Eldos Box - T. Bienia - E-Book

Eldos Box E-Book

T. Bienia

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Beschreibung

Sommer, Freiheit und ein Konzertbesuch mit ihrer besten Freundin: Gittis Ferien versprechen die lustigste und beste Zeit seit dem Tod ihres Vaters zu werden. Dann verschwindet ihre Mutter Doro spurlos. Eine vermummte Person greift sie und ihren Bruder an. Gittis Mutter war einem Geheimnis auf der Spur. Und es gibt nur einen Weg, damit Doro überlebt: Gitti muss das Geheimnis lösen, bevor andere ihr zuvorkommen.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Eldos Box

Irgendwo ist alles

Roman

T. Bienia

Impressum:

Copyright © 2023 by Thilo Bienia

Covergestaltung: Thilo Bienia

Buchsatz: Thilo Bienia (Adobe InDesign)

Verlag: Thilo Bienia

Konradin-Kreutzer-Str. 8

88299 Leutkirch i. A.

[email protected]

ISBN (ebook): 9783759218537

Alle Rechte vorbehalten.

1 Das Ende der Ananas

Aus der Höhle drang die Stimme meines Bruders. Eigentlich fiel er in den Sommerferien erst aus dem Bett, wenn das Mittagessen auf dem Herd kalt und trocken geworden war und die ersten Fliegen anlockte. Die Tatsache, dass ich ihn alleine daheim zurückgelassen hatte, schien schon auszureichen, um ihn in den Überlebensmodus zu versetzen. Wenigstens war Jakob nur durch das Funkgerät zu hören. So blieb mir auch der Geruch nach alten Socken erspart, den er durch sein zielloses Herumlatschen im Haus verbreitete, sobald er aufgestanden war. Das machte er so lange, bis er wie zufällig in der Küche landete. Dort stopfte er sich dann alles in den Mund, was nicht weglief und irgendwie nach Nahrung aussah. Oder er landete im Bad, das man übrigens – Achtung, Zaubertrick – abschließen konnte.

Verdammt.

Manche Erinnerungen an Jakob in Dusche, Wanne, Küche oder auf dem Klo wollte ich am liebsten wie eine Filmrolle aus meinem Kopf ziehen und mit einem irren Lachen in einen Schmelzofen werfen. »Nimm das, du komische Situation in meinem Leben!«

Der Gedanke brachte mich auf die Idee, eine opernreife Gesangseinlage anzustimmen – in schiefem, plärrendem Ton und Fantasiesprache. Das würde auch die letzten von Jakobs Geduldsfäden kappen und dafür sorgen, dass er mich endlich in Ruhe lässt. Seit drei Tagen dröhnten seine Fragen in Dauerschleife aus dem Funkgerät: »Wo bist du?« »Was machst du?« »Warum antwortest du nicht?«

Als ich losträllern wollte, glaubte ich durch das Funkgerät zu hören, wie er sich irgendwo kratzt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er sich mit einem vertrockneten Käsebrötchen oder so unter die Dusche stellt und aufhört, mir auf die Nerven zu gehen. Also wartete ich ab.

Seit gestern Morgen hatte ich ihm nicht mehr geantwortet. Seiner Ansicht nach waren nämlich Rülpsen und das Imitieren von Tierstimmen keine Nachweise eines Lebenszeichens. Was ja Schwachsinn war, wenn er wusste, dass ich es war, der hier blökte, gackerte und gurrte und nicht der halbe Zoo, der sich in den Wald verirrt hatte. Andererseits wollte ich ihn auch nicht komplett ignorieren und das Funkgerät abschalten. Trotz allem fühlte es sich gut an, hier draußen eine vertraute Stimme zu hören. Außerdem wollte ich verhindern, dass Jakob vor lauter Dusseligkeit auf die Idee kommt, Ma anzurufen. Die nimmt mir dann meine Ausrüstung weg, dachte ich, sodass ich mir irgendwo ein paar Sachen ausleihen muss. Und ich war überzeugt, wenn Ma auch das erfährt, bekommt sie eine von ihren existenziellen Krisen, in denen sie mir, sich selbst und dem Universum vorwirft, alles falsch gemacht zu haben. Erfahrungsgemäß dauerte es etwa zehn Tage, einige Zitronenkuchen und ein Wochenende auf der Skipiste, um ihre Welt vor der totalen Zerstörung zu bewahren. In dem Fall müsste ich also nur eine Piste auftreiben, die man im August befahren kann und siehe da: Problem gelöst.

»Gitti! Geh endlich ans Funkgerät!«

»Sekunde. Muss nachdenken.«

»Scheiße, du machst mich irre!«

Ich stocherte zufrieden mit einem Stock in der Asche meiner Feuerstelle. Sie war so gut wie erloschen und strahlte kaum noch Wärme ab. Trotzdem setzte ich mich davor, legte den Zeichenblock auf meinen Schoß und malte an meinem Bild weiter. In sechs Tagen war die Ausstellung meiner Kunstschule, und das Bild, das Frau Sammerlander dafür von mir nehmen wollte, kam mir immer belangloser vor. Zu der Veranstaltung hatten sich ein paar echt abgefahrene Künstler angemeldet – und Johannes Zentner. Und je länger ich darüber nachdachte, umso weniger glaubte ich daran, dass den Zentner mein Bild interessieren würde. Also nicht mehr als das Gekrakel an den Wänden einer öffentlichen Toilette. Aber das, was ich jetzt gemalt hatte, war anders. Ich wusste, dass ich dafür aus dem Haus gehen musste. Dorthin, wo mir tagelang niemand über die Füße latschte und wo ich die Stimmen anderer einfach abschalten konnte, wenn ich wollte. Das Bild zeigte ein Waldstück mit verkohlten Baumstümpfen, im Hintergrund die Schemen von schwarzen, zerfallenen Häusern und davor ein letzter grüner Fleck lebender Grasbüschel und Blumen. Durch eine schmutzige, rissige Fensterscheibe sah der Betrachter des Bildes einen umgestürzten Baum, der eine kleine gebogene Steinbrücke zerschlagen hatte. Die Rinde war von Moos und Pilzen bedeckt. Ein dürrer, grauer Fuchs stand auf dem Baumstamm und streckte seine Schnauze in eine Holzspalte, in der es von Käfern und Würmern wimmelte.

Ich schaute das Bild eine Weile an und fragte mich, ob ich ein verdammtes Genie war, eine Göttin der Malerei, die ab jetzt mit Ganzkörpermaske herumlaufen muss, wenn sie noch ein bisschen Privatleben genießen will. Andererseits könnte dieses Endzeit-Motiv auch viel zu abgegriffen sein. Ich überlegte hin und her und war kurz davor, mich zu entscheiden, dass das Bild eventuell …

»Okay, ich habe lange genug gewartet«, sagte Jakob. »Wo zum Teufel bist du!?«

Ich stöhnte genervt, packte meinen Zeichenblock in eine schmale, lange Plastikbox und steckte ihn in meinen Rucksack zurück. Dann sammelte ich meine Klamotten auf, band meine Hängematte von den Bäumen ab und zog meinen Klettergurt an. In meinem Rucksack wartete noch eine Dose Ananas auf mich, und vor mir lag ein zweistündiger Fußmarsch bis zu Ellie. Der Tag hatte also alles, um super zu werden. Vorausgesetzt, dass mein Bruder keine kalten Füße bekommt.

»Wieso haben wir keine Eier mehr?«, fragte er, und ich hörte, wie er den Kühlschrank öffnete und darin herumwühlte. »Da ist nur noch ’ne Packung Magerquark. Rote-Bete-Saft. Und Auberginencreme. Boah, ist das abartig.«

Ich steckte mir eine der Stachelbeeren in den Mund, die ich gestern gesammelt hatte, und ließ sie zwischen meinen Zähnen zerplatzen.

»Ma wollte gestern zurückkommen«, sagte er. »Aber sie antwortet nicht. Scheint ja genetisch zu sein. Keine Ahnung, vielleicht bin ich in den letzten Tagen auch zu ’nem Geist geworden. Hat mich Frau Triberg nach dem Abi mit ihrem Lateinwörterbuch erschlagen, weil sie es nicht erträgt, dass ich bestanden habe, diese Schnepfe, und unsere Eier gemopst. Könnte sein. Weiß ich aber nicht. Weil mir verdammt nochmal keiner antwortet!«

»Mann Jakob, Ma wollte nächste Woche zurückkommen, also reg dich ab.«

»Nein, am Dritten, und der war gestern. Sie hat es diesmal sogar in ihren Kalender eingetragen.«

»Okay, dann kaufe besser frisches Brot und Honig und so ein, bevor sie heimkommt. Oder schieß ein paar Hühner von den Nachbarn.«

»Nachbarn, ja? Witzig. Seit wann züchten die Eichhörnchen hier Hühner.«

»Ich muss dann weitergehen, wenn du verstehst. In Ruhe. Ohne deinen Gedankensalat in meinem Ohr.«

»Sag mir wenigstens, wo du bist.«

Ich schnippte mit den Fingern einen Käfer von der Stachelbeere, die ich gerade essen wollte, und schob sie mir in den Mund. »Drauschen.«

»Was soll das Genuschel? Hast du dir jetzt spontan die Zähne ausgeschlagen?«

Ich schmatzte so laut ich konnte ins Funkgerät.

»Hör mal auf zu futtern. Das …« Er stockte. »Du isst gerade keine Eier oder?«

»In drei bis sechs Tagen sage ich’s dir vielleicht. Dann bin ich zurück. Bis dahin kannst du ja im Internet nachschauen, wie man einkauft.«

»In drei bis sechs Tagen!?«, schrie er.

»Je nachdem wie lange Ma sich verspätet. Du kriegst das schon hin. Du weißt ja noch, wie man einen Computer anmacht oder?«

»Pass mal auf, ich spiele übermorgen mit Mats und Igo im Bollwerk, und wir werden die Hütte rocken. Egal, was bis dahin passiert, ich werde dort hingehen, und wenn du dir die Beine gebrochen hast.«

»Deine Laune ist ja furchtbar, da solltest du echt dran arbeiten.«

Ich stieg auf das Dach des Höhleneingangs und blickte mit dem Fernglas über ein Meer aus Baumkronen hinweg.

»Wenn Ma daheim aufkreuzt, sag ihr einfach, ich bin bei Lotte. So wie die letzten Male auch«, sagte ich. »Dann gebe ich dir Bescheid, wo ich wirklich bin und du holst mich ab oder ich gehe zu Fuß. Egal. Aber am Ende sind alle zufrieden.«

»Du kannst nicht immer wieder abhauen, Gitti. Irgendwann stößt dir was zu, und keiner ist da, um dir zu helfen.«

»Ist ja nicht meine Schuld, dass du keinen Bock mehr hast mitzugehen. Weil alles so kalt und piksig ist und weil’s kein Bier und keine Jalousien gibt oder?«, fragte ich. »Mit Pa bist du auf jede Tour gegangen, auch wenn ich dabei war.«

»Das letzte Mal war vor zwei Jahren, Gitti. Übernächstes Jahr wirst du auch nicht mehr dieselbe wie heute sein. Das heißt aber nicht, dass es mir egal ist, wie es dir geht. Ich meine, was, wenn du stürzt und bewusstlos wirst. Oder das Funkgerät kaputtgeht. Oder der Akku leer ist.«

Ich steckte das Fernglas in den Rucksack und nahm meinen Kapuzenpulli von dem Ast, an den ich ihn zum Trocknen aufgehängt hatte. »Kann ich sonst noch was für dich tun?«

»Du bist fünfzehn, Gitti. Nicht einundvierzig. Nicht dreiunddreißig. Nicht einmal sechzehn.«

»Das ist echt die dämlichste Aufzählung, die ich in den letzten zwanzig Jahren gehört habe.«

»Du bist einfach nicht alt genug, um so was zu machen.«

»Das ist toll, dass du eine Meinung hast, Jakob, aber ich muss jetzt …«

»Ich bin nicht für den Mist verantwortlich, den du baust. Ich habe auch ein Leben.«

»Alles klar. Dann viel Spaß darin, wir treffen uns demnächst wieder. Also irgendwann. Ende und over.«

»Nein! Warte, wir … hey, wir bestellen Pizza.«

»Pizza als Köder? Hast du eigentlich gar kein Gewissen mehr?« In Gedanken atmete ich den Geruch der Pizza ein, ehe ich sie gehen ließ. »Tschüss dann.«

»Schalte jetzt nicht ab, Gitti.«

Ich steckte das Funkgerät in das Seitenfach des Rucksacks und ließ Jakob einfach weiterquatschen. Länger als ein paar Minuten hält er das nicht aus, dachte ich. Tat er aber. Er sabbelte so lange, bis mir der Klang meines eigenen Namens auf die Nerven ging. Keine Ahnung, was das sollte. Ich meine, ich wusste, wie ich heiße. Es war nicht nötig, dreißigmal in der Minute »Gitti« zu quaken. Was glaubte er denn, wie viele Leute sich hier von seinem Dauergeschwafel angesprochen fühlten? Ich war ja nicht im Zentrum Berlins vor einem Laden, der kostenlos Kekse und superleckere Getränke verteilte. »Tut mir leid, hier befinden sich aktuell dreihundertsiebenundzwanzig Gittis, aber Ihre scheint nicht dabei zu sein. Sind Sie sich wirklich sicher, dass sie Kekse und superleckere Getränke mag?«

Ich schaltete das Funkgerät ab. So gut es sich vorhin angefühlt hatte, seine Stimme zu hören, war ich jetzt erleichtert, in der Stille des Waldes zurück zu sein.

Seit gestern Nachmittag hatte ich keinen Waldweg mehr gesehen, nicht einmal mit dem Fernglas. Ich hatte einen anderen Weg zu Ellie als die letzten Male gewählt, aus Neugierde, schätze ich und weil ich in den Ferien mehr Zeit hatte als üblich. Meiner Landkarte und dem Kompass nach zu urteilen führte der direkte Weg zu ihr in Richtung Nordwesten. Das Gelände war dort aber so abschüssig, dass es mich nicht gewundert hätte, wäre ich dort auf einen hundert Meter hohen Wasserfall getroffen.

Über mir bauschten sich graue Wolkenberge auf und verdunkelten den Tag. Es begann zu nieseln. Ich entschloss mich, den Steilhang zu umgehen, auch wenn ich dadurch später als geplant bei Ellie ankommen würde. Das Konzert begann in sechs Stunden. Ich hatte also genug Zeit, um eine Pause einzulegen, bevor aus dem Nieselregen ein Schauer wurde.

Nach dem gestrigen Regen fühlte sich mein Kapuzenpulli immer noch etwas klamm an. Ich spannte meine Hängematte über mir auf, um mich unterzustellen. Der Wind rauschte durch den Wald, prustete mir Regentropfen entgegen und rüttelte immer kräftiger an den Zweigen und Ästen. So schnell ich konnte, kramte ich meine Regenklamotten aus dem Rucksack und zog sie mir über.

Ich wartete fünf Minuten.

Zwanzig.

Eine Stunde.

Das Wasser bildete kleine Bachläufe, die an meinen Füßen vorbei plätscherten. Das Warten darauf, dass der Regen endlich nachließ, kratzte an meinen Nerven. Es fühlte sich an, als würde ich im Dauerregen auf einen Zug warten, von dem es nur vage Erzählungen gab, dass es ihn einmal gegeben haben soll. Ich hatte zwei Möglichkeiten: Entweder blieb ich stehen und wurde mit der Zeit so nass, als wäre ich mit Rucksack und Klamotten in einen See gefallen, oder ich löste die Schnüre der Hängematte über mir von den Bäumen und wanderte weiter. Dann wäre ich nach kurzer Zeit nass bis auf die Unterhose, würde aber das Konzert nicht verpassen.

Um die Sache besser einzuschätzen, nahm ich mein zweites Funkgerät aus dem Rucksack und schaltete es ein. »Ellie?!«

Keine Reaktion.

»Ellie, geh ans Funkgerät! Es pisst hier wie aus Eimern!«

»… ann … ören. Wo bi … u …?«

Das Funkgerät hatte eine Reichweite von zehn Kilometern. Ellies Elternhaus war aber höchstens zwei Stunden Fußmarsch entfernt, sie musste also irgendwo unterwegs sein. »Schau mal in die Wettervorhersage, wie lang das noch schiffen …«

»a … estehen … enn … u …«

Ich stöhnte entnervt. »Reeeeeeeegeeeeeeeen. Waaaaaaaann. Höööööööört. Eeeeeeeer. Auuuuuuuu …«

»ön … u … is … ald.«

»Bis bald? Hast du »bis bald« gesagt? Nein, nein, du musst dranbleiben.«

Stille.

»Ellie?«

Nichts.

Ich steckte das Funkgerät fluchend in den Rucksack und zog das andere heraus, um Jakob zu erreichen. Es kamen aber nicht mal abgehackte Worte von ihm zurück. Also nahm ich die Hängematte ab, knipste meine Taschenlampe an und marschierte weiter. Durch den Regenschauer und die dunklen Wolken konnte ich kaum ein paar Meter weit sehen. Meine Schuhsohlen flutschten immer wieder über den nassen Waldboden. Und es war so dunkel, dass ich nach jedem Schritt raten musste, wohin ich den nächsten setzen sollte. Ständig stolperte ich über eine Wurzel oder einen Stein oder rempelte mit der Schulter gegen einen Baum. Das Wasser floss in jede Lücke, die sich an meinen regendichten Klamotten auftat und kroch in kalten Bahnen über meine Haut. Die ersten Tropfen hätte ich am liebsten wie lästige Käfer von mir weggeschnippt. Und irgendwann war ich so nass, dass es keinen Unterschied mehr machte, ob ich mit oder ohne Regenklamotten weiterging.

Der Weg, den ich eingeschlagen hatte, führte immer steiler bergab. Ich beschloss umzukehren, um auf einen ebenen Pfad zurückzugelangen. Der Boden war so weich und glitschig, dass ich keinen Halt fand und mit den Füßen immer wieder den Hang hinabrutschte, als würde eine unsichtbare Rollbahn an meinen Füßen ziehen. Als ich meine Hände dem Boden entgegenstreckte, um auf Händen und Knien den Hang wieder hochzukriechen, war es, als würde mir jemand die Beine wegtreten. Der Boden knallte mir entgegen. Ein stechender Schmerz brannte in meiner Brust und der Schulter. Ich rutschte ab, versuchte mich irgendwo festzuhalten. Bevor ich etwas fand, stieß etwas Hartes gegen meine Fußsohle, ein Gesteinsbrocken. Mein Körper drehte sich, und ich knallte mit dem Kopf an einen anderen Baumstamm, versuchte ihn zu fassen zu kriegen, um mich festzuhalten. Die raue Rinde kratzte über meine Handflächen – ich verlor langsam den Halt. Hinter mir fiel der Hang immer steiler ab, und ich befürchtete, dass er auf den nächsten Metern abriss und mich in den Abgrund schickte, wenn ich noch weiter hinabglitt. Einmal fliegen, gefolgt vom Aufprall und ewiger Schwärze.

Ich spürte eine harte Wölbung gegen meine Hüfte drücken. Unter mir ragte eine Baumwurzel wie eine Schleife aus dem Boden. Ich schnappte mit der Hand danach, während das Gewicht des Rucksacks an mir zerrte. Ich schnaufte und zitterte vor Angst und Schmerzen. Die nasse Erde auf der Wurzel bildete einen schmierigen Belag, und ich spürte, wie sie mir langsam entglitt. Bevor ich sie vollständig verlieren würde, griff mit der anderen Hand hastig nach dem Karabiner an meinem Kletterseil und klinkte ihn an der Baumwurzel ein. Ich atmete durch. Starrte das Stück Holz an, das mich als letzte Sicherung davor bewahrte, in die Dunkelheit hinabzustürzen. Während ich die fingerdicke Wurzel innerlich anflehte, nicht zu reißen, verschwand alles andere wie in dichtem Nebel; ich spürte kaum noch etwas von dem prasselnden Regen oder den Schürfwunden und blauen Flecken, die ich mir zugezogen hatte. Nicht einmal die Schwere des Rucksacks nahm ich wahr. Bis zu dem Moment, in dem sich die Wurzel langsam aus dem Boden herauslöste. Ich hörte das knackende Geräusch von brechendem Holz. Das Adrenalin strömte wie ein Funkenschauer durch meinen Körper. So schnell ich konnte, klickte ich die Gurtverschlüsse meines Rucksacks auf und wand mich aus seiner Umklammerung. Er rumpelte auf den Boden, und aus dem Augenwinkel sah ich, wie er hinter mir in den Abgrund stürzte. Bevor die Wurzel vollständig riss, streckte ich meinen Arm vorsichtig in Richtung eines Astes aus. Die nasse Rinde streifte über meine Fingerkuppen. Je weiter ich meinen Körper in seine Richtung bewegte, umso stärker zog mein Kletterseil an der Wurzel – bis sie auseinanderbrach. Der Karabiner flog auf den Boden. Als das Seil erschlaffte, verlor ich das Gleichgewicht. Meine Hand glitt von dem Ast. Bevor ich drohte, in derselben unaufhaltsamen Geschwindigkeit wie vorhin dem Rand des Abhangs entgegen zu rutschen, stieß ich mich mit einem kräftigen Tritt von dem Baumstamm in Richtung eines anderen ab. So schnell ich konnte, krabbelte ich auf allen vieren über den Boden, als wäre eine schaumspuckende Wildsau hinter mir her. Vor mir öffnete sich der Abgrund, und im selben Moment, als meine Füße über den Rand des Abhangs rutschten, krallte ich mich mit den Händen an einem Baumstamm fest. Ich ächzte und schnaubte, versuchte mich mit aller Kraft nach oben zu ziehen, während ein schroffer Felsen die Haut an meinen Beinen aufkratzte und ich betete, dass die Baumrinde unter meinen Fingern nicht abblätterte. Vorsichtig drehte ich den Kopf zur Seite, um zu sehen, wie tief der Abgrund tatsächlich war. Es war kein Ende zu sehen, nur eine steile Felswand, die in die Dunkelheit hinab führte. Und ich fluchte innerlich, dass ich dämlich genug war, so weit von meinem Kurs abgekommen zu sein, tagsüber, nur wegen dieses bekloppten Regens und der Finsternis.

Meine Muskeln begannen krampfhaft zu schmerzen und zu zittern, als ich mich nach oben zog, Stück für Stück, bis ich mit dem ganzen Körper hinter dem schützenden Stamm des Baumes angekommen war. Keine Ahnung, wie lange ich dort liegen blieb. Ich wusste nicht einmal, ob ich in der Zeit geatmet hatte. Irgendwann setzte ich mich hin und lehnte mich mit dem Rücken an den Baum. Ich wartete, bis die Wolken sich so weit auflösten, dass ich einen sicheren Weg durch den Wald entdecken konnte. Dann machte ich mich daran, den Hang wieder hinauf zu klettern. Meine Hände und Knie zitterten immer noch, und ich schaute kein einziges Mal zurück, bis ich es geschafft hatte. Ich tastete mich ab. Meine Hose und die Regenjacke waren an ein paar Stellen aufgerissen. An Armen, Hals und Gesicht spürte ich einige brennende Schürfwunden, aber ich hatte mir nichts gebrochen. Den restlichen Weg musste ich jetzt aber ohne Kompass, Landkarte, Funkgerät und meine Ananasdose zurücklegen.

Ich zog die Regenjacke aus, da sie während meines Beinahe-Absturzes so oft an mir hochgerutscht war, dass meine Klamotten darunter klatschnass und voll mit Matsch waren.

Am liebsten wäre ich sofort in meine Hängematte gefallen, ausgelaugt und froh, am Leben zu sein. Keinen Finger wollte ich mehr bewegen, aber irgendwie musste ich meine schlappen Muskeln noch soweit antreiben, dass ich bei Ellie ankam. Und ich seufzte erleichtert, als ich das Dorf erreichte, in dem sie wohnte. Auf dem Gehweg ließ ich mich auf den Hintern plumpsen und legte den Kopf zwischen meine Knie. In meiner Brust war noch ein stechender Schmerz, und vor meinem inneren Auge blitzte der Abgrund auf, in den ich beinahe gestürzt war, wie in ein dunkles, gefräßiges Maul. Der Gedanke, wie knapp ich dem entkommen war, ließ mich immer wieder schaudern. Und ich dachte daran, wie ich vor drei Jahren beim Klettern von einem Felsen gefallen war. Anschließend gammelte ich mit ramponierten Knochen in meinem Bett vor mich hin. Ma nahm sich bei der Arbeit frei, damit jemand bei mir war und Pa im Gasthof weiter Blaubeerwein, finnisches Bier und Essen an die Gäste verteilen konnte. Die ersten Nächte nach dem Unfall verließ Ma mein Zimmer nur, um aufs Klo oder ins Bad zu gehen oder um Müsli zu holen, Pellkartoffeln, Popcorn, als fürchtete sie, ich könnte mit meinem Gipsbein und dem angeknacksten Genick jede Gelegenheit nutzen, um mich mit meinem Klettergurt aus dem Haus zu schleichen. Hatte ich aber gar nicht vor. Ma war jetzt ständig bei mir, nicht nur, um zwei Fragen zu stellen, ein paar Mal zu nicken und mir dann einen Kuss auf die Stirn zu drücken, wie einen Stempel. Ab zu den Akten, man sieht sich. Dass sie jetzt pausenlos hier war, verwirrte mich in den ersten Tagen so, als wäre ich durch den Sturz in eine Parallelwelt gefallen. In den Jahren davor war sie mit dem Auto schon unterwegs zur Kripo, wenn ich frühstückte, und wenn sie abends zurückkam, war sie immer noch mit anderen Dingen beschäftigt, mit irgendwelchem Scheiß, der in irgendwelchen Briefen stand. Oder sie klebte am Telefon und quatschte mit anderen Leuten. Oder mit Pa. Oder Jakob. Aber jetzt redete sie mit mir. Wir schauten Filme und spielten Karten. Und wir sangen Karaoke Lieder, bis ich so lachen musste, dass mir beinahe der Kopf platzte. Sogar Ma lachte, dass ihr Tränen über die roten Wangen liefen. Davor war es mir manchmal so vorgekommen, als hätte sie vergessen, wie das geht. Als wäre ihr Lachen irgendwo unter den ganzen Papierstapeln verschwunden, die sie noch abarbeiten musste. Nachdem ich den Gips abbekam, machten wir einen Trip nach Wien. Drei Tage. Dann war alles vorbei. Ich ging wieder in die Schule, sie zur Arbeit, und ich wünschte mir, ich hätte mir noch ein paar Knochen mehr gebrochen. Und es war, als hätte sie meine Gedanken erkannt. Auf dem Weg zurück nach Hause sagte sie, dass man als Elternteil irgendwie mit den Sorgen und Ängsten um seine Kinder klarkommen muss. »Jeder ist mal in einer Situation, die einem den Kopf kosten kann. Egal, wie vorsichtig man ist. Wenn so ein Moment da ist, sollte man sich verstecken, umkehren, runterspringen, weglaufen, was auch immer. Ich frage mich, ob du das auch machst, so oft, wie es eben nötig ist. Oder ob du immer noch mehr spüren willst, bis es irgendwann zu viel ist.«

»Ich habe mir den Fuß verdreht. Bin gestolpert und gefallen. Deswegen bin ich kein Adrenalin-Junkie.«

»Ach nein?«

»Da, wo ich gestürzt bin, sind schon Zwölfjährige geklettert, also keine Panik. Ich überlebe euch alle.«

»Zwölfjährige also.«

Ich zeigte auf mich selbst. »Lebender Beweis.«

Sie seufzte und blickte mich sorgenvoll an.

Damals glaubte ich wirklich, dass mein Sturz das Verrückteste und Halsbrecherischste gewesen wäre, was ich für lange Zeit erleben würde. Dasselbe dachte ich jetzt auch wieder, als ich auf Ellies Elternhaus zuging. Und Leute, ich glaube, es gibt keinen Ausdruck dafür, wie sehr ich mich damit getäuscht hatte.

2 Beinahe vipergrün und schneller als der Bus

Bei Ellies Haus angekommen drückte ich den Klingelknopf. Ihr Vater öffnete die Tür. Er hatte neuerdings einen rotblonden Vollbart und lief nach wie vor mit dem Kopf knapp unterhalb der Decke entlang. Er schaute zu mir runter, als wäre er noch nie zuvor einem Haufen Matsch mit Augen begegnet. »Tja … ich dachte, das Konzert fängt erst später an.«

»Jap. Nachher lassen wir’s krachen.«

Aus dem Obergeschoss polterten Schritte die Holztreppe hinab. Als Ellie mich sah, blieb sie kurz stehen. »Ey, wie siehst du denn aus?«

»Bin ausgerutscht.«

»Komm.« Sie fasste an meine Hand und führte mich an ihrem Vater vorbei. »Vielen Dank für die feierliche Begrüßung«, sagte sie zu ihm.

»Ziehst du bitte …« Ich wusste, was er mir sagen wollte und schlüpfte aus meinen Schuhen. Einer fiel dabei um, woraufhin sich schlammiges Wasser auf den hellen Steinboden ergoss und eine Pfütze bildete. »Ich mach das gleich weg«, sagte ich und verteilte mit jedem Schritt, den ich die Treppe hoch machte, eine Spur Matsch auf den Stufen.

»Ich hole Mama von der Arbeit ab«, sagte er zu Ellie. »Du weißt ja, was wir vorhaben. Carmen fährt euch in einer Stunde zum Konzert, deine Tante hat das volle Kommando, kapiert? Wartet nicht auf uns. Und kein Alkohol.«

»Voll klar«, trällerte sie. »Tschüssi.«

Ich hörte ihn noch etwas murmeln, als er seinen Mantel anzog. Dann fiel die Haustür hinter ihm zu.

»Wartet nicht auf uns?«, wiederholte ich die Worte ihres Vaters. »Wie lange wollen sie denn wegbleiben?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Bis zehn oder elf.«

»Aber er weiß schon, wann wir wieder zurück sind, oder? Und dass wir nicht seine Eltern sind?«

»Nee, der ist eigentlich schon auf einem anderen Planeten. Deswegen ist heute der perfekte Tag für das Konzert«, sagte sie. »Meine Eltern gehen etwa zweimal im Jahr aus, labern irgendeinen Schrott mit anderen seltsamen alten Menschen, trinken drei Weinschorle und halten sich für Punks oder so, wenn sie vor Mitternacht wieder ins Haus stolpern. Dann kichern sie, als hätten sie sich in die Pubertät zurückgesoffen und schließen sich im Zimmer ein.« Sie schauderte, als hätte ihr jemand einen Eimer eiskalten Wackelpudding über den Rücken geleert. »Zu dem Zeitpunkt haben du, ich und die beste Tante des Universums das absolute Gegenteil gemacht von auf sie warten und keinen Alkohol trinken. Alles klar?«

Ellie schaute mich von oben bis unten an. »Du solltest nächstes Mal ein Taxi nehmen.«

Als wir an Jannis Zimmer vorbeikamen, sah ich ihn durch die offene Tür an seinem Schreibtisch sitzen. Ich hob kurz die Hand, und er nickte mir zu. Als Ellie das auffiel, blieb sie stehen und schaute zwischen mir und Jannis hin und her. »Echt jetzt?« Sie verdrehte die Augen und schob mich den Gang zurück. »Okay ihr Kommunikationsgenies. Weil ich so eine dufte Freundin, Schwester, Weltenretterin aus Leidenschaft bin, spulen wir einfach ein paar Sekunden zurück und tun so, als wäre euer nicht vorhandenes Gespräch niemals passiert.« Sie schubste mich wieder nach vorne, bis ich in Jannis Zimmer sehen konnte. Dann sah mich Ellie vielsagend an, drehte die Hand in der Luft und formte die Worte erst lautlos mit dem Mund, ehe sie sie aussprach. »›Hallo Jannis‹«. Ellie zeigte erwartungsvoll auf Jannis, der sie stumm und genervt anglotzte. »›Hallo Gitti‹«, antwortete Ellie an seiner Stelle. »›Du siehst so anders aus. Hast du was mit deinen Haaren gemacht, nachdem dich ein riesiges Sumpfmonster ausgekotzt hat?‹ ›Haare? Ach nee, ich bin nur hammerhart auf die Fresse gefallen. Deswegen habe ich jetzt lauter Schrammen und Beulen. Gefällt’s dir?‹ ›Ja, das steht dir echt gut.‹ ›O danke. Hast du vielleicht ein paar hundert Meter Verbandszeug für mich?‹ ›Klar, habe ich immer griffbereit. Ich wurde nämlich ohne Überlebensinstinkt und nur mit einem Drittel Gehirn geboren. Deswegen kenne ich das Personal im Krankenhaus besser als meine Klassenkameraden.‹ ›Vielen Dank, Jannis. Wir sollten öfters miteinander reden. Man erfährt dadurch Dinge von anderen Menschen.‹ ›Was, echt? Ist ja krass.‹«

Ellie ging in sein Zimmer, riss die Schreibtischschublade auf, nahm eine Schere und eine Rolle Pflaster heraus und machte auf dem Weg nach draußen mehrmals einen Knicks wie eine englische Hofdame oder so.

Jannis stand von seinem Stuhl auf. »Man sieht sich, Gitti.«

Ich hob kurz die Hand zum Gruß und lächelte irgendwie. Die trockene Erde in meinem Gesicht ziepte dabei an meiner Haut und rieselte auf den Boden. Seine Zimmertür klickte vor mir ins Schloss. Ellie atmete schwer aus. »Mann, seid ihr verkorkst.« Ellie holte frische Klamotten aus ihrem Zimmer und ein Handtuch. Ich schloss mich damit im Bad ein. Nachdem ich geduscht hatte und mich wieder anzog, fragte Ellie von draußen: »Sag mal, hattest du keinen Rucksack dabei?«

»Doch. Musste unterwegs Ballast abwerfen.«

»Hä?«

»Da war ein neues Bild von mir drin. Für die Ausstellung am Wochenende. Alles futsch. Hättest es sehen müssen, das würde den Zentner aus den Pantoffeln hauen.«

»Du hast doch schon ein Bild für die Ausstellung.«

»Kinderkacke. Nur weil die Sammerlander das so impulsiv fand, wollte sie das unbedingt haben. Ich will den Leuten da aber nicht irgendein Bild zeigen.«

»Falls der Zentner überhaupt die Muße und genug Haargel findet, um dort aufzutauchen …«

»Klar kommt der, und wenn ich ihn an seiner Cordkrawatte an mein Fahrrad binden und her schleifen muss.«

»Ey, das würde auf jeden Fall Eindruck bei ihm machen.«

Auf einmal trommelten Ellies Schritte den Gang entlang. Als sie zurückkam, sagte sie: »Dein Bruder ist am Telefon.«

»Bin nicht da.«

»Ich habe schon einen auf Austauschschülerin gemacht und versucht, es ihm auf Lettisch zu erklären. Aber er ist heute echt hartnäckig.«

»Diese osteuropäischen Austauschschüler nutzen sich halt irgendwann ab.«

»Ja, ich glaube, er hat mich durchschaut.«

Da ich mich fertig angezogen hatte, sperrte ich das Schloss auf und nahm Ellie das Telefon ab. »Okay, Glückwunsch, Jakob, du hast mich gefunden. Aber ich gehe nachher mit Ellie auf ein Konzert, und weder du noch Ma werden mich davon abhalten. Also hör auf mir auf die Nerven zu gehen und …«

»Irgendwas stimmt nicht. Ma geht nichts ans Telefon.«

»Das hatten wir schon. Sie verspätet sich. Ist ja nicht das erste Mal oder?«

»Ich war vorhin im Dorf unten bei Eldos Box. Der Schuppen sollte ab heute wieder geöffnet sein.«

»Was? Bist du bescheuert? Und das fällt dir erst jetzt auf?«

»Ja. Tut mir leid, dass ich nicht warten wollte, bis es dir auffällt. War schon seit Wochen nicht mehr da, wegen meines Jobs und den Studienbewerbungen und so, und du ja offenbar auch nicht.«

»Shit. Vergiss bitte, was ich gesagt habe, aber ich kann jetzt nicht …«

»Für heute Abend ist da ’ne Lesung geplant. Und am Freitag läuft so ’n alter französischer Film. Open Air im Hof. Alle Karten verkauft.«

»Was ist mit Linn und Bjarne? Arbeiten die nicht mehr in Eldos Box?«

»Die sind in den Sommerferien doch immer in Dänemark. Habe sie trotzdem angerufen, die haben keinen Schimmer, wo Ma ist«, sagte er. »Zwei Stunden war ich vorhin dort. Ständig rufen irgendwelche Leute an, die Termine mit Ma vereinbart haben oder Tickets kaufen möchten. Ma liest die Nachrichten nicht, die ich ihr schicke und nimmt auch nicht ab. Wie oft ist das schon vorgekommen?«

»Vielleicht ist ihr Handy kaputt.«

»Seit ein paar Tagen? Und warum ruft sie uns dann nicht von einem anderen Anschluss aus an? Das passt nicht zu ihr.«

Ich dachte nach, ohne eine plausible Erklärung dafür zu finden.

»Gitti?«

»Jaja, ich überlege noch.«

»Ich habe keine Ahnung, wo sie hin ist. Hast du ihr zugehört, bevor sie gegangen ist?«

»Du machst mich echt fertig.«

»Hast du?«

»Ich … scheiße, sie hat es nicht gesagt, und ich habe nicht gefragt. Meistens geht sie nach Augsburg oder? Stuttgart, München, irgendwo dorthin eben.«

»Ja, das ist super nutzlos. Da steht ein Typ mit ’ner Aktentasche und ziemlich mieser Laune vor Eldos Box und tippt die ganze Zeit auf seinem Handy herum. Ich glaube, der versucht sie zu erreichen.«

Ich dachte nach, überlegte, überlegte …

»Hörst du, was ich sage. Ich glaube, wir haben echt ein Problem.«

»Sie hat doch bestimmt angedeutet, was für eine Art Auftrag das war, den sie angenommen hat.«

»Nein. Aber in der Detektei ging’s früher meistens um Fälle von Ehebruch und so. Jemand wird betrogen und will ein paar Fotos, um bei der Scheidung fett abzusahnen. Oder es geht um Betrug, Diebstahl, was weiß ich. Auf jeden Fall ist sie mit Leuten zusammen, die ziemlich angepisst sind. So wie dieser Typ vor dem Laden.«

»Es könnte aber auch was ganz anderes sein.«

»Es könnte alles sein, Gitti.«

Ich dachte an das Konzert heute Abend und hätte am liebsten irgendwas kaputtgeschlagen. Solange ich nicht wusste, was mit Ma los war, konnte ich auf keinen Fall dorthin gehen. Falls Ma sich aber nicht meldete, weil sie nur ein paar Termine verwechselt hatte, bereitete ich mich darauf vor, mächtig sauer auf sie zu werden. Und meine Ma mit schlechtem Gewissen war wie ein Flaschengeist mit Gedächtnisverlust – bei all den Gefälligkeiten, die sie uns dann erfüllte, schien sie den Mist vergessen zu haben, den ich oder Jakob in letzter Zeit gebaut hatten. Und erfahrungsgemäß war das eine Menge und oft schlimmer als das, was Ma getan hatte.

Vor dem Badezimmerspiegel klebte ich mir ein Klammerpflaster an die Stirn. Dann klemmte ich das Telefon zwischen Ohr und Schulter ein und wickelte einen Verband um meine aufgeschürfte Hand. »Weißt du was? Ich wette, es geht ihr super«, sagte ich. »Ma hat bestimmt so viel Spaß, dass sie alles andere total vergessen hat. Ich meine, das wäre super für sie. Super für uns.«

»Im Moment fühlt sich hier gar nichts super für mich an.«

»Das wird es aber, wenn sie zurück ist. Sie wird sich eine Million Mal entschuldigen, weil sie sich im Datum geirrt hat und ihr Handy verdaddelt hat.

---ENDE DER LESEPROBE---