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Während einer Ausbildungswoche in Schweden überqueren neun Männer und eine Frau auf ihrer Hüttenwanderung das Hochplateau Fulufjället. Bei einem Schneesturm kommt ein Guide ums Leben. Die Polizei geht von einem Unfall aus. Zwanzig Jahre später liegt in Greven ein alter Mann tot im Schnee. Neben ihm sein erschossener Hund. Für den pedantischen Hauptkommissar Kurt Kleber sieht alles nach einem Routinefall aus. Bei seinen Ermittlungen im ländlichen Greven stößt er auf nicht vermutete Motive: Betrug, Rache, Eifersucht. Kleber erfährt, dass der alte Mann seinerzeit auch an der Winterwanderung in Schweden teilgenommen hat. Als ein weiteres Mitglied der schwedischen Outdoor-Gruppe von einer Höhlenwanderung in Budapest nicht lebend zurückkommt, glaubt Kleber nicht mehr an einen Zufall. Die Ereignisse überschlagen sich, als ein weiterer Guide in Greven in seiner Badewanne und auch die einzige Frau der Winterwanderung in ihrem Hotel in Varkala (Indien) tot aufgefunden werden! Kleber weiß, dass er schnell handeln muss, um den Vorsprung des Mörders einzuholen. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.
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Seitenzahl: 344
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Während einer Ausbildungswoche in Schweden überqueren neun Männer und eine Frau auf ihrer Hüttenwanderung das Hochplateau Fulufjället. Bei einem Schneesturm kommt ein Guide ums Leben.
Die Polizei geht von einem Unfall aus.
Zwanzig Jahre später liegt in Greven ein alter Mann tot im Schnee. Neben ihm sein erschossener Hund.
Für den pedantischen Hauptkommissar Kurt Kleber sieht alles nach einem Routinefall aus.
Bei seinen Ermittlungen im ländlichen Greven stößt er allerdings auf nicht vermutete Motive: Betrug, Rache, Eifersucht.
Kleber erfährt, dass der alte Mann seinerzeit an einer Winterwanderung in Schweden teilgenommen hat.
Als ein weiteres Mitglied der schwedischen Outdoor-Gruppe von einer Höhlenwanderung in Budapest nicht lebend zurückkommt, glaubt Kleber nicht mehr an einen Zufall.
Die Ereignisse überschlagen sich, als ein weiterer Guide in Greven in seiner Badewanne und auch die einzige Frau der Winterwanderung in ihrem Hotel in Varkala (Indien) tot aufgefunden werden.
Kleber weiß, dass er schnell handeln muss, um den Vorsprung des Mörders einzuholen. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt …
Johannes Reisenberg, geboren 1954, lebt seit einigen Jahren mit seiner Frau in Greven. Er hat drei Kinder und zwei Enkelkinder.
Nach dem Studium der Betriebswirtschaft war er bis zur Pensionierung in der Immobilienbranche tätig.
Vor ein paar Jahren nahm er in Schweden bei einer Ausbildungswoche zum Tourenbegleiter an einer Hüttentour über das Fulufjället teil.
Die Erlebnisse dieser Wanderung wurden zum Ausgangspunkt seines ersten Romans.
Weitere Personen
Bernhard Brömmelkamp - Reiseunternehmer Dirk / Marion Hauke - Reiseunternehmer aus Greven Tina Osterfeld - Frau von Bernd
Horst Kiffermann - Bauunternehmer und Vater von Holger
Beate Kiffermann – Schwester von Holger
Oliver Schlenker - ehemaliger Chef von Jonas Bittner
Elisabeth „Lissy“ Kleber - Ehefrau von Kurt
Hajo Schulze Lohoff - Bruder von Elisabeth Kleber
Dr. Richard „Richi“ Kötter - Pathologe, Münster
Nilay und Shiva Kamepalli - Eltern von Kiran (Indien)
Sunil - Onkel von Kiran (Indien)
Kaasula Singh - Schiedsmann, Goa (Indien)
Personen
Jonas Bittner - Controller in einem Immobilienunternehmen / Teilnehmer Outdoor-Woche Marina Bittner - seine Ehefrau
Malte, Kai und Nele - ihre Kinder
Kiran /Nea Kamepalli - Ehemann und Tochter von Nele Verena Himstedt - Schwester von Marina Bittner
Teilnehmer der Outdoor-Woche
Thomas Fuchs - „TomTom“ Carmen Fischer David Schulz - „Winnetou“ Guido Erlenkamp Benno Freistühler Michael Steiner Heinrich Rosendahl - „Hein“ Bernd Osterfeld Holger Kiffermann
Wizard-Club „Zur Pünte“
Paul - „Double-Doc“ (Doktor der Physik /Chemie) Anton Huber - „Toni“ (Bayer aus Reit im Winkl) Peter Bauer - „Pumpe“ (Unternehmer aus Greven) Robert Rosendahl - „Robby“ Sohn von Heinrich R. Heribert - „Hühner-Harry“ (Rassegeflügelzüchter) Malte - „Meister Eder“ (Möbelhersteller) Piet Brömmelkamp - Sohn vom Reiseunternehmer
Polizisten
Kurt Kleber - Hautkommissar, Münster Ramona Jäger - seine Assistentin, Münster Joachim Schröder - Oberstaatsanwalt, Münster Mohan Shoday - Polizeichef, Goa (Indien) Arshad Khan - Polizeichef Flughafen, Mumbai (Indien) Balu Marutla - Polizist, Varkala (Indien) Benni Urban - Polizeichef, Budapest (Ungarn)
Abschnitt
Oktober 2014
Dezember 1994
Januar 1995
Oktober 2014
Dezember 2014
Januar 1995
Dezember 2014
Januar 1995
November 2014
Dezember 2014
Januar 1995
Dezember 2014
Januar 1995
Dezember 2014
Abschnitt
Indien, Dezember 2014
Greven, Januar 2015
Greven, Februar 2015
Indien, Februar 2015
Greven, März 2015
Abschnitt
7. März 2015 (Samstag)
8. März 2015 (Sonntag)
10. März 2015 (Dienstag)
11. März 2015 (Mittwoch)
13. März 2015 (Freitag)
19. März 2015 (Donnerstag)
21. März 2015 (Samstag)
23. März 2015 (Montag)
Abschnitt
4. April 2015 (Indien / Sylt)
28. November 2015 (München)
4. Dezember 2015 (Münster)
11. Dezember 2015 (Indien)
Gelder sind vorhanden!
Ohne, dass er persönlich etwas dazu beigetragen hatte. Dieser Gegensatz zieht sich durch sein ganzes Leben.
Tief in ihm verwurzelt gibt es eine ruhige, harmonische, ausgeglichene und freundliche Seite, die in letzter Zeit immer mehr die Oberhand gewinnt. Hässliche Dämonen erscheinen jedoch plötzlich und unerwartet, fallen wie Diebe aus finsterer Nacht über ihn her. Er vermag sein Handeln nur auf eine Art und Weise zu steuern, die ihn im Nachhinein wütend und zornig macht.
Er ist ein gewaltbereiter Pazifist, ein zärtlicher Macho, ein kinderlieber Tierquäler, ein harmoniebedürftiger Einzelgänger, ein lebenslustiger Selbstmörder. Die kämpfenden Gegensätze in seinem Innersten lassen ihn nicht zur Ruhe kommen und werfen ihn ständig aus der Bahn.
Diese Widersprüche haben in den letzten Jahren deutlich abgenommen, sind aber dennoch latent vorhanden.
Er hatte vor einigen Monaten ein Buch über den Sohn eines berühmten Mafia-Bosses gelesen und dabei Parallelen zu seinem eigenen Leben festgestellt.
Genau wie er war der Sohn des Mafiosos anfangs ein freundlicher, freiheitsliebender junger Mann, der an dem brutalen Familiengeschäft kein Interesse zeigte und Jura studierte. Als sein Vater bei seinen Mördergeschäften selbst ums Leben kam, wurde er vom Schicksal gezwungen, ein Leben zu führen, das er nicht wollte und nicht anstrebte. Widerwillig übernahm er den Familienclan und durchlief eine Wandlung zum kühl kalkulierenden und gleichzeitig brutalen Machtmenschen.
Der einst so friedliche Jurastudent wurde zu dem brutalsten Clanführer, den Süditalien jemals gesehen hatte, geprägt von seiner menschenverachtenden Philosophie: „Entweder kommt die Unterschrift oder sein Gehirn auf den Vertrag.“
Auch er wurde durch Ereignisse in der Kindheit gezwungen, ein Leben zu führen, das nicht seinem Naturell entsprach.
Er konnte sich als Kind einfach nicht dagegen wehren und durchlebte eine schreckliche Jugend. Die düsteren Gedanken an diese Zeit lassen nachts finstere Geister in seinen Träumen erscheinen.
Aber es wurde nach und nach langsam besser. Er hatte die Hoffnung und den Willen, sein Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken.
Getreu seinem Motto: „Ich schaffe das, weil ich es will!“ Zufrieden und entspannt stand er am Balkonfenster und sah auf den mächtigen Kirchturm der St. Martinus-Kirche.
Die umliegenden Häuser schmiegten sich eng geduckt an das wuchtige Bauwerk, so als müssten sie das Gotteshaus vor imaginären Angreifern schützen.
Das abwechslungsarme Flair der Kleinstadt an der Ems war beinah körperlich spürbar und legte sich wie ein feuchtschwerer Nebel auf die Seele des Betrachters.
Hier war wirklich nicht viel los!
Dennoch fühlte er sich hier ausgesprochen wohl und zufrieden, in diesem dörflichen Umfeld wo jeder jeden kennt, ohne dass man sich dabei gleich beobachtet fühlt.
Die den alteingesessenen Einwohnern innewohnende münsterländische Gelassenheit trug sein Übriges dazu bei, keine Hektik aufkommen zu lassen.
In diesen ländlichen Ruhemodus hatte er sich - nach anfänglichen Startschwierigkeiten - eingefunden und kam inzwischen ausgesprochen gut damit zurecht.
Das Leben in seiner kleinen, überschaubaren friedlichen Welt übte eine wohltuende, beruhigende Wirkung auf ihn aus. Jede Zelle seines Körpers sehnte sich nach dieser Ursprünglichkeit.
Über seine Finanzen musste er sich keine Gedanken machen. Er ging den Dingen nach, die ihn interessierten oder seine Leidenschaft befriedigten. Wenn dann ein wirtschaftlicher Erfolg am Ende der Bemühungen stand, war das umso erfreulicher.
Den stabilen Zustand der inneren Ruhe, Ausgeglichenheit und Gelassenheit hatte er jedoch noch nicht völlig erreicht.
Viele dunkle schwere Jahre lagen hinter ihm, die in seiner Seele tiefe Narben hinterlassen und Grundzüge seines Wesens nachhaltig verändert hatten.
Die unschönen Seiten von ihm kam aber immer wieder hervor.
„Schluss jetzt mit den trübseligen Gedanken!“, munterte er sich selbst auf. „Das Leben ist wundervoll und einmalig! Mach‘ die Augen auf!“
Aus dem gegenüberliegenden Haus trat eine junge Frau aus der Eingangstür, einen Kinderwagen vor sich herschiebend, mit einem kleinen Hund im Schlepptau.
Gegen den unangenehmen Wind kämpfend, duckte sie den Kopf tief, während sie mit einer Hand den Mantelkragen zusammenhielt.
Dem Hund stand die Abneigung gegen diesen Ausflug, aus seiner Sicht völlig überflüssig zu so später Stunde, ins spitze Dackelgesicht geschrieben.
Die Frau neigte etwas den Kopf und erblickte den Mann, der in der ersten Etage hinter dem Fenster stand. Sie winkte mehrmals freundlich und warf ihm, trotz des miesen Wetters, ein Lächeln zu. Er winkte ebenfalls lächelnd zurück.
Man kennt sich halt im Dorf!
Als er gerade begann sich Gedanken über den weiteren Verlauf des Abends zu machen, klingelte sein Handy.
Ein Blick auf das Display genügte, um zu wissen, dass es mit der Harmonie für den heutigen Tag vorbei war.
„Hallo Verena!“
„Guten Tag mein Lieber, ich wollte mich mal wieder bei dir melden, um zu hören, wie es dir so geht auf dem Land!“, antwortete sie mit übertrieben fröhlicher Stimme.
„Nett, dass du anrufst. Bei mir ist alles bestens. Ich hoffe, dir geht es ebenfalls gut“, antwortete er knapp und mürrisch. Das hat sie nun wirklich nicht verdient derartig abgefertigt zu werden, dachte er schuldbewusst.
Deutlich freundlicher sprach er weiter: „Mein Projekt läuft mega und ich habe morgen in Greven einen Präsentationstermin. Wenn alles planmäßig läuft, bekomme ich meinen ersten fetten Auftrag. Dann wäre ich endlich im Geschäft!“
Alle Welt redet immer von Projekten, kaum einer von Arbeit, aber egal, dachte sie und antwortete: „Das wäre prima, ich freue mich riesig für dich, wie immer es letztlich ausgeht.“
Sie war aufrichtig erfreut dies zu hören. Waren doch seine Bemühungen bisher von wenig Erfolg gekrönt, obwohl er unendlich viel Herzblut in „sein Projekt“ gesteckt hatte, wie sie wusste.
Die weiteren Bedenken bezüglich seiner Lebensplanung warf sie für eine logische Sekunde über Bord und freute sich von Herzen für ihn.
Sie hatten gemeinsam schwere Zeiten überstanden und kaum jemand kannte die komplexe, schwierige Persönlichkeit von ihm besser als sie. Äußerst zufrieden mit dem Gehörten wechselte sie - auch zur Freude ihres Gesprächspartners - das Thema.
„Was macht denn das Liebesleben so?“, fragte sie weiter, wenngleich sie die Antwort bereits kannte.
„Das ist unverändert abwechslungsreich, wie du dir sicherlich vorstellen kannst“, antwortete er in Anspielung auf ihr diesbezügliches gemeinsame Wissen.
„Na dann ist ja alles bestens! Ich wünsche dir einen schönen Abend und für morgen drücke ich dir fest die Daumen. Lass mal wieder etwas von dir hören. Mach es gut, bis zum nächsten Mal“ und legte auf.
Wenn ihnen jemand heimlich zugehört hätte, würde er annehmen, dass dies ein außergewöhnlich kurzes Gespräch mit dürftigem Inhalt war.
Sie wusste es besser.
Für ihre Verhältnisse hatten sie sich recht ordentlich unterhalten.
Sie hätte weiteren Gesprächsstoff für eine längere Unterhaltung gehabt. Sie war jedoch eine kluge Frau. Sie wusste aus Erfahrung, dass das Gespräch schnell und unkontrolliert in eine falsche Richtung umschlagen konnte.
Es war gut für den Moment.
Sie ging aus dem Schlafzimmer zur Treppe und hinunter in das Wohnzimmer, in dem ihr Mann, wie so oft, mit einer Flasche Bier in der Hand vor dem Fernseher saß.
Nachdem er das Gespräch mit der unerwarteten Anruferin beendet hatte, legte er das Handy auf den Tisch und schlenderte wieder ans Fenster.
Er genoss den wunderbaren Ausblick auf sein kleines Dorf, die Ruhe und Eintracht, die ihn umgab. Er war glücklich. Morgen hatte er entgegen seiner Aussage zwar keinen Termin, aber er würde dennoch früh aufstehen und den ganzen Tag in der Werkstatt arbeiten.
Er sah dem morgigen Tag mit großer Freude und Elan entgegen.
Spontan entschloss er sich, noch einen Besuch abzustatten.
Er würde zunächst mit Tönne spielen, anschließend mit Beate.
Er fühlte sich ausgesprochen wohl in diesem Augenblick und eine tiefe Zufriedenheit mit seinem Leben breitete sich aus.
„Es läuft!“, murmelte er leise vor sich hin, als er die Wohnung verließ.
„Komm sofort in mein Büro“, bellte Horst Kiffermann durch das Telefon und knallte den Hörer wütend auf die Gabel.
Was hat der Alte denn jetzt schon wieder? Kehrt nicht mal in der Woche vor Weihnachten Ruhe in den Tyrannen ein? Ich bin nicht sein Boxsack, auf den er nach Belieben einschlagen kann, dachte Holger rebellisch. Ich habe studiert und nehme in der Firma eine führende Aufgabe wahr.
Ich bin ein wichtiges Rad im Getriebe der Firma!
Davon war zumindest er überzeugt, wenngleich sein Vater aktiv nichts dazu beitrug, ihn in seiner Selbstwahrnehmung zu bestärken. Holger kannte den Jähzorn seines Vaters. Wenn der erstmal in Fahrt war, dann ließ er sich durch nichts und niemanden bremsen.
Zerknirscht begab er sich auf den Weg ins Machtzentrum. Ohne es zu merken, verlor sein Körper mit jedem Schritt an Spannkraft und er sackte Millimeter um Millimeter in sich zusammen.
Als er vor der massiven, mächtigen Bürotür des Patriarchen stand, schien er um zehn Zentimeter geschrumpft zu sein. Er klopfte an und drückte die Klinke herunter, ohne eine Antwort von jenseits der Tür abzuwarten. Auf dem Marsch von der Tür bis zum imposanten - für seinen Geschmack allerdings zu protzigen - Schreibtisch vergingen gefühlt Minuten, so riesig war das Zimmer. Er hatte vor Kurzem in einer Zeitung gelesen, dass der Begriff „Patriarch“ für Männer der Kirche gilt und „Heiligkeit“ bedeutet. Vielleicht sollte er zur Stimmungsaufhellung seinen Vater mit Heiligkeit ansprechen? Diese Aussage wäre zwar nicht unzutreffend, könnte aber böse nach hinten losgehen. Holger verwarf den Gedanken schnell wieder.
Die bodentiefen riesigen Fenster gaben den Blick frei auf die Emsauen und verliehen dem Raum eine schier unendliche Tiefe. Geschmackvolle Teppiche, das elegant, gradlinige - und offensichtlich teure - Mobiliar verliehen dem Raum ein angenehmes Flair, wenngleich die Demonstration von Geld gepaart mit Macht sicherlich ein gewollter Nebeneffekt war.
Er ließ sich in einen der tiefen Ledersessel fallen, die vor dem Schreibtisch standen. Sofort sank er tief in die Polster und sah, am Boden der Sitzgelegenheit angekommen, nur noch mit Mühe über die Schreibtischkante hinweg. Dahinter thronte sein Vater. Na prima, dachte er resigniert, wie so häufig an dieser Stelle.
Ohne Umschweife und zeitraubende Höflichkeitsfloskeln sprach der alte Patriarch und seine Worte kamen leise, sehr leise. Die Zischlaute aus seinem nur zu einem kleinen Schlitz geöffneten Mund erinnerten an eine soeben sterbende Lokomotive: „Gestern hatte ich einen Anruf von einem Mitarbeiter der englischen Immobilienunternehmung „perfect building“ aus Münster. Es scheint sich um die Aufbereitungs- und Erschließungskosten der Wöste zu drehen. Er würde gerne die Kostenkalkulation mit uns im Detail besprechen. Es gäbe da erheblichen Klärungsbedarf aus seiner Sicht. Insbesondere die extrem hohen Kosten für die Trockenlegung des Baugebiets lägen nahezu doppelt so hoch, wie bei einem am Rhein gelegenen vergleichbaren Objekt!“
Am geröteten Hals erblickten erste dicke aus den Tiefen des Körpers empor gepresste Adern das Tageslicht. Weit geöffnete Augen starrten Holger an, so als ob er von seinem Sohn aus dem Stegreif eine zufriedenstellende Antwort erwarten durfte.
„Wie kommt er darauf? Woher weiß der Mistkerl davon? Das darf alles nicht wahr sein!“, schrie er seinen Sohn an. Nach weiteren fünf Sekunden: „Jetzt sag doch endlich auch mal etwas!“
„Die Baumaßnahme liegt nach meiner Erinnerung über zwei Jahre zurück und wir haben die Kosten der erforderlichen Trockenlegung sowie der eingebrachten Spezialpumpen korrekt abgerechnet. Da bin ich mir sicher. Die erforderlichen Verträge mit den von uns beauftragten Firmen habe ich zusammen mit einem spezialisierten Fachanwalt erstellt, auch da sehe ich kein Risiko“, antwortete Holger mit maximaler Gelassenheit. „Für die danach getroffenen Absprachen gibt es keinerlei Belege, keine Beweise“, ergänzte er unaufgefordert.
„Falls doch?“, erwiderte der Alte, jetzt schon eine Spur verträglicher. „Die Fragen könnten eine Menge Dreck im Ort aufwirbeln. Nicht auszumalen, wenn diese Verdächtigungen öffentlich diskutiert würden und Hinz und Kunz anfangen Dinge zu hinterfragen, die schon längst abgeschlossen und erledigt sind. Künftige Projekte könnten ebenfalls darunter leiden. Das ist eine gottverdammte Schweinerei! Kennen wir den Mistkerl überhaupt?“
„Nee, den Namen habe ich nie gehört.“
„Hätten wir damals bloß nicht einen Teil des Grundstückes an den Immobilienkonzern verkauft. Die Häuslebauer wären doch von allein niemals auf dieses Thema gekommen. Die waren seinerzeit alle heilfroh, wenn sie eine Parzelle für ihre armseligen kleinen Häuser ergattern konnten.“ Dieser Einschätzung schloss sich Holger uneingeschränkt an, er hätte es nur etwas eleganter formuliert.
Der Firmenchef, der schon so manche schwierige Situation in der Vergangenheit gemeistert hatte, forschte nach Lösungen. Das war förmlich an seiner in Falten gelegten Stirn abzulesen.
Er hätte ein Unternehmen dieser Größe in einem hart umkämpften Markt nicht aufbauen können, wenn ihn jedes Problem so leicht aus der Bahn geworfen hätte. Die dicken Adern am Hals versanken wieder in tiefere Regionen, er wirkte ruhiger und gelassener.
„Wir müssen uns kurzfristig abstimmen, insbesondere mit Pumpe. Du prüfst nochmal genau, ob alle Unterlagen tatsächlich wasserdicht sind und einer möglichen Revision standhalten, auch die Verträge. Diesen Immobilienfritzen konnte ich auf Ende Januar vertrösten. Dadurch haben wir ausreichend Zeit, alles in Ruhe zu checken.“ Der Alte versank sichtlich immer stärker in Gedanken.
„Bis Mitte Januar bin ich auch wieder zurück.“
„Ja, ja“, erwiderte sein Vater abwesend, mittlerweile gedankenverloren. Es war erkennbar, dass er den letzten Satz von Holger nicht mehr registriert hatte. Andernfalls hatten die letzten Worte - wegen Bedeutungslosigkeit - seinen Kopf bereits wieder verlassen. Holger stand auf und verließ wortlos den Raum.
Das Gespräch war offensichtlich beendet.
Dreißig Autominuten von den Kiffermännern entfernt suchte Jonas Kleidung für seine Outdoor-Trainingswoche zusammen. Bis zur Abfahrt in der ersten Januarwoche war ausreichend Zeit, alles Erforderliche zu organisieren. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatte er sich vorgenommen, sich ausschließlich um seine Familie zu kümmern, die er das ganze Jahr sträflich vernachlässigt hatte. Ein Kreislauf, aus dem es für ihn kein Entrinnen gab. Er war einfach zu ehrgeizig und sein Job fraß ihn demzufolge auf. Ob der Wiedergutmachungsversuch bei Marina von Erfolg gekrönt sein würde blieb abzuwarten. Aber er war fest entschlossen, es zu versuchen.
In dem großen Haus hatte er in einem hinteren Winkel des ausgebauten Dachgeschosses seine Outdoor-Kleidung säuberlich in einem großen Schrank verstaut. Das war seine Ecke, das wusste die gesamte Familie und mied daher diesen ohnehin wenig attraktiven Teil des Hauses, das ansonsten sehr geschmackvoll und hochwertig eingerichtet war.
Das Zusammenstellen der erforderlichen Bekleidung als auch des benötigten Equipments ging ihm schnell von der Hand. Da er in der Vergangenheit einige Touren in Schweden unternommen hatte, wusste er genau, was er benötigt. Es war alles vorhanden und der Rucksack somit zügig gepackt.
Bereits nach kurzer Zeit begab er sich zufrieden auf den Weg ins Esszimmer, wo Marina sicherlich schon das Abendessen fertig auf dem Tisch stehen hatte.
Auf der Treppe holten ihn bereits die Geister der Zahlenwelt wieder ein. Seine Gedanken kreisten um die laufenden Projekte und was er in der Woche vor Weihnachten noch unbedingt zu erledigen hatte.
Besondere Freude und Genugtuung empfand er bei dem Gedanken an das Grevener Bauunternehmen, bei dem er einer heißen Spur auf den Fersen war. Sein beruflicher Alltag war zum großen Teil von Analysen und Präsentationen geprägt, die für die Führungskräfte des Unternehmens eine wichtige Arbeitsgrundlage darstellten. Für ihn persönlich war es allerdings nur langweilige, stupide Routinearbeit.
Daneben gab es aber auch wesentlich interessantere Aufgaben, die er mit Begeisterung verfolgte und die ihn forderten, wie zum Beispiel Schwachstellenanalysen, bei denen er die Zahlenwelt systematisch und akribisch nach Verbesserungsansätzen durchforstete. Jonas war Generalist und hatte einen guten Einblick in alle kaufmännischen Belange. Er verfügte über ein solides Grundwissen, ohne Spezialist zu sein. Es reichte aus, um bei allen Themen qualifiziert mitzureden. Seine außergewöhnlichen Excel-Kenntnisse waren jedoch sein Markenzeichen. Er hatte mit Stolz wahrgenommen, dass er von seinen Kollegen hinter vorgehaltener Hand als „Excel-Gott“ bezeichnet wurde.
Seine persönliche Vorliebe gehört den Schnittstellenanalysen zwischen kaufmännischen und technischen Sachverhalten, die in nahezu allen Unternehmen vernachlässigt werden.
Man ist Kaufmann oder Techniker, nie beides gleichzeitig. Die Wenigsten streben nach Einblick in fremde unbekannte Bereiche, von denen sie keine Ahnung haben. Oder wie Kaufleute häufig frotzelten: Es gibt Menschen und es gibt Techniker!
Jonas war anders. Die Gedanken an die Analyse des Neubauprojektes in Greven euphorisierten ihn. Er war geradezu versessen darauf, dem Betrugsversuch auf die Schliche zu kommen und die Schuldigen zu überführen. Er war sicher, dass er stichhaltige Argumente recherchiert hatte, die das Bauunternehmen in Greven ans Messer liefern würde.
Als er die Tür zum Wohn-/Esszimmer öffnete, war er allerbester Laune. Seine Frau und die Kinder saßen bereits am Esstisch. Marina sah ihn mürrisch an, da das Abendessen für die Kinder mal wieder viel zu spät auf dem Tisch stand. Im nächsten Moment entspannten sich, ihrer Natur entsprechend, ihre Gesichtszüge wieder und sie lächelte ihren Mann freundlich an: „Komm Jonas, schön dass wir heute zusammen essen. Es gibt dein Lieblingsgericht: Rollladen, Knödel und Rotkohl.“
Bernd war mal wieder schwer gefrustet.
Vor wenigen Minuten hatte ihn sein Chef, zum wiederholten Mal in dieser Woche, zur Schnecke gemacht.
„Mensch, Mensch, Bernd, pass‘ doch besser auf! Die Tourenbegleiter oben in Schweden beschweren sich schon wieder, dass du nicht genügend Frischware mitgeschickt hast. Die Gäste sind bereits nach dem ersten Tag sauer, da kaum Obst für die Tagestouren vorhanden ist“, maulte Dirk ihn an. „Das geht so nicht weiter. Du musst dich konzentrieren. Sieh zu, dass ein Tourenbegleiter in Schweden sofort zum nächsten Supermarkt fährt, um Äpfel und Bananen nachzukaufen. Ist das so schwer?“, ohne eine mögliche Antwort des Übeltäters abzuwarten drehte sich der Chef schwungvoll auf den Hacken herum und verließ das kleine Büro.
Obwohl Bernd das ihm abgewandte Gesicht seines Chefs nicht sah, war er absolut sicher, dass, falls Dirk auf einen Spiegel zugelaufen wäre, er verächtliche, enttäuschte und von Abneigung gekennzeichnete Gesichtszüge von ihm zu sehen bekommen hätte.
„Ja, ja“, dachte er, der Chef hatte verdammt nochmal Recht. Er alleine war für den Einkauf zuständig, Ende der Diskussion. Für die Gäste war eine ausreichende Verpflegung extrem wichtig, damit sie die kräftezehrenden Märsche durch die schwedischen Wälder bewältigen konnten. Außerdem spielte die Verpflegung bei der abschließenden Gästebewertung eine wichtige Rolle, das wussten alle Beteiligten.
Er hatte wieder versagt!
Wie so oft.
Hoffentlich schmeißt mich Dirk nicht irgendwann raus, ging es ihm durch den Kopf. Zwecks Frustbekämpfung biss er in die vierte Frikadelle innerhalb von wenigen Minuten. Er aß hastig, schlang das Essen in sich hinein, ohne es bewusst wahrzunehmen oder vernünftig zu zerkauen. Für zumindest wenige Augenblicke war er zufrieden und ein flüchtiges Glücksgefühl breitete sich in ihm aus. Aber das hielt erfahrungsgemäß nicht lange an. Obwohl er dies wusste, schob er unaufhörlich Essen in sich hinein, er konnte einfach nicht aufhören. Jede Sekunde der inneren Ruhe war es wert, sich dafür vollzustopfen.
Sein Hemd spannte sich bedrohlich über dem Bauch, nur die Knöpfe wehrten sich tapfer gegen die zunehmende Spannung der Knopfleiste. Zwischen den Knöpfen wurde der Blick frei auf das fleckige Unterhemd. Er drückte seinen massigen Körper gegen die Rückenlehne des Stuhls, wippt leicht vor und zurück. Vor und zurück, immer wieder. Mit der inneren Ruhe war es schnell vorbei. Der bekannte Frust kam zurück und sein Körper war gezwungen sich ein Ventil zu verschaffen. Der Druck und die innere Anspannung waren schlicht zu groß.
„So ein verfluchter Dreck! Ich hau‘ dem Alten gleich was auf die Mütze. Blöder Sklaventreiber“, schrie er in sich hinein. Die Worte laut auszusprechen getraute er sich nicht. Ich glaube, ich mach‘ für heute Feierabend. Alles andere musste - entsprechend seiner gewohnt unzulänglichen Strategie - bis morgen warten.
Für meine Frau muss ich noch ein Weihnachtsgeschenk besorgen, fiel ihm in diesem Moment ein. Sollte er dafür nach Münster fahren oder würde er etwas Passendes in Greven finden?
Er war ratlos und unentschlossen - wie immer. Bei einem ihrer letzten Spaziergänge war Tina auffällig lange vor der Auslage eines kleinen Juweliers stehen geblieben. Er trat nur zögerlich an ihre Seite vor das Schaufenster, um scheinbares Interesse vorzugaukeln. Die Preisschilder waren zu klein, als dass er das wahre Ausmaß der Begehrlichkeit seiner Frau hätte ausmachen können. Das war auch nicht weiter nötig. Es war auf jeden Fall zu teuer. Das kleine Reiseunternehmen in dem er arbeitete bezahlte gerade so viel, dass es für den Lebensunterhalt und einen kleinen Sommerurlaub reichte. Ein Auto konnten sie sich nicht leisten, so dass er mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr, während Tina jeden Morgen zu Fuß in die Bäckerei ging. Bernd war dennoch mit seinem Leben zufrieden. Die Arbeit fand er ganz ok. Sie hatten eine kleine Wohnung, die Tina liebevoll eingerichtet hatte. Ein riesiger, auf Pump gekaufter Fernseher schmückte seit einigen Wochen ihr Wohnzimmer. Er hatte eine attraktive Frau, um den ihn alle Kollegen beneideten und er hatte regelmäßig Sex mit ihr. Das alles genügte ihm.
Tina hingegen war anders.
Sie ließ ihn immer wieder spüren, dass sie sich ein besseres, komfortableres Leben wünschte. Schicke Kleider, Schmuck, eine große Wohnung, ein Cabrio, ein sorgenfreies Leben mit allem Drum und dran. Und mit Kindern. All diese Wünsche wurden – bewusst oder unbewusst - durch ihre Kommentare ans Tageslicht befördert, wenn sie abends gemeinsam Filme sahen mit Familien, die genau das hatten, was ihnen fehlte.
Bernd hatte gelernt, damit umzugehen. Als junger Bursche suchten viele Frauen, dank seines guten Aussehens, die Nähe zu ihm. Bis sie merkten, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmte. Er hatte eine abgeschlossene Lehre als Kaufmann, war höflich, hilfsbereit und vermochte, wenn er etwas getrunken hatte, lustig zu sein.
Alle Beziehungen hielten aber nicht lange. Eine spürbare Gereiztheit, sein stets unruhiger Blick verwirrte die Frauen. Wenn er anfing sie mit seinen Händen zu erkunden, war er ungeschickt, stürmisch und wenig einfühlsam. Hatte er sich bei einem Annäherungsversuch endlich durch die obere Schicht gearbeitet und seine gierigen Finger berührten nackte Haut, war sofort Schluss mit den Zärtlichkeiten. Seine Hände waren kalt und schweißnass und schreckten die Frauen sofort ab. Wenn sich die Objekte seiner Lust von ihm abwandten, wurde er wütend. Er schrie die Frauen verbittert an, erst leise, dann immer lauter. Wenn sie dann voller Angst fluchtartig das Auto verließen, schrie er ihnen noch wilde Flüche hinterher. So war es immer… Bis er Tina kennenlernte.
Sie war eine wirkliche Schönheit mit fabelhafter Figur. Ihr fröhliches, strahlende Lachen gepaart mit ihrer lebenslustigen Art begeisterten die Männer des Ortes. „Bei der brauche ich es erst gar nicht zu versuchen“, dachte Bernd seinerzeit, zumal sie - deutlich sichtbar - jünger war als er. Er war völlig perplex, als Tina ihn bei einem Stadtfest an einem Bierausschank unerwartet ansprach und fragte, ob er ihr ein Bier ausgeben würde. Was er natürlich sofort tat. Zur Überraschung aller wurden sie ein Paar und heirateten nach nur einem Jahr. Am meisten aber war Bernd selbst erstaunt, dass Tinas Wahl auf ihn gefallen war.
Er war zweifellos ein gutaussehender Mann. Aber was hatte er ihr schon zu bieten? Seine Unentschlossenheit, seine unruhige Art konnten Tina nicht gefallen, oder etwa doch? Im Bett war er schnell fertig, während Tina die ganze Zeit teilnahmslos unter ihm lag, sprach- und regungslos. Am wilden Eheleben konnte es - nach objektiven Maßstäben - nicht liegen. Oder gefiel es ihr genau so, wie sie es machten? Reich war er ebenfalls nicht und zum Stadtprinzen hatte es auch nie gereicht. Warum also hat sich Tina für ihn entschieden? Selbst nach vielen Jahren der Ehe hatte er auf diese drängende Frage keine Antwort gefunden.
Wenn Bernd seine Frau hin und wieder in der Bäckerei besuchte, war er wie vom ersten Moment an von ihrer Schönheit fasziniert. Ihre Augen strahlten, wenn sie Kunden bediente. Sie schien von einer imaginären geheimnisvollen Ausstrahlung umgeben zu sein. Der schlichte Kittel verbarg ihre weiblichen Formen nur mit Mühe. Er hatte den Eindruck, dass insbesondere Männer sich gerne von ihr bedienen ließen und das Verkaufsgespräch von ihnen künstlich in die Länge gezogen wurden. Die Männer waren teilweise elegant angezogen, trugen teure Anzüge und ebensolche Armbanduhren. Das sichere gelassene Auftreten der Männer, einhergehend mit einem lässigen Smalltalk, ließ auf einen hohen Schul- oder Universitätsabschluss schließen. Da konnte er nicht mithalten und er kam sich klein und unbedeutend vor. Wenn er schließlich an der Reihe war, brachte er kaum ein Wort hervor. Er glaubte, zudem zu erkennen, dass die glänzenden Augen von Tina ihn weniger anstrahlten als irgendeinen unbekannten Fremden. In der Bäckerei, wenn er ihr gegenüberstand, war er unfähig etwas Lustiges, charmantes oder Liebevolles zu sagen. Ein dicker Kloß saß ihm im Hals und so stand er wie ein kleiner Junge vor ihr. Im Laufe der Zeit mied er immer häufiger diese quälenden Momente. Er kaufte seine Brötchen für die Mittagspause daher lieber bei einem anderen Bäcker im Ort, um diese peinlichen Begegnungen zu vermeiden. Eine vollkommen aberwitzige Situation. Wie in einem Film liefen diese grausigen Bilder der Vergangenheit permanent vor Bernds Augen ab.
Er wippte unverändert auf seinem Stuhl hin und her. „Was wollte ich jetzt nochmal besorgen? Ach ja, das Weihnachtsgeschenk. Ich werde versuchen, Tina ihren Wunsch zu erfüllen, auch wenn das Geld knapp ist. Das Geld muss ich irgendwie zusammenkratzen“, überlegte er. Auch wenn sie es nicht verdient hat, tat er alles, um den Glanz in Tinas Augen zurückzubringen. Er würde niemals aufhören, um Tina zu kämpfen, egal was sie anstellte. Tina war der Mittelpunkt seines Lebens. Dass er sie mehr liebte als umgekehrt, hatte er gelernt zu akzeptieren - Hauptsache sie kehrte immer wieder zu ihm zurück.
Dass Tina den Avancen attraktiver Männer nicht widerstehen konnte, hatte Bernd schon in den ersten Jahren ihrer Ehe erfahren. Beim ersten Mal war er entsetzt und hat nur überlegt, wen er zuerst erschlagen soll. Wut, Zorn und Enttäuschung waren kaum zu kontrollieren. Er wusste nicht wohin mit seiner Aggression, er war mut- und ratlos. Schnell wurde ihm bewusst, dass er Tina niemals Gewalt antun würde. Ein Leben ohne sie war unvorstellbar. Er hatte gelernt, sich zu arrangieren, sich anzupassen. Sein Credo: Hauptsache sie bleibt bei mir.
So verständnisvoll er mit seiner Frau umging, desto härter wurde er gegenüber seiner Umwelt. Das ohnehin spärliche Vertrauen, das er Freunden, Kollegen und Verwandten entgegenbrachte, sank auf den Nullpunkt. Der Umgangston mit Kollegen reduzierte sich auf das Nötigste, bereits bei dem kleinsten Anlass schrie er herum und verfluchte Gott und die Welt lautstark.
Wenn der innere Druck so stark wurde, dass er zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war, stapfte er wutschnaubend in das Lagerhaus, wo Holzscheite für diverse Lagerfeuerevents lagerten. Dann schlug er mit voller Wucht und unkontrollierter Kraft solange mit einer Axt auf Holzscheiben ein, bis ein riesiger Haufen Scheite vor ihm lag und Blut an seinen Handinnenflächen runterlief.
Seine Nebenbuhler sollten anonym bleiben, das war besser für alle. Den ein oder anderen hatte er im Verdacht etwas mit seiner Frau angefangen zu haben, aber er bemühte sich alle Anzeichen und Signale zu ignorieren und auszublenden.
Leider war ihm letzte Woche ein Lover seiner Frau unglücklicherweise auf dem Hof über den Weg gelaufen, als Tina ihn von der Arbeit abgeholt hat, was selten genug vorkam.
Durch das Bürofenster sah er seine Frau, wie sie quer über den Hof direkt auf sein Büro zulief. Der Nebenbuhler kam in diesem Moment aus dem Hauptlager heraus und warf das Tor lautstark in die Angeln. Tina schaute in die Richtung, aus der das Geräusch kam und sah den Tourenbegleiter aus der Tür treten.
Sie sah ihn an - offensichtlich einige Sekunden zu lang.
Der Typ blieb vor der Tür stehen und grinste Tina mit breitem Lächeln an. Sie schien dessen schmachtenden Blick zu erwidern. Da Tina das Gesicht zur Seite gedreht hatte, konnte Bernd ihre Gesichtszüge nur erahnen. Sie drehte sich wieder um und schlenderte wortlos weiter auf das kleine Haus zu, in dem sein Büro lag. Der Typ stand währenddessen breitbeinig auf dem Hof und strahlte ihren Rücken an, vermutlich mehr ihre Beine oder ihren Hintern. Der Hüftschwung seiner Frau schien auf den letzten Metern etwas ausgeprägter geworden zu sein, als zu Beginn der Hofüberquerung. Dies zumindest glaubte Bernd zu erkennen.
Er kannte diesen Gaffer, leider.
Auf der für Januar geplanten Ausbildungswoche in Schweden werde ich ihn näher kennenlernen, durchfuhr es ihn angewidert. Wie soll ich den Kerl die ganze Zeit ertragen? Am liebsten hätte er – nach altbekanntem Muster - die Teilnahme an der Tour abgesagt, um allen Schwierigkeiten dadurch aus dem Weg zu gehen. Das war aber nicht mehr möglich, da er selbst die Teilnehmerliste zusammengestellt hatte. Sein Chef hat ihn zudem zur Teilnahme an der Schulung verdonnert. Er sollte als Einkäufer/Koordinator die Anforderungen an die Verpflegung sowie das Material vor Ort besser kennenlernen, meinte Dirk. Aus dem gleichen Grund sollte auch Hein der Lagermeister an der Schwedentour teilnehmen.
„Aus der Nummer komme ich nicht mehr raus“, dachte er resigniert. „Der Typ soll mich bloß in Ruhe lassen und sein blödes Grinsen einstellen, dann könnte es klappen.“ Sicher war er aber nicht.
Er wippte unverändert auf seinem Stuhl herum.
„Was wollte ich nochmal besorgen? Richtig, ein Geschenk für Tina.“ Bernd schaltete seinen Computer aus, stand auf, löschte das Licht und verließ sein Büro.
Ob er nach Münster oder Greven fahren sollte, wusste er immer noch nicht.
Der Schneesturm peitschte dicke Schneeflocken auf seine Skibrille. So ähnlich muss es sich in einem Windkanal anfühlen. Der Wind kam waagerecht von vorne und trug Unmengen von Schnee mit sich, den er gnadenlos auf die kleine Gruppe abwarf, die sich quälend langsam über das Fulufjället kämpfte. Die Wanderer waren der stürmenden Naturgewalt schutzlos ausgeliefert. Kein Baum, kein Strauch, keine schützende Gesteinsformation weit und breit. Nur eine grenzenlose weiße Schneedecke. Es schien beinah so, als ergebe sich die Natur ihrem Schicksal und duckte sich vor der brausenden Himmelsgewalt weg.
Tomtom war ein trainierter Läufer mit hervorragender
Kondition. Aber mit dem schweren Lastenschlitten im Schlepptau schnaufte selbst er. Durch die körperliche Anstrengung beschlug seine Skibrille immer stärker und die Sicht wurde von Sekunde zu Sekunde miserabler. Den vor ihm laufenden Guide, der ebenfalls eine schwer bepackte Pulka hinter sich herzog, erkannte er nur schemenhaft.
Als Letzter in der Reihe war der Weg über das schneebedeckte Plateau wenigstens durch die vor ihm Gehenden plattgetreten, quasi geebnet. Seine Schneeschuhe sanken dadurch nicht so tief in den Schnee ein und er kam kraftsparend vorwärts. Jeder kämpfte einsam gegen den Schneesturm an, still und verbissen.
TomTom kannte das Kahlgebirgsplateau von vielen früheren Touren wie seine eigene Westentasche. Selbst im Sommer wagte sich alles Wachsende kaum aus der Deckung und wuchs lieber in die Breite anstatt in die Höhe. Fichten, wenige Birken oder Sträucher wuchsen nur mannshoch, die hoch „Hinauswollenden“ holte sich der nächste Sturm.
Der Boden war übersät von unzähligen Flechten- und Moosarten, angereichert um ein Meer aus Blaubeeren, die im Sommer hin und wieder von Wanderern oder einem zufällig vorbeikommenden Braunbären abgeerntet wurden. Selten kamen Wölfe, Vielfraße und Polarfüchse zu sporadischen Besuchen vorbei. Für wenige Monate im Jahr offenbarte sich auf dem Fulufjället eine karge, aber wunderschöne und einzigartige Landschaft.
Ausgelöst durch die Sehenswürdigkeiten entwickelte sich die Region zu einem Touristenmagnet. Jedes Jahr wurden viele Touristen angezogen, sowohl von dem Njupeskär, dem höchsten Wasserfall in Schweden, als auch vom Old Tjikko, mit seinen 9550 Jahren dem ältesten Klonbaum der Welt, also einem Baumwurzelwerk, aus dem an verschiedenen Stellen immer wieder Baumsprösslinge hervorwuchsen. Kaum einer der Besucher, der die Hochebene erkundete und ehrfurchtsvoll vor dem Old Tjikko stand, vermochten sich vorzustellen, wie die Welt aussah, als sich die ersten zarten Wurzeln in den Boden gruben. Zu dieser Zeit lebten auf der Welt weniger Menschen als heute in der Großstadt London. Der Ackerbau sollte erst tausende Jahre später, vom Balkan kommend, Einzug nach Mitteleuropa halten. Eine ehrfurchtgebietende Zeitspanne.
Heute, wo an einem Tag mehr Apps das Licht der Welt erblicken, als seinerzeit weltweit Kinder geboren wurden, eröffnete sich dem Besucher bei der Betrachtung dieses unspektakulären Baumes, der nur drei Meter hoch war, eine unsichtbare, unfassbare und unvorstellbare Zeitdimension.
Am heutigen Tag lag diese phantastische, wilde und beeindruckende Landschaft unter einer dicken Watteschicht und entzog sich den Blicken der Schneewanderer.
Der Guide, der vor TomTom lief, blieb stehen und sah sich nach ihm um. Offensichtlich waren alle vorausgehenden Wanderer stehen geblieben. Vereinbarungsgemäß kam einer der vorderen Guides ans Ende der Gruppe, um die Pulka von TomTom zu übernehmen. Sie hatten ausgemacht, dass jeder Guide im Tiefschnee maximal dreißig Minuten den Schlitten zog, bevor zur Schonung der Kräfte gewechselt wurde.
TomTom schnallte die Pulka wortlos ab und half dem neuen Lastenschlepper die Haltegurte an seinem Gürtel zu befestigen. Dann stapfte er an den wartenden Guides vorbei an die Spitze der Truppe, um die Führung zu übernehmen.
Eine geschlossene, unberührte Schneedecke lag vor ihm, und wartete darauf erobert zu werden. Er trat mit seinem Schneeschuh einen Schritt nach vorne, sofort sank dieser bis zum Oberschenkel in den Tiefschnee ein. Er zog den eingesunkenen Schneeschuh möglichst senkrecht wieder nach oben um bereits mit dem anderen Bein den nächsten Schritt zu platzieren. Während er das Bein wieder hochzog, stürzten die Pulverschneewände links und rechts zusammen und die abbröckelnden Schneemassen begruben den Schneeschuh sofort wieder unter sich. Jeder Meter musste unendlich zäh und mühsam erarbeitet werden.
Tomtom spähte durch das Schneegetöse nach vorne und hielt nach dem nächsten Andreaskreuz Ausschau, der einzigen Orientierungshilfe in dem weißen Chaos. Das Kreuz vor ihm lugte nur mit der äußersten Spitze aus den Schneemassen hervor und war kaum zu erkennen. Der Blizzard war sichtlich bemüht alles unter einer lückenlosen Schneedecke zu begraben, um eine absolut weiße glatte Gleichförmigkeit herzustellen. So arbeitete sich die Gruppe - entlang der Andreaskreuze - Meter für Meter weiter vor. Stunde um Stunde.
Die Hütte lag geduckt hinter einem riesigen Schneeberg, der von dem Sturm zusammengetrieben worden war. TomTom erkannte Teile des Hauses erst, als er schon fast vorbeigelaufen war.
Freudig und glücklich steuerte er auf die windgeschützte Seite der Hütte zu, wo sich die Eingangstür befand. Nach und nach trudelten die anderen Guides ein. Alle zogen sofort ihre Schneeschuhe aus und trugen den Inhalt der Pulken ins Haus.
Im Vorraum der Hütte wurden zunächst die Schuhe sowie die Stulpen ausgezogen. Endlich konnten auch die schweren Rucksäcke abgelegt werden.
Auf Socken oder auf schnell aus dem Rucksack hervorgekramten Flip-Flops ging es dann durch eine weitere Tür in den Hauptteil der Schutzhütte. In der Mitte des Raumes stand ein langer, roh gezimmerter Holztisch mit zahlreichen Holzstühlen. Die Wände bestanden aus dicken, waagerecht aufgeschichteten, grob behauenen Holzstämmen. Auch die Dielenbretter waren aus ungehobelten Baumscheiben gefertigt. Durch die kleinen Fenster im Hauptraum kam kein Licht. Der Sturm hatte auf der windzugewandten Seite die Schneemassen vor das Haus als auch die Fenster gedrückt. Kein Tageslicht drang in den Raum. Lediglich durch ein kleines Fenster im hinteren Bereich, das auf der Leeseite lag, war schwaches Licht zu erkennen.
Der Raum war eiskalt und dunkel. Im Vergleich zum Schneesturm vor der Tür jedoch geradezu behaglich. Die Guides setzten ihre Stirnlampen auf und erledigten zügig die erforderlichen Arbeiten.
Links neben der Eingangstür lagerte ein großer Stapel mit Holzscheiten vor einem Kaminofen. Dahinter befand sich eine kleine Kochecke mit einem großen gusseisernen Herd. Diverse Töpfe, Tassen und Pfannen hingen an Holzzapfen an der Wand über der Kochstelle.
Von dem Hauptraum gingen zwei Schlafräume ab. Der Raum rechts neben der Eingangstür stellte quasi die Verlängerung vom Esstisch dar und wurde nur durch einen Vorhang abgeteilt. In der Kammer stand links ein Hochbett, von dem aus freie Sicht auf den Hauptraum bestand. Auf der rechten Seite des Raumes, verdeckt durch die Zwischenwand, standen ein Doppelbett und ein weiteres Hochbett. Auch in diesem Raum war es stockfinster.
Der zweite Schlafraum lag weiter entfernt im rückwärtigen Bereich der Hütte, ebenfalls nur durch einen Vorhang vom Hauptraum abgeteilt. Aus diesem Raum heraus sah man nur die Kochnische, während der große Aufenthaltsraum nicht einsehbar war.
Holger hatte in einem Eimer Schnee geholt, während Michael das Feuer im Kamin in Gang brachte. Die anderen schleppten ihre Sachen zu den Schlafplätzen und sortierten die Lebensmittel, die für die Zubereitung des Abendessens benötigt wurden. Allmählich zeigte die Glut im Ofen Wirkung. Nach und nach legte jeder eine Bekleidungsschicht ab, um die feuchte Kleidung anschließend zum Trocknen im Vorraum aufzuhängen.
Bei der Zubereitung des Abendessens half jeder mit. Alle hatte einen Bärenhunger. Jeder sehnten sich nach dem langen harten Tag nach einer warmen Mahlzeit. Die Teelichter auf dem Tisch tauchten zudem den Raum in ein romantisches Licht, bei dem das einfache Essen gleich nochmal so gut schmeckte. Nach der Mahlzeit wurden die Vorräte wieder verstaut und einige erledigten sofort den Abwasch. Am nächsten Morgen würde der Aufbruch wie immer sehr früh erfolgen. So schwer die Arbeit in diesem Moment auch fiel, würde es morgen früh die Abreise deutlich beschleunigen.
Alle saßen nach dem Essen völlig erschöpft um den Tisch herum und diskutierten das Tagesgeschehen. Insbesondere die Fähigkeit - trotz Blizzard - zu navigieren wurde vom Teamleiter TomTom nochmals detailliert erläutert. Er versuchte es zumindest. Die Konzentration ließ bei allen deutlich nach, jeder kämpfte gegen die immer stärker aufkommende Müdigkeit an.
Aber letztlich war es eine Ausbildungswoche und alle Guides mussten künftig in der Lage sein, ihre eigene Gästegruppe sicher durch die schwedische Winterlandschaft zu führen. Dafür war es erforderlich, den Schulungsteilnehmern in nur wenigen Tagen umfangreiches Wissen zu vermitteln über Ausrüstung, Verpflegung, Sicherheitsvorkehrungen, Navigieren, Erste-Hilfe-Maßnahmen und vieles andere mehr. TomTom merkte nach dem Navigationsexkurs, dass er heute keine weiteren Themen mehr besprechen konnte, die Aufmerksamkeit war schlichtweg dahin.
Zum Abschluss des Tages ließ Jonas einen Flachmann mit Grappa um den Tisch kreisen. Danach zogen sich aber bereits die ersten Guides laut gähnend in ihre Schlafsäcke zurück. Mit Guido, Benno, Michael, Bernd und Holger ging die komplette Belegschaft des zweiten Schlafzimmers zu Bett. Innerhalb kürzester Zeit wurden die Stirnlampen gelöscht und es kehrte Ruhe und Dunkelheit in den hinteren Bereich der Hütte ein.
„Ich leg‘ mich hin, ich bin völlig geschafft. Was ist mit euch?“, fragte Hein und erhob sich vom Tisch.
„Wollen wir noch einen kleinen Absacker trinken, was meint ihr?“, erwiderte Jonas und sah die verbliebenen Guides fragend an. Wohlwollendes Kopfnicken signalisierte einhellige Zustimmung. So machte sich Hein alleine auf den Weg in das vordere Schlafzimmer. Sekunden später hörten sie, wie er sich lautstark auf das rechte Hochbett in die obere Etage warf. Jonas ließ den Flachmann erneut eine Runde um den Tisch drehen. Alle nahmen einen kräftigen Schluck, froh und glücklich diesen stürmischen Tag heil überstanden zu haben.
Tomtom, der direkt neben Carmen saß, war nach weiteren Grappa-Runden sichtlich angetrunken. Mit glühendem Gesicht wandte er sich mitsamt seinem Stuhl