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Mads Peder Nordbo

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Beschreibung

Schnee, Gletscher und zäher Nebel enthüllen ihre lange verborgenen, tödlichen Geheimnisse Der Journalist Matthew Cave wird nach Grönland geschickt, um über den Fund eines mumifizierten Wikingers im Eis zu berichten. Doch am Tag nach ihrer Entdeckung ist die Mumie verschwunden und der sie bewachende Polizist ermordet, aufgeschnitten und ausgeweidet. Matthew entdeckt Parallelen zu einem Fall aus den Siebzigerjahren, bei dem vier Männer brutal getötet wurden. Bei seinen folgenden Ermittlungen hilft ihm die junge eigenartige Tuparnaaq, die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo sie für den Mord an ihrer Familie einsaß. Gemeinsam graben sie tiefer und tiefer in der Vergangenheit, was ihnen fast zum Verhängnis wird … Knallhart, ultraspannend und unheimlich eindringlich – ein eiskalter Thriller made in Grönland

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Seitenzahl: 408

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Mads Peder Nordbo

Eisrot

Ein Grönland-Thriller

Aus dem Dänischen von Marieke Heimburger und Kerstin Schöps

FISCHER E-Books

Inhalt

PrologAlbtraum1Der Mann aus dem Eis234567891011121314Die Frau15161718Der Atem des Eises192021222324Meeresflüstern2526272829Das Licht der Dunkelheit303132333435363738Blutreste3940414243Ungelebtes Leben444546474849505152Versteinertes Leben5354555657585960616263646566Haut67Glossar

Prolog

Er war schweißgebadet. Hustete heiser. Rasselnd. Hinter dem Lappen, dem man ihm in den Mund gestopft hatte, bildete sich Schleim. Er versuchte, den Stoff auszuspucken, aber der Klumpen steckte so tief drin, dass er kaum den Kiefer bewegen konnte.

In seinen Schläfen pochte es. Rhythmisch. Wie Paukenschläge. Das Licht der Deckenlampe drang durch den dünnen Stoff, mit dem sein Gesicht bedeckt war. Von den Schmerzen, dem metallischen Geschmack im Mund und dem Licht wurde ihm speiübel. Er atmete kurz und flach. Hechelte. Versuchte, den klebrigen Speichel herunterzuschlucken. Schluckte noch einmal. Presste die Lippen auf den Knebel, bis sie weiß wurden.

Alles um ihn herum drehte sich. Die Übelkeit wurde übermächtig, er musste die Luft anhalten und sich extrem beherrschen, um sich nicht zu übergeben.

Er wagte es nicht, sich zu rühren. Die Schmerzen in seinen Händen waren unerträglich. Mit jeder Bewegung schossen sie von seinen von Nägeln durchbohrten Handflächen die Arme hinauf bis hinter seine Augen, wo alles miteinander verschmolz.

Gierig atmete er durch die Nase ein. Seine Lungen und sein Kopf fühlten sich an, als stünden sie unter Druck. Er bekam nicht genug Luft. Sein Hals verkrampfte sich. Die Muskeln versuchten, Sauerstoff in den Körper zu befördern, aber da war nichts als Speichel und Schleim.

Seiner Kehle entwich ein dunkles Brummen, als er spürte, wie sich eine kalte Klinge über seinen Bauch bewegte und das Hemd und den Pullover bis zum Hals aufschlitzte.

Tränen liefen in seinen Bart. Bitte nicht, flehte er. Bitte bring mich nicht um. Doch über seine Lippen kam kein Wort. Nur gurgelnde, kehlige Laute.

Er erstarrte, als mit einem Finger ein Strich über seinen gespannten Bauch gezogen wurde.

Die Schmerzen in seinen Händen bohrten sich tief in ihn hinein, durchdrangen jede Faser seines Wesens – dann spürte er, wie die Klinge durch seine Bauchdecke schnitt und ihn von unten nach oben aufschlitzte, bis sie knirschend ans Brustbein stieß. Die Schmerzen waren barbarisch. Sein verkrampfter Körper lies alles los. Die Haut. Das Fleisch. Das Leben. Er brüllte gurgelnd in den Knebel und rammte den Hinterkopf gegen den Boden, während er an seinen festgenagelten, blutigen Händen zerrte. Rotz verstopfte seine Nase und nahm ihm die Luft zum Atmen. Der Stoff in seinem Mund sog sich voll mit Blut. Das Licht schrie. Grell. Verschwand. Schrie.

Albtraum

Sinnattupiluk

1

Nuuk, 7. August 2014

 

Wie aus dem Nichts tauchte das rote Auto hinter ihm auf und streifte den Kotflügel des Golfs. Beide Autos gerieten ins Schleudern, der Golf überschlug sich, der alte Mercedes landete mit der Schnauze auf der Straße und stellte sich auf wie eine leere Dose. Das Heck des Golfs rammte ihn und änderte die Fallrichtung des Mercedes, der mit Karacho auf dem Dach landete. Die rechte Seite des Golfs gab nach und wurde eingedrückt, während die linke Seite der Karosserie fast unbeschädigt blieb. Der alte Mercedes rutschte weiter und schlug mit einer solchen Wucht gegen die Leitplanke, dass diese barst und den Wagen seitlich aufschlitzte. Der Golf schlitterte von der Straße eine Böschung hinunter und blieb auf der Seite liegen. Der Motor verstummte. Aus dem Mercedes waren die Schreie eines Mannes zu hören. Wortlose Schreie. Im Golf starrte ein blasser Mann in die Augen einer Frau. Sie war eingeklemmt zwischen dem eingedrückten Dach und dem völlig verzogenen Boden des Fahrzeugs. Der Mann saß fest zwischen dem Sitz, dem Gurt und einem zischenden Airbag. Der Airbag der Frau hing schlaff herab. Der Mann hatte blutende Kopfwunden. Er streckte die Hand nach der Frau aus, doch sie griff nicht danach. Ihr Körper war schlaff. Ihr Blick verlor sich. Unter ihnen ein schmaler Streifen vom Acker. Er streichelte ihre Wange. Sie sah ihn an, sah ihm tief in die Augen. Als kröche sie in ihn hinein, dahin, wo alles kaputtging und anfing, aus ihm herauszulaufen. Über sie drüber. Seine Hand wanderte weiter. Über ihren runden Bauch. Ein Mädchen. Das Kind in ihr. Die Augen der Frau erloschen. Alles erlosch.

Schreiend befreite Matthew sich von der Bettdecke. Sein völlig durchnässtes T-Shirt klebte ihm am Körper. Er riss es sich vom Leib und schleuderte es von sich. Im Zimmer stank es nach Schweiß. Mit wenigen Schritten war er an der Balkontür.

Draußen war die Luft schwer vom Abendnebel. Matthew konnte das Meer riechen, das sich da draußen im kühlen nordatlantischen Nebel verbarg und die Landzunge umgab, auf der Nuuk lag. Er zog eine warme, zerknautschte Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche, zündete sich eine an und entledigte sich seiner Jeans und seiner Boxershorts. Alles stank und war klamm.

Er stieß den Rauch aus, der sofort sein Gesicht und den nackten Körper einhüllte. Eins wurde mit dem Nebel. Wie er selbst. »Du bist ein Schattenkind«, hatte seine Mutter früher immer zu ihm gesagt. »Du bist so blass, dass man dich im Nebel gar nicht sieht.«

Der Dunst schmiegte sich an ihn. Die Kälte kitzelte ihn. Seine Haare stellten sich auf. Die zarten, hellen Haare an Armen und Beinen. Die Feuchtigkeit packte sie sich. Er atmete tief aus.

Er schlief enorm schlecht. Immer wieder quälten ihn Albträume. Kaum schlief er ein, stürzten sie sich auf ihn, machten ihn fertig. Nacht für Nacht. Monat für Monat. Immer derselbe Albtraum. Dieselben Augen. Derselbe Blick. Der Tod.

Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, dann ließ er sie in eine Glasschale fallen, in der sich Hunderte alter Kippen und Regenwasser zu einem unappetitlichen Brei vermengt hatten.

Irgendwo hinter ihm brummte sein Telefon. Er hob die Jeans hoch und fischte es heraus. Es war der Chefredakteur.

»Hallo, Matt, ich bin’s! Bist du bereit für die Debatte?«

Matthew sah an seinem nackten Körper herunter. »Ja.«

»Der erste Teil mit Aleqa Hammond und Søren Espersen hat schon angefangen. Musst du unbedingt gucken. Jørgen Emil Lyberth von der IA ist heute auch dabei.«

Matthew ließ sich rückwärts aufs Sofa fallen, schnappte sich die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein.

»Du musst rüber in den Sender«, brummte der Redakteur.

»Ja, ja …«

»Ich will, dass nach der Sendung eine kurze Zusammenfassung auf unsere Website gestellt wird. Misu ist schon bereit, sie wird übersetzen, dürfte also ein Klacks sein. Alles klar?«

»Ja, sage ich doch. Ich hab den Fernseher schon an.«

»Aber erst seit gerade eben.« Der Redakteur holte tief Luft. »Es geht um die misslungenen Versöhnungsverhandlungen und um die zehn Millionen.«

»Ich gucke schon«, gab Matthew knapp zurück. »Aleqa sagt, was die Menschen brauchen, ist nicht Spaltung, sondern Zusammenhalt und Versöhnung, nach außen wie auch nach innen. Lyberth wendet ein, dass man die zehn Millionen besser in Kunst und Kultur investiert hätte statt in eine teure Kommission, an der sich Dänemark gar nicht beteiligen will.«

»Ganz genau. Gut, dass du zusiehst. Denk dran, sofort im Anschluss was online zu stellen. Am besten, du schreibst schon was, während die Debatte noch läuft.«

»Gute Idee. Ich lege jetzt auf, damit ich mir Notizen machen kann.«

Die Stimme der grönländischen Premierministerin Aleqa Hammond drang aus dem Fernseher. »Das Problem sind nicht die zehn Millionen, sondern dass Dänemark es nicht für nötig befand, Teil der Kommission zu sein.«

»Woran es in Grönland mangelt«, fiel Lyberth ihr ins Wort, »ist nicht Versöhnung, sondern Selbsterkenntnis.«

Da meldete sich eine dritte Stimme zu Wort. »Soll diese Kommission nicht im Grunde nur verschleiern, dass man Dänemark finanziell weiter kräftig melken möchte, während man gleichzeitig eine größere Unabhängigkeit fordert?«

»Ganz im Gegenteil«, antwortete Aleqa spitz. »Es geht der Kommission einzig und allein um die Aussöhnung zwischen Grönländern und Dänen, aber die wird natürlich nur schwer zu erreichen sein, wenn sich außer einem aufbrausenden Rechtspopulisten kein Politiker hierherbequemt.«

»Immerhin besser als gar keiner«, beeilte Espersen sich zu sagen.

»Das ist doch wirklich ein schwaches Bild von Helle Thorning und dem Rest der dänischen Regierung, dass keiner an einem Dialog zur Versöhnung interessiert ist«, schimpfte Aleqa weiter.

»Versöhnung?«, fragte Espersen. »Wenn ich das schon höre! Wenn es nach mir ginge, würde sich Dänemark in sämtliche grönländische Angelegenheiten einmischen. Ist doch vollkommen grotesk, dass wir Jahr für Jahr Abermillionen von Kronen hierherschicken und keinerlei Einfluss darauf haben, was mit dem Geld passiert. Die höchste Selbstmordrate der Welt! Jedes dritte Mädchen wird sexuell missbraucht! Das würden wir niemals hinnehmen, wenn es sich um Bornholm oder Lolland handeln würde.«

»Typisch Dänische Volkspartei«, zischte Aleqa. »Total undifferenziert und rassistisch.«

»Was ist denn bitte rassistisch daran, etwas gegen die Vergewaltigung von Kindern zu haben?«, echauffierte sich Espersen.

Matthew drückte auf den Lautstärkeknopf der Fernbedienung, und die Stimmen wurden zunehmend leiser. Er musste Aleqa und Espersen nicht länger zuhören, um zu wissen, was sie sagten. Es war ohnehin immer das Gleiche.

Er zog seinen Laptop zu sich. In der ersten Fernsehdebatte zwischen Aleqa Hammond, Siumut, und Søren Espersen, Dänische Volkspartei, sollte es eigentlich um die Zukunft der glücklosen Versöhnungskommission gehen. Die Fronten zwischen der grönländischen Regierungschefin und dem zweiten Vorsitzenden sowie dem Grönlandsprecher der Dänischen Volkspartei waren jedoch so verhärtet, dass die Debatte schon bald einen völlig anderen Kurs einschlug.

Keine zwanzig Minuten später war der Text fertig, und kaum gab Aleqa Espersen mit angewiderter Miene zum Abschluss der Debatte die Hand, waren die Zeilen auch schon auf dem Weg zur Übersetzerin. In Kürze würde der Artikel auf Dänisch und Grönländisch auf der Website von Sermitsiaq erscheinen.

Als Matthew vor knapp fünf Jahren sein Journalistikstudium abschloss, hatte er sich ganz bestimmt nicht vorgestellt, eines Tages in Nuuk zu sitzen und über die dänisch-grönländische Versöhnung zu schreiben. Er hatte von Größerem geträumt, hatte Sensationsnachrichten hinterherjagen wollen. Aber der Unfall hatte alles verändert. Vor allem die Träume. Vorher hatte alles zusammengepasst. Seine Liebe zu Tine. Der Traum von einer Familie. Emily. Als ein großes Ganzes.

Matthew schloss die Augen. Vielleicht war es das, was er in Nuuk zwischen den Geistern seines Vaters, seiner Frau und seiner ungeborenen Tochter suchte. Vielleicht wollte er das große Ganze endgültig aufbrechen, um einen Weg durch die Einzelteile hindurch nach draußen zu finden. Hinaus aus dem Dunkel, in dem er gefangen war. Hin zu etwas Neuem. Zu etwas Lebendigem. Zu etwas Wildem, Verrücktem, ohne großes Ganzes.

Er sank auf dem Sofa zusammen. Die Schreie aus dem Albtraum hallten in seinem Kopf wider. Er konnte den festen, runden Bauch unter seinen Fingern spüren. Er rieb sich die Augen. Es war schon spät, aber viel würde er diese Nacht nicht mehr schlafen. Es würde kaum dunkel werden. Der Nebel würde sich lichten. Er griff in eines der Seitenfächer der Laptoptasche und zog ein paar alte Fotos heraus.

Eins nach dem anderen betrachtete er sie und breitete sie neben sich auf dem Sofa aus. Die Bilder waren alle ziemlich abgegriffen, so oft hatte er sie bereits in der Hand gehabt. Manche begleiteten ihn schon, seit er ein kleiner Junge war. Die von seinem Vater waren die ältesten. Aufgenommen an der Thule Air Base, in Uniform. Nur auf einem Foto war er in Zivil, zusammen mit Matthews Mutter in einem militärisch aussehenden Restaurant. Sein Vater lächelte. Seine Mutter auch. Mit ihrem dicken Babybauch. Eins der Bilder war kein Foto, sondern eine Postkarte. Aus Nuuk. Vom August 1990. Ich kann leider doch noch nicht nach Dänemark kommen, stand da. Tut mir leid. Ich liebe euch.

Matthew strich mit dem Finger über die Handschrift. Diese paar Worte waren das Einzige, was ihm von seinem Vater geblieben war. Die Karte hatten seine Mutter und er bekommen, wenige Monate nachdem sie nach Dänemark gezogen waren.

Das letzte Bild, das Matthew in die Hand nahm, war eins von Tine. Tine, die lächelnd vor ihm saß und ihn ansah. Sie strahlte deshalb so, weil sie an dem Tag erfahren hatten, dass sie eine Tochter erwarteten. Sie hatten sie sogar schon auf dem Monitor gesehen. Sie soll Emily heißen, hatte Tine gesagt. Emily. Und wenn sie größer ist, lese ich ihr Wuthering Heights vor. Er hatte Tine geliebt. Und sie ihn.

Der Mann aus dem Eis

Angut Sermimeersoq

2

Nuuk, 8. August 2014

 

Die Rotorblätter des Helikopters wirbelten den Schnee auf, die auf dem Eis wartenden Gestalten verschwanden kurz im Gestöber. Matthew sah, wie die Männer sich schützend, doch im Prinzip vergeblich, die Arme vors Gesicht hielten – tanzende Eis- und Schneekristalle fanden immer einen Weg, selbst in die schmalsten Ritzen. Die Sonne stand hoch am Himmel und wurde vom Inlandeis grell zurückgeworfen.

»Kannst du was sehen?«, rief eine Stimme von vorn.

»Nur die anderen«, rief Matthew zurück. Zum Schutz vor der Sonne schirmte er die zusammengekniffenen Augen mit der Hand ab. Seine Finger zitterten. Wie immer. Mit diesem Zittern wollten sie auf sich aufmerksam machen. Er ballte die Hand zur Faust, drückte sie sich an die Stirn und schloss kurz die Augen.

Das Heck des riesigen Sikorsky machte eine ruckartige Bewegung, dann drehte sich der Helikopter um die eigene Achse und setzte zur Landung auf dem Eis an. Sonnenstrahlen wurden von Schatten abgelöst, und Matthew sah kurz sein Spiegelbild im Fenster: Blass. Blond.

Der Fotograf neben ihm hatte zu Matthews großer Verwunderung die Tür bereits geöffnet und lehnte sich gefährlich weit hinaus.

»Da!«, rief der Fotograf und nahm die Kamera zur Hand. »Guckt mal! Da ist es!«

Matthew hielt sich an der Schlaufe neben seinem Sitz fest und streckte sich, bis er dem Fotografen über die Schulter sehen konnte. Er ließ den Blick über die endlose weiße Weite wandern. Nur noch wenige Meter, dann setzten sie auf. Die Rotorblätter hatten den Schnee unter sich so gründlich weggedrückt, dass der Untergrund ganz glatt wirkte. Matthew strich sich über die Hosentasche, um sicherzugehen, dass er Zigaretten und Feuerzeug dabeihatte.

Die Gestalten auf dem Eis wurden größer, so groß, dass Matthew ihre braunen Gesichter mit den zusammengekniffenen Augen sehen konnte.

Er war erst seit wenigen Monaten in Nuuk, und man hatte ihn nur deswegen zu diesem Einsatz geschickt, weil so früh am Morgen gerade kein anderer in der Redaktion gewesen war, als der Chef anrief. In einer halben Stunde am Flughafen. Ein paar Jäger haben eine männliche mumifizierte Leiche gefunden. Vermutlich sehr alt, aus der Wikingerzeit. Das ist eine große Sache. Ganz groß!

An einem seiner ersten Tage in Nuuk hatte man Matthew die obligatorische Stadtrundfahrt angedeihen lassen, wo er unter anderem im Museum am Kolonialhafen ein paar Inuit-Mumien besichtigen konnte. Neue Mumien tauchten allerdings nur sehr selten auf, und das Besondere an dieser war, dass sie nordeuropäisch aussah. Nicht wie ein Inuit. Es war der erste Fund eines gut konservierten Nordmannes, und in Forscherkreisen machte man sich bereits große Hoffnungen, anhand dieser Mumie deutlich mehr über Leben und Alltag der Nordmänner in Grönland zu erfahren. Matthew hatte sich angelesen, dass die Nordmänner praktisch spurlos aus Grönland verschwunden waren, nachdem sie knapp 500 Jahre dort gesiedelt hatten. Dieses plötzliche Verschwinden gab der Wissenschaft einige Rätsel auf. Wieso hatten die Nordmänner an ihrer Besiedelung Islands und der Färöer-Inseln festgehalten, Grönland aber Mitte des 15. Jahrhunderts verlassen? Als der Pfarrer Hans Egede 1721 auf der Suche nach den Nordmännern nach Grönland kam, fand er sämtliche Siedlungen verlassen vor und machte sich daran, die Inuit zu missionieren. Er schuf die Grundlage für die Kolonialisierung des modernen Grönland.

Jetzt hatte das Eis einen dieser verschollenen Nordmänner freigegeben, auch wenn keiner verstand, was er wohl so weit da draußen getrieben haben mochte. Aber nun war er plötzlich da, und sie waren zum Inlandeis geflogen, um ihn in Augenschein zu nehmen.

Die Worte des Chefredakteurs klangen Matthew noch in den Ohren. Wir müssen das als Erste bringen! Wir! Keine ausländischen Medien! Das hier ist unsere Story, unsere Sensation, und darum sollen sich gefälligst alle auf uns beziehen, verstanden? Du kannst doch auch auf Englisch schreiben, oder?

Natürlich konnte er seinen Artikel auch auf Englisch schreiben. Das hatte er seinem Vorgesetzten beim Einstellungsgespräch mehrfach versichert. Englisch, Deutsch, Dänisch, Norwegisch und Schwedisch. Nur Kalaallisut konnte er nicht, die Sprache der indigenen Grönländer, obwohl auch das in der Stellenausschreibung gefordert war.

»Yes!«, rief der Fotograf und knipste wie wild drauflos. »Das wird der absolute Knaller!« Er drehte sich um und sah Matthew aus seinen großen dunklen Augen an. »Was meinst du, werden die ausländischen Zeitungen meine Bilder verwenden?«

»Am Anfang auf jeden Fall.« Matthew nickte, ohne den Blick von der Eisfläche unter ihnen abzuwenden.

»Mit meinem Namen drunter?«

»Dafür werden wir schon sorgen«, sagte Matthew. »Aber jetzt müssen wir erst mal rausfinden, um wen es sich da überhaupt handelt.«

»Wie geil ist das denn!«, rief der Fotograf, der Matthews zweiten Satz mehr oder weniger überhört hatte. »Mein Name in der Weltpresse! Scheiße, Mann, wie krass! Yes!«

Mit einem Ruck setzte der Hubschrauber auf. Matthew konnte merken, wie die Räder kurz gegen den schweren roten Flugkörper drückten. Matthew flog zum ersten Mal mit einem der großen Helikopter von Air Greenland, und laut seinem Chefredakteur konnte er sich gleich mal daran gewöhnen. Vor allem im Winter, wenn die Flugzeuge wegen Nebel, Sturm, Eis oder Schneetreiben am Boden bleiben mussten, kamen häufig Hubschrauber zum Einsatz und forderten Nerven und Magen heraus.

Davon konnte jetzt keine Rede sein. Sie waren gelandet und würden in wenigen Minuten die erste je gefundene richtige Mumie eines Nordmannes sehen. Getrocknet und konserviert von Frost und eiskalter arktischer Luft. Matthew sah die möglichen Schlagzeilen bereits vor sich: Grötzi. Der Ötzi des Nordens. Der Mann aus dem Grönlandeis. Der letzte Wikinger. Ihm wurde richtig schwindlig vor Ideen. Gleichzeitig musste er überlegen, was auf Englisch am besten klingen würde und wie dramatisch er die Story gestalten konnte. Wäre super, wenn er noch einen Mord einbauen könnte. Der letzte Wikinger – tödlich verletzt starb er einen einsamen Tod auf dem Eis. Das wäre nicht schlecht. The last viking. Left behind. Wounded and dying.

3

Die Metallleiter unterhalb der Helikoptertür wurde ausgeklappt, und Matthew musste die Augen fast völlig zusammenkneifen, als er die paar Stufen hinunterstieg.

Er betrat eine andere Welt. Eine völlig neue Welt. So weiß. So grell, dass es schmerzte. So etwas hatte er noch nicht erlebt.

Der magische Moment wurde nur vom Lärm der Rotorblätter gestört, die durch die Luft über ihren Köpfen schnitten.

Eine der Gestalten auf dem Eis gab dem Piloten ein Zeichen, woraufhin sich die Rotorblätter zusehends langsamer drehten. Der Motorenlärm nahm ab und wurde zu einem turbinenhaften Summen, bevor er ganz verstummte und die Eislandschaft einer ohrenbetäubenden Stille überließ.

Im Hubschrauber hatten außer Matthew noch drei Männer und eine Frau gesessen. Alles Dänen, doch soweit Matthew das verstanden hatte, alle Angestellte der Universität Grönland, Ilisimatusarfik. Bis auf den einen Mann, der von dem Museum kam, in dem Matthew die Inuit-Mumien gesehen hatte.

»Tag. Sind Sie von der Zeitung?«

Matthews Blick fiel auf einen Polizeibeamten, der im Gegensatz zum Rest der Gruppe Inuit zu sein schien.

Auch der Fotograf war Inuit. Malik. Der war schon als Kind zwischen Eis und Klippen herumgesprungen und einer der wenigen Kollegen bei der Zeitung, mit denen Matthew sich einigermaßen verstand.

»Ja«, antwortete Matthew, die Augen immer noch zusammengekniffen. »Ich soll über einen Mann schreiben, der hier gefunden wurde.« Er fing an, mit dem Ring zu spielen, der nicht mehr an seinem Finger steckte.

Der Polizist nickte. »Der liegt da hinten. Aber darum geht es mir nicht.«

»Sondern?«

»Sie dürfen ihn nicht anfassen, aber das ist Ihnen ja wohl auch so klar.« Er wandte sich an Malik. »Und du bleibst heute ein bisschen auf Abstand, ja?«

»Ist das nicht egal?«, beschwerte Malik sich. »Der ist doch tiefgefroren.«

Der Polizist zuckte mit den Schultern und deutete mit einem Nicken zu den eingeflogenen Wissenschaftlern. »Die haben hier das Sagen.«

»Aber wir dürfen fotografieren und darüber schreiben, ja?«, fragte Matthew in der Hoffnung, dass die anderen ihn hörten und zu sich herüberbaten. »Ist doch eine richtige Sensation, wenn ich das richtig verstanden habe, und wir wollen die Geschichte gerne als Erste in unserer Zeitung bringen. Nicht, dass andere uns zuvorkommen und uns die Show stehlen. Das hier wird weltweit auf großes Interesse stoßen.«

Er sah dem jungen Polizisten an, dass seine Worte auf fruchtbaren Boden fielen.

»Vielleicht könnten wir mit ein paar Bildern von Ihnen hier beim Hubschrauber und dann drüben bei der Mumie anfangen?« Fragend sah Matthew den Polizisten an. »Wie war doch gleich Ihr Name? Nur, damit wir ihn auch richtig schreiben. Das Ganze wird natürlich auch auf Englisch veröffentlicht.«

Der Polizist presste die Lippen zusammen, dann nickte er. »Ulrik Heilmann. Mit zwei n.« Er zeigte kurz auf Malik. »Ich bin mit Malik zur Schule gegangen.«

»Gut. Mit zwei n«, bestätigte Matthew und richtete den Blick ebenfalls auf Malik. »Machst du bitte ein paar Bilder von Ulrik, damit wir was für die Zeitung haben?«

Mit hochgezogenen Augenbrauen erwiderte Malik Matthews Blick und sah dann zu Ulrik. »Aber sollten wir denn nicht …«

»Doch, natürlich, aber jetzt müssen wir uns erst mal um die Grundlagen der Story kümmern«, fiel Matthew ihm schnell ins Wort. »Damit wir alles komplett haben.«

Bevor Malik etwas sagen konnte, wandte Matthew sich schon wieder an Ulrik. »Soll ich schreiben, dass Sie ihn gefunden haben?«

»Na ja, eigentlich waren das ja ein paar Jäger. Die haben ihn entdeckt und uns auf der Wache Bescheid gegeben. So gesehen haben die ihn gefunden.«

Matthew sah sich um. »Und wo sind die jetzt?«

Ulrik sah ihn aus großen Augen an. »Wieder weg. Die waren auf Rentierjagd. Enok heiratet, und sie müssen für die Hochzeit ein Rentier erlegen.«

»Enok?«, fragte Matthew.

»Ist ein Cousin von denen«, sagte Ulrik kopfschüttelnd. »Das hat nichts zu sagen. Die mussten einfach weiter.«

»Hier draußen gibt’s nicht viele Rentiere«, flüsterte Malik Matthew zu. »Aber vielleicht finden sie ja einen Moschusochsen, der sich verlaufen hat.«

Matthew sah zu Ulrik. »Ich glaube, ich schreibe einfach, dass Sie ihn gefunden haben. Nachdem ein paar Jäger Ihnen einen Hinweis gegeben hatten. Ist sowieso besser, wenn Ihr Name in dem Artikel steht, wenn die ausländischen Presseagenturen anrufen. Sie sind bestimmt leichter zu finden als …« Matthew richtete den Blick in die weiße Ferne. »… ein paar Jäger irgendwo da draußen.«

Maliks Kamera fing den immer breiter lächelnden Polizisten ein. Er nickte vor sich hin und sah dann zu den Wissenschaftlern und dem Mann vom Museum, die sich um etwas versammelt hatten, das wie ein gammeliger brauner Fellhaufen aussah.

Matthew reckte den Hals, konnte aber nichts Genaueres erkennen. In seinem Kopf formten sich schon wieder verschiedene dänische und englische Schlagzeilen, und er dachte an die vielen Medien, die sich schon bald auf ihn und seine Geschichte stürzen würden.

Er schüttelte den Kopf und trampelte ein paarmal auf dem glitzernden Schneeboden auf. Fühlte sich ganz schön fest an, und doch sanken seine Füße mit jedem Tritt ein wenig ein. Die Sonne hatte Kraft, brannte und stach ihm regelrecht ins Gesicht. Der Schnee kam ihm locker vor, die Kristalle groß. Sommerschnee. Mit jedem Zentimeter Tiefe wurde er dichter. Das war so ziemlich alles, was er über Gletscherbildung wusste. Irgendwann war der Druck dann so groß, dass alles zu Eis gepresst wurde. Dickes, kilometerlanges Eis, das sich über die Jahre von einer trüben in eine kristallklare Masse verwandelte.

Er sah wieder hoch. Unweit von ihnen entdeckte er eine dunkle Spalte im Eis. »Ist das die Fundstelle?«, fragte er Ulrik und zeigte auf die Spalte.

Ulrik nickte lächelnd, doch dann wurde seine Miene ernst. »Die haben gesagt, ich hätte ihn da liegenlassen sollen, damit alles abgesichert werden kann. Aber wir dachten ja erst, das wäre ein toter Jäger oder so.«

Matthew lächelte. »Konnten Sie ja nicht wissen. Das werden die schon verstehen.«

Ulrik zuckte mit den Schultern. »Kann sein. Jedenfalls habe ich erst, als ich ihn da rausgezogen hatte, gesehen, dass seine Haut ganz gelb und Gesicht und Füße wie ausgetrocknet waren. Wie zum Trocknen aufgespannte Tierhaut.« Er öffnete den Reißverschluss seiner Uniformjacke, zog sie aus und hängte sie sich über den Arm.

»Seine Füße?«, hakte Matthew nach. »Sind die denn nackt?« Wieder sah er suchend hinüber zu den Wissenschaftlern. Vergeblich.

Ulrik zog die Nase hoch und hob die Augenbrauen. »Also, ich hab ja nicht alles gesehen, aber ich glaube, er ist ganz nackt. Also, unter dem Fell, in das er eingewickelt ist. Das klebt an ihm fest. Das Fell. Sie wissen schon. Als wäre es mit der Haut zusammengewachsen.« Er rümpfte die Nase. »Der muss da schon ganz schön lange liegen.«

»Na ja, mindestens fünfhundert Jahre, wenn es ein Nordmann ist«, sagte Matthew.

Ulrik nickte. »Weiß nicht mehr, wann die hier gelebt haben.«

»Aber Sie glauben, dass es ein Nordmann ist?«

»Das hat man mir gesagt, und nichts deutet darauf hin, dass es sich um eine jüngere Leiche oder ein Gewaltverbrechen handelt. Trotzdem wurden für alle Fälle bereits Rechtsmediziner und Kriminaltechniker aus Dänemark angefordert. Aber die treffen wohl erst nächste Woche ein. Bis dahin sollen wir den Fundort absichern.« Er nickte in Richtung der Wissenschaftler. »Denen da ist erlaubt worden, ihn sich anzusehen.«

»Das wird eine Riesengeschichte«, sagte Matthew. »BBC, NBC, National Geographic, TIME. Alle werden sich draufstürzen. Wann, glauben sie, können wir ihn uns ansehen?«

Ulrik nickte wieder kurz. »Ich frag die mal eben, wie weit sie sind. Sie können sich ja in der Zwischenzeit die Gletscherspalte ansehen. Aber schön vorsichtig, ja?« Er sah Malik an. »Ich hab keine Lust, euch ins Krankenhaus fliegen zu lassen.«

»Gott, bist du langweilig geworden«, sagte Malik grinsend. »Und wenn Lyberth erst dafür gesorgt hat, dass du ins Parlament gewählt wirst, ist alles verloren. In einem Jahr bist du dann genauso ausgetrocknet und faltig wie der Mumienmann.« Malik wandte sich an Matthew. »Ulrik tritt bei der nächsten Wahl für die Sozialdemokraten an, und da Jørgen Emil Lyberth ihm den Rücken stärkt, haben wir es wohl gerade mit dem zukünftigen Minister für Natur, Umwelt und Justiz zu tun. Oder so.«

»Ja, ja«, brummte Ulrik, konnte sich aber ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Ein leichter roter Schimmer auf den Wangen deutete an, dass er auch ein bisschen stolz war. »Dazu müssen ja erst mal Wahlen ausgeschrieben werden. Die letzten sind gerade mal sechzehn Monate her.«

»Die nächsten Wahlen kommen bestimmt, und du wirst gut abschneiden. Und dein Name ist bei Lyberth für einen Ministerposten fest vorgemerkt.«

Ulrik schüttelte den Kopf. »Ich glaube kaum, dass das reicht.«

»Natürlich reicht das.« Malik zog beide Augenbrauen hoch. »Ach, und … Falls ihr in dem Ministerium einen Fotografen brauchen solltet – Anruf genügt.«

»Passt einfach auf da unten, ja?«

»Ja, wir passen auf. Kennst mich doch.«

»Eben.«

Malik verdrehte die Augen zum Himmel. »Er wird mir das nie verzeihen, dass ich mal auf einer Eisscholle aufs offene Meer hinausgetrieben bin und sie mit mehreren Hubschraubern nach mir suchen mussten.« Er breitete die Arme aus. »Aber das Licht an dem Tag! Das Licht war der totale Knaller!«

4

Vorsichtig setzte sich Matthew an den Rand der Gletscherspalte und sah Malik hinterher, der sich bereits an den Abstieg gemacht hatte. Als Matthew die Spalte vom Helikopter aus entdeckt hatte, sah sie wie ein dunkler Riss im Erdboden aus, aber jetzt aus der Nähe war es, als schaute er in einen leuchtenden Eisberg.

»Sei vorsichtig«, sagte Matthew.

Malik drehte sich um und sah ihn leicht genervt an. »Das hier ist kein aktiver Gletscher. Die Spalte ist statisch, die Stufen, auf die ich trete, sind alt. Jetzt mach dir mal keine Sorgen. Ich will nur runter bis zu dem Vorsprung da. Wo die Mumie gefunden wurde.«

Prüfend betrachtete Matthew Maliks Bewegungen. Er holte tief Luft und bog den Nacken von einer Seite zur anderen, bis es knackte.

»Du kannst ohne Probleme auch zu mir runterkommen«, fuhr Malik fort. »Solange wir nicht weitergehen, sind wir hier ganz sicher.«

Langsam drehte Matthew sich um und ließ sich über die Kante rutschen, bis er Boden unter den Füßen spürte. Er sah sich um. Bis zu Malik waren es noch ein paar Meter, aber der Fotograf hatte recht: Der Boden war stabil und sicher. Matthew richtete sich auf. Neben ihm ging es steil bergab, so tief, dass er das Ende der Spalte nicht sehen konnte. Da unten war es stockfinster.

Malik folgte seinem Blick. »Da wollen wir jetzt nicht runter. Aber wenn du eines Tages Lust dazu haben solltest, sag einfach Bescheid. Da unten gibt es großartige Grotten. Kannst du dir gar nicht vorstellen. Knalltürkis. Wenn wir wieder in Nuuk sind, zeig ich dir gerne ein paar Bilder, die ich gemacht habe.«

Matthew nickte bedächtig. »Vielleicht nicht gerade heute.« Er schauderte und bereute es, seine Jacke im Hubschrauber liegengelassen zu haben. Mit jedem Meter, den sie hinabstiegen, wurde es kälter zwischen den Eiswänden, inzwischen gefror ihnen der Atem vor den Lippen.

»Bist du schon mal hier gewesen?«

»Nein, genau hier nicht, aber die Spalten und Grotten sind überall gleich.«

Auf einmal wurde es ganz still. Von oben waren keine Stimmen mehr zu hören. Matthew sah zu Malik. Er trug feste Stiefel, eine dicke orangefarbene Hose und einen grauen Strickpulli und war damit deutlich besser ausgerüstet als Matthew, der in Turnschuhen und Jeans steckte.

»Kommst du?«, fragte Malik. »Hier ist es. Ich kann sehen, wo er gelegen hat.«

Schweigend ließ Matthew sich noch eine Stufe weiter herunter. Er achtete sehr darauf, sich immer gut an irgendwelchen Rissen und Vorsprüngen in der Wand festzuklammern.

»Guck mal da.« Die Kamera klickte in einem fort. Dann richtete Malik sich auf und sah die paar Meter zur Spaltöffnung hinauf. »Das muss der Sturm vor ein paar Tagen gewesen sein, der ihn freigelegt hat. Normalerweise haben wir um diese Zeit gar nicht so kräftige Winde, aber man kann nie wissen.«

»Wie meinst du das mit dem Sturm?«

»Na ja, der muss ihn halt ausgegraben haben.« Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte schwarze Haar. »Der Wind kann innerhalb von Stunden ganze Schneeberge versetzen.«

Malik sah Matthew an. »Komm, wir gehen wieder hoch in die Sonne. Ich hab ein paar gute Bilder gemacht.« Er zögerte. »Möchtest du ein bisschen Mattak? Ich habe welches im Rucksack.«

»Mattak? Ist das nicht Walhaut?«

»Ja, mit Speck. Davon wird dir in null Komma nichts wieder warm, versprochen.«

Matthew schüttelte den Kopf. »Ich glaube, die Sonne reicht mir.«

»Aber das schmeckt echt gut und steckt voller Öl, das wärmt. Du siehst aus, als könntest du ein, zwei Würfel vertragen.«

»Danke, heute nicht.« Matthew hielt sich an einem Stück Eis fest, um sich an den Aufstieg zu machen. Er platzierte einen Fuß auf einem kleinen Vorsprung und suchte mit dem anderen nach einer Spalte oder einer Stufe aus Schnee. Runterzukommen war viel leichter gewesen. Jetzt hatte er das Gefühl, eine Rutschbahn hochzuklettern, und die glatten Sohlen seiner kalten Turnschuhe waren für dieses Manöver denkbar ungeeignet. Sein Fuß fand eine Vertiefung, und Matthew begann, sich hochzuziehen. Doch der Schnee gab nach, Matthew rutschte und verlor die Kontrolle. Die Finsternis unter ihm wollte ihn verschlingen, Matthew sah sich bereits mit gebrochenen Knochen und kalten Atemwolken über sich in der türkisen Tiefe liegen.

»Was machst du denn da?«

Matthew spürte, wie Malik ihn beim Pulli packte, und ließ sich von ihm zurück auf sicheren Grund ziehen.

»Hattest du nicht selbst gesagt, dass wir vorsichtig sein sollen?«, fragte Malik.

Matthew bohrte die Finger in den Schnee, atmete keuchend und drückte das Gesicht gegen die Eiswand.

»Das wäre nicht passiert, wenn du ein bisschen Wal gegessen hättest«, lachte Malik und klopfte Matthew ein paarmal auf den Rücken. »Das klärt nämlich auch die Gedanken und hilft, die Natur zu verstehen, statt nur in ihr herumzulaufen.« Lächelnd deutete er auf ein paar Löcher in der Eiswand ganz in ihrer Nähe. »Am besten kletterst du da hoch. Das dürfte sicher sein.«

»Ich bin abgerutscht«, murmelte Matthew und ließ sich auf den Eisvorsprung sinken. Er fischte seine Zigaretten aus der Hosentasche und sah zu Malik. »Auch eine?«

Malik nickte und setzte sich neben Matthew, der zwei Zigaretten aus der Schachtel zog und anzündete.

»Dieser Jørgen Emil Lyberth«, sagte Matthew und blies Rauch in die kalte Luft. »Der war doch eine ganze Weile Parlamentsvorsitzender, oder?«

»Sogar Regierungsvorsitzender. So lange wie sonst kein anderer. Wenn auch mit Unterbrechungen. Aber jetzt ist er schon seit ein paar Jahren nicht mehr dabei. Wenn Ulrik gewählt wird, gewinnt der Alte einen Teil seiner Macht zurück.« Malik nahm einen tiefen Zug und ließ das Kinn auf die Brust sinken. »Ich weiß gar nicht mehr, woher Ulrik eigentlich kam, eines Tages war er einfach da. Kam aus einem der Dörfer und hat von Anfang an bei Lyberth gewohnt. Wahrscheinlich lag es auch an Lyberth, dass Ulrik gleich bei allen so beliebt war, obwohl er irgendwie eigenartig und dunkel war.« Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette und warf den Rest in die Tiefe. »Und jetzt ist er sogar mit Lyberths jüngster Tochter verheiratet. Hast du die schon mal gesehen?«

Matthew schüttelte den Kopf.

»Ganz schönes Geschoss … Hat alles richtig gemacht, der Junge ohne Vergangenheit.«

»Danke«, sagte Matthew und warf seine noch glühende Kippe ebenfalls in die Tiefe. »Das ist gut zu wissen, wenn ich den Artikel schreibe.«

»Das dachte ich mir. Lyberth sollte man sich nicht zum Feind machen. Nuuk ist ein Dorf.«

5

Oben auf dem Eis schien noch die Sonne, und Matthew wurde es sofort wieder warm, als er aus der Gletscherspalte kletterte. Sonne und Schnee blendeten ihn, aber seine Augen gewöhnten sich schnell an das grelle Licht. Die Oberfläche des Eises hatte Ähnlichkeit mit sanften Wellen auf dem Meer. Kleine Vertiefungen, Erhebungen und gefrorene Kräuselungen, so weit das Auge reichte. Von Schnee, Regen und Wind geformt, jahrein, jahraus. Ringsherum reckten sich graublaue Berge in den azurblauen Himmel – zu dieser Jahreszeit lag nur auf wenigen wirklich Schnee. Zwar hatte es in den höchsten Lagen bereits geschneit, aber der Schnee blieb nur auf den Schattenseiten und in Gebirgsspalten liegen. Dort lag er dann allerdings auch den ganzen Sommer über. Matthew war noch auf keinem der Berge gewesen, hatte es aber fest vor – man hatte ihm zu verstehen gegeben, dass das dazugehörte, wenn man sich als Däne in Nuuk Respekt verschaffen wollte.

»Und? Habt ihr da unten ein paar gute Bilder geschossen?«, fragte Ulrik.

Zur Antwort streckte Malik den aufgerichteten Daumen in die Luft.

»Prima«, sagte Ulrik. »Hier drüben könnt ihr noch mehr sehen, habe ich gerade gehört. Und wenn ihr Fragen habt, dürft ihr die auch stellen.« Er sah Matthew an. »Wir müssen darauf achten, dass die Nachricht zuerst in unseren eigenen Medien erscheint.«

»Ganz genau.« Matthew nickte kurz.

Ulrik lächelte. Vielleicht beim Gedanken an die vielen Bilder von ihm selbst, die schon bald um die Welt gehen würden, begleitet von schönen Worten über den Mann, den sie da im Eis gefunden hatten.

Die Universitäts- und Museumsmitarbeiter hatten sich zum Helikopter zurückgezogen, zwei von ihnen telefonierten, die anderen starrten in ihre aufgeklappten Laptops.

»Wir fliegen gleich zurück«, erklärte Ulrik. »Die brauchen eine Menge Ausrüstung, wenn ich das richtig verstanden habe, die wollen hier ein Lager aufschlagen, um die Spalte gründlich zu untersuchen. Aber heute Nacht halten wir hier erst mal Wache, damit dem Eismann nichts passiert. Solange unsere Spezialisten nicht da gewesen sind, dürfen die Forscher ihn noch nicht wegbringen, aber sie dürfen so eine Art Brutkasten um ihn herum aufbauen. Angeblich muss er stabilisiert werden. Ich finde ja, dass er ziemlich stabil wirkt. Als ich ihn rauszog, war er jedenfalls steif wie ein Brett.« Er lachte auf. »Weiß auch nicht, ob das so gut ist, wenn er nach so vielen Jahren da unten jetzt plötzlich in der Sonne liegt, aber toter kann er ja nicht werden.«

»Und wer bleibt heute Nacht hier? Du?«, fragte Malik mit einem breiten Lächeln.

»Weiß nicht. Kann gut sein. Ist mir gleich.«

Malik zuckte die Achseln. »Also, ich hätte keinen Nerv dazu.«

»Warum?« Matthew runzelte die Stirn. »Kann man hier erfrieren?«

»Klar«, antwortete Malik mit gesenktem Kopf und sah ihn von unten an. »Aber ich dachte da jetzt mehr so an Geister. Die werden nicht gerne gestört – und schon gar nicht so. Wenn er wirklich seit mehreren hundert Jahren tot da unten gelegen hat, dann umgeben ihn bestimmt ziemlich viele Geister … Und zwar keine guten. Sondern böse, unterirdische.«

Ulrik schüttelte den Kopf. »Hör nicht auf ihn. Hier gibt’s genauso viele Geister wie Moschusochsen.«

»Kann durchaus sein, dass mal einer auftaucht, wenn er Hunger hat«, wandte Malik ein.

Ulrik winkte ab. »Im Eis gibt es weder Geister noch Moschusochsen.«

»Unter der Erdoberfläche wimmelt es nur so von Geistern und Dämonen«, fuhr Malik fort. »Ich habe sie selbst gesehen.«

»Beim Trommeln?«

»Nein, bevor ich anfange zu trommeln, natürlich.«

»Das ist ein Teil unserer Kultur, und zwar ein sehr schöner Teil«, sagte Ulrik, eher an Matthew gewandt. »Aber glauben tu ich nicht daran. An Geister unterm Berg und so. Daran, dass wir die Geister auf jemanden ansetzen können, indem wir kleine Tupilakfiguren schnitzen. Aber von mir aus sollen andere ruhig daran glauben. Ich halte auch große Stücke auf unsere Kultur.«

»Jetzt wollen wir erst mal sehen, ob du die Nacht hier draußen überlebst«, sagte Malik breit grinsend. »Wenn du willst, komme ich gerne raus und trommele ein bisschen für dich. Das schaffe ich noch, bevor es dunkel wird.«

»Nein, danke, ich will nicht, dass du hier herumspringst. Außerdem glaube ich auch gar nicht, dass ich für die Wache eingeteilt werde.« Er klatschte in die Hände. »Gut. Dann sehen wir uns den Fund mal ein bisschen näher an, bevor die plötzlich nach Nuuk zurückwollen.« Er nickte in Richtung Hubschrauber.

Sekunden später war Malik bei dem braunen Haufen auf dem Schnee. Matthew und Ulrik ließen sich mehr Zeit.

Viel konnten sie von dem Mann nicht sehen. Lediglich Gesicht und Füße waren frei, wie Ulrik bereits erklärt hatte, den Rest des Körpers bedeckte ein gelbbraunes, steifes Fell. Schwer zu sagen, ob der Mann darin eingewickelt worden war oder sich selbst hineingehüllt hatte. Da die Füße und der untere Teil seiner Schienbeine nackt waren, war allerdings anzunehmen, dass der ganze Mann unter dem Fell nackt war. Das Fell wirkte wie versteinert, wie eine Mischung aus Bronze und Torf, kaum ein Haar darin ließ sich noch einzeln bewegen. Alles war mit der Zeit verschmolzen und zu einer festen Masse geworden. Die Gesichtshaut des Mannes lag straff um den Schädel, Augen hatte er schon lange nicht mehr. Lediglich zwei Vertiefungen in der vertrockneten, ledrigen Haut. Sein Bart bedeckte immer noch die Kinnpartie und einen guten Teil der eingefallenen Wangen. Ob er blond oder rothaarig gewesen war, ließ sich schwer sagen, aber schwarz waren seine Haare auf gar keinen Fall, und die Gesichtszüge waren entschieden mehr skandinavisch als inuit. Daher wohl die Vermutung, es handele sich bei dem Toten um einen Nordmann.

Malik beugte sich dicht über den mumifizierten Körper, damit ihm keine makabre Einzelheit entging. »Mit der Fratze sieht er ja fast aus wie ein Tupilak.«

Die Lippen des Mannes aus dem Eis waren nur noch zwei schmale Streifen, die sich völlig vertrocknet über den vorderen Kieferbereich spannten und die Zähne freigaben. Es sah aus, als wäre er mitten in einem hysterischen Lachanfall gestorben.

»Wird’s hier nachts sehr dunkel?«, fragte Matthew.

Ulrik und Malik sahen ihn an.

»Nein, nicht so richtig«, sagte Ulrik. »Die Sonne geht um diese Jahreszeit ja ohnehin nur für wenige Stunden unter, und außerdem ist es durch den Schnee immer irgendwie hell hier.«

Matthew nickte. Der Schnee. Daran hatte er nicht gedacht. Aber er hätte trotzdem keine Lust, bei dem Toten Wache zu schieben, ganz gleich, wie hell oder dunkel es in der Nacht war.

Malik lag nun bäuchlings auf dem vereisten Schnee, um die mumifizierten Füße zu fotografieren.

Er sah über die Schulter. »Krass, Mann, das sieht ja aus wie Beef Jerky. Voll eklig.« Dann grinste er Matthew verschlagen an. »Mit ein bisschen Walfett wäre das nicht passiert.«

Matthew seufzte, wandte sich kopfschüttelnd von seinem Fotografen ab und ging zurück zum Hubschrauber.

Er blieb bei den Forschern stehen. »Entschuldigung. Wer von Ihnen ist vom Museum?«

»Ich«, sagte ein durchschnittlich großer Mann mittleren Alters, von dem Matthew nicht sagen konnte, ob er eher dänisch oder grönländisch aussah. War ja eigentlich auch egal. In Nuuk hatten sich Skandinavier und Inuit über Generationen genetisch einigermaßen durchmischt. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen zu dem Fund stellen?«

»Ja, klar. Und ich vermute, wir werden auch später noch miteinander zu tun haben.« Der Mann fuhr sich unentwegt durch seinen dichten, graumelierten Bart. »Sieht ja ganz nach einem einzigartigen Fund aus.«

»Ja, genau das wollte ich nämlich fragen. Für wie einzigartig halten Sie ihn?«

Der Mann straffte die Schultern. »Soweit ich weiß, gibt es bisher noch keinen einzigen Fund eines mumifizierten Nordmanns aus der Wikingerzeit. Natürlich hat man Skelette und Moorleichen gefunden, aber keine Mumien, und das ist das Entscheidende. Die Art und Weise, wie seine Haut, seine Knochen und vielleicht sogar sein Mageninhalt konserviert sind, ist absolut einzigartig.« Er machte eine Pause, signalisierte Matthew aber durch seine Körpersprache, dass er noch nicht fertig war. »Haben Sie schon mal von Ötzi gehört? In Tirol? Um so etwas geht es hier. Dieser Fund wird uns unschätzbare neue Erkenntnisse liefern, wenn wir ihn gründlich untersucht haben. Aber wir müssen Schritt für Schritt vorgehen, damit nichts verlorengeht. Das hier ist eine absolut beispiellose Entdeckung – wahrscheinlich weltweit.«

»Sie sind also sicher, dass es sich um einen Nordmann von den skandinavischen Siedlungen in Westgrönland handelt? Aus der Wikingerzeit?«

»Etwas anderes kann ich mir gar nicht vorstellen. Selbstverständlich haben wir noch keine Proben entnommen, weil wir auf die Kriminaltechniker warten müssen, aber mich würde es nicht wundern, wenn die Analyseergebnisse später alle unsere Annahmen und Thesen bestätigen. Wie gesagt, ich kann mir gar nichts anderes vorstellen, aber hundertprozentig wissen kann ich es natürlich auch nicht.«

»Wenn Sie Ötzi erwähnen, heißt das, dass die Umstände, unter denen dieser Mann so ganz allein in dieser Gletscherspalte gelandet ist, womöglich irgendwie dramatisch waren?«

»Sie meinen, ob es einen Kampf gegeben hat oder es sich vielleicht um einen gewaltsamen Tod handelte?«

»Ja, irgendetwas in der Art.«

»Ich habe bisher keine Anhaltspunkte oder Spuren an seinem Körper entdeckt, aber ausschließen kann ich es nicht. Wir wissen ja, dass die Nordmänner Grönland nach knapp fünfhundert Jahren plötzlich wieder verlassen haben, irgendetwas muss also vorgefallen sein. Wenn dieser Mann aus der letzten Phase der Besiedelung Grönlands durch die Nordmänner stammt, dann könnten insbesondere Spuren von Waffeneinwirkungen oder sein Mageninhalt uns wichtige Aufschlüsse darüber geben, was mit den Nordmännern passiert ist.«

»Er könnte also einem Mordanschlag zum Opfer gefallen sein?«

»Ja, natürlich, er könnte durchaus einem Mordanschlag zum Opfer gefallen sein.«

 

Die Sonne stand immer noch über dem Atlantik, als Matthew in seine Wohnung zurückkehrte. Er und Malik waren vom Flughafen aus direkt nach Hause gefahren, um sich in Ruhe mit ihrem jeweiligen Material zu beschäftigen. Sie hatten verabredet, sich am nächsten Morgen ganz bald zu treffen, um schnellstmöglich Fotos und Artikel ins Netz zu stellen.

Während Matthew seinen Text schrieb, spürte er ein Kribbeln unter der Haut. Das Gefühl hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Und eigentlich auch erst zweimal in seinem Leben: einmal, als er seine letzten vier Prüfungen mit Eins abschloss, und ein zweites Mal, als Tine ihm erzählte, dass sie schwanger war. Es war ein Gefühl von Lebendigkeit, von unendlicher Vitalität. Und jetzt war es wieder da. Nicht ganz so ausgeprägt wie die anderen Male, aber doch ganz schön nah dran. Spätestens morgen Mittag würde ein Großteil der journalistischen, historischen und archäologischen Welt seinen Artikel gelesen oder aufgrund seines Artikels von dem Fund gehört haben. Wiederauferstehung des letzten Wikingers – Ein über 500 Jahre alter Nordmann-Wikinger wurde diese Woche vom grönländischen Inlandeis freigegeben. Sein rotes Haar und ein zerschlissenes Rentierfell waren das Einzige, was er nach seiner Reise durch mehrere Jahrhunderte noch am Leib trug. Forschern zufolge ist die mumifizierte männliche Leiche in einem so guten Zustand, dass sie der Forschung höchstwahrscheinlich entscheidende Informationen zur Lebensweise der Wikinger liefern wird, aber auch zu der großen Frage, weshalb die Nordmänner im 16. Jahrhundert plötzlich aus Grönland verschwanden. Waren es ein Krieg, allgemeine Not oder die begrenzten Möglichkeiten, die sie in dichter bevölkerte Gegenden Skandinaviens zurücktrieb? Und was ist mit den Nordmännern auf dem amerikanischen Kontinent?

Nachdem Matthew den Artikel fertiggeschrieben und abgeschickt hatte, klappte er sein Laptop zu und machte es sich auf dem Sofa bequem. Gut, dass er sich einen Teller Knäckebrot mit Schokoscheiben gemacht hatte, bevor er sich an den Computer setzte. Da konnte er sich jetzt einfach bedienen.

Das war eigentlich Tines Ding gewesen. Knäckebrot. Am besten mit dick Butter und Vollmilchschokoscheiben. In den ersten Jahren ihrer Beziehung waren sie viel Rad gefahren, und Tine hatte immer Knäckebrot als Proviant eingepackt. Eins ihrer Lieblingsziele war ein weißer Gutshof mit weitläufiger Parkanlage gewesen. Über einen langen Waldweg gelangten sie in deren hinteren Bereich. Tine hatte ein grünes Fahrrad mit einem weißen Korb am Lenker gehabt. In den Korb hatte sie das Knäckebrot und Trinkwasser gepackt.

Das Knäckebrot krachte laut in seinem Mund. Trocken und süß. Wie gerne würde er Tine jetzt sagen, dass er sie liebte. So richtig. Nähe und Offenheit waren nie seine Stärke gewesen.

6

Nuuk, 9. August 2014

 

Im Laufe der frühen Morgenstunden war dichter Nebel vom Meer herbeigezogen und hatte sich wie ein feuchter, grauer Teppich auf Nuuk gelegt. Die Sicht betrug nicht mehr als zehn Meter.

Alles war weg. Weit weg. Das Meer genauso wie die Berge, die Matthew sonst von der Wohnung aus sehen konnte.

Er stand an der offenen Balkontür, zog an seiner Zigarette, inhalierte tief in die Lunge, hielt kurz die Luft an und blies den Rauch dann aus, hinaus in den Nebel. Als er vor ein paar Monaten nach Nuuk gekommen war, wollte er sich natürlich eine eigene Wohnung suchen, aber als er keine fand, hatte man ihm diese Übergangslösung im zweiten Stock eines graugelben Hauses mit großen Fenstern angeboten. Die Wohnung war sogar teilmöbliert, und es hatte nicht lange gedauert, da beschloss er zu bleiben. Hier hatte er alles, was er brauchte – nein, sogar mehr. Zwei Zimmer und ein Wohnzimmer mit Aussicht über das südliche Nuuk, zum Meer und auf die entfernt liegenden Berge, keine fünf Gehminuten vom Zentrum.

Matthew schnippte die Kippe über das Geländer, trat einen Schritt zurück und schloss die Balkontür, dann ging er zurück ins Schlafzimmer und schlüpfte wieder unter die Decke.

Er hob das iPhone vom Boden auf und sah auf die Uhr. Es war erst halb acht, also halb zwölf zu Hause. In Dänemark. Zu Hause? War er jetzt nicht in Nuuk zu Hause? Er hatte den Job auf unbefristete Zeit angenommen, weil ihn in Dänemark ohnehin nichts hielt. Er checkte seine Mails. Den Artikel hatte er spät am Vorabend an die Redaktion geschickt, damit er, wenn alles in Ordnung war, schon am frühen Morgen online gestellt werden konnte.

Die Nachricht war nicht besonders lang: Super. Klasse Arbeit, Matthew. Habe nur ein paar Kleinigkeiten korrigiert. Sieh zu, dass der Text heute übersetzt wird, und stell ihn auf Dänisch und auf Grönländisch ins Netz – und am liebsten auch auf Englisch, damit wir international auf ihn verlinken können. Ihr habt ja wohl hoffentlich gute Fotos gemacht? Sag Bescheid, wenn der Text online ist, dann schau ich noch mal drauf und schicke den Link an alle wichtigen Player.

Matthew öffnete das Dokument und überflog den Text noch einmal, um sicherzugehen, dass er nichts übersehen hatte. Dann schickte er ihn an den Übersetzer.

Er wälzte sich aus den Federn, setzte sich auf die Bettkante, angelte sich seine Hose und zog sie an, bevor er ins Bad ging.

Der Mann im Spiegel sah müde aus. Blass, hager und verbraucht. Nicht einmal die gute, klare Luft in Nuuk hatte es vermocht, ihm etwas Farbe auf die Wangen zu zaubern. Aber so viel war er ja auch nicht an der frischen Luft. Er reckte den Hals und inspizierte seinen Bartwuchs. Rotblonde Stoppeln überzogen Wangen und Kinn.

Seine Augen waren mal graublau, mal eher grün, mal ganz grau – das hing vom Wetter ab. In Nuuk waren sie meistens blau. So blau hatte er seine Augen in Dänemark nie gesehen. Direkt neben seiner linken Pupille befand sich ein schwarzer Fleck – sein Auge sah aus, als hätte es zwei Pupillen. Seine Mutter hatte immer gesagt, das sei eine Pigmentstörung, die er von seinem Vater geerbt habe. Für Tine war der Fleck ein Brunnen gewesen, in dem man sich verstecken konnte. Ein Versteck für die Gedanken.