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LKA-Ermittler Nick Beck ist wieder da und muss sich seiner größten Angst stellen – der zweite Fall für Nick Beck und Cleo Torner Es ist Winter in Hamburg, und entsetzliche Morde erschüttern die Stadt. Der Elbripper ist zurück, nachdem er fast zwei Jahre lang verschwunden war. Elf Opfer gehen schon auf sein Konto. Und Nick Beck hat auf der Jagd nach ihm seine Kollegin im Einsatz verloren. Daraufhin nahm er Abstand vom LKA-Dienst und ließ sich versetzen. Aber jetzt wird er reaktiviert, denn niemand kennt den Serienmörder so gut wie er. Doch irgendetwas ist anders: Die Rituale des Killers scheinen sich verändert zu haben. Hat der Elbripper seinen Modus geändert? Oder haben es Nick Beck und Cleo Torner mit einem Nachahmer zu tun? Nur eines ist klar: Der Täter ist gefährlicher als je zuvor ... Spannung à la Jo Nesbø und Andreas Franz
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Seitenzahl: 349
Veröffentlichungsjahr: 2021
Tom Voss
Kriminalroman
Kriminalroman
Es ist Winter in Hamburg, und entsetzliche Morde erschüttern die Stadt. Der Elbripper ist zurück, nachdem er fast zwei Jahre verschwunden war. Elf Opfer gehen schon auf sein Konto. Und Nick Beck hat auf der Jagd nach ihm seine Kollegin im Einsatz verloren. Daraufhin nahm er Abstand vom LKA-Dienst und ließ sich versetzen. Aber jetzt wird er reaktiviert, denn niemand kennt den Ripper so gut wie er. Doch irgendetwas ist anders: die Rituale scheinen neu zu sein. Hat der Elbripper seine Taktik geändert? Oder haben es Nick Beck und Cleo Torner mit einem Nachahmer zu tun? Die Spuren führen erst hinter die Fassade eines beschaulichen Einfamilienhauses und dann zu einer Dämonenstatue. Und jetzt müssen sich die beiden Kommissare fragen, was davon gefährlicher ist.
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Tom Voss ist das Pseudonym eines deutschen Bestsellerautors, der bereits zahlreiche Krimis und Thriller geschrieben hat. Im Fischer Verlag hat er als Pierre Lagrange die Provence-Krimi-Reihe mit dem liebenswerten Commissaire Albin Leclerc und seinem Mops Tyson veröffentlicht. In den Krimis rund um den Ermittler Nick Beck nimmt Tom Voss die Leser*innen nun mit in den Norden von Hamburg.
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1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
Nachspann
Es gab Tausende Arten zu sterben. Die meisten waren natürlichen Ursprungs oder Unfälle. Und dann gab es gewaltsame oder brutale: Menschen wurden erstochen, erschlagen, erwürgt, ertränkt oder erschossen.
Manchmal geschahen noch weitaus schrecklichere Dinge.
Manchmal … dauerte es.
Romina kannte das alles nur vom Hörensagen oder aus Filmen und Serien. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt und hatte mit dem Tod bisher noch nichts zu tun gehabt. Als sie in dieser eiskalten Dezembernacht nach Hause ging, ahnte sie nicht, dass sich ihr Erfahrungshorizont in Kürze dramatisch erweitern sollte.
Sie trug gefütterte weiche Stiefel und eine knallrote Daunenjacke, die deutlich dicker war als die Schminke in ihrem Gesicht. Die Plateau-Heels und die anderen Sachen, die sie beim Lapdance trug, hatte sie in einer Plastiktüte verstaut, die über ihrem Handgelenk hing. Die Hände hatte sie tief in den Taschen vergraben, die Schultern gegen die Kälte hochgezogen.
Hamburg war nicht freundlich im Winter, und St. Georg in der Nacht still und einsam wie eine schweigende, ganz in Schwarz gehüllte Witwe. In Rominas kleinem Apartment in Wilhelmsburg, für das sie monatlich eine horrende Summe bezahlen musste, war es nicht anders: kalt, einsam und dunkel. Es gab nur ein Fenster zum Hinterhof, aus dem man auf graue Fassaden schaute.
Klar, sie hatte einen deutlich besseren Job gehabt, nachdem sie endlich volljährig und auf eigene Faust aus Sofia abgehauen und nach Deutschland gekommen war, und sie hatte in einer deutlich schickeren Wohnung gelebt als jetzt. Aber sie war rausgeflogen aus dem Job und dem Apartment, nachdem das mit den Drogen losgegangen war. Fredo, der das »Puppethouse« führte, hatte das mit dem Crack ziemlich schnell gemerkt, Romina ein paar geknallt und gesagt, er habe ihr x-mal erklärt, dass sie mit dem Scheiß nicht anfangen solle und er in seinem Laden keine Mädchen dulde, die auf Drogen sind, ob er eigentlich Chinesisch redete?
Danach war sie auf dem Straßenstrich gelandet und hatte Trucker und Außendienstler im Wohnmobil auf Parkplätzen bedient. Einstieg mit einem Zwanziger. Endstation mit zweiundzwanzig. Ja, und das war dann erst recht nicht ohne Drogen auszuhalten gewesen.
Trotzdem hatte sich Romina oft verflucht, denn im »Puppethouse« hatte sie es gar nicht so schlecht gehabt, echt nicht. Zudem war sie nicht blöd und verstand, dass sie in einem Teufelskreis steckte. Alles Geld, das sie einnahm, ging für die Miete der versifften Wohnmobile und das Crack drauf. Das würde so lange weitergehen, bis sie entweder auf Heroin umsattelte und mit einer Überdosis tot umfiel oder durch das Dope kaputtging, hässlich wurde und man sie wegwarf wie eine ausgelutschte Zitronenhälfte. Für so ein Leben war sie nicht nach Deutschland gekommen.
Also hatte sie sich das mit dem Crack abgewöhnt, einmal durch die Hölle und wieder zurück. Aber sie hatte es innerhalb von drei Monaten geschafft.
Schließlich war sie noch mal zu Fredo gegangen, um ihm zu versichern, dass sie clean war, und ihn anzuflehen, wieder bei ihm arbeiten zu dürfen. Seine Antwort war, dass sie sich mal nicht vorstellen solle, dass das so einfach wäre – vielleicht woanders, aber bestimmt nicht hier in Hamburg.
Er hatte dennoch ein gutes Herz gehabt. Alte Schule, wie man so sagt. Außerdem war Romina hübsch und hatte anfangs guten Umsatz gemacht.
Weswegen Fredo sich schließlich durchrang, mit Goran vom Wohnmobilhafen telefonierte und sich auf eine Summe für Romina verständigte, für die er sie zurückkaufte. Und jeden Cent davon, machte Fredo Romina deutlich, jeden einzelnen Cent würde sie abarbeiten müssen, bevor man wieder über eine hübsche Wohnung reden könne.
Tja, aber sie war auf dem besten Weg, sich wieder hochzuarbeiten. Und selbst in dem dunklen Apartment in Wilhelmsburg war es immer noch besser als in dem Loch am Wohnmobilhafen oder in den kalten, klapprigen Karren auf den grauenhaften, seit Jahren von Tausenden Menschen durchgefickten Schaumgummimatratzen.
Von daher …
Romina ging durch die Lange Reihe, die am Bahnhof in den Heidi-Kabel-Platz am Ohnsorg-Theater und am Deutschen Schauspielhaus mündete. Am Steintorplatz würde sie dann in die S-Bahn steigen, die sie zu den Wohnblocks brachte. Sie überlegte, ob sie sich unterwegs einen Döner oder irgendetwas anderes zum Mitnehmen besorgen sollte, das sie zu Hause aufwärmen konnte. Natürlich hatten nachts um drei nicht mehr viele Läden geöffnet, nur die üblichen Verdächtigen.
Ja, Döner wäre gut, dachte sie und zischte »Shit«, als sie fast in eine große Pfütze gelaufen wäre, die mit Schneematsch gefüllt war. Na toll, da hätte sie sich fast ihre hellen Wildleder-Uggs ruiniert, und das waren echte und keine für zwanzig Euro.
Sie stoppte kurz und checkte die Stiefel.
»Alles okay?«, fragte eine Stimme hinter ihr.
Romina hatte gar nicht mitbekommen, dass da jemand war. Kein Auto unterwegs, kein Mensch, hatte sie gedacht. Sie drehte sich um und sah den Mann, der freundlich lächelte und keinerlei Gefahr signalisierte. Irgendein Nachtschwärmer, der aus einem Club kam, oder einer, der nicht schlafen konnte. Zum Glück musste man nicht mehr automatisch um sein Leben fürchten, wenn einen nachts jemand ansprach. Die Straßen waren wieder sicherer geworden, nachdem dieser Serienmörder verschwunden war, vor dem alle Angst gehabt hatten, weil unter anderem Prostituierte auf seiner Liste standen. Auch Fredo war wieder ruhiger und lief nicht mehr dauernd mit einer Pistole herum. Dennoch hatte Romina natürlich CS-Gas in der Tasche und ein Rasiermesser, das man einklappen konnte. Die Jungs in Sofia hatten ihr erzählt, dass das besser sei als ein Butterfly und den Nachteil, nicht damit zustechen zu können, durch Schärfe wettmachte.
»Alles okay, danke, blöde Matschpfütze«, sagte Romina mit ihrem schweren rumänischen Akzent und überprüfte nochmals die Stiefel.
»Prima«, erwiderte der Mann.
Romina blickte kurz zu ihm und wollte etwas anmerken. So weit kam sie aber nicht, weil der Mann eine umgedrehte Maglite in der Hand hielt und damit ausholte.
Bevor Romina reagieren konnte, traf sie das stumpfe Ende des harten Stahlstabs wie ein Schlagstock im Genick. Ein Tritt in den Magen raubte ihr die Luft, um nach Hilfe zu schreien. Ein zweiter Hieb mit der Maglite erwischte sie mitten auf der Stirn.
Sterne tanzten. Blut floss.
Sie bekam noch mit, wie sie unter den Armen gepackt und einige Meter mitgeschleift wurde. Und hörte, dass der Mann sagte: »Ein Glück, das mit der Pfütze. Wäre schade um die schönen Boots. Aber eigentlich egal, du wirst sie eh nicht mehr brauchen.«
Romina wurde angehoben und in einen Kofferraum gepackt, spürte ein Rucken an ihren Hand- und Fußgelenken. Ihr wurde etwas in den Mund gestopft.
Sie kam wieder ein wenig zu sich, zuckte und wollte sich aufbäumen, was aber nicht ging.
»Na, na«, sagte der Mann. »Jetzt bleib mal locker.«
Romina spürte seinen Blick auf sich. Bekam mit, dass er sich nach links und rechts umsah und nach dem Kofferraumdeckel fasste, um ihn zuzuwerfen. Sie keuchte, stöhnte in den Knebel, konnte ihre Hände und Füße nicht bewegen. Ihr Nacken fühlte sich an, als seien einige Wirbel gebrochen. Hinter ihrer Stirn tobte ein Presslufthammer.
»Hast du eine Ahnung, wer ich bin? Und wie es mit dir weitergeht?«
Romina schnaufte, riss die Augen auf, versuchte, nach dem Kerl zu treten, was jedoch nicht möglich war. Dann sagte er ihr, wer er war und was er gleich mit ihr tun würde. Jedes Wort traf Romina wie ein Stromschlag.
Oh Gott, wäre sie doch nur zehn Minuten später los oder hätte einen anderen Weg genommen. Warum war sie heute bloß nicht mit Lara zur Bahn gegangen wie sonst immer? Warum …
Der Mann holte erneut mit der Maglite aus und schlug zu. Noch härter als vorher.
Alles wurde dunkel.
In jeder Stadt gibt es Orte, die als Lost Places bezeichnet werden. Verlassene Fabriken, Gewerbebrachen, alte Hotels, Theater, Bahnhöfe, Schulen, Kraftwerke, Kasernen oder Wohnblöcke. Ruinen aus besseren Zeiten, manche aus schlechteren. Ihr morbider Charme konnte faszinierend sein, man bekam Gelegenheit, die Vergangenheit zu atmen und die Vergänglichkeit zu spüren. Lost Places verhießen Abenteuer und Gefahr, denn nicht jeder dieser Orte durfte betreten werden, weshalb Zäune überwunden und sehr oft Risiken eingegangen werden mussten. Ein falscher Tritt oder eine andere Unachtsamkeit, und man konnte sich unter Umständen schwer verletzen oder sogar ums Leben kommen. Nervenkitzel pur.
Es gab Amateurfotografen, die süchtig danach waren, den pittoresken Verfall in Bildern einzufangen, und in ganz Europa nach solchen Lost Places suchten, bereits bekannte abklapperten oder neue entdecken wollten. Es gab Profis, die solche Orte kunstvoll in Szene setzten und gezielt als Location für Kunst-, Objekt- oder Modefotografie nutzten, um das Schöne, Neue dem Alten, Verfallenen entgegenzusetzen. Memento mori – sei dir deiner Sterblichkeit bewusst. Das schillernde Leben und der Tod lagen ganz nah beieinander.
Genau aus diesem Grund waren Meike und Rodrigo auf dem riesigen Areal des alten Überseezentrums auf dem Kleinen Grasbrook an der Elbe unterwegs. Sie hatten sich von der Stadtverwaltung eine Genehmigung zum Betreten des Grundstücks besorgt, weil sie nach einer Location suchten, in der die Frühjahrsmodekollektion für die Vogue fotografiert werden sollte. Sie arbeiteten als Scouts für große Agenturen, und der Vogue-Job war eine ziemliche Nummer. Für die deutsche Ausgabe hatte Karl Lagerfeld vor einigen Jahren die Speicherstadt als Örtlichkeit genutzt. Nachdem der Modeschöpfer nun einige Jahre tot war, planten die Herausgeber eine Retrospektive mit Hamburg als Thema, allerdings nicht mit Lagerfelds Hamburg, weil es eine Hommage und keine Kopie werden sollte.
Daher war das Gespräch auf den Kleinen Grasbrook links der Elbbrücken, gegenüber der Hafencity, gekommen. Früher befand sich hier das größte Warenverteilzentrum der Welt. Es beanspruchte eine Fläche, mehr als doppelt so groß wie die Binnenalster. Aber vor einigen Jahren war der Betrieb dann aufgegeben worden, nachdem alles längst auf Container umgestellt worden und die gesamte Anlage mit ihren gigantischen Schuppen veraltet und überflüssig geworden war.
Die riesigen Hallen verfielen zusehends. Auf den alten Bahngleisen wuchsen Bäume. Hätte Hamburg den Zuschlag für die Olympischen Spiele 2024 oder 2028 bekommen, wären hier Spielstätten und das Olympische Dorf entstanden. Jetzt sollte alles abgerissen und der Kleine Grasbrook zu Hamburgs neuem Vorzeigeviertel direkt am Wasser werden. Hier würden Impulse hinsichtlich wirtschaftlicher und ökologischer Nachhaltigkeit, Mobilität und Digitalisierung gesetzt werden. Wohnungen, Promenaden, ein Museum an Bord der »Peking«, Schulen, Kitas, Sportmöglichkeiten, Dienstleister, ein U-Bahn-Anschluss – all das war bereits geplant. Aber noch gab es hier nichts anderes als ein totes, verrottendes Stück Hamburg. Und so schick die Pläne auch aussahen, war wohl kaum damit zu rechnen, dass der Kleine Grasbrook an den Elbbrücken ein neues Altona werden würde.
»Das ist sehr abgefahren«, sagte Rodrigo und sah sich in der gigantischen Lagerhalle um, deren Dach zum Teil eingestürzt war.
Er nahm eine Digitalkamera aus der kleinen Fototasche, die über seiner Schulter hing, und machte ein paar Aufnahmen. Mit jedem Ausatmen stieß er weiße Wölkchen aus. Er trug eine orangefarbene Daunenjacke, dasselbe Modell, das Robert De Niro in der Jagdszene in »Die durch die Hölle gehen« getragen hatte, wie Rodrigo stets betonte, und dazu eine dicke Strickmütze. Meike hatte einen schlichten schwarzen Mantel an, dessen Fellkragen mit ihrem dünnen blonden Haar verschmolz.
Sie sah sich ebenfalls um, stellte sich die Inszenierung der Models vor – einige Jahre war genau diese Halle vom Otto-Konzern als Lager genutzt worden. In Sachen Mode stand Otto nicht gerade für Haute Couture – und insofern würde es ein toller Kontrast sein, genau diese hier zu fotografieren.
Rodrigo tauschte das Weitwinkel gegen ein Tele und verließ die Lagerhalle. Meike ging ihm hinterher. Draußen standen sie auf den Schienen, auf denen früher die Waren aus aller Herren Länder hin und her gerollt waren, um auf Schiffe oder Lkws verladen zu werden. Die grelle Sonne des frühen Morgens blendete die beiden. Rodrigo hatte genau dieses Licht einfangen wollen, um zu sehen, wie es sich auf den Aufnahmen machen würde, denn im Winter war der Slot für Tageslichtaufnahmen kurz, weswegen sie die gesamte zur Verfügung stehende Zeit nutzen mussten. Aber der Himmel würde sich sehr bald zuziehen. Es waren leichte Schneefälle angekündigt.
Meike betrachtete die mit Frost überzogenen Gleise. Wäre auch ein schönes Motiv, dachte sie. Aber Rodrigo war bereits dabei, die Umgebung mit dem Tele zu scannen.
»Dieses hohe Gebäude da«, sagte er und zielte mit dem Objektiv auf den noch relativ gut erhaltenen, mehrstöckigen früheren Verwaltungsbau, »können wir da auch rein?«
Meike zuckte mit den Achseln. »Da müsste ich fragen«, erwiderte sie. »Aber vermutlich wird es aus versicherungstechnischen Gründen schwierig. Bei Außenaufnahmen mag es noch okay sein, aber …«
»Was ist das denn?«, fragte Rodrigo. Er ließ die Kamera rattern und schoss einige Bilder.
»Hm? Was denn?«
»Hat da jemand eine Puppe hingestellt?«, murmelte Rodrigo, nahm die Kamera wieder herunter und schaute auf das Display, um die Fotos zu betrachten. Meike blickte ihm über die Schulter. Rodrigo vergrößerte eines der Bilder und zoomte die Fassade mit den zahllosen Fenstern heran. Einige Scheiben waren eingeworfen oder zersplittert. An einer Stelle fehlten zwei Fenster ganz, und ein Stück der Hauswand war eingerissen worden. Als er den Ausschnitt zentrierte, verstand Meike, was Rodrigo eben mit der Bemerkung gemeint hatte …
»Nein«, murmelte Rodrigo und scrollte auf Maximum, »nein, das ist keine Puppe, oder?«
Meike betrachtete den Bildausschnitt. Ihr Magen fühlte sich mit einem Mal wie verknotet an. Sie keuchte und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Nein«, flüsterte sie, »das sieht nicht aus wie eine Puppe.«
»Aber was denn sonst?«
»Wie eine Frau.«
Rodrigo musterte Meike. »Nein, das ist doch nicht … Das kann doch nicht … Nein, es gibt doch diese realistischen Puppen …«
Er nahm die Kamera und steckte sie in die Umhängetasche. Dann ging er los.
Meike fragte: »Wo willst du hin?«
»Mir das aus der Nähe ansehen.«
»Wir sollten die Polizei rufen.«
Rodrigo drehte sich um und ging rückwärts weiter. »Und uns lächerlich machen, weil da vielleicht doch eine Puppe hängt? Nein, ich schaue erst mal nach. Da haben irgendwelche Kids sich einen Spaß erlaubt oder drehen einen Horrorfilm.«
»Hey, warte.«
Rodrigo wandte sich erneut um und ging nun wieder vorwärts. Er sprang auf den Sims einer flachen Mauer und marschierte schnurstracks auf das Verwaltungsgebäude zu. Dorthin, wo sich der Haupteingang befinden musste.
»Wir können direkt mal schauen, wie es drinnen aussieht. Gibt vielleicht doch eine Location her!«, rief er.
Meike setzte sich in Bewegung und folgte ihm. Ihr war absolut nicht wohl bei der Sache.
Sie erreichten das, was früher einmal die Pforte zum Verwaltungsbau gewesen sein musste. Zu Meikes Überraschung war sie nicht verschlossen. Beim zweiten Blick schien es, als habe jemand den Eingang manipuliert.
Rodrigo öffnete die Glastür, indem er einfach die Schulter dagegen drückte. Er sah sich um, und bevor Meike ihn nochmals bitten konnte, doch besser die Polizei zu verständigen, war er schon im Treppenhaus verschwunden.
Sie ging ihm hinterher und war außer Atem, als Rodrigo schließlich im obersten Stockwerk auf einen Flur einbog. Wenigstens war ihr jetzt absolut nicht mehr kalt, ganz im Gegenteil.
Die Stille im Gebäude war beklemmend. Ihre Schritte hallten ungewöhnlich laut in der Leere. Rodrigo blieb stehen und orientierte sich auf dem Flur. Links und rechts standen alte Baugerüste. Außerdem befand sich dort eine Mulde mit Bauschutt. Auf dem Boden lagen aufgerollte herausgerissene Teppichböden. Er ging auf eine Schiebetür zu, die offen stand und in einen Raum führte, der einmal als Großraumbüro genutzt worden sein musste. Die Wand nach außen war eingebrochen. Ein eisiger Wind wehte ins Innere.
Meike blieb am Eingang stehen. Sie traute sich nicht hinein, denn im Gegensatz zu Rodrigos Annahme war hier nirgends jemand zu sehen, der einen Film drehte. Wenngleich es in dem früheren Büro aussah, als sei es zu einem Setting für einen Horrorclip hergerichtet worden.
Und da war der Körper.
Er baumelte an Seilen.
Meike sah …
… schnell wieder weg.
Überall war Blut. Ihr wurde schlagartig schlecht. Sie wünschte sich, Rodrigo hätte recht. Dass alles nicht echt war. Dass wirklich bloß Kids einen Film drehten und sie tatsächlich nur eine lebensechte Puppe organisiert und alles wie einen Tatort inszeniert hatten. Ja, sie hatten bestimmt ihre Dreharbeiten gestern beendet und einfach alles so stehen lassen, um heute zurückzukommen und weiterzumachen.
Doch dann hörte sie Rodrigos Kamera klicken. Und danach seine Stimme, die klang wie das Rascheln von Papier.
»Die Polizei«, krächzte er, »ruf sie an. Sofort.«
Nick griff in die Seitentasche seiner Jacke und zog eine Schachtel Zigaretten hervor. Er nahm eine heraus, rollte sie zwischen den Fingern und sah sich ein weiteres Mal um. Die Mauer hinter ihm war von oben bis unten mit Blut bespritzt. Und da war das an die Wand gemalte Symbol. Ein wirres Zeichen aus mäandernden Linien. Eine Ikone des Wahnsinns, dachte Nick. Frostblumen blühten auf den rostroten Schleifspuren am Boden. Sie führten zu der eingerissenen Außenwand, wo Nick stand. Der Beton und die herumliegenden Glassplitter waren mit schwarzen Tropfen besprenkelt. Altes Blut.
Er blickte auf seine Schuhspitzen, die unter Plastiküberziehern verborgen waren, und auf die verbogenen Metallstreben, die aus der Abbruchkante in den von Wolken verhangenen Himmel über Hamburg stachen. Ein kalter Wind pfiff ins Innere des schon seit Jahren verlassenen Verwaltungsgebäudes. Zwanzig Meter bis unten, vielleicht ein paar mehr oder weniger, schätzte Nick. Nur ein Schritt und dann bis drei zählen. Aus und vorbei.
Sie stürzte …
Sie schlug auf …
Sie war tot …
Nick zog den Reißverschluss seiner Uniformjacke zu und schlug den Kragen hoch. Er brauchte einige Versuche, um sich die Zigarette anzuzünden. Weit unter ihm parkten einige Polizeifahrzeuge und der Leichenwagen, dessen Heckklappe offen stand. Zwei Männer in Schwarz trugen einen dunklen Plastiksack ins Freie, der auf einen Rollwagen geladen wurde und dann in einem Sarg verschwand.
Die Zigarette glühte auf, als Nick an ihr zog. Über ihm hingen die abgeschnittenen Seile, deren lose Enden im Wind tanzten. Weit vor ihm floss das dunkle Wasser der Norderelbe. Zwischen zwei maroden Gebäudeteilen zog der rote Rumpf eines riesigen Schiffes lautlos vorbei. Auf dem Deck stapelten sich die Container wie bunte Legosteine. Das war der einzige Farbtupfer an diesem grauen Dezembermorgen, der zunächst mit strahlendem Sonnenschein begonnen hatte. Nick stand gerne am Ufer und sah den Ozeanriesen zu. Es war beruhigend. Jedes Schiff war ein Beispiel dafür, dass es ein Woanders gab – ob es in Shanghai, Macau, San Francisco oder Kapstadt liegen mochte.
In diesem Moment blitzte die Möglichkeit, alles hinter sich zu lassen, für einen kurzen Moment auf. Aber Nick konnte nicht einfach verschwinden. Noch nicht. Jetzt erst recht nicht.
»Ist er es?«, hörte er die weibliche Stimme.
Nick drehte sich um und stand nun mit dem Rücken zum Abgrund. »Er ist es«, sagte er.
»Es ist aber nicht wie vorher.«
»Nein«, erwiderte Nick. »Aber er ist es. Wer sollte es sonst sein?«
»Warum ist es diesmal anders?«
Nick zuckte mit den Achseln, betrachtete die getrockneten und vereisten Blutpfützen, sah erneut hinauf zu den Seilen und wandte sich wieder der eingerissenen Mauer zu. Von hier oben aus konnte man weit über die Stadt blicken und die Baukräne oder die Spitzen der XXL-Kräne am Hafen sehen. Das Containerschiff war inzwischen fort. Einige Schneeflocken flogen wie Styroporkrümel durch die Luft und setzten sich an Nicks Jacke fest.
»Es ist anders«, sagte er, »weil er sich verändert hat.«
Nick schob die linke Hand in die Innentasche der Jacke. Die Fingerspitzen stießen gegen einen zusammengefalteten Zettel, der inzwischen in einem Beweismittelbeutel steckte. Nick hatte ihm zunächst keine Beachtung geschenkt. Niemand hätte das. Aber jetzt wusste Nick, dass es ein tödlicher Fehler gewesen war.
Nick zog an der Zigarette, bis sie heiß zwischen seinen Fingern glomm.
Er blickte wieder nach unten, wo die Heckklappe des Leichenwagens zugeworfen wurde. Für einen Moment schloss er die Augen, sah einen Körper an sich vorbeifallen, hörte das Echo des Aufschlags.
Wumm.
Wumm.
Er erinnerte sich an ein Abbruchgebäude wie dieses vor mehr als einem Jahr. Sie hatten damals einen Mann verfolgt, der von den Medien »Elbripper« getauft worden war. Nick hatte die Sonderkommission geleitet, die den Ripper stoppen sollte. Elf Morde gingen auf sein Konto, und beinahe hätten Nick und Betty ihn erwischt.
Doch dann war seine Kollegin vom Dach gestürzt und dabei ums Leben gekommen. Der Ripper hatte sie in den Abgrund gestoßen. Aus einem der unteren Stockwerke hatte Nick ihren Körper am Fenster vorbeifallen sehen.
Nach dem Zwischenfall mit Betty war der Elbripper von der Bildfläche verschwunden. Nick war ebenfalls abgetaucht und hatte sich geschlagen gegeben. Oder besser: Er war im Schnaps ertrunken. Er hatte den Job in der Mordkommission geschmissen, war in den Bezirksdienst aufs Land gewechselt, um sich selbst zu bestrafen, sich von allem fernzuhalten und um ungestört saufen zu können.
Mit dem Alkohol war es besser geworden, mit dem anderen nicht unbedingt.
Heute Morgen hatte er einen Anruf aus dem LKA erhalten. Er sollte zum Hafen kommen, um sich dort etwas anzusehen. Eine Leiche. Nick musste nicht lange nachdenken. Er zählte eins und eins zusammen. Der Zettel in seinem Briefkasten, der Anruf, eine Tote … Der Killer war zurück. Und niemand kannte den Elbripper besser als Nick. Deswegen hatten sie ihn angefordert.
Und wegen Opfer Nummer zwölf.
»Es ist seine Handschrift, gar keine Frage«, sagte die weibliche Stimme. »Aber wir waren uns nicht sicher. Sind es immer noch nicht. Das heißt: Ich bin mir nicht sicher.«
Nick schnippte die Kippe fort. Der Wind verwehte sie sofort. Er drehte sich um, vergrub die Hände in den Jackentaschen, blickte dann auf und betrachtete die Frau, die einige Meter vor ihm stand. Sie reichte ihm bis zur Schulter, trug die Haare unter einer Pudelmütze versteckt und bis auf einen schwarzen Lidstrich, der ein wenig an Amy Winehouse erinnerte, keine Schminke. Sie hielt ein Tablet in den Händen. Unter dem knielangen Daunenmantel wölbte sich ein beachtlicher Bauch. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Kriminalhauptkommissarin Cleo Torner sich in den Mutterschutz verabschiedete, und nur noch wenige Wochen, bis sie ihr Kind bekommen würde. Nick war ohnehin überrascht gewesen, dass sie sich noch im Dienst befand.
»Ich bin mir sicher«, erwiderte Nick. »Er ist es. Er hat sich weiterentwickelt.«
»Er hat noch nie etwas Derartiges getan. Diese Inszenierung …«
»Er probiert sich aus.«
»Er hat sich bisher nie um die Öffentlichkeit geschert.«
Nein, dachte Nick und fuhr mit dem Daumen über die Kante des Beweismittelbeutels in seiner Jacke, das hatte er bisher nicht. Aber in eineinhalb Jahren konnte sich eine Menge verändern. Auch die Interessen eines Mörders wie dem Elbripper, der eine Menge Zeit gehabt hatte, sich allerlei neue Dinge auszudenken. Nick betrachtete das Symbol, das mit Blut an die Wand gemalt worden war. Es schien, als habe der Killer beschlossen, dass ihm etwas Derartiges gut zu Gesicht stehen würde. Eine Signatur.
»Er ist eitel. Er will ein Ausrufezeichen setzen«, sagte Nick. »Seht her: Ich bin wieder da.«
Cleo zog die Schultern hoch und fröstelte.
»Das hat er geschafft. Schau nur«, sagte Cleo und bot Nick das Tablet an, damit er sich darauf die Bilder und Videos der Spurensicherung ansehen konnte. Er ging zu Cleo und zögerte, weil er Angst vor dem hatte, was er zu sehen bekommen würde.
Schließlich nahm er das Tablet.
Die Hölle tat sich auf.
Nick betrachtete die Aufnahmen und gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben. Dabei schrie alles in ihm danach, das Gerät fortzuwerfen, Reißaus zu nehmen und die Bilder mit Hilfe einer Flasche Jack Daniel’s aus seinem Gedächtnis zu brennen.
Aber Nick wusste sehr genau, dass das natürlich nicht helfen würde. Ein Zucken des Dämons, der ihm innewohnte und danach schrie, dass er endlich wieder zur Flasche greifen sollte, denn er war seit fast drei Monaten clean. Doch sein Widersacher tobte und kreischte immer noch bei jeder Gelegenheit.
Einige Fotos hatte der Fotograf einer Agentur aufgenommen, der die Leiche mit seiner Begleiterin heute am frühen Morgen kurz nach Sonnenaufgang entdeckt hatte. Eher zufällig, wie Cleo Nick erzählt hatte, während er mit dem Teleobjektiv seiner Kamera die Fassade des früheren Verwaltungsbaus nach Motiven absuchte. Die anderen Bilder stammten von der Spurensicherung und der Rechtsmedizin.
Bei der Toten handelte es sich um eine Frau, deren Alter schwer einzuschätzen war. Nick tippte jedoch auf Anfang bis Mitte dreißig. Der Mörder hatte sie an der eingerissenen Wand aufgehängt, wo sich früher ein Bürofenster befunden haben musste. Eine bittere und sicherlich beabsichtigte Ironie, denn die Leiche war damit hoch über Hamburg und der Elbe splitterfasernackt zur Schau gestellt worden. Doch niemand hatte sie entdeckt – wahrscheinlich bereits einige Tage lang nicht, wie die Rechtsmedizin laut Cleo bei der ersten Inaugenscheinnahme gesagt hatte.
Der Körper war gefroren. Als er von den Stricken genommen und zu Boden gelegt worden war, musste es ausgesehen haben, als werde eine steife Schaufensterpuppe herumgetragen.
Der Frau war die Kehle durchgeschnitten worden. Auf den Bildern des Polizeifotografen klaffte eine tiefe Wunde wie ein Grinsen im Hals der Frau, das von einem Ohrläppchen zum anderen reichte. Den Spuren nach zu urteilen, war das weiter hinten in diesem Raum geschehen, wo sich die Spritzer an der Wand befanden. Dann war der Körper zur Fassade gezerrt und an den Handgelenken aufgezogen worden – genau dort, wo Nick eben gestanden hatte. Sehr wahrscheinlich war die Frau da schon bewusstlos oder tot.
Weitere Fotos stellten schließlich den eindeutigen Beleg dafür dar, dass sie ein Opfer des Elbrippers war. Nick hatte keinen Zweifel daran, dass die Obduktionsergebnisse seine Annahme bestätigen würden. Denn der Toten waren die Lippen sowie die Vagina mit schwarzem Zwirn zugenäht worden, was zum Modus Operandi des Elbrippers gehörte. Er nahm sie gefangen und brachte sie zu einem abgelegenen Ort, wo er sie dann mehrfach vergewaltigte. Dann verschloss er ihre Körperöffnungen, wohl um sicherzugehen, dass nichts von seinem Samen entweichen würde, und tötete sie. Er kam außerdem immer wieder an den Tatort zurück – beziehungsweise an die Ablagestelle der Leichen. Manche Frauen hatte er nicht dort ermordet, wo sie aufgefunden worden waren.
Die Gemeinsamkeit dieser Orte war, dass sich alle stets in unmittelbarer Nähe der Elbe befanden. Dieser Umstand hatte für den Namen des Killers Pate gestanden, der plötzlich in der Presse aufgetaucht war. Nick wusste nicht mehr, in welchem Blatt genau, aber wahrscheinlich war der zuständige Journalist stolz darauf. Ein zweifelhafter Stolz.
Nick gab Cleo das Tablet zurück.
»Es spricht alles dafür«, sagte er. »Dieses Mal müsst ihr ihn kriegen.«
»Ich werde wohl nicht mit von der Partie sein. Mein Mutterschutz beginnt bald«, erwiderte Cleo.
»Und ich bin raus.«
Sie sahen sich einen Moment lang schweigend an.
»Ist er erneut hier gewesen? So wie früher?«, fragte Nick dann.
»Wissen wir noch nicht hundertprozentig. Die Spurensicherung sagt, dass es Schuhabdrücke gibt, aber nur sehr wenige. Das spricht eher dafür, dass er nicht wieder hier war. Und auch das wäre untypisch für ihn. Er kehrt immer zurück.«
Nick sagte nichts, sah sich um. Er drehte sich wieder zu der durchbrochenen Mauer, betrachtete die Hafencity am anderen Elbufer. Er dachte über die Fotos nach und die Art und Weise, wie die Leiche entdeckt worden war.
Dann deutete er nach draußen und sagte: »Ihr solltet euch da drüben umschauen.«
»Wie meinst du das?«
»Bringt ein Technikerteam her, das berechnet, aus welchen Winkeln die Leiche zu sehen war. Dann nutzt ihr das als Blaupause und überlegt, von welchen Gebäuden am anderen Ufer aus man die Leiche mit einem Fernglas oder einem Teleobjektiv gut betrachten konnte.«
»Oh«, machte Cleo. »Ich verstehe.«
Nick drehte sich wieder zu ihr und sagte: »Ich weiß. Auch das wäre anders als bisher.«
»Stimmt. Er hat bislang stets die Nähe seiner Opfer gesucht.«
»Was ihn beinahe den Kopf gekostet hätte. Betty und ich haben den letzten Fundort observiert. Das hat er sich gemerkt und ist nun vorsichtiger.«
»Der Hinweis ist gut«, sagte Cleo. »Vielleicht hat er die Tote deswegen so exponiert – damit er sie aus der Distanz gut beobachten kann.«
»Möglich. Wisst ihr, wer sie ist?«
»Nein. Noch ist alles offen.«
Nick spielte mit dem Autoschlüssel in der Tasche. Er gehörte zu seinem Oldtimer, dessen Heizung dringend gewartet werden musste. Es war ein nachtschwarzer SE Coupé von Mercedes Benz, Baujahr 1971. Die meisten Menschen hielten Nick für verrückt oder zumindest exzentrisch, dass er ein solches Auto tatsächlich noch benutzte. Für ihn selbst war es völlig normal. Einerseits hatte er kein anderes Auto, andererseits besaß der Wagen eine Geschichte.
»Vom anderen Elbufer bis hierher sind es gut ein paar hundert Meter Luftlinie«, meinte Cleo.
»Mit einem guten Fernglas gut zu überbrücken.«
»In den Fallakten und Analysen habe ich die Einschätzung von KHK Nick Beck gelesen, dass es dem Killer wichtig ist, den Opfern nah zu sein.«
»Es wird ihm mittlerweile deutlich wichtiger sein, nicht geschnappt zu werden.«
Cleo sagte nichts und schaute sich um. Nick war sich zwar sicher, dass sie alles schon genau inspiziert hatte. Aber jetzt tat sie es noch einmal. Sie ging an einer Wand entlang, als würde sie nach etwas suchen. Dasselbe tat sie dann an der gegenüberliegenden, eingerissenen Wand. Sie stellte sich unter die Stricke auf die getrockneten Blutspritzer. Nick verfolgte, wie sie ihren Kopf nach links, nach rechts drehte, nach oben sah. Schließlich schien irgendetwas ihr Interesse geweckt zu haben. Sie nahm eine Mini-Maglite aus der Tasche, schaltete sie ein und leuchtete damit die Decke ab.
»Ich habe etwas für dich«, sagte Nick und folgte dem Lichtkegel mit dem Blick.
»Das wäre?«, fragte Cleo abgelenkt.
Nick zog den Beweismittelbeutel aus der Jacke. Darin befand sich der Zettel, den er heute früh im Briefkasten gefunden hatte. Cleo blickte kurz zu ihm und machte dann weiter.
Er erklärte: »Es ist ein Brief. Ich hatte ihn heute Morgen in der Post und konnte nichts damit anfangen. Ich nahm an, es wäre ein Scherz oder ein Irrläufer – oder jemand hätte den falschen Schlitz erwischt, und der Zettel war für meine Vermieter gedacht.« Nur einer Intuition folgend hatte Nick ihn mit auf die kleine Polizeistation genommen, in einen Plastikbeutel geschoben und dann wieder eingesteckt.
»Was steht drauf?«
Nick setzte zu einer Erklärung an.
»Fuck«, sagte Cleo in dem Moment, bewegte sich nach links und ließ ihr Ziel nicht aus den Augen. Nick hatte keine Ahnung, was sie entdeckt haben könnte.
Cleo deutete mit dem Finger nach oben. Ihm fiel immer noch nichts auf. Lediglich ein Rauchmelder unter der Decke. Er sah nagelneu aus und wirkte in dem alten Abbruchgebäude reichlich deplatziert, zumal es hier nicht viel gab, das noch in Brand geraten konnte. An einer Seite des Geräts befand sich ein Loch. Es sah nicht aus, als würde es in das Gehäuse gehören, sondern als sei es hineingeschnitten worden.
»Er benutzt kein Fernglas. Er hat eine Funkkamera platziert«, sagte Cleo atemlos. »Ich wette, er sieht uns gerade jetzt zu. Vielleicht hört er uns sogar.«
Nick ließ den Rauchmelder nicht aus den Augen. Kleine Kameras, die über Wi-Fi, Bluetooth oder Funk arbeiteten, konnte man überall im Internet bestellen und die Bilder auf einen Computer, ein Tablet oder das Handy schicken. Nick schluckte. Dann ging er zu dem Rauchmelder und stellte sich genau darunter. Man konnte deutlich sehen, dass sich etwas darin befand.
Schau mich nur an, dachte Nick. Sieh genau hin. Das nächste Mal wirst du diese Visage sehen, wenn sie dir zuflüstert, dass du jetzt sterben wirst.
Nick hielt den Zettel hoch, genau in den möglichen Aufnahmewinkel.
»Falls du mich hören kannst«, sagte er, »dann erklär mir mal, was das hier bedeuten soll.«
Der Polizist wedelte mit dem Papier, auf dem das Symbol deutlich zu erkennen war. Amüsant, den Mann aus der Vogelperspektive zu sehen. Es ließ ihn winzig wirken, das Papier aber umso größer, was an der perspektivischen Verzerrung des Superweitwinkels lag. Die kleine Kamera übertrug das Bild gestochen scharf, wobei sie bloß aus einer handelsüblichen Drohne ausgebaut worden war. Dadurch ließ sich die Szenerie in Gänze betrachten oder im Detail, wobei das Objektiv auf den Körper ausgerichtet gewesen war, der bis vor kurzem an der Decke gehangen hatte.
Die Drohne verfügte über eine Funkreichweite von fünf Kilometern, was das Beobachten der Kameraaufnahmen aus sicherem Abstand garantierte. Man konnte die Bilder auf das Display der Fernsteuerung übertragen lassen oder auf eine App, was sehr viel praktischer war, denn ein Smartphone hatte man stets in der Tasche. Das hochauflösende Handydisplay hatte zudem eine viel bessere Qualität. Ja, wenn man heranzoomen würde, könnte man sogar die Kummerfalten im Gesicht des Mannes mit dem Zettel in der Hand zählen.
Der Polizist war Nick Beck. Dass er an Ort und Stelle war und mit dem Papier herumwedelte, konnte zweierlei bedeuten. Erstens: Beck hatte die Botschaft verstanden, die er ihm in den Briefkasten geworfen hatte, und seine Kollegen alarmiert. Seine Neugierde und Rachsucht hatten ihn hierhergeführt.
Zweitens: Die Polizei hatte Nick Beck aktiviert und geholt, weil er der Experte war.
Eigentlich schade, dass es schon vorbei war. Aber es war nun einmal erforderlich gewesen zu handeln. Deswegen der Zettel in Becks Briefkasten. Denn die Polizei benötigte offenbar einen Hinweis, weil sie zu dumm war, von selbst aktiv zu werden, und weil bislang niemand die Leiche gefunden hatte. Dass nun ausgerechnet heute Morgen Leute auf dem Abbruchgelände herumliefen und die Leiche entdeckt hatten – das war purer Zufall.
Aber gut: Nun war es doppelt heraus. Und in wenigen Stunden würden Hamburg und der Rest der Welt wissen, was geschehen war, und die Stadt würde in Angst und Schrecken versinken.
Dieser Winter der Wiederauferstehung würde der kälteste und dunkelste seit vielen Jahren werden.
Ragnar Wilk schloss die App auf dem Handy und trank seinen zweiten Kaffee, während er das Laptop in die Umhängetasche schob und sie zusammen mit der Daunenjacke von der Garderobe nahm.
»E-Mail?«, fragte Rieke.
Wilk schüttelte den Kopf und zog die Jacke an. »Nein«, erwiderte er, »ich habe nur nach dem Wetter geschaut. Es soll heute schneien.«
Rieke nickte, musterte ihren Mann mit einem Gesichtsausdruck, der alles und nichts bedeuten konnte, und wies dann mit der Stirn auf das große Fenster zur Terrasse.
»Dazu braucht es keine App. Das kann man auch so sehen«, sagte sie und fuhr sich durch das ergrauende Haar.
Sie hatte aufgehört, es zu färben. Manche Frauen ließ das alt aussehen. Rieke wirkte damit nur noch attraktiver. Sie trug eine Jeans und dicke Socken, dazu einen Kaschmirpullover. Im Flur standen die Winterstiefel, aus denen sie vorhin geschlüpft war, nachdem sie Nathan und Pia zum Gymnasium gefahren hatte. Die Zwillinge würden kommendes Jahr ihr Abitur machen und hatten die besten Chancen, es mit einer Eins vor dem Komma abzuschließen.
Kleine weiße Krümel fielen vom Himmel und ließen sich auf dem Rasen und dem Dach des Holzhäuschens nieder, das Wilk vor einigen Jahren dort hatte zimmern lassen: sein privates Refugium, nachdem die Kinder immer mehr Platz im Haus beansprucht hatten. Als Schneefall konnte man das kümmerliche Rieseln zwar nicht bezeichnen. Trotzdem würde es wohl dazu führen, dass die Leute auf der Straße nur im Schneckentempo fuhren. Der erste Schnee. Das bedeutete in der Regel, dass die Menschen schlagartig vergaßen, wozu Winterreifen und Allradantriebe erfunden worden waren, und sobald die erste zarte weiße Decke auf den Straßen lag, verhielten sie sich, als steckten sie mitten in einem kanadischen Blizzard.
Die Folge waren lange Staus. Ragnar Wilk hasste Staus. So wie er alles hasste, was ihn unnötig aufhielt – insbesondere wenn er von unwichtigen Individuen blockiert wurde, die so austauschbar waren wie ein Tropfen Wasser in der Nordsee und Wilk mit belanglosen Tätigkeiten wie Einkaufen fahren blockierten. Allein der Gedanke daran ließ seinen Puls steigen. Dabei war doch klar, dass jedes Augenzwinkern von ihm bedeutungsvoller für die Welt war als das komplette Leben dieser Vollidioten, die im Sekundentakt auf die Bremse traten und nie schneller als Tempo 30 fuhren, wo 70 vorgeschrieben – vorgeschrieben! – war.
Aber Wilk hatte sich stets im Griff. Diese Ausraster bekam in der Regel niemand mit. Nicht Rieke, nicht die Kinder, keiner. Alles war unter Kontrolle und geschah unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Wilk hatte ja sowieso jahrelange Praxis darin, sich anzupassen und zu tarnen. Jeder hielt ihn für einen normalen Familienvater. Niemand zweifelte daran, dass er das war, manchmal nicht einmal er selbst. Er führte ein ordentliches Leben, ohne Aufsehen zu erregen. Mit der Familie fuhr er mehrmals im Jahr in den Urlaub. Er besaß ein Haus, hatte einen Bombenjob. Alles war perfekt.
Jedenfalls beinahe.
»Wie war der Verkehr?«, fragte Wilk und hängte die Tasche um.
Statt zu antworten, verdrehte Rieke die Augen und winkte ab. Dann griff sie nach ihrem Tablet, um sich mit ihrem Instagram-Account zu beschäftigen. Auf ihrem Kanal hatte sie mehr als fünftausend Follower, die sich für ihre Tipps zu Inneneinrichtung, Handtaschen, Pflegeprodukten und Rezepten interessierten. Seit zwei Jahren erhielt sie sogar Produkte umsonst und befasste sich mit den sozialen Medien inzwischen fast so intensiv wie mit ihrem Job als freiberufliche Werbetexterin. Sie hatte sich ein professionelles Mikrofon sowie eine Digitalkamera gekauft, mit denen sie ihre Storys aufnahm.
Wilk verstand nach wie vor nicht, was die Menschen täglich daran faszinierte, dass seine Frau einen Karton auspackte und kommentierte, was sie darin vorfand. Aber sie hatte Spaß, Bestätigung und Erfolg damit. Was wollte man mehr.
Nicht, dass es bei ihm anders war. Sein Job machte ihm nach wie vor Freude, und das Makeln mit Immobilien brachte eine Menge ein. Außerdem hatte er viele Kontakte, konnte hinter die Kulissen so mancher Privatreiche blicken und kannte die Stadt wie seine eigene Westentasche. Außerdem verschaffte es ihm jedes Mal Genugtuung, wenn er eine Wohnung oder ein Haus vermittelt hatte. Er fühlte sich wohl in dieser Machtposition, darüber zu entscheiden, wer schön wohnen durfte und wer nicht oder wer wo ein gutes Anlagegeschäft machen konnte.
Es gefiel Wilk, über Schicksale zu entscheiden. Immer schon. Und da er sich seit inzwischen eineinhalb Jahren am Riemen reißen musste, brauchte er genau dieses Gefühl umso mehr. Seitdem die Polizei ihn im Sommer fast geschnappt hätte – genauer gesagt: dieser Nick Beck –, hatte er ja nun kein Ventil mehr.
Seither blieb Wilk unter dem Radar. Keine neuen Morde, um nicht sich selbst und seine Familie in Gefahr zu bringen. Wilk war verflucht stolz auf sich. Es konnte sich wohl niemand vorstellen, mit welcher Anspannung und welchen Entzugserscheinungen er klarkommen musste. Doch er hatte es geschafft. Mit eisernem Willen. Nur die besten Männer verfügten über diese Tugend. Aber es war Wilk immer klar gewesen, dass die Abstinenz irgendwann ein Ende haben würde.
Er war ein Leopard, der in der Not zum Vegetarier verkommen war. Keiner konnte auf Dauer gegen seine Natur leben. Niemand.
Wilk zog den Reißverschluss der Daunenjacke zu, ging zu Rieke und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie nahm ihn entgegen, ohne von ihrem Tablet aufzublicken.
»Könnte später werden«, sagte er.
»Klar«, erwiderte sie. »Bis dann.«
»Bis dann«, sagte Wilk, schnappte sich den Schlüsselbund und verließ das Haus.
Noch im Schließen der Tür öffnete er das Garagentor mit der Fernbedienung und dachte zum x-ten Mal in diesem Jahr, wie verflucht gut er es hatte. Eine tolle Frau, tolle Kinder, ein klasse Job, ein schickes Haus, und der Range Rover Evoque, dessen Heck nun erschien, roch immer noch nagelneu. Morgen hatten sie Hochzeitstag, den zwanzigsten, und er würde sich heute Abend deswegen verspäten, weil er nach einigen Besichtigungsterminen noch zum Juwelier fahren musste, um dort die neue Kette für Rieke abzuholen.
Wilk stieg ein, setzte rückwärts aus der Garage und verschloss sie wieder mit der Fernbedienung. Das Radio war bereits angesprungen und spielte den Song, bei dem die Playlist gestern gestoppt hatte. Helene Fischer sang: »Ich will immer wieder dieses Fieber spüren, immer wieder mich an dich verlieren, will das Leben leben wie ein Tanz auf dem Vulkan.«
Wilk gab Gas, fuhr durch die elegante Wohnstraße. Er kannte alle Nachbarn, und alle kannten ihn. Ein wertgeschätzter Mann. Niemand hatte eine Ahnung, wie sehr es Wilk danach dürstete, wieder mal das Fieber zu spüren, sich daran zu verlieren und erneut auf dem Vulkan zu tanzen. Er war sich sicher, dass keiner seiner Nachbarn eine Idee davon hatte, wie sich das anfühlte.