el toro - Micha Krämer - E-Book

el toro E-Book

Krämer Micha

4,8

Beschreibung

Nina Morettis vierter Fall. Ist es wirklich ein tragischer Unfall, bei dem der körperbehinderte Rentner Doktor Wilbert ums Leben kam? Warum beherbergte der Mann in seinem Keller ein Dutzend der gefährlichsten Giftschlangen der Welt? Und wo steckt die fehlende ägyptische Kobra? Kurz darauf wird im Untergrund der kleinen Siegstadt Betzdorf die künstlerisch in Szene gesetzte Leiche einer jungen Frau gefunden. Todesursache: Der Biss einer Kobra! Die in Spiegelschrift verfasste Signatur des Mörders "el toro" lässt die junge Kommissarin aufhorchen. Hat ihr Jugendfreund, der stadtbekannte Künstler Mario el toro, mehr mit den Morden zu tun als er vorgibt oder ist auch er Opfer einer tödlichen Intrige?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 405

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Titelseite

Impressum

Über den Autor

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epiliog

Zum Schluss bleibt mir nur, zu danken.

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits

folgende Bücher des Autoren erschienen:

Tod im Lokschuppen

Krähenblut

Tod im Elefantenklo

Über deine Höhen

Micha Krämer

el toro

Der Roman spielt hauptsächlich in einer allseits bekannten Region im Westerwald, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de.

© 2013 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Der Umschlag verwendet ein Motiv von shutterstock.com

bloody cross Ihnatovich Maryia 2013

eISBN: 978-3-8271-9851-8

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de

Über den Autor:

Micha Krämer wurde 1970 in Kausen im Westerwald geboren. 1989 zog es ihn nach Betzdorf, wo er es ganze 15 Jahre aushielt, bevor das Heimweh ihn zurück nach Kausen führte. 2009 veröffentlichte der gelernte Elektroniker kurz nacheinander die beiden Kinderbücher „Willi und das Grab des Drachentöters“ und „Willi und das verborgene Volk“. Der regionale Erfolg der beiden Bücher, die er eigentlich nur für seine beiden Söhne schrieb, war überwältigend und kam für ihn selbst total überraschend. Einmal Blut geleckt, musste im Jahre 2010 nun ein „richtiges Buch“ her. Im Juni d. J. erschien sein erster Roman für Erwachsene und zum Ende des Jahres 2010 sein erster Kriminalroman, der die Geschichte der jungen Kommissarin Nina Moretti erzählt. Neben seiner Familie, dem Beruf und dem Schreiben ist die Musik eine seiner größten Leidenschaften.

Mehr über Micha Krämer erfahren Sie auf www.micha-kraemer.de

Prolog

Samstag, 8. Juni 2013, 1:05 Uhr

Betzdorf/Sieg - Innenstadt

Obwohl sie sich nicht mehr bewegen konnte, arbeitete ihr Verstand noch immer auf Hochtouren. Sie fror! Doch das Zittern hörte bereits auf. Sie würde sterben. Sie würde hier jämmerlich zugrunde gehen und konnte nichts mehr dagegen tun. Panisch beobachtete sie, wie die dunkel gemusterte Schlange in eine durchsichtige Plastikbox gelegt und der Deckel verschlossen wurde. Was für eine Schlangenart das sein könnte, wusste sie nicht. Es war jetzt auch egal. Da bereits Sekunden nach dem Biss die Lähmung eintrat, musste es ein extrem giftiges Tier sein. Die Bissstelle an ihrem Hals pochte, aber es schmerzte nicht mehr. Die Gestalt vor ihr, die sie noch eben deutlich erkennen konnte und der sie so vertraut hatte, verschwand nun in einer Wand aus Nebel. Wie hatte sie sich so in einem Menschen täuschen können?

Sie hörte die vertraute Stimme an ihrem Ohr flüstern: „Jetzt wirst du erfahren, wie eine Königin stirbt. So wie du jetzt gerade stirbst, starb Kleopatra, nachdem Cäsar und Antonius sie fallen ließen und sie ihrem erbärmlichen Leben ein Ende setzen musste. Du brauchst nur noch ein wenig Geduld. Es wirkt sehr schnell. Gleich bist du erlöst. Dann wirst du der Teil von etwas viel Größerem sein.“

Ihre Augen flackerten, dann fielen sie zu. Alles um sie herum versank in Dunkelheit.

Kapitel 1

Samstag, 8. Juni 2013, 6:22 Uhr

nahe Betzdorf/Sieg – Steineroth

Am Ortsausgang des kleinen Dörfchens Steineroth trat Nina Moretti das Gaspedal ihres VW Käfer bis zum Anschlag durch. Der 34 PS-starke Boxermotor im Heck des kleinen, blauen Wagens brüllte auf. Obwohl es Sommer war, hingen über der Straße dicke Nebelschwaden, durch die die Sonne gelegentlich hindurchblinzelte.

Der Anruf war kurz vor sechs Uhr heute Morgen eingegangen. Unnatürlicher Todesfall in Gebhardshain. Ein Mann Anfang sechzig hätte sich das Genick gebrochen. Laut der Kollegen vor Ort war der Opa die Treppe hinuntergestürzt. Der Pflegedienst hatte ihn in der Frühe gefunden. Vermutlich handelte es sich um einen Routineeinsatz. Hinfahren, den Fall aufnehmen, Bericht schreiben und dann als Unfall abheften. Alltag einer Kriminalbeamtin auf dem Land.

Viele Leute glaubten tatsächlich, dass es bei der Kripo zuging wie im Fernseher bei Derrick und dem Alten. Dass die Kriminalkommissare den ganzen Tag damit zubrachten, Serientäter, Mörder und Banditen zu jagen. Weit gefehlt und statistisch gesehen totaler Quatsch. Betzdorf zum Beispiel besaß ungefähr zehntausend Einwohner. Würde es hier täglich einen Mord geben, wäre das für das Bevölkerungswachstum der Supergau. Immerhin müsste für jeden Mord ja auch noch einer in den Knast wandern. Das wären dann nach Adam Riese jeden Tag zwei Einwohner weniger. Man musste keinen Doktor in Mathematik besitzen, um sich auszurechnen, wo das mit der Zeit hinführen würde.

Nein, die Arbeit einer Kriminaloberkommissarin war bei Weitem nicht so aufregend, wie viele Bürger sich das dachten.

Nina gähnte und stierte vor sich in den Nebel. Dieser Opa hatte sich eine wirklich blöde Zeit für sein Ableben ausgesucht. Zwei, drei Stunden später wären wesentlich passender gewesen.

Heute war Samstag und Nina sollte um diese Zeit normalerweise noch friedlich schlummernd hinter Klaus in ihrem warmen Bett liegen. In ein, zwei Stunden stünde sie dann ganz langsam auf und würde gemeinsam mit ihm frühstücken.

Tja! Aber so war das halt schon mal, wenn man am Wochenende Bereitschaft hatte. Kein Ausschlafen! Kein Klaus! Kein Frühstück!

Sie schob eine Musikkassette in das Autoradio. Blechern schepperte AC/DC aus den Boxen. Highway to hell. Na, das passte ja.

Plötzlich registrierte sie vor sich eine Bewegung. Aus dem Nebel tauchte die Silhouette eines Rehbocks auf. Noch bevor sie reagieren konnte, gab es einen heftigen Schlag. Nina verriss das Lenkrad. Dann merkte sie, wie sich der Wagen zur Seite legte. Um sie herum knirschte und rumpelte es. Eine Speiche des Lenkrads schlug auf ihr Handgelenk. Sie wurde zur Seite gedrückt und klatschte mit dem Kopf an das Seitenfenster. Das Glas barst mit einem Schlag. Und schon spürte sie, wie sie in die Höhe gerissen wurde. Der Sicherheitsgurt schnitt schmerzhaft in ihre Brust. Schützend presste sie die Hände vors Gesicht. Keine Sekunde zu spät. Sie fühlte die Glassplitter auf ihren Handrücken prasseln. Dann, für den Bruchteil einer Sekunde, presste die Schwerkraft sie zurück in den Sitz, um sie anschließend abermals zur Seite zu reißen. Mit einem Mal schien es merkwürdig still. Zitternd nahm sie die Hände vom Gesicht und sah sich um. Die Frontscheibe war verschwunden. Sie befand sich in einem Kornfeld. Feuchte Luft wehte in das Wageninnere. Unbeholfen tastete sie nach dem Verschluss des Sicherheitsgurtes und löste ihn. Von irgendwo her hörte sie jemanden rufen.

„Hallo Sie! Hallo! Ist Ihnen etwas passiert?“

Dann kam eine Gestalt auf sie zugelaufen. Ein junger Mann in Motorradkleidung stürmte herbei und riss die Tür des Käfers auf.

„Ist Ihnen etwas passiert?“

Nina wusste nicht, ob ihr etwas passiert war. Vorsichtig setzte sie einen Fuß nach draußen. Das schwarze Trittbrett des Käfers war nach unten gebogen. Dann stand sie auf ihren Beinen. Noch schwankend, aber sie stand. Sie schaute an sich herunter. Wie es schien, war noch alles an ihr dran. Sie ging einige Schritte und ließ sich dann auf den Boden sinken. Ihr Blick fiel auf Maggiolino. Der Käfer war nur noch ein Haufen Schrott. Fassungslos starrte sie das Autowrack an.

Gut, dass ihr Papa das nicht mehr erleben musste! Der kleine blaue Wagen war das erste und einzige Auto des italienischen Gastarbeiters gewesen. Liebevoll hatte er ihn immer Maggiolino genannt, was übersetzt so viel wie Maikäfer bedeutet. Er gehörte seit über 40 Jahren zur Familie Moretti. Vor fast drei Jahren hatten Nina und ihre Mama die Urne ihres Papas damit sogar bis nach Hause nach Italien gebracht. Aber dies schien nun das Ende des blauen Käfers zu sein. Dafür brauchte sie keinen Experten. Das Dach war eingedrückt. Ebenso die vordere Haube und sämtliche Kotflügel. Das Vorderrad stand merkwürdig schräg ab. Nina begann zu schluchzen.

„Da haben Sie aber noch mal verdammtes Glück gehabt“, erklärte der junge Mann und ging ehrfürchtig um den zerstörten Wagen herum. „Sie könnten tot sein!“

Er hatte recht. Sie schniefte und wischte sich zitternd die Tränen mit dem Ärmel ihrer Jeansjacke aus dem Gesicht. Mehrmals holte sie tief Luft. Sie musste die Kollegen anrufen. Den Unfall melden und Bescheid geben, dass sie nicht nach Gebhardshain kommen konnte. Es sei denn, jemand würde sie abholen. Für Maggiolino war die Fahrt hier zu Ende.

Immer noch wackelig auf den Beinen, erhob sie sich und ging zum Wagen, um nach ihrer Handtasche zu suchen, in der sich ihr Handy befand. Zu ihrer Verwunderung lag diese immer noch im Fußraum des Beifahrersitzes, trotz der beiden Überschläge. Zumindest glaubte sie sich zu erinnern, dass es zwei waren. Ja, sie hatte wahrlich Glück gehabt. Während sie Polizeihauptmeister Jürgen Wacker anrief, ging sie hinauf zur Straße.

„Hallo Jürgen, hier ist Nina“, meldete sie sich, als der Kollege endlich ranging.

„Du, ich kann nicht kommen. Ich hatte einen Autounfall.“

„Wie, Unfall? Alles okay mit dir?“

Mit knappen Worten erklärte sie ihm, was vorgefallen war und beendete dann das Gespräch. Jürgen hatte sich nicht davon abbringen lassen, sofort zu ihr zu kommen und im Grunde war sie froh darüber.

Zum Glück lichtete sich der Nebel zunehmend.

Am Straßenrand parkte ein Motorrad. Nina blickte zurück in das Kornfeld, wo der junge Mann noch immer neben Maggiolino stand. Wie es schien, machte er gerade Fotos mit seinem Mobiltelefon. Vermutlich würden die Bilder spätestens in zehn Minuten bei Twitter, Facebook und Co. im Internet zu sehen sein.

Eine Bewegung im Straßengraben erregte ihre Aufmerksamkeit: Der Rehbock! Sie trat näher und betrachtete ihn. Er lebte noch. Immer wieder versuchte er den Kopf zu heben. Die Vorderläufe des Tieres standen unnatürlich vom Körper ab. Nina spürte den Kloß in ihrem Hals. Heute war wirklich nicht ihr Tag. Entschlossen zog sie ihre Dienstpistole aus der Handtasche, entsicherte sie, zielte und drückte ab.

*

Irgendwo klingelte ein Telefon. Thomas Kübler blinzelte. Die Leuchtziffern des Radioweckers zeigten kurz vor halb acht. Wer zum Kuckuck rief denn samstagmorgens um diese Zeit bei ihnen an? Heute war sein freier Tag.

„Bleib hier“, hörte er Alexandra verschlafen hinter sich murmeln. „Das hört gleich wieder auf.“

Sie hatte vermutlich recht. Gerade als er sich entschloss, das nervtötende Geräusch zu ignorieren und sich seiner Frau zuzuwenden, mischte sich das Schreien von Linus in das Klingeln. Na toll, jetzt war der Kurze auch noch wach. Thomas stöhnte, schwang sich aus dem Bett und tapste unbeholfen aus dem Schlafzimmer in den Flur. Das Klingeln wurde lauter, und auch Linus schrie noch kräftiger. Zielsicher steuerte Thomas ins Kinderzimmer, wo der Zweijährige gerade damit beschäftigt war, über die Gitter seines Bettchens zu klettern. Thomas hechtete nach vorne und schnappte sich den Ausreißer. Sofort verstummte das Schreien und der Kleine grinste ihn frech an.

„Morgen du Gauner, wollen wir Zwei mal nachsehen, wer da nervt?“

Linus nickte, zeigte dann aber auf seinen Schnuller, der mitten im Zimmer auf dem Fußboden lag. Das Telefon klingelte weiter. Da besaß aber einer Ausdauer! Thomas bückte sich, griff sich den Schnuller und ging dann mit Linus im Arm ins Arbeitszimmer.

*

Alexandra lag im Bett und lauschte. Das Telefonat, das Thomas nebenan im Arbeitszimmer führte, schien dienstlicher Natur. Dies war einer der Nachteile, wenn man mit einem Kriminalkommissar verheiratet war. So richtig Feierabend gab es bei Thomas nie. Seine Arbeit war irgendwie immer präsent, auch nach Dienstschluss. Sie merkte es ihm an, wenn er abends nach Hause kam und sich dann bis in die Nacht hinein noch Gedanken über die Geschehnisse des Tages machte. Im Normalfall erzählte er ihr alles. Sie hatten nie Geheimnisse voreinander. Und das war auch gut so. Als sie Thomas vor fast drei Jahren zum ersten Mal begegnete, war sie Zeugin in einem Mordfall und er einer der ermittelnden Beamten. Damals ging es ihr schlecht. Sehr schlecht. Gerade einmal sechzehn und schwanger, lebte sie auf der Straße. Ihr Glück war es, dass Nina damals Alexandras Exfreund Ratte, einen Punk aus Berlin, beim Klauen erwischte, ihn einbuchtete und sie mit nach Hause nahm. Inge und Nina kümmerten sich damals liebevoll um sie. Und irgendwie war Inge für sie wie eine zweite Mutter und Nina wie eine große Schwester. Von Ratte hörte sie nie wieder und war auch nicht bös‘ drum. Im Nachhinein betrachtet, war er ein totaler Versager gewesen.

Alex streckte sich, ihr Blick fiel auf den Ring an ihrem Finger. Seit drei Monaten war sie mit Thomas verheiratet, und wenn alles gut ging, bekam Linus in drei Monaten ein Schwesterchen. Sie hörte, wie Thomas das Gespräch im Arbeitszimmer beendete. Sekunden später kam er zurück. Über seinem Kopf schwebte mit ausgestreckten Armen Linus. Alexandra kannte das. Die beiden spielten Flugzeug. Linus gickelte. Dann landete er neben ihr im Bett. Sie merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.

„Musst du zur Arbeit?“, fragte sie knapp. Thomas verzog das Gesicht und nickte.

Alexandra überlegte kurz.

„Nina hat doch heute Bereitschaft!“

Ein Schatten huschte über sein Gesicht.

„Ist was mit ihr?“, hakte sie sofort nach.

Thomas schüttelte den Kopf.

„Nein, wieso?“

Er stand auf und verschwand im begehbaren Kleiderschrank. Thomas war ein wirklich lieber Kerl, ein toller Ehemann und ein super Vater. Aber auch ein grottenschlechter Lügner.

„Was ist mit Nina? Was ist los?“, rief sie ihm hinterher.

Thomas kam zurück. Er trug ein frisches T-Shirt und eine Jeans. Wenn er noch nicht mal duschen ging, schien er es wirklich eilig zu haben.

„Es ist nichts Wildes“, erklärte er beruhigend. „Nina hatte einen kleinen Unfall mit dem Wagen. Ihr ist ein Reh vors Auto gelaufen. Ihr selbst ist aber nichts zugestoßen. Sie muss sich halt jetzt um alles kümmern. Ich spring’ nur eben schnell für sie ein.“

Alexandra war beruhigt.

„Und wo musst du jetzt hin?“

Er setzte sich auf die Bettkante, strich ihr über den gewölbten Bauch und küsste sie.

„Nach Betzdorf. Am Siegufer unter dem Busbahnhof haben sie eine Leiche gefunden.“

*

„Thomas! So was hast du noch nicht gesehen“, erklärte Torsten Liebig, als Thomas aus seinem Wagen stieg.

Es war dunkel hier unten auf dem überdachten Parkplatz am Siegufer. Einzig durch zwei große viereckige Aussparungen in der Betondecke fielen Sonnenstrahlen hinab und ließen das Wasser der Sieg wunderschön grün-blau leuchten. Über ihren Köpfen befand sich der Konrad-Adenauer-Platz mit dem Busbahnhof. Die Meinungen der Bürger über das Bauwerk, das die Sieg an dieser Stelle fast hundertfünfzig Meter überspannte, gingen weit auseinander. Die einen fanden es praktisch, die anderen schlicht unmöglich und sahen die Stadt ihres Flusses beraubt. Im Grunde sogar zweier Flüsse! Denn hier, verborgen vor aller Augen, mündete auch noch das Flüsschen Heller in die größere Sieg.

Thomas schlüpfte unter der Polizeiabsperrung hindurch und folgte Torsten zu den Kollegen in weißen Papieranzügen, fast am Ende des unterirdischen Parkplatzes, genau gegenüber der Hellermündung. Bis ins Freie, wo sich lediglich ein Wendehammer befand, waren es keine fünfzig Meter mehr. Scheinwerfer erhellten die Szenerie an der Betonwand.

„Was zum Teufel ist das?“, flüsterte er mehr zu sich selbst und sah sich das Kunstwerk an der Wand an.

Jemand hatte gut ein Dutzend Kreuze auf den Beton gesprüht. An einigen hing angedeutet eine Gestalt, bei der es sich wohl um den gekreuzigten Jesus handelte.

Im Grunde mochte er Graffitikunst. Natürlich nur, wenn sie ordentlich ausgeführt war. Dazu gehörten sicher keine blöden Parolen, Schmierereien oder Hakenkreuze, die irgendwelche Idioten an Eisenbahnzüge oder Häuserwände sprühten.

Alexandra beherrschte das mit dem Sprühen auch richtig gut. Im vergangenen Winter hatte sie mit einer ganzen Kiste Farbspraydosen eine Wand ihres gemeinsamen Wohnzimmers umgestaltet. Obwohl Thomas erst skeptisch war, begeisterte ihn das fertige Graffiti seitdem jeden Tag aufs Neue. Es war eine Karikatur von ihm, Alex und Linus mit überdimensionalen, recht kantigen Köpfen. Gelegentlich nahm sie seitdem sogar Aufträge von Freunden und Bekannten entgegen und verschönerte dann deren Wände oder Garagentore.

Aber das, was er nun hier im Licht der Scheinwerfer wahrnahm, war etwas ganz anderes. Zwar schien auch dieser Künstler sein Handwerk zu verstehen. Die Präzision, mit der er arbeitete, schien wirklich außergewöhnlich. Aber der Rest hatte in Küblers Augen nichts mehr mit Kunst zu tun. Oder doch? Inmitten der gemalten Kreuze befand sich ein echtes hölzernes Kruzifix, daran hing eine pink angemalte, leblose Gestalt. Auf den ersten Blick wirkte das Ganze wie ein gekreuzigter Plastikalien. Erst auf den zweiten Blick wurde ihm bewusst, dass es sich dabei um eine Frau handelte. Sie war nackt, wirkte aber im Grunde gar nicht so, da ihr gesamter Körper mit Farbe dick überzogen war. Hände und Füße schimmerten Lila. Das Gesicht wurde von einer ebenfalls pinken Alienmaske mit riesigen schwarzen Augen verdeckt. Wie in Trance hob Thomas die Kamera und drückte ab. Und obwohl ihn der Anblick, der sich ihm gerade bot, abstieß, faszinierte ihn die Inszenierung gleichzeitig. Ein Gefühl, für das er sich schämte. An den Hand- und Fußgelenken der Toten befanden sich sehr auffällig angebrachte, strahlend weiße Stricke, mit denen ihr Körper an das Kreuz gebunden war. Trotzdem wirkte ihr Körper ungewöhnlich schlaff und hatte rein gar nichts mit den Bildern des gekreuzigten Christus, die man aus den Darstellungen in der Kirche kannte, gemein.

„Wissen wir, wer die Tote ist?“, fragte er Torsten Liebig.

„Nein. Keine Ahnung. Wir sind noch ganz am Anfang.“

Thomas trat vorsichtig näher. Es roch noch immer ein wenig nach Lösungsmittel.

„Die Farbe scheint frisch zu sein“, stellte er fest.

Dann ging er näher an die Leiche heran. Sie war nicht nur pink angemalt. Nein! So einfach hatte es sich der Täter nicht gemacht. Jede Falte des vermeintlich aufgemalten Alienkörpers war mit Schwarz nachgezeichnet und schattiert worden, um den dreidimensionalen Eindruck noch zu verstärken. Thomas hatte diese Art des Bodypainting schon mehrfach im Fernseher oder auf Bildern gesehen. Jedoch noch nie live und schon gar nicht so nah. Die Bemalung war verblüffend. Allerdings funktionierte der Effekt auch nur auf einige Meter Entfernung. Wenn man wie er mit dem Auge nur wenige Zentimeter von der bemalten Haut entfernt stand, erkannte man deutlich, dass alles nur Fiktion war. Wer tat so etwas? Welcher Künstler war so irre und tötete für seine Kunst einen Menschen?

*

Ninas Rücken, ihr Kopf, ihr Nacken, alles schmerzte. Unweigerlich musste sie an eine Szene aus ihrer Kindheit denken.

Sie war gerade mal fünf oder sechs gewesen. Da entschied ihre Mama, dass Ninas Lieblingsteddy Paulchen dringend gewaschen werden müsste. Kurzerhand war das arme Stoffvieh zusammen mit anderen schmutzigen Klamotten in der Waschmaschine gelandet. Nina hatte fast eine Stunde schreiend vor der Maschine gesessen und mitangesehen, wie Paulchen sich immer und immer wieder hinter dem kleinen Bullauge der Maschine überschlug. Vermutlich fühlte sich der arme Bär damals genau wie sie heute Morgen. Zum Glück würde man sie nicht noch an den Ohren zum Trocknen aufhängen.

Sie stieg aus dem Streifenwagen und folgte Polizeihauptmeister Jürgen Wacker zu einem Bungalow im Stil der späten siebziger Jahre auf der anderen Straßenseite. Der Vorgarten wirkte ein wenig verwildert, obwohl der Rasen erst vor Kurzem gemäht worden sein musste. Zwischen den Waschbetonplatten der Einfahrt wucherte Unkraut.

„Und du bist sicher, dass ich dich nicht nach Hause fahren soll?“, fragte Jürgen sie jetzt zum dritten Mal.

Nina ignorierte ihn. Sie würde zu diesem Thema nichts mehr sagen. Zwei Neins waren genug.

In der Auffahrt des Bungalows stand ein Leichenwagen. Auf einer kleinen Mauer neben dem Gebäude hockten zwei Herren in dunkler Kleidung. Der eine der beiden, ein Kleiner mit lustig gezwirbeltem Schnurrbart, stand auf, legte den Kopf schief und sah gespielt auffällig auf seine Armbanduhr.

„Aha! Wird ja auch Zeit, Frau Kommissar. Ich habe schließlich noch anderes zu tun.“

Nina ging an ihm vorbei und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.

„Keine Panik, Henning, ich glaube nicht, dass deine Kunden dir weglaufen.“

„Haha, sehr witzig“, entgegnete der Leichenbestatter und folgte ihr ins Haus.

Ihr Blick fiel auf das Klingelschild aus Messing.

„Dr. Hugo Wilbert“, las sie laut vor.

„Sach ma, Jürgen, weißt du, was der Herr Wilbert für ein Doktor war?“

„Keine Ahnung, Nina. Ist das wichtig?“

Sie winkte ab.

„Nee, hätte mich halt nur interessiert. Wo ist der Herr Doktor denn?“

Wacker deutete auf eine angelehnte Tür im hinteren Teil des Flurs.

„Der liegt noch im Keller.“

Als Nina die Kellertür aufzog, schlug ihr sofort ein strenger Geruch entgegen. Angewidert verzog sie das Gesicht.

„Puh! Irgendwie riecht es hier komisch“, stellte sie fest und sah die steile, schmale Treppe hinunter.

Am Treppensockel erkannte sie im Schein einer schwach leuchtenden Glühbirne die leblose Gestalt eines Mannes. Langsam stieg sie die Stufen hinab. Der Treppenaufgang war eine Fehlkonstruktion. Das erkannte sie auch ohne die geringste Ahnung von Architektur zu haben. Er war viel zu schmal, besaß kein Geländer und die Stufen waren noch nicht einmal tief genug für ihre Turnschuhe in Größe 39. Kein Wunder, dass der alte Mann sich das Genick gebrochen hatte. Die Sache hier war auf den ersten Blick schon mehr als eindeutig. Vorsichtig stieg sie über den Toten, dessen rechter Fuß noch immer auf der untersten Treppenstufe lag. Sein Kopf war unnatürlich verdreht.

Der Geruch, der Nina eben schon in die Nase gestiegen war, wurde hier unten noch stärker.

„Was hat denn der Arzt jetzt genau gesagt?“, fragte sie Jürgen, der im oberen Teil der Kellertreppe auf einer Stufe hockte und ihr zusah.

„Laut Doktor Wolf hat er sich das Genick gebrochen.“

Nina verdrehte die Augen.

„Du wiederholst dich, Jürgen. Hat Wolf sonst noch irgendwas festgestellt? Zum Beispiel: Warum er gefallen ist? Ist er gestolpert? Hatte er einen Schwächeanfall? Herzinfarkt?“

Jürgen zuckte mit den Schultern.

„Wolf meint, er sei gestolpert. Anzeichen für Infarkt oder Ähnliches kann er so nicht erkennen. Dr. Wilbert war wohl nicht mehr so gut zu Fuß. Konnte sich auch selbst nicht mehr richtig versorgen. Deshalb kam ja jeden Morgen der Pflegedienst und hat ihm bei der Morgentoilette geholfen.“

„Hat Wolf Angaben dazu gemacht, wie lange der Mann hier schon liegt?“, wollte sie wissen.

„Er sagte, er müsse gestern gestürzt sein, die Leichenstarre wäre schon wieder verschwunden.“

Nina stöhnte. Der Fall war klar. Der Opa wollte wohl abends noch einmal in den Keller gehen. Auf der schmalen, viel zu steilen Treppe strauchelte er, stürzte und brach sich den Hals. Trotzdem wüsste sie gerne noch, woher der Gestank hier im Keller rührte. Sie ging einen schmalen Gang entlang. Der erste Raum, den sie betrat, war der Heizungskeller. Hier roch es lediglich nach Heizöl. In dem großen Kellerraum am Ende des Flures wurde sie fündig. Als sie das Licht anschaltete, war sie von dem, was sie sah, mehr als erstaunt: Der Raum war bis unter die Decke komplett weiß gekachelt. Ein halbes Dutzend Neonröhren verbreiteten helles Licht. Doch das Merkwürdigste waren die großen Glaskäfige, die die hintere Wand vollständig bedeckten. Immer drei übereinander und fünf in einer Reihe. Nina ging näher heran und sah durch eine der Scheiben.

Der Boden des Terrariums war mit Sägespänen ausgepolstert. Darin tummelten sich an die zwanzig weiße Mäuse um einen leeren Futternapf. Hinter der Scheibe daneben hing eine Schlange an einem dicken Ast, der vom Boden aus quer durch das Gehege lief. Ein riesiges Tier.

Nina hasste Schlangen. Schon immer. Sie konnte nicht verstehen, was Leute daran fanden, sich so etwas als Haustier zu halten. Hund, Katze, Hamster, das war alles okay. Aber eine Schlange ging gar nicht. Sie sah auf ein kleines Papierschildchen, auf dem die Daten des Tieres vermerkt waren. Das Vieh besaß sogar einen Namen.

„Dendroaspis polylepis“, las sie langsam.

Wer, um Himmels willen, gab einem Tier einen solch bescheuerten Namen?

„Wow. Das ist ja der absolute Wahnsinn!“, hörte sie Jürgen hinter sich sagen.

Nina drehte sich langsam zu ihm um. Schnelle Bewegungen lagen ihren lädierten Knochen heute Morgen überhaupt nicht.

„Ekliges Geviech“, sagte sie nur und sah direkt an Jürgens begeistertem Blick, dass er ihre Meinung nicht teilte.

Sie nahm ihr Handy, öffnete den Internetbrowser und gab den Namen der Schlange in einer Suchmaschine ein.

Es dauerte nur wenige Sekunden. Sie landete direkt bei Wikipedia. Was sie dort las, gefiel ihr ganz und gar nicht.

„Was meinst du, was das für ein Tier ist?“, fragte sie Jürgen, der mit seiner Nase nun fast an der Scheibe klebte.

„Ich vermute, eine Schlange“, erklärte der todernst.

„Das ist eine schwarze Mamba. Die giftigste Schlange Afrikas.“

Wacker zuckte erschrocken zurück.

„Die sieht gar nicht so gefährlich aus.“ Nina bückte sich und sah in das Terrarium darunter. Auch hier hing eine Schlange an einem Ast. Im Gegensatz zur anderen war sie jedoch giftgrün. Auch diesmal gab sie den Namen auf dem Schildchen in die Suchmaschine ein. Wie bereits anhand der Farbe vermutet, handelte es sich um eine grüne Mamba.

„Was ist denn jetzt?“, hörte sie den Leichenbestatter ungeduldig rufen.

„Können wir ihn mitnehmen?“

„Ja, Henning. Alles klar, ihr könnt ihn einladen!“, schrie sie zurück und merkte sogleich, wie ihr Kopf erneut schmerzte.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Jürgen.

Nina hob die Schultern. „Vielleicht ein Tierheim anrufen?“

Jürgen tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe.

„Die halten uns für bekloppt, wenn wir denen mit den Schlangen ankommen.“

Nina sah in die anderen Glaskästen und zählte durch: weitere elf Schlangen befanden sich darin. Alle waren laut Internet giftig.

Eine von ihnen, ein unscheinbares Tier mit dem seltsamen Namen ,Oxyuranus microlepidotus‘ war der Spitzenreiter an Giftigkeit: es handelte sich um einen Australischen Inlandtaipan, die giftigste Schlange der Welt.

Laut Wikipedia reichte das Gift eines Bisses aus, um theoretisch bis zu zweihundertfünfzig erwachsene Menschen oder hundertfünfzigtausend Ratten zu töten.

Ein weiterer Käfig war, bis auf eine Hülle aus Schlangenhaut, leer. Die ,Ägyptische Kobra‘, die hier einmal wohnte, war vermutlich schon gestorben. Diese Schlange war auch bei Weitem nicht so giftig wie einige der anderen. Das Gift eines ihrer Bisse reichte lediglich aus, um bis zu zehn erwachsene Menschen zu töten!

Kapitel 2

Samstag, 8. Juni 2013, 10:30 Uhr

Landstraße zwischen Elben und Steineroth

Nina fuhr mit dem Streifenwagen an der Stelle vorbei, an der sie sich morgens mit Maggiolino überschlagen hatte. Außer der Bresche der Verwüstung, die der kleine Käfer in das Kornfeld geschlagen hatte, war nichts mehr zu erkennen. Der Verlust des Wagens tat ihr weh. Sehr weh. Zum Glück war sie nicht mehr dabei gewesen, als Maggiolino vom Kran des Abschleppwagens verladen wurde. Der Mitarbeiter des Abschleppunternehmens hielt es für ausgeschlossen, dass Maggiolino jemals repariert werden könnte. „Das lohnt nicht, gute Frau. Das kann kein Mensch bezahlen. Der ist krumm wie ein Flitzebogen“, meinte er, und Nina war sich sicher, dass sie das gar nicht so genau wissen wollte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!