien ihn zu versengen. Sie durchdrang Haut und Fleisch, verhärtete und lähmte seine Muskeln. Frido wurde in einen Eisblock gepresst, immer fester, während ihm die Haut vom Leib geschält wurde. Er wusste aus Erzählungen, was danach kam. Wenn die Qual irgendwann nachließ, erlöste einen das, was man zugleich ersehnte und fürchtete: Betäubung, Starre und Tod. Frido spürte seine Füße kaum mehr. Er schwang sie hin und her, als seien sie fremde Anhängsel.

Und irgendwo da unten sind sie.

Frido begann, wüst zu fluchen. Diese Reise, die Kälte, diese gottverdammten Drecksbiester, er hasste alles. Und dieser Hass tat so gut, dieser Hass glühte! Ein Lavastrom in seinen Adern. Er schürte ihn und schwamm. Schwamm immer weiter, auch wenn seine Finger und Hände längst steif und taub waren und er keine Ahnung hatte, ob er mit ihnen würde greifen können. Nach der Brasse, die jetzt wieder zwischen den schwimmenden Eisklumpen auftauchte.

Fünfzehn Meter noch.

Doch der Wind trieb die zusammengebundenen Kajaks vor sich her, weiter und schneller, als er ihnen folgen konnte. Er schätzte, dass er jetzt drei Minuten im Wasser war.

– Wie kalt ist das Polarmeer hier schätzungsweise, Nansen?

– Maximal ein Grad, eher weniger.

– Und wie lange überlebt ein trainierter Eisschwimmer in Wasser, das sich nahe dem Gefrierpunkt bewegt? Wie viele Minuten bleiben ihm, ehe er ohnmächtig wird?

– Fünf. Vielleicht auch sechs, wenn er genug auf den Rippen hat. Frido keuchte. Na, daran sollte es nicht scheitern! Fett wie ein Walross war er im Winterquartier geworden, gemästet mit Robbenspeck, Bärenfleisch, Bärenfett.

Der Wind hatte gedreht, die Wellen kamen nun direkt von vorn. Sicher viereinhalb Minuten war er schon im Wasser, blieben noch anderthalb Minuten. Der Eisblock um seinen Leib zog sich immer fester zusammen, er wurde langsamer, kam kaum noch vom Fleck. Da! Etwas stieß an seine Hüfte oder seinen Schenkel, er konnte es nicht genau lokalisieren. Doch er keuchte vor Schreck und starrte ins Wasser. Ins tintenschwarze, trügerische Wasser.

Seid ihr da unten? Jagt ihr mich jetzt?!

Es kostete Frido alle Kraft, nicht zu schreien. Vergiss die Biester, sagte er sich, du hast kaum mehr eine Minute, dann säufst du sowieso ab.Hol die Kajaks! Als er wieder nach vorn sah, entfuhr ihm ein Stöhnen.

Immer noch zwölf Meter. Zu weit weg.

Frido fühlte den Pulsschlag in seinem Kopf gleich einem Dröhnen, sein Herz verfiel in irren Galopp. Fast unmerklich entglitt ihm sein Körper, versagte ihm den Dienst, seine strampelnden Beine erlahmten, wurden taub, und die Wasserlinie wanderte, langsam und unerbittlich, von seinem Hals hoch zum Kinn. Er begann zu sinken.

Zehn Meter.

Eiswasser drang ihm in die Nase und Mundhöhle. Er spuckte und hustete. Da, ein weiterer Stoß von unten. Frido hielt sich mit dem Gesicht nur noch knapp über der Wasserlinie.

Über ihm der Himmel, im Augenwinkel die fahlen Hänge der namenlosen Insel und die schmutzig graue Rippenstruktur der aufgeworfenen Eisschollen, weiß betupft vom Neuschnee der vergangenen Nacht. Kam nun das Ende?

Lichte Tupfen auf dunklem Grund.

Wieder hatte Frido die sternförmigen Blüten der hvitveis vor Augen. Jetzt, im Juni, überzogen sie sicher die Obstwiesen hinter seinem Haus. Evas Lieblingsblumen. Zu Hause in Kristiania. Wo die Wiesen bis hinunter zum Fjord reichen. Und zu unserem Steg, Eva. Er driftete weg, ließ sich in dieses Bild fallen, wollte es festhalten.

Zu spät.

Eva …

15 JAHRE ZUVORJuni 1881, kurz vor Mittsommer im Tivoli von Kristiania, der Hauptstadt Norwegens

Gütiger Gott, du kommst schon wieder zu spät!

Eva Sars stopfte ihren geheimen Schatz, das Etui mit den Zigaretten, zurück in die Rocktasche. Dann raffte sie den Saum ihrer eigens für diesen Tag angefertigten »Bühnenrobe« und rannte über sonnenbeschienene Wiesen voller schneeweißer hvitveis zurück zu dem Konzertpavillon am Rande des Tivoli.

Achtlos trat sie auf die Buschwindröschen, während sie hart mit sich ins Gericht ging. Ist das gerade nötig gewesen? Direkt vor dem Part als Fausts Gretchen zu rauchen? Und ausgerechnet heute, wo man ihre Arie doch schon kurz vor den Schluss gesetzt hatte. Was würde ihre Mutter sagen? Was Thorvald und die anderen Solisten?

Der Mezzosopran, wieder einmal pünktlich zum Schlussakkord.

Die Absätze ihrer Schnürstiefel – zur Feier des Tages durfte sie Mamas kalbslederne tragen – klapperten just in dem Moment auf den Stufen zur Bühne empor, als ihr Schwager Thorvald den Dirigentenstab zückte. Hei, das war knapp!

Eva trat neben ihre Schwester Mally, ignorierte Thorvalds pikierten Blick und bedachte das Publikum mit einem strahlenden Lächeln. Wenn ich mir meiner Stimme doch nur so sicher wäre wie der Wirkung meines Äußeren. Hört ihr mir zu? Singe ich endlich so gut wie Mally? Während der ersten Arie ihrer Schwester, auf dem Programm standen Schumanns »Faust-Szenen«, kämpfte Eva noch mit ihrer Nervosität und der übergroßen Erwartung an diesen Tag. Doch als ihr Einsatz kam, sammelte sie sich und überließ der Musik das Feld.

Was mein armes Herz hier banget,

Was es zittert, was verlanget,

Weißt nur du, nur du allein!

Im Mittelteil bebte Evas Stimme zwischenzeitlich. Dies war ihr erster Auftritt als Solistin vor großem Publikum, nicht mehr die lediglich halb privaten Treffen des Musikvereins von Kristiania und Mamas Salon-Gesellschaften, bei denen sie geschützt war durch das Wohlwollen ihrer Familie, die alles, was ihr »Evchen« je tat, mit nachlässigem Entzücken quittierte. Nein, nun waren es Fremde, denen sie ihre Kunst und ihre Seele darbot, und wäre nicht die Musik gewesen, dieses zigfach erprobte Sicherheitsnetz aus Harmoniefolgen und Taktwechseln, ihr wären womöglich die Nerven durchgegangen und sie hätte gepatzt. Denn nun geschah es endlich.

Man hört mich. Man sieht mich. Mich!

Während eines kurzen Zwischenspiels der Streicher streifte Evas Blick die ihr zugewandten Gesichter im Publikum: In der ersten Sitzreihe ihre Mutter und ihre älteren Brüder Ernst und Ossian. Dahinter eine große Anzahl von Damen und Herren in sommerlichem Weiß, mit Strohhüten und leichten Kleidern aus Baumwollbatist. Nahezu alle Plätze waren belegt, und es schien, als habe das warme Wetter halb Kristiania in den Tivoli mit seinen Biergärten und Freilichtbühnen gelockt. Hinter den Sitzreihen, schon jenseits der hüfthohen Einzäunung aus geweißtem Holz, drängelte sich ein Pulk Studenten. Ihren bartlosen Wangen nach zu urteilen, handelte es sich um Examinanden aus dem ersten Universitätsjahr. Bis auf einen flachsblonden Burschen, der barhäuptig zuvorderst stand und ihr reglos lauschte, tuschelten die jungen Männer ganz ungeniert, kasperten herum und knufften sich in die Seiten. Ärger stieg in Eva auf. Diese Flegel! Kaum tragen sie eine Studentenkappe, werden sie impertinent. Zuhören sollten sie, oder in ihre Biergärten verschwinden.

Sie gab dem Schluss ihrer Arie ein so entschiedenes Forte, dass sich ihr Schwager am Dirigentenpult schon fast duckte. Armer Thorvald, du bist zu weich, um hier ein Exempel zu statuieren. Sage doch Anfragen des Tivoli künftig besser ab. Ein kurzer Blick Richtung Pult, und Eva leitete direkt über zum nächsten Stück, das sie nun abwechselnd mit den anderen Sängern vortrug. Ich werde es euch Flegeln noch zeigen. Für Eva stand schon lange fest: Sie würde auch studieren. Aber nicht an einer Universität wie ihre Freundin Cecilie, Gott bewahre! Denn diese hatte sich mit ihrem Anliegen, die erste Studentin Norwegens zu sein, nur Ärger eingehandelt. Nein, Eva würde nach Berlin gehen. Und sie würde dort bei Madame Artôt lernen, nicht nur eine gute, sondern eine große Sängerin zu werden. Sofern sie hier reüssierte. Also fasse dich, es wird schon werden! Wenige Minuten später beendete sie ihren letzten Einsatz mit leidenschaftlicher Verve.

Der früh Geliebte,

Nicht mehr Getrübte,

er kommt zurück …

Als der letzte Akkord verklang und sich der Beifall über Eva ergoss wie warmer Regen, sah sie sich endlich als Künstlerin erkannt. Da wusste sie, dass sie diesen Applaus, dieses Erkennen in den Augen der anderen, von nun an immer wieder haben wollte. Haben musste, denn was konnte es Besseres geben, als auf der Bühne zu stehen? Abgesehen vom Skifahren natürlich.

Direkt nach dem Recital, am Fuß des Konzertpavillons, fiel sie zuerst ihrer Mutter, dann ihrer Schwester in die Arme.

»Sagt schon, war es gut? War ich gut?«

Die acht Jahre ältere Mally, seit Kurzem verheiratet und nunmehr Frau Lammers, nahm sie in den Arm.

»Ach, Evchen, heute hast du so wunderbar gesungen wie noch nie.«

»Du machst dich über mich lustig.«

»Warum sollte ich?«

»Weil ich in Takt fünfzehn, statt ins piano zu gehen, gebrüllt habe wie eine Kuh am Gatter.«

»Ach, das hat doch kaum einer gemerkt.«

»Also, ich schon!« Maren Sars umarmte ihr jüngstes Kind. Dann trat sie einen Schritt zurück, hielt Eva an den Schultern fest und betrachtete sie ernst. »Du hast es goldrichtig gemacht und die Störer übertönt. Du hast Nerven bewiesen, und das auf diesem Jahrmarkt.«Sie bedachte ihre Umgebung mit einem abschätzigen Rundblick. »Also zweifle nicht länger an dir. Du kannst es. Du hast es heute und hier auf der Bühne bewiesen: Du bist eine Sängerin. Eines Tages wirst du sogar besser singen als Mally.«

Eva sah, wie ein Schatten über das Gesicht ihrer Schwester huschte. Doch an diesem Tag war sie zu glücklich, um ihrer chronischen Bevorzugung als Mutters Lieblingstochter zu widersprechen. »Kann ich dann auch in Berlin studieren, bei Madame Artôt, so wie Mally damals?«

Maren Sars lachte. »Warum nicht?« Ihr Blick wurde weich. »Evchen, du kannst alles tun. Nach Berlin gehen, nach Paris gehen, wohin auch immer es dich treibt. Nur komm am Ende wieder nach Hause zurück, mein Kind. Das ist das Einzige, was zählt: Heimkommen.«

Während sie miteinander sprachen, tauchte ein kleines Mädchen mit Strohhut vor ihnen auf. Scheu hielt es ihnen ein Bund ungelenk gewundener Wildblumen entgegen.

»Frøken Sars?« Die höfliche Anrede reizte Eva zum Lachen, und sie strich dem errötenden Kind übers Haar. »Na, du bist mir ja eine feine junge Dame! Sprich nur freiheraus, wir beißen nicht.«

»Die sind für Sie, soll ich ausrichten. Von …«, die Kleine stockte, versuchte, sich offenbar daran zu erinnern, was man ihr zu sagen aufgetragen hatte, und fuhr dann fort: »… von einem großen Verehrer Ihrer Kunst, Frøken Sars.«

Eva lachte nun erst recht. Oje, so groß, dass er mir dieses fürchterliche Unkraut schenkt, dachte sie und rief laut:»Schau an, so hübsche Blumen! Aber wo ist er denn, der Verehrer, von dem du sprichst?«

Das Mädchen wies unbestimmt hinter die Stuhlreihen, wo nun allgemeine Aufbruchstimmung herrschte. Evas Blick strich über die Zuschauermenge und versuchte, sich an ein einzelnes Gesicht während ihres Auftritts zu erinnern. Ohne Erfolg. Doch auch die Gabe eines Unbekannten gehörte gewürdigt. Und womöglich hatte die Kleine das Bund sogar selbst gepflückt. Eva besah sich die Blüten genauer und rief: »Hvitveis, wie hübsch! Dann richte diesem heimlichen Verehrer meinen herzlichsten Dank aus. Sag ihm, Buschwindröschen sind meine Lieblingsblumen.«

Winter 1887, Stockholm, Königssitz der schwedisch-norwegischen Union

Die Frau des kurzzeitig in die russische Heimat abberufenen Botschafters Daschkow war mehr als freigiebig gewesen. Frido betrachtete die Schlafende mit einem zufriedenen Lächeln, während er den Umlegekragen seiner Jaeger-Jacke quer über der Brust zuknöpfte. Dann verließ er das Zimmer, huschte den Gang entlang und lief hinunter in die Halle, von wo ihn ein Hausdiener mit leerer Miene zu einem Nebeneingang geleitete, der auf eine Seitengasse derSturegatan führte.

In der Gasse herrschte Halbdunkel, und es schneite sacht. Acht Uhr. Frido grinste still vor sich hin. Würde er die Frauen jemals überhaben? Wohl nicht, solange es auf dieser Welt mehr als eine gibt. Ein Blick auf die Taschenuhr verriet ihm, dass ihm kaum eine halbe Stunde Zeit blieb. Sollte er sich noch im Hotel frisch machen? Ach was, geschenkt. Frido lockerte die Schultern unter dem Wollstoff seiner Jacke, warf einen kurzen Blick ostwärts, wo es schwach dämmerte, und spazierte den Gehsteig hinunter Richtung Universität. Nach einer Weile begann er zu pfeifen.

»Schwarze Augen« – das haben sie gestern dreimal gespielt!

Eine leichte Frostschicht knisterte unter seinen Schuhsohlen, doch die Merinowolle hielt Frido warm, so warm, dass er sogar versucht war, den hochgeschlossenen Kragen seiner Jacke wieder zu öffnen. Sollten andere nur die Nase rümpfen über so viel moderne Zweckmäßigkeit. Die von Jaeger entwickelte Wollkluft hatte den gestrigen Theaterbesuch, das Essen und die darauffolgenden Tänze aufs Allerbeste überstanden. Und selbst an diesem Morgen saß sie tadellos, dabei hatte er sie gestern achtlos in die Schlafzimmerecke der Daschkowa gepfeffert. Mmh, diese Russinnen, seufzte er innerlich, erst recht die Verheirateten. Und dann noch »Schwarze Augen«, ach, ich liebe dieses Volk.

Vonderlei angenehmen Gedanken beflügelt, bog Frido in die Straße, wo sich das Institut für Mineralogie befand. Hinter den altehrwürdigen Hausfassaden glommen nun immer zahlreichere Lichter. Ein neuer Tag brach an, für Frido ohne Zweifel der wichtigste Tag des noch jungen Jahres.

Vor dem Haupteingang gönnte er sich den aufgehobenen Rest einer türkischen Zigarette vom Vorabend. Dies war nun der entscheidende Moment, der Grund seiner Reise hierher. Wie sollte er die Sache angehen? Und was, wenn man ihn gar nicht erst empfing? Nun, das werden wir dann schon sehen! Frido nahm einen letzten Zug, warf den Zigarettenstummel in die Gosse und betrat das Gebäude.

 

»Herr Fridtjof Nansen?«

Der Assistent streckte seinen Kopf aus der hohen Flügeltür und musterte die wartenden Studenten auf dem Gang des Instituts. Dann fuhr er zusammen, als er Frido dicht neben der Tür gewahrte, der längst von seinem Stuhl aufgesprungen war.

»Das bin ich!«

»Soso …« Der Assistent, schmächtig und mit einem Mausgesicht, musterte Frido mit hochgezogenen Augenbrauen vom blonden Kopf bis zu den Stiefeln. »Folgen Sie mir. Er ist bereit, sich Ihr Anliegen anzuhören.«

Er winkte Frido durch die Tür und lotste ihn durch eine Flucht nahezu identischer Räume, vorbei an Mitarbeitern, die Dokumentenmappen sortierten und Gesteinsklumpen in Schieber aus Messing spannten. Dabei spulte er eine Litanei an Ermahnungen ab, die, so vermutete Frido, ihm sicher nicht als Erstem zuteilwurden.

»Reden Sie nicht zu viel, er hasst Schwätzer. Und sagen Sie bloß nichts Gutes über die Russen, bei seiner Fahrt mit der Vega durch die ostsibirische See gab es da einen unschönen Zwischenfall. Rauchen Sie keine Zigaretten in seiner Gegenwart, die hält er für kulturlos. Aber trinken Sie den Aquavit, den er Ihnen anbietet. Das Wichtigste jedoch: Wagen Sie es ja nicht, ihn zu unterbrechen, wenn er über seine Polarexpeditionen spricht. Denn sonst, dessen können Sie sicher sein, fliegen Sie in einem noch höheren Bogen aus seinem Büro als einer Ihrer verrückten Landsmänner beim Skispringen von der Schanze.«

Sie passierten eine deckenhohe Tür. Ihre geöffneten Türflügel gaben den Blick auf ein grotesk geformtes Gesteinsstück frei, Frido tippte auf einen der Meteoriten aus Jakutien, von deren Fund die Zeitungen berichtet hatten.

»Ach ja, eine letzte Sache noch«, erklärte der Assistent, »lassen Sie sich gesagt sein: Er ist zwar mit Leib und Seele Skandinavier, aber die Norweger mit ihrem Eigensinn mag er trotzdem nicht besonders. Und was den Flaggenstreit betrifft, steht er aufseiten der Union. Er empfängt Sie also keinesfalls wegen der Empfehlung Ihres Landsmanns Brøgger, sondern nur, weil sein Schützling Sven Hedin, der soeben aus dem Orient zurückgekehrt ist und wohl mit Ihnen im selben Hotel logiert, gemeint hat, Sie wären so eine originelle Erscheinung.« Der Assistent bedachte Frido mit einem scheelen Seitenblick. »Hedin könnte recht haben. So, da wären wir!«

Mit diesen Worten pochte er an eine weitere Tür, deren Flügel jeder Kirche zur Ehre gereicht hätten, und wartete. Nach einem Moment der Stille rief sie eine barsche Stimme herein.

»Nicht vergessen«, wisperte der Assistent, »niemals unterbrechen.« Dann öffnete er die Tür und wies Frido mit einem herablassenden Kopfnicken hinein.

 

Nils Adolf Erik Freiherr von Nordenskiöld, in seinem fünfundfünfzigsten Lebensjahr, war eine durch und durch Furcht einflößende Erscheinung. Breitschultrig und knorrig wie ein Baum, zierte ihn ein markanter Schnauzbart. In Helsingfors geboren, besaß seine Sprache immer noch den harschen Akzent der Finnlandschweden. Baron Nordenskiöld hatte knapp zehn Jahre zuvor als erster Mensch die Nordostpassage bis zur Beringstraße durchfahren und dabei halb Ostsibirien kartografiert. In der Fachwelt war er berühmt für seinen technischen Ansatz bei der Planung seiner Expeditionen und berüchtigt für seine manische Akkuratesse. Doch nun ankerte der große Seemann schon seit vier Jahren auf seinem Professorenposten und war ebenso lang nicht mehr in der Arktis gewesen. Und mit dem Instinkt eines Geistesverwandten ahnte Frido, dass der Baron deshalb vermutlich jedem die Chance neiden würde, ins Eis zu gehen und dort womöglich Neuland zu entdecken. Er betrachtete Nordenskiölds hängenden Schnauzbart. Die lebende Legende erinnerte ihn an einen See-Elefanten. Einen sehr mürrischen See-Elefanten. Der Gedanke ließ ihn kurz grinsen, dann trat er einen Schritt vor und deutete einen Diener an.

»Baron Nordenskiöld …«

Der so Angesprochene, eine glimmende Zigarre im Mundwinkel, hatte sich bei Fridos Eintreten halb von seinem Platz hinter einem gigantisch großen Schreibtisch erhoben. Nicht aus Höflichkeit, sondern um nach einem Messingaschenbecher außerhalb seiner Reichweite zu greifen. Jetzt grunzte er missmutig und ließ sich in seinen Ledersessel zurückfallen.

»Nansen? Gut, kommen Sie näher. Meine Sehkraft hat der Schnee auf dem Gewissen, ich kann Sie dort hinten kaum erkennen.«

Mit unwilliger Geste wies der Baron Frido einen Stuhl mit hoher Lehne zu, der etwas verloren vor dem monströsen Schreibtisch stand. »Und setzen Sie sich, in Gottes Namen, setzen Sie sich!«

Frido tat, wie ihm geheißen. Sein Gegenüber studierte ihn dabei durch den Zigarrenrauch hindurch mit skeptischem Interesse. Er hält meinen Aufzug für spinnert, dachte Frido, dazu befremdet es ihn, dass wir jungen Männer keine Backenbärte mehr tragen.

Laut dankte er Nordenskiöld für die Güte, ihn, den unwichtigen Doktoranden aus Bergen, zu empfangen. Der Baron winkte ab.

»Unsinn, das ist keine Güte, das ist meine Pflicht. Schließlich muss Ihnen jemand sagen, was für eine absurde Geschichte Sie sich da in den Kopf gesetzt haben. Haben Sie letztes Jahr nicht die Geschichte von diesem Amerikaner Peary gehört? Nicht weiter als hundertsechzig Kilometer kam er, dann musste er umkehren. Und Sie wollen Grönland in Gänze durchqueren? In einem Zug? Mit nur fünf Mitstreitern? Das ist Selbstmord.

Lassen Sie sich gesagt sein, das Innere Grönlands ist womöglich grün und von hohen, unwegsamen Gebirgen durchzogen. Damals, als ich zur Westküste Grönlands segelte und den Vorstoß ins Innere wagte, da bin ich mit einem Proviant für fast ein ganzes Jahr aufgebrochen. Ein ganzes Jahr, junger Mann! Zudem natürlich im Juli, denn nur dann ist der Hafen von Godthaab …«

»Stopp. Ich habe nicht vor, in Godthaab zu starten.«

Stopp?! Nordenskiöld hielt inne, kniff die Augen zusammen und starrte ihn an.

Frido hatte es tatsächlich getan, er hatte den Baron unterbrochen. Und jetzt? Egal! Wer wagt, gewinnt.

Frido sprang von seinem Stuhl auf und fuhr fort: »Ich starte von der Ostküste aus. Denn dann haben wir unser Ziel vor Augen.«

»Ostküste? Aber dann haben Sie keine Möglichkeit zum Rückzug, wenn Sie im Landesinneren auf unüberwindliche Hürden stoßen.«

»Richtig. Ich breche die Brücken hinter mir ab. So kann ich alle meine Energie darauf konzentrieren, vorwärtszukommen.«

Schweigen. Dann räusperte sich Nordenskiöld.

»Nansen, wie alt sind Sie?«

»Siebenundzwanzig.« Frido straffte die Schultern. »Im besten Alter.«

»Und viel zu jung zum Sterben. Denn nichts anderes bedeutet dieser Plan: Ihren sicheren Tod.«

Der Baron zog an seiner Zigarre und musterte Frido durch den aufsteigenden Rauch. »So ein junges Leben, es wäre schade drum. Was sagt denn Ihre Familie dazu? Ihre Mutter … Geschwister … oder Ihre Verlobte?«

»Meine Mutter ist seit zehn Jahren tot. Und ich bin gottlob weder verlobt noch verheiratet. In meiner Situation wäre dies wohl auch der direkte Weg ins Unglück.«

»Mein lieber Nansen, Ihr Unterfangen ist der direkte Weg ins Unglück! Wie oft soll ich es noch wiederholen? Grönland ist gebirgig im Innern, Sie werden Monate brauchen. Und einfach loszuziehen, ohne vorab Nahrungsdepots anzulegen … wie viele Tonnen Proviant sollen Ihre Ponys denn schleppen?«

»Wer sagt, dass ich Ponys mitnehme?«

»Dann eben Schlittenhunde.«

»Wir nehmen gar keine Tiere mit. Alles, was wir brauchen, tragen wir selbst.«

»Sie wollen Proviant für ein ganzes Jahr mitschleppen? Undenkbar!«

»Die Durchquerung Grönlands wird uns nicht mehr als vierzig Tage kosten.«

Vom anderen Ende des Schreibtisches kam ein seltsames Schnauben. Erst nach einem Moment stellte Frido fest, dass Nordenskiöld lachte. »Und wie, bitte schön, wollen Sie dieses Kunststück zuwege bringen? Haben Sie etwa Flügel, mit denen Sie das Land überflattern?«

»Etwas Besseres.« Frido lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Er kramte in der Jacke des Jaeger-Anzugs nach seiner Zigarettenschachtel.

»Ist es gestattet?«, fragte er dann. Ohne eine Antwort abzuwarten, zündete er sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Wir verwenden das Naheliegendste«, sagte er, »nämlich das, was auch Ihre samischen Expeditionskollegen benutzt haben. Wir verwenden Ski.«

Nordenskiöld starrte ihn an. »Sie wollen die gesamte Strecke nach Lappen-Art zurücklegen? Sie müssen von Sinnen sein.«

»Ich versichere Ihnen, es geht mir blendend. Und ich denke, dass wir im Innern Grönlands weder auf eisfreies Land noch auf unüberwindliche Berge stoßen. Ihre eigenen Leute Tuorda und Rossa haben es Ihnen doch gesagt, als sie mit Ihnen in Grönland waren. Ich habe den damaligen Expeditionsbericht gelesen. Was haben Ihnen die beiden berichtet von ihrem Vorstoß ins Innere? Sie sagten: ›Das Land ist glatter als die Kruppe eines Rentiers.‹«

»Diese Lappen prahlen gern. Sie haben auch behauptet, sie hätten in den zwei Tagen dort vierhundertfünfzig Kilometer zurückgelegt.«

»Und so ein Tempo ist möglich«, versetzte Frido. »Tuorda hat es in Lappland beim Jokkmokk-Rennen bewiesen.«

Nordenskiöld strich sich nachdenklich über das Kinn. »Ich kann es mir trotzdem nur schwer vorstellen.«

»Weil Sie sich an Ihre Theorie von einem eisfreien Grönland klammern!« Frido hielt es nicht mehr auf seinem Platz, er sprang auf. »Aber was, wenn das nicht stimmt? Was, wenn es dort nur ein endloses Hochplateau gibt, einen Eisschild, spiegelglatt und gerade wie mit dem Lineal gezogen, eine gigantische Fläche jungfräulichen Schnees, den noch nie ein Mensch zuvor berührt hat?«

Immer, wenn Frido dieses Bild heraufbeschwor, erfasste ihn eine fast sinnliche Erregung. Bei Gott, wie unbedingt er doch dorthin wollte, nach Grönland! Aber dafür brauchte er Geld und Mitstreiter und Fachleute wie Nordenskiöld als Unterstützer. Frido bemühte sich um einen sachlichen Ton.

»Verehrter Baron, Sie hatten den richtigen Ansatz. Aber Sie konnten ihn nicht bis zum Ende denken, denn Sie fahren nicht Ski. Das ist bei mir anders, ich betreibe diesen Sport seit meiner Kindheit. Ich habe an Dutzenden Rennen teilgenommen und habe – bei aller Bescheidenheit darf ich es erwähnen – mit einundzwanzig Jahren den siebten Platz bei den norwegischen Landesmeisterschaften gemacht. In jenem Jahr gewann Torjus Hemmestveit, der amtierende Ski-Weltmeister. Ich bin ein Sportsmann.Vielleicht sogar noch mehr Sportsmann als Wissenschaftler. Aus diesem Grund wünsche ich mir für diese Grönland-Durchquerung als Mitstreiter auch keine Wissenschaftler, sondern versierte Skiläufer. Athleten von Weltrang, so wie Hemmestveit oder Kaspar Kielland aus Bergen. Oder einen Landessieger im Skispringen. Und mit Sicherheit werde ich auch ein oder zwei Samen aus der Finnmark anwerben. Sie nannten sie Lappen? Das mögen sie nicht sonderlich, habe ich mir sagen lassen …«

Nordenskiöld schwieg. Dann fragte er: »Und wenn Sie es in vierzig Tagen schaffen, dann reicht der Proviant?«

»Dann reicht er zur Genüge! Ich experimentiere bereits mit einer verbesserten Form von Pemmikan und plane, Fischmehl in Blöcke zu pressen.«

Der Baron hatte sich im Verlauf ihres Disputs immer weiter vorgelehnt und irgendwann erregt den Stummel seiner Zigarre in den Aschenbecher gedrückt. Nun stemmte er sich aus seinem Sessel und ging zum Fenster. Er wandte Frido den Rücken zu, dunkel hob sich seine hochgewachsene Gestalt vor dem einfallenden Licht des Wintermorgens ab. Einen Moment lang herrschte Stille, und Frido befürchtete schon, er wäre zu weit gegangen. Als sich sein Gesprächspartner allerdings wieder umdrehte, ließ ein Glitzern in seinen Augen Frido hoffen, dass er am Ende vielleicht doch nicht achtkantig aus dem Professorenbüro fliegen würde.

»Mein junger Freund«, sagte Nordenskiöld und trat zurück an den Schreibtisch, »das klingt alles schrecklich leichtfertig und hanebüchen. Nach einem Himmelfahrtskommando. Ich glaube, ich könnte mich dafür erwärmen.«

Er zwinkerte Frido zu, bückte sich dann zu einem unter der Schreibtischplatte versteckten Fach und förderte eine halb leere Flasche Aquavit zutage sowie zwei niedrige Kristallgläser. Er befüllte beide Gläser großzügig und reichte eines über den Tisch.

»Auf Ihre Skitour durch Grönland, Herr Nansen … und auf Ihr Glück. Skål!«

Kapitel 2

Ich weiß nicht, wie sich mein Vater und meine Mutter begegnet sind. Ich weiß, dass er nach Grönland kam (…) Eine vage Vorstellung von der weißglühenden Energie zwischen ihm und meiner Mutter kann man sich machen, wenn man bedenkt, dass er tatsächlich drei Jahre dortblieb.

 

(Peter Høeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee, 1992)

 

 

 

 

 

 

 

Februar 1888, Frognersæteren, die Nordmarka oberhalb von Kristiania

Nur zur Mittagszeit war die Sonne so intensiv wie jetzt. Sie stand über dem Kristianiafjord tief im Süden und ließ die vereisten Kiefern auf den Höhen glitzern. Wintersonne und Neuschnee. Bestes Skiwetter! Eva hielt ihr Gesicht einen Moment ins Licht. Dann schob sie sich die Wollmütze tief in die Stirn und nickte ihrer Freundin Cecilie Thoresen zu, die sich an ihrer Seite auf ihren Skistock stützte.

»Ich bin bereit. Und du?«

Statt zu antworten, ließ die Freundin ein Juchzen ertönen, das eher wie das Kriegsgeheul eines Wikingers klang. Dann stieß sie sich ab und verschwand über den Abhang. Eva folgte ihr auf dem Fuß. Hei …! Die Piste flog unter ihr hinweg, und sie sog die klare, kalte Luft tief in ihre Lunge. Wie reich war sie doch beschenkt mit allem, was ihr Herz begehrte: Freiheit, Licht und endlose Hänge voller Schnee. Eva blieb in Cecilies Spur, fuhr vier, fünf Bögen im Kristiania-Schwung, dann brachte sie etwas Abstand zwischen sich und die Freundin. Jetzt hieß es aufzupassen! Eva wollte endlich diese neue Technik aus Telemark probieren. Zwei Wochen zuvor beim Huseby-Rennen hatten die skiløper aus jener Gegend Norwegens sie so begeistert, dass sie eine der Teilnehmerinnen bekniet hatte, ihr diese neue Art und Weise des Fahrens zu zeigen. Eine Technik, die während der Abfahrt bei gleichbleibender Kontrolle engere Bögen ermöglichte – und damit ein viel höheres Tempo. Eva hielt auf eine Biegung mit hohem Neuschnee zu, sammelte sich für die Kehre. Jetzt! Bogen über rechts … wie war das noch mal? In der Kurve das äußere Bein gestemmt, das innere Bein ungewöhnlich tief, ja, fast kniend auf dem Ski, dabei das Gewicht verlagernd auf die Zehenbindung. Und … heeerum, geschafft! Eva jubelte, hing gleich noch einen zweiten Schwung dran und sah nach ihrer Freundin, die ein Stück zurückgefallen war. Cecilies lachendes Gesicht verschwand hinter einer Wolke aus Pulverschnee, ihre Stimme wehte Eva nach.

»Du verrücktes Huhn! Wer dich einmal heiratet, dem wünsche ich einen Sinn für Abenteuer …«

Ach was, mit dreißig, wer soll denn in meinem Alter noch kommen, dachte Eva. Außerdem, habe ich nicht alles? Eine liebende Familie, die Kunst, sogar ein eigenes Auskommen? Und ich bin frei.Freier jedenfalls als Cecilie, die zwar einmal Norwegens erste an einer Universität eingeschriebene Studentin war, ihr Studium nach ihrer Heirat und den darauffolgenden Geburten aber nicht abgeschlossen hat.Und jetzt kann die Ärmste froh sein, wenn ihr die häuslichen Pflichten neben den Treffen des Frauenrechtsvereins gerade noch mal ein, zwei Stunden Zeit im Monat fürs Skifahren lassen. Oh nein, so etwas passiert mir nicht!

Eva winkte Cecilie zu und stob weiter den Hang hinunter, Frost wie Puderzucker im dunklen Haar. Der Rock ihres Skikostüms blähte sich im Fahrtwind und behinderte ihre Bewegungen. Lästige Konvention, ich sollte es so machen wie die Samen, nur einen Gákti tragen und darunter lederne Hosen. Sie bog in ein schmales Seitental, hier lag der Schnee höher als auf der bekannten Piste am Südhang, und es war deutlich kälter.

Ein paar der neuen Schwünge, und sie war mittendrin. Obwohl ihre Knie und die Oberhalsmuskeln von der ungeahnten Anstrengung brannten, konnte einen das rhythmische Schwingen geradezu süchtig machen. Was für ein herrliches Gefühl es doch war, im Walzertakt den Hang hinabzueilen. Hin-zwei-drei, Her-zwei-drei, und wieder Hin … und Her … Der Schnee stob hoch, Eva rauschte hindurch und stob den Hang hinunter. Mit einer weißen Eisdecke beladene Fichten zogen sich rechts und links am Waldrand entlang, von dort musste sie sich fernhalten, wenn sie nicht an einem der Stämme enden wollte. Weiter unten duckten sich ein paar Weidehütten in den Schnee. Hier sah sie keine Menschenseele mehr, auch Cecilie war ihr nicht gefolgt, nur ein einsamer Skiläufer in ihrem Rücken weiter oben nahm noch den Weg durch dieses Tal, wie sie in einer Kurve bei einem Seitenblick bemerkt hatte. Eva flog dahin. Die Luft in ihren Lungen prickelte wie eisgekühlter Champagner, sie fühlte die Kraft ihrer Beine, ihrer Arme, berauschte sich an der Geschwindigkeit.

Ja, ich bin frei! So frei, ich könnte …

Ein Moment der Unaufmerksamkeit, ein zu kurzer Schwung, das Verhaken der Zehenbindung, und Eva segelte aus ihren eigenen Skiern im hohen Bogen kopfüber in eine meterhohe Schneewehe. Im ersten Moment glaubte sie zu ersticken, hatte Schnee in der Nase, im Mund, steckte mit dem halben Oberkörper fest. Sie hustete, prustete, versuchte, sich mit den Armen frei zu buddeln. Verdammt! Wie kam sie hier wieder raus? Eva strampelte mit den Beinen, verfluchte einmal mehr ihre unpraktische weibliche Kleidung, die Unterröcke, die wollenen Strümpfe. Und jetzt piksten ihr auch noch Tannennadeln in die Nase! Doch plötzlich wurden ihre Füße gepackt und die nutzlosen Skibindungen gelöst. Eva hörte ein kurzes Auflachen. Dann umfasste jemand ihre Waden mit beherztem Zug und rief: »Na großartig! Eine Fahrerin aus Telemark wollte ich schon immer einmal retten.«

Starke Arme hoben sie mitsamt all ihren Röcken hoch und stellten sie auf die Beine. Halb blind wischte sich Eva über das Gesicht und musste erneut husten. Oh nein. Sie war über und über mit Schnee bedeckt, er steckte in ihren Ohren, unter ihrem Schal und befand sich sogar in ihrem Mund. Und jetzt schmeckte sie dort auch noch Erde und Lehm. Igitt! Eva spuckte und ächzte vor Abscheu …

Währenddessen trat der Mann, der sie aus der Verwehung gezogen hatte, ein Stück zurück und wartete. Eine bange Ahnung sagte ihr, dass ihr Missgeschick für Erheiterung gesorgt hatte.

Als Eva den Schnee endlich abgeschüttelt hatte, vergewisserte sie sich und schnaubte. Richtig, ihr Gegenüber stand da und grinste wie ein Julenisse! Und das, obwohl ihr alles wehtat und sie noch ganz zittrig in den Knien war nach dem Salto in den Schnee.

»Was gibt es da zu lachen?«, blaffte sie. »Wer sind Sie überhaupt?«

Der junge Mann, denn das war er eindeutig, dazu von athletischer Statur und sicher anderthalb Köpfe größer als Eva, fasste sich sofort und hob seine Filzkappe zum Gruß. Dabei enthüllte er einen Schopf flachsblonder, raspelkurz geschnittener Haare.

»Verehrteste, bitte verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Nansen ist mein Name. Fridtjof Nansen. Ich bin Konservator am Zoologischen Museum der Universität Bergen und zurzeit auf Heimatbesuch hier in Kristiania.« Er legte den Kopf schief und äugte zu ihr hinüber. Dann versuchte er ein erneutes, diesmal eher vorsichtiges Lächeln. »Sie können mich jedoch auch gerne einfach Frido nennen, so wie meine Freunde …«

Der Blick in seine blaugrauen Augen versetzte ihr einen Stich. Eva konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. Gleichzeitig schrillten in ihr sämtliche Alarmglocken. Freunde? Auf gar keinen Fall. Nicht, wenn du wirklich der Nansen bist. Der schon Emmy Caspersen und Ida Holm das Herz gebrochen hat.

Sie stellte sich ebenfalls vor und bedankte sich für die unerwartete Hilfe. »Ohne Sie wäre ich zweifellos in eine ungemütliche Lage geraten.«

Rufe kamen von weiter oben, und sie drehten sich um. Cecilie. »Und bis mir Hilfe zuteilgeworden wäre, hätte ich mir vermutlich einen Schnupfen geholt«, ergänzte Eva.

Die Freundin rauschte heran, bremste so abrupt, dass der Schnee in alle Richtungen stob, und baute sich neben ihr auf. Ein Blick in Cecilies Gesicht bewies Eva, dass diese den blonden Skiläufer sofort erkannte.

»Vielleicht kennst du Herrn Nansen bereits«, murmelte sie. »Er hat mir gerade netterweise aus dem Schnee geholfen.«

»Oh, das hat er sicher nur allzu gern getan«, versetzte Cecilie und ließ einen eisig höflichen Dank folgen. Eva war ihr darüber nicht gram, kannte sie doch die Haltung der Freundin in puncto Frauenrecht und sittlicher Moral – und Nansens schlechten Ruf bezüglich Letzterer.

Sie standen nun zu dritt im Schnee beisammen, Schweigen breitete sich aus, und Eva fragte sich, warum ihr Retter nicht weiterfuhr. Wenn das tatsächlich der Nansen ist – der Skimeister und größte Frauenheld Kristianias und dabei einer der begabtesten jungen Zoologen des Landes –, dann hat er an einer verheirateten Frauenrechtlerin wie Cecilie und mir, ihrer angejahrten Freundin, kein Interesse. Warum also geht er nicht? Doch der Mann mit dem Ruf wie ein Donnerhall, auch auf Skiern natürlich im Reformanzug unterwegs, schien unbeeindruckt von der abweisenden Haltung der beiden Frauen zu sein.

»Ich würde mir wünschen«, meinte er nun an Eva gewandt, »dass dieser kleine Sturz Ihnen nicht die Freude am Telemark-Stil nimmt. Eine faszinierende Technik, finden Sie nicht? Auch ich habe sie mir angeeignet, im Zuge der Vorbereitung einer mehrwöchigen Skitour über ungewisses Gelände …«

Während er sprach, verfingen sich ihre Blicke ineinander, und Eva fühlte wieder diesen leisen Stich, der ihr schon beim ersten Mal eine Warnung hätte sein sollen.

»Mehrwöchig? Wo denn?«, echote sie, um sich gleich darauf dafür zu schelten, dass sie diesem Frauenhelden nun auch noch interessierte Fragen stellte. Zum Glück ging Cecilie dazwischen und drängte: »Na, wo man eben lange Strecken per Ski zurücklegt, wie in der Finnmark zum Beispiel oder Karelien. Eva, ich bitte dich! Du musst dringend aus den nassen Sachen, sonst holst du dir eine Lungenentzündung. Lass uns gehen. Mein Herr, wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen mögen …«

Mit diesen Worten wollte Cecilie sie am Arm wegziehen, doch Eva blieb wie angewurzelt stehen, festgehalten von dem Blick des Mannes, der offenkundig der berüchtigte Nansen war.

»Nicht in der Finnmark oder Karelien«, sagte dieser jetzt, und ein Leuchten trat in seine Augen, als er fortfuhr: »Dafür bräuchte ich kein Training. Nein, ich werde Grönland per Ski durchqueren. Noch in diesem Sommer. Die nötigen Mittel sind schon gesichert. Also … fast.« Er dachte einen Moment nach, dann schenkte er Eva ein entwaffnendes Lächeln. »Ich suche noch ein paar gute Skiläufer für dieses Abenteuer. Sie hätten nicht zufällig Lust, mich zu begleiten?«

April 1888, Ålesund in Fjordnorwegen

Frido hatte das Postschiff von Bergen aus genommen. Einen ganzen Tag waren sie entlang der zerklüfteten Küste gereist, durch die Schären und vorbei an den Einmündungen der Fjorde – immer weiter nach Norden.

Sie hatten die Häfen von Florø, Måløy und Torvik passiert, und die ganze Zeit über hatten die dichten Frühlingsnebel kaum einen Blick auf das Land freigegeben. Frido war trotz der feuchtkalten Witterung an Deck geblieben, getrieben von einer nervösen Unruhe, die sich mit jedem weiteren Kilometer verstärkte. Auf dem Wasser schwammen vereinzelte Eisbrocken, die Linien der schneebedeckten Höhenzüge verbanden sich mit dem Horizont. Das Land, das Schiff, die klamme Reling unter seinen Händen – alles erschien ihm feucht und kalt und grau. Er hatte in die zähe Nebelsuppe gestarrt und gezweifelt, ob sich die teure Fahrt, sein Ausfall im Zoologischen Museum, ja, der ganze Aufwand überhaupt lohnen würde.

Doch dann, kurz vor ihrer Ankunft in Ålesund, war die Sonne durch die Schwaden hindurchgebrochen und hatte den Valderhaugfjord in goldenes Abendlicht getaucht. Ein gutes Omen! Fridos Zweifel verflogen wie die Nebelschwaden, und so hatte er nach seiner Ankunft zum ersten Mal wieder eine ganze Nacht durchgeschlafen.

An diesem Morgen nun, bei strahlender Sonne, erklomm Frido die steile Treppe auf den Hausberg Ålesunds – ihr vereinbarter Treffpunkt –, und in seinem Innern herrschte gespannte Erwartung.

»Er besucht auf dem Aksla stets ein bestimmtes altes Kapellchen, wenn er in Ålesund ist«, hatte ihm sein Bruder Alexander Nansen erklärt, »und ohne Gottes Segen sticht er nicht in See.«Fridos spöttischem Kommentar war Alexander mit der ihm eigenen Sachlichkeit begegnet.»Du hast gesagt, du brauchst einen Seemann in der Mannschaft. Einen, der euch notfalls in einem Kajak von Grönland nach Hause bringt. Dafür ist er der Beste.«

Auf dem Aussichtspunkt unweit der Kapelle angekommen, ließ Frido seinen Blick über Küste, Berge und Meer schweifen und genoss die klare Sicht. Unter ihm ragten die letzten Zipfel Norwegens in das Nordmeer, jene eisigen Gewässer, welche schon seine Ahnen als das mythische Reich von Mælstrom und Kraken gefürchtet hatten. Heute war ein großer Tag. Er würde seinen ersten Mitstreiter treffen, sein Traum nahm endlich Form an.

Tief unter ihm drängten sich die pastellfarbenen Häuser Ålesunds zusammen. Unzählige Inselchen lagen wie hingeworfene Perlen verstreut im tiefdunklen Nordmeer. Diesem Meer, das zum Horizont hin immer heller und heller erschien, bis es in der Ferne lichtblau mit dem Himmel verschmolz. Dort hinten, der weiße Streifen, sag, ist da nicht …? Fridos ganze Seele drängte nach jenem Streifen, auch wenn ihm Verstand und Logik sagten, dass dies nur eine Lichtspiegelung sein konnte. Ein Trugbild. Denn bis zum Scoresbysund an der grönländischen Ostküste segelte man zwanzig Tage, dazwischen lagen Island, Jan Mayen und neunhundert Seemeilen eiskalte See. Und doch: Musste dies nicht Grönland sein? Ja, er sah es doch ganz deutlich!Frido seufzte innerlich. Wie lange hatte er davon geträumt, ins Eis zurückzukehren. Und wie kurz stand er nun vor der Erfüllung dieses Traums …

Jemand räusperte sich hinter seinem Rücken.

»Sie sind Nansen?« Als Frido sich umdrehte, folgte der trockene Kommentar: »Ich habe nicht mit einem Jungspund gerechnet.«

Der Mann war kräftig und untersetzt. Die Beine kurz, das Gesicht still und von einem rötlichen Backenbart eingerahmt. Der Blick seiner tief liegenden Augen unter dem Schirm seiner Schiffermütze ruhig und besonnen. Der ganze Mensch wirkte so unerschütterlich wie ein Fels. Fridos Bruder Alexander, auf dessen Empfehlung das Treffen zustande gekommen war, hatte nicht übertrieben: Otto Sverdrup war perfekt.

»Kaptein, mich erfreut Ihr Humor.« Frido tippte sich spielerisch an seine Kappe. »Seien Sie versichert, dass ich trotz meiner Jugend jederzeit – und sei es in der Mitte Grönlands – Herr der Lage sein werde.« Mit diesen Worten reichte er seinem Gegenüber die Hand zum Gruß. Dieser ergriff sie mit stiller Gelassenheit.

Mein Freund Sverdrup ist in vielem das komplette Gegenteil zu dir, hatte Alexander ihm mit einem maliziösen Lächeln erzählt. Fromm, bescheiden, treu wie Gold und ein Menschenfreund. Als Kapitän einer, dem die Männer bis ans Ende der Welt folgen. Nun, wollte Frido nicht genau dorthin, zum Ende der Welt?

Die beiden Männer suchten sich eine Sitzbank unweit der Treppe, und Frido legte dem anderen seine Pläne für Grönland dar. Er gab sich Mühe, dabei kein Detail auszulassen. So wie er Sverdrup einschätzte, würde dieser jede Ungenauigkeit in seinen Überlegungen sofort entdecken. Er gestand auch ein, dass Sverdrup der erste mögliche Mitstreiter sei, mit dem er spreche, viele wären interessiert, doch noch keiner verpflichtet. Ja, in dieser Hinsicht war Frido völlig offen.

Was er nicht erwähnte, das waren die Geldsummen, die ihn das Grönland-Abenteuer bereits gekostet hatte. Fast alle Gerätschaften für die Expedition würde man speziell anfertigen müssen. Die Skier mussten extrem leicht sein, Frido hatte bei deren Entwurf den Rat der norwegischen Ski-Elite eingeholt. Die Schlafsäcke plante er nach Art der Samenkleidung aus Rentierfell nähen zu lassen, mit einer zusätzlichen Kapuze. Bei Rückenwind wollte er bewegliche Segel nutzen, mit denen Männer und Schlitten noch schneller über das Eis gleiten würden. Und die Schlitten, ja, die Schlitten für die Überquerung waren Fridos größtes Problem! Nach ausgiebigen Studien und langer Überlegung hatte er sich für eine abgeänderte Variante des samischen Pulka-Schlittens entschieden. Ein Testmodell, ausschließlich aus Holz und Leder gefertigt, hatte bereits gute Ergebnisse erzielt. Doch was das kostete! Fridos ein Jahr jüngerer Bruder Alexander war Anwalt. Er beriet ihn in rechtlichen wie finanziellen Dingen, und gemeinsam hatten die Nansen-Brüder zuerst die Universität von Kristiania, dann das Storting um eine Förderung von fünftausend Kronen gebeten. Beide Male hatte man ihnen abgesagt. Hilfe war schließlich von unerwarteter Seite gekommen: Ein dänischer Geschäftsmann namens Augustin Gamél hatte sich erboten, das Geld für die Expedition zu schicken. Das war den norwegischen Parlamentariern dann aber auch nicht recht gewesen.

Als Alexander Frido erzählte, im Storting schimpfe man ihn einen treulosen Burschen, der sich von Dänen bezahlen ließe, war diesem der Kragen geplatzt. »Ja, was?! Wer soll uns das Unternehmen denn sonst finanzieren, wenn Norwegen nicht mag … etwa Trolle und Riesen? Welchen Eiertanz soll ich mir noch antun, bin ich ein Diplomat?«

»Da sei Gott vor«, hatte Alexander gerufen, »ein Diplomat wirst du in diesem Leben nicht mehr!« Wenige Wochen später hatte Gamél das Geld geschickt. An fehlenden Mitteln würde die Sache zumindest nicht scheitern.

Doch nun Sverdrup. Der Mann war sieben Jahre älter als Frido, ein gestandener Seemann. Würde er ihm folgen? Seine wissenschaftlichen Verdienste konnten ihm in diesem Fall nicht helfen, womöglich war er für den Kaptein nur irgendein Studierter mit einer verrückten Idee. Und allein konnte Frido nicht gehen. Mit wachsender Nervosität beschrieb er Sverdrup also noch einmal die Route über das Inlandeis und fügte abschließend hinzu, er hoffe, nach der erfolgreichen Durchquerung mit einem der dänischen Versorgungsschiffe von der grönländischen Westküste aus heimzureisen.

»Und Sie wollen vor Ende des arktischen Sommers zurück sein?«, fragte Sverdrup.

»Warum nicht? Was sollte dazwischenkommen?«

»Tja, was …«, kam es skeptisch vom Kaptein.

Mit größerer Zuversicht in der Stimme, als es gerechtfertigt war, schloss Frido: »Wenn man alles bedenkt, kann kaum etwas schiefgehen. Das wird ein Skiausflug. Mehr nicht.«

Sverdrups Blick wurde fast noch skeptischer. Frido war sich plötzlich sicher, dass er ablehnen würde. Er vertraut mir nicht. Er glaubt nicht, dass ich es schaffen kann. Vom Hafen unter ihnen kam ein Tuten, das Postschiff des heutigen Tages legte ab. Der Wind frischte auf und wehte Frido Salzgeruch in die Nase, vermischt mit einem Hauch von Tang. Meeresluft. Sehnsuchtsluft … verdammt, Sverdrup, warum sagst du nichts?

Sein Gegenüber nahm ihn ins Visier. »Ich hätte da noch eine Frage: Was treibt Sie nach Grönland?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Ich riskiere mein Leben bei dieser Sache. Ist das nicht Grund genug?«

Der Kaptein beobachtete ihn mit stillem Interesse. Frido erkannte, dass er ablehnen würde, wenn er keine ehrliche Antwort bekäme. Er seufzte.

»Waren Sie schon einmal am Scoresbysund?«

»Nein.«

»Ich war dort. Mit einundzwanzig. Als Zoologie-Student habe ich 1882 auf einem Robbenfänger angeheuert. Die Viking stach im März in See. Zuerst kreuzten wir lange in den Gewässern um Jan Mayen und fast hinauf nach Spitzbergen und zur Bäreninsel. Dann ging es weiter Richtung Ostgrönland. Kapitän des Schiffs war Axel Krefting. Sagt Ihnen der Name etwas?«

»Ah, Krefting.« Sverdrup wiegte den Kopf.

»Jener Sommer damals war nicht gerade warm. Wir wurden Mitte Juli in Sichtweite der grönländischen Küste vom Packeis eingeschlossen. Das Packeis war fest und solide, einen ganzen Monat lang trieben wir mit ihm die Küste entlang, immer Richtung Süden. Irgendwann waren wir auf der Höhe des Scoresbysunds. Ich sah die Küste: Klippen voller Eis, endlose Gletscherzungen, felsige Buchten. Niemand hatte sie bisher betreten. Meile um Meile unerforschte Wildnis am größten Fjord, den der Mensch je gesehen hat! Gott, ich habe vier Wochen lang auf die Ostküste Grönlands gestarrt und Krefting verflucht, der mir wegen meiner Jugend und Unerfahrenheit verbot, einen Vorstoß über das Eis zu wagen und an Land zu gehen. ›Sie sind zu jung für den Tod, Nansen‹, bekam ich zu hören. Und dass mir keine Zeit bliebe, rechtzeitig zurückzukehren, wenn das Packeis die Viking wieder freigäbe.« Fridos Kiefer mahlten bei der Erinnerung an den Wortwechsel. »Was konnte ich tun? Krefting hatte das Sagen, ich musste gehorchen. Aber jetzt bin ich nicht mehr zu jung. Und sterben werde ich auch nicht. Hoffentlich.« Er blickte sein Gegenüber eindringlich an. »Reicht Ihnen das als Antwort?«

Otto Sverdrup schwieg. Dann kramte er in der Brusttasche seiner Seemannsjacke und förderte eine winzige Blechdose mit Kautabak zutage. Er hielt das Döschen Frido hin, und als dieser dankend den Kopf schüttelte, schob er sich einen Priem in den Mundwinkel. Er kaute eine Weile, dann sagte er: »Ich bin gebürtig aus Bindal, meine Familie hat dort einen Hof. Das hat Ihnen Ihr Bruder bestimmt schon erzählt.«

Sverdrups Vater ist ein einfacher Bauer, wahrlich nichts Besonderes, hatte Alexander berichtet. Es musste Sverdrup Glück und immensen Einsatz gekostet haben, dorthin zu kommen, wo er jetzt war.

»In Bindal haben wir viel Wald. Fast jeder arbeitet in der Forstwirtschaft. Und kein Mitglied meiner Familie ist je zur See gefahren. Keinen außer mir hat es hinaus aufs Meer und zu Abenteuern getrieben.« Sverdrup spuckte aus. Frido erwartete, dass der andere noch etwas hinzufügen würde, doch der sah nur nachdenklich über das Meer und die bunten Hausfassaden Ålesunds tief unter ihnen im Licht des Morgens.

Keinen außer mir hat es zu Abenteuern getrieben …

Es würde schlimmstenfalls Tage dauern, überhaupt an der unwegsamen Küste Ostgrönlands anzulanden. Frido hatte keine Ahnung, wie sie die Steilklippen erklimmen und auf den grönländischen Eisschild gelangen sollten. Und dann die Durchquerung, das Inlandeis. Niemand wusste, was sie dort erwartete, Tausende Meilen durch unerforschte Wildnis und arktische Kälte. Land, das noch nie ein Mensch zuvor betreten hatte. Die meisten Leute hielten sein Vorhaben ohnehin für Selbstmord. Doch Frido sah Otto Sverdrup an und stellte fest, dass sein Bruder recht gehabt hatte: Mit niemand anderem an seiner Seite hätte er größere Chancen, von Grönland lebend heimzukehren, auf keinen würde er sich sicherer verlassen können als auf den untersetzten Bauernsohn aus Bindal. Und als sich Otto Sverdrup nach einem Moment der Überlegung umwandte, ihm die Hand hinhielt und meinte, er sei wohl dabei, da schlug Frido mit Schwung ein und erklärte aus vollstem Herzen, er freue sich auf die gemeinsame Reise.

»Nun denn«, sagte Sverdrup. »Grönland also. Wann genau geht es los?«

27. April 1888, Kristiania