Eleanor & Park - Rainbow Rowell - E-Book

Eleanor & Park E-Book

Rainbow Rowell

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Beschreibung

Sie sind beide Außenseiter, aber grundverschieden: Die pummelige Eleanor und der gut aussehende, aber zurückhaltende Park. Als er ihr im Schulbus den Platz neben sich frei macht, halten sie wenig voneinander. Park liest demonstrativ und Eleanor ist froh, ignoriert zu werden. In der Schule ist sie das Opfer übler Mobbing-Attacken und zu Hause hat sie mit vier Geschwistern und einem tyrannischen Stiefvater nur Ärger. Doch als sie beginnt, Parks Comics mitzulesen, entwickelt sich ein Dialog zwischen den beiden. Zögerlich tauschen sie Kassetten, Meinungen und Vorlieben aus. Dass sie sich ineinander verlieben, scheint unmöglich. Doch ihre Annäherung gehört zum Intensivsten, was man über die erste Liebe lesen kann.

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Sammlungen



Rainbow Rowell

Eleanor & Park

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel

Eleanor & Park bei St. Martin’s Press, New York.

Die Zeile aus Robert Frosts Gedicht »Der Weg, den ich nicht nahm« wurde in der Übersetzung von Lars Vollert zitiert. Entnommen aus: Robert Frost, Promises to keep. Poems – Gedichte. Langewiesche-Brandt Verlag, Ebenhausen, 2002.

Die Übersetzung des Gedichts von Emily Dickinson stammt von Brigitte Jakobeit.

Ein Glossar mit Links zu allen Bandnamen, Künstlern,

Filmtiteln und Musikstücken findet sich unter

www.hanser-literaturverlage.de/eleanorundpark

ISBN 978-3-446-24842-7

© Rainbow Rowell 2012

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2015

Umschlag: Stefanie Schelleis, München nach einem Entwurf von Olga Grlic

Illustration: Harriet Russell

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Forest, Jade, Haven und Jerry –

und alle anderen, die hinten sitzen müssen.

Er versuchte nicht mehr, sie zurückzuholen.

Sie kam nur zurück, wenn ihr danach war, in Träumen und Lügen und erdrückenden Gedankensplittern.

Auf der Fahrt zur Arbeit sah er zum Beispiel ein Mädchen mit roten Haaren an der Ecke stehen – und einen beklemmenden Augenblick lang konnte er schwören, dass sie es war.

Dann sah er, dass das Mädchen eher blonde als rote Haare hatte.

Und dass sie eine Zigarette rauchte … Und ein T-Shirt von den Sex Pistols trug.

Eleanor hasste die Sex Pistols.

Eleanor …

Sie stand hinter ihm, bis er sich umdrehte. Sie lag neben ihm, kurz bevor er wach wurde. Sie ließ alles grauer und flacher und unvollkommen erscheinen.

Eleanor, die alles ruinierte.

Eleanor, die fort war.

Er versuchte nicht mehr, sie zurückzuholen.

August 1986

1

Park

XTC taugte nicht dazu, die Schwachköpfe hinten im Bus zu übertönen.

Park presste sich den Kopfhörer auf die Ohren.

Morgen würde er Skinny Puppy oder die Misfits mitnehmen. Oder er stellte sich eine Kassette nur für den Bus zusammen, mit möglichst viel Kreischen und Grölen.

New Wave konnte er dann wieder im November hören, wenn er seine Fahrerlaubnis hatte. Seine Eltern hatten schon gesagt, er könne den Impala seiner Mutter haben, und er hatte für ein neues Tapedeck gespart. Sobald er mit dem Auto zur Schule fuhr, konnte er hören, was er wollte – und zwanzig Minuten länger schlafen.

»Das gibt’s doch gar nicht!«, schrie jemand hinter ihm.

»Und ob, du Arsch!«, schrie Steve zurück. »Drunken Monkey, Mann, das gibt’s wirklich. Damit kannst du jemand umbringen …«

»Du redest totalen Scheiß.«

»Du redest totalen Scheiß«, sagte Steve. »Park! Hey, Park.«

Park hörte ihn, reagierte aber nicht. Wenn man Steve eine Weile ignorierte, suchte er sich manchmal ein anderes Opfer. Mit dieser Taktik hatte man Steve als Nachbarn schon zu 80 Prozent überlebt. Die anderen 20 Prozent musste man einfach den Kopf unten halten …

Was Park vorübergehend vergessen hatte. Eine Papierkugel traf ihn am Hinterkopf.

»Das waren meine Unterlagen über menschliche Entwicklung, Schwanzlutscher«, sagte Tina.

»Tut mir leid, Baby«, sagte Steve. »Ich bring dir alles über menschliche Entwicklung bei – was willst du wissen?«

»Bring ihr Drunken Monkey bei«, sagte jemand.

»Park!«, schrie Steve.

Park nahm den Kopfhörer ab und drehte sich um. Steve hielt in der letzten Reihe Hof. Selbst im Sitzen berührte sein Kopf fast die Decke. Steve sah immer aus, als wäre er von Puppenstubenmöbeln umgeben. Schon seit der siebten Klasse wirkte er wie ein Erwachsener, und das war noch, bevor er einen richtigen Bart hatte. Oder jedenfalls kurz davor.

Manchmal fragte sich Park, ob Steve mit Tina zusammen war, weil sie ihn noch ungeheuerlicher wirken ließ. Die meisten Mädchen aus der Siedlung waren klein, aber Tina war gerade mal einen Meter fünfzig groß. Mitsamt ihrer ganzen Haarpracht.

In der Mittelstufe hatte irgendwer mal versucht, Steve hochzunehmen, und ihm gesagt, er solle Tina lieber nicht schwängern, weil seine Riesenbabys sie umbringen würden. »Die würden aus ihrem Bauch ploppen wie in Aliens«, sagte der Typ. Steve schlug ihm ins Gesicht und brach sich dabei den kleinen Finger.

Als Parks Vater davon hörte, sagte er: »Diesem Murphy sollte mal jemand beibringen, wie man eine Faust macht.« Park hoffte, dass das niemand tun würde. Der Typ, den Steve geschlagen hatte, konnte seine Augen eine Woche lang nicht öffnen.

Park warf Tina ihre zerknüllten Hausaufgaben zurück.

»Park«, sagte Steve, »erzähl Mikey, was Drunken-Monkey-Karate ist.«

»Ich hab keine Ahnung.« Park zuckte die Schultern.

»Aber das gibt’s, oder?«

»Hab schon davon gehört.«

»Siehst du«, sagte Steve. Er suchte etwas, womit er Mikey bewerfen könnte, fand aber nichts. Also zeigte er mit dem Finger. »Ich hab’s dir gesagt, du Arsch.«

»Was weiß Sheridan schon von Kung Fu?«, sagte Mikey.

»Bist du behindert?«, rief Steve. »Seine Mutter ist Chinesin.«

Mikey musterte Park neugierig. Park lächelte und kniff die Augen zusammen. »Ja, ich glaub, ich seh’s«, sagte Mikey. »Ich dachte immer, du bist Mexikaner.«

»Mann, Mikey«, sagte Steve, »du bist so ein Scheißrassist.«

»Sie ist keine Chinesin«, sagte Tina. »Sie ist Koreanerin.«

»Wer?«, fragte Steve.

»Parks Mutter.«

Parks Mutter schnitt Tina seit der Grundschule die Haare. Sie hatten beide dieselbe Frisur: langlockige Dauerwellen mit einem Fransenpony.

»Sie ist total scharf, echt«, sagte Steve und lachte sich schlapp. »Ist nicht böse gemeint, Park.«

Park lächelte wieder gequält und sank in seinen Sitz zurück, setzte den Kopfhörer auf und drehte die Lautstärke hoch. Trotzdem hörte er Steve und Mikey vier Sitze hinter ihm.

»Was soll das Ganze?«, fragte Mikey.

»Mann, möchtest du dich mit einem besoffenen Affen anlegen? Die sind scheißgroß. Wie in Der Mann aus San Fernando. Stell dir vor, so ein Scheißkerl geht auf dich los.«

Park bemerkte das neue Mädchen ungefähr zur selben Zeit wie die anderen. Sie stand vorne im Bus, neben dem ersten freien Platz.

Ein Schüler saß da allein, ein Neuntklässler. Er stellte seine Tasche auf den Platz neben sich und schaute dann in die andere Richtung. Im Bus rutschten alle, die allein saßen, auf den Gangplatz. Park hörte Tina kichern; sie liebte solche Szenen.

Das neue Mädchen atmete tief durch und lief weiter. Niemand schaute sie an. Park versuchte es ebenfalls, aber es war wie bei einem Zugunglück oder einer Sonnenfinsternis: Man konnte den Blick nicht abwenden.

Das Mädchen sah aus wie jemand, dem genau so was immer passierte.

Sie war nicht nur neu, sondern auch groß, schwer und unsicher. Mit verrückten Haaren, knallrot und dazu noch Locken. Und sie war angezogen, als … als legte sie es darauf an, dass man sie anstarrte. Vielleicht merkte sie gar nicht, wie schlimm sie aussah. Sie trug ein kariertes Hemd, ein Männerhemd, mit jeder Menge komischer Ketten um den Hals und Tüchern, die sie um die Handgelenke gewickelt hatte. Sie erinnerte Park an eine Vogelscheuche oder eine von den Sorgenpuppen, die bei seiner Mutter auf der Kommode standen. Sie erinnerte ihn an etwas, das in der Wildnis nicht überleben würde.

Der Bus hielt wieder, es stiegen noch mehr Schüler ein. Sie zwängten sich an dem Mädchen vorbei, rempelten sie an und ließen sich auf ihre Stammplätze fallen.

So war das nämlich – jeder hatte im Bus seinen eigenen Platz. Schon am ersten Schultag hatte sich jeder einen organisiert. Und Leute wie Park, die das Glück hatten, einen ganzen Sitz für sich zu haben, dachten nicht daran, ihn jetzt aufzugeben. Schon gar nicht für so eine.

Park blickte zu dem Mädchen hoch. Sie stand einfach nur da.

»Hey, du«, rief der Busfahrer, »setz dich hin!«

Das Mädchen ging langsam nach hinten. Direkt in die Höhle des Löwen. O Gott, dachte Park, bleib stehen. Dreh um. Er spürte förmlich, wie Steve und Mikey sich die Lippen leckten. Er versuchte, wieder wegzusehen.

Dann entdeckte das Mädchen einen leeren Platz genau gegenüber von Park. Ihr Gesicht leuchtete erleichtert auf, und sie eilte darauf zu.

»Hey«, sagte Tina scharf.

Das Mädchen ging weiter.

»Hey«, sagte Tina, »du Clown.«

Steve fing an zu lachen. Seine Freunde fielen sofort mit ein.

»Da kannst du nicht sitzen«, sagte Tina. »Das ist Mikaylas Platz.«

Das Mädchen blieb stehen, sah Tina an und dann den leeren Platz.

»Setz dich hin«, schnauzte der Fahrer von vorne.

»Ich muss irgendwo sitzen«, sagte das Mädchen mit fester, ruhiger Stimme zu Tina.

»Nicht mein Problem«, fauchte Tina. Der Bus schlingerte und das Mädchen wippte nach hinten, um nicht umzufallen. Park wollte seinen Walkman noch lauter stellen, aber es ging nicht mehr. Er schaute wieder zu dem Mädchen; sie sah aus, als würde sie gleich heulen.

Bevor er richtig nachdachte, rutschte er zum Fenster.

»Setz dich«, sagte er. Es klang wütend. Das Mädchen drehte sich zu ihm, als wüsste sie nicht so recht, ob er auch so ein Trottel war. »Herrgott noch mal«, sagte er leise und nickte auf den leeren Platz neben sich, »setz dich endlich.«

Das Mädchen setzte sich. Sie sagte nichts – zum Glück dankte sie ihm nicht – und ließ ausreichend Abstand zwischen ihnen.

Park drehte sich zum Fenster und wartete darauf, dass ein Haufen Scheiße auf ihn niederging.

2

Eleanor

Eleanor überdachte ihre Möglichkeiten:

Sie könnte von der Schule nach Hause laufen. Pro: Bewegung, Farbe im Gesicht, Zeit für sich allein. Kontra: Sie kannte weder ihre neue Adresse noch die ungefähre Richtung, in die sie gehen musste.

Sie könnte ihre Mutter anrufen und sie bitten, sie abzuholen. Pro: Vieles. Kontra: Ihre Mutter hatte kein Telefon. Und auch kein Auto.

Sie könnte ihren Vater anrufen. Haha.

Sie könnte ihre Oma anrufen. Nur um Hallo zu sagen.

Sie saß auf der Steintreppe vor der Schule und starrte auf die Reihe der gelben Schulbusse. Der Bus stand direkt vor ihr. Nr. 666.

Auch wenn sie heute den Bus meiden und eine gute Fee mit einer Kutsche auftauchen würde, müsste sie immer noch eine Möglichkeit finden, um morgen zur Schule zu kommen.

Und es war nicht sehr wahrscheinlich, dass die Teufelsbrut im Bus morgen netter wäre. Im Ernst. Es würde sie nicht überraschen, wenn die Schlangen ihre Mäuler aufreißen würden, wenn sie ihnen das nächste Mal begegnete. Das Mädchen hinten mit dem blonden Haar und der ausgeblichenen Jacke? Die versteckten Hörner unter ihrem Pony waren fast unübersehbar. Und ihr Freund war vermutlich ein Mitglied der Nephilim.

Dieses Mädchen – überhaupt alle – hassten sie schon, bevor sie ihr einen Blick zugeworfen hatten. Als hätte man sie dazu berufen, sie in einem früheren Leben umzubringen.

Eleanor wusste nicht, ob der kleine Asiate, neben den sie sich schließlich hatte setzen dürfen, auch zu ihnen gehörte oder ob er einfach nur dumm war. (Aber nicht dumm-dumm – er war in zwei ihrer Leistungsstufenkurse.)

Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass Eleanor in der neuen Schule nur Kurse der Leistungsstufe besuchte. Sie war ausgerastet, als sie ihre schlechten Noten vom letzten Jahr, in der Neunten, gesehen hatte. »Das dürfte Sie eigentlich nicht überraschen, Mrs Douglas«, hatte die Beraterin gesagt. Haha, dachte Eleanor, Sie wären überrascht, was im Verborgenen alles schieflaufen kann.

Egal. In der Leistungsstufe konnte sie genauso gut Löcher in die Luft starren. Da gab es auch viele Fenster.

Wenn sie denn jemals wieder in diese Schule ging.

Wenn sie denn jemals nach Hause kam.

Von der Sache im Bus konnte sie ihrer Mutter jedenfalls nichts erzählen, denn sie hatte ihr gesagt, sie brauche nicht mit dem Bus zu fahren. Gestern Abend, als sie Eleanor beim Auspacken geholfen hatte …

»Richie meint, er nimmt dich mit«, sagte ihre Mutter. »Die Schule liegt auf seinem Weg zur Arbeit.«

»Muss ich dann hinten in seinem Pick-up sitzen?«

»Er will Frieden schließen, Eleanor. Du hast versprochen, dass du dir auch Mühe gibst.«

»Mir fällt es leichter, aus der Ferne Frieden zu schließen.«

»Ich hab ihm gesagt, du bist bereit, Teil dieser Familie zu sein.«

»Ich bin schon Teil dieser Familie. Ich bin so was wie ein Gründungsmitglied.«

»Eleanor«, sagte ihre Mutter. »Bitte.«

»Ich nehme den Bus«, hatte Eleanor gesagt. »Kein Problem. Da lerne ich Leute kennen.«

Haha, dachte Eleanor jetzt. Dickes, dramatisches Haha.

Der Bus würde gleich losfahren. Ein paar andere Busse waren schon unterwegs. Irgendwer rannte neben ihr die Treppe runter und trat versehentlich gegen ihre Tasche. Sie zog sie beiseite und wollte sich gerade entschuldigen – aber es war der blöde kleine Asiate, und er schaute böse, als er sie sah. Sie schaute böse zurück, und er rannte weiter.

Okay, dachte Eleanor. Wenn’s nach mir geht, kriegt die Höllenbrut immer Futter.

3

Park

Auf der Rückfahrt redete sie nicht mit ihm.

Den ganzen Tag hatte Park sich den Kopf darüber zerbrochen, wie er dem neuen Mädchen entkommen könnte. Er musste den Platz wechseln. Das war die einzige Möglichkeit. Aber auf welchen Platz? Er hatte keine Lust, sich irgendwem aufzudrängen. Und schon die Tatsache, dass er den Platz wechselte, würde Steves Aufmerksamkeit wecken.

Park hatte eigentlich damit gerechnet, dass Steve ihn sich vorknöpfen würde, wenn er das Mädchen sich neben ihn setzen ließ, aber Steve hatte sofort wieder über Kung Fu geredet. Park wusste übrigens sehr viel über Kung Fu. Und zwar nicht, weil seine Mutter Koreanerin war, sondern weil sein Vater von Kampfsportarten besessen war. Park und sein kleiner Bruder, Josh, nahmen Taekwondo-Unterricht, seit sie laufen konnten.

Den Platz wechseln, aber wie …

Wahrscheinlich könnte er einen Platz vorne bei den Neuntklässlern finden, aber das wäre ein Wahnsinnszeichen von Schwäche. Und er mochte sich gar nicht vorstellen, was los wäre, wenn er das komische neue Mädchen allein hinten im Bus ließ.

Er hasste es, so zu denken.

Wenn sein Vater wüsste, dass er so dachte, würde er ihn einen Waschlappen nennen. Und zwar ausnahmsweise laut. Wenn seine Oma es wüsste, würde sie ihm eins hinten auf den Kopf geben. Wo bleiben deine Manieren?, würde sie sagen. Behandelt man so ein Mädchen, das vom Glück verlassen ist?

Aber Park hatte nicht so viel Glück – oder das Ansehen –, um es auf den Rotschopf zu verschwenden. Es reichte gerade aus, um sich keinen Ärger einzuhandeln. Und natürlich war es mies, aber er war irgendwie dankbar, dass es Leute wie das Mädchen gab. Denn es gab nun auch mal Leute wie Steve und Mikey und Tina, und die brauchten Futter. Wenn es nicht den Rotschopf traf, dann halt einen anderen. Und wenn es keinen anderen traf, dann traf es ihn.

Heute Morgen hatte Steve ihn in Ruhe gelassen, aber dabei würde es nicht bleiben …

Im Geiste hörte er wieder seine Oma: Im Ernst, mein Junge, dir bereitet es Bauchschmerzen, weil du etwas Nettes machst und andere es sehen?

Dabei war es gar nicht so nett gewesen, dachte Park. Er hatte das Mädchen sich neben ihn setzen lassen, aber innerlich über sie geflucht. Als sie am Nachmittag in seinem Englischkurs auftauchte, fühlte er sich von ihr verfolgt …

»Eleanor«, sagte Mr Stessman. »Ein beeindruckender Name. Der Name einer Königin.«

»So heißt die dicke Schwester der Chipettes«, flüsterte jemand hinter Park. Irgendwer lachte.

Mr Stessman wies auf einen leeren Tisch ganz vorne.

»Heute lesen wir Gedichte, Eleanor«, sagte er. »Dickinson. Vielleicht möchten Sie anfangen.«

Er schlug ihr Buch auf der entsprechenden Seite auf und zeigte es ihr. »Legen Sie los«, sagte er, »laut und deutlich. Ich sage, wenn Sie aufhören sollen.«

Das neue Mädchen schaute Mr Stessman an, als hoffte sie, das Ganze sei ein Scherz. Als klar war, dass es keiner war – er machte so gut wie nie Scherze –, fing sie an zu lesen.

»Ich war hungrig jahrelang«, las sie. Ein paar Schüler lachten. Gütiger Himmel, dachte Park, nur Mr Stessman brachte es fertig, ein dickes Mädchen am ersten Schultag ein Gedicht über Essen lesen zu lassen.

»Lesen Sie weiter, Eleanor«, sagte Mr Stessman.

Sie fing noch mal von vorne an, was Park für eine schlechte Idee hielt.

»Ich war hungrig jahrelang«, las sie, nunmehr lauter.

Mein Mittag kam, die Zeit fürs Mahl;

Mit Zittern zog den Tisch ich nah

Und griff nach dem besondren Wein.

Auf Tafeln hab ich derlei oft erspäht,

Wenn hungrig, einsam ich den Blick gewandt

Zu Fenstern und auf Reichtum dort,

Den mein zu nennen keine Hoffnung war.

Mr Stessman unterbrach sie nicht, daher las sie das ganze Gedicht in einem ruhigen, trotzigen Tonfall. Demselben Tonfall, mit dem sie Tina geantwortet hatte.

»Das war wunderbar«, sagte Mr Stessman, als sie fertig war. Er strahlte übers ganze Gesicht. »Einfach wunderbar. Ich hoffe, Sie bleiben bei uns, Eleanor, zumindest bis wir Medea durchnehmen. Das ist eine Stimme, die auf einem von Drachen gezogenen Streitwagen daherkommt.«

Als das Mädchen in Geschichte erschien, machte Mr Sanderhoff kein besonderes Aufhebens. Aber er sagte: »Ah. Königin Eleonore von Aquitanien«, als sie ihm ihre Unterlagen gab. Sie setzte sich ein paar Reihen vor Park hin und starrte, soweit er es beurteilen konnte, die ganze Stunde in die Sonne.

Park fiel nicht ein, wie er das Mädchen im Bus loswerden könnte. Also stülpte er sich den Kopfhörer über, bevor sie sich setzte, und drehte die Lautstärke voll auf.

Zum Glück versuchte sie nicht, mit ihm zu reden.

4

Eleanor

Am Nachmittag kam sie vor ihren jüngeren Geschwistern nach Hause, und das war gut, denn sie musste noch das gestrige Wiedersehen verkraften. Ihre Ankunft am Abend vorher war die reinste Horrorshow gewesen …

Eleanor hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, wieder nach Hause zu kommen, und gemerkt, wie sehr sie alle vermisste – sie war überzeugt, man werde sie mit einer Konfettiparade empfangen und alle würden ihr um den Hals fallen.

Doch als sie ins Haus kam, war es, als würden ihre Geschwister sie nicht erkennen.

Ben warf ihr nur einen kurzen Blick zu, und Maisie – Maisie saß auf Richies Schoß. Eleanor hätte am liebsten gekotzt, aber sie hatte ihrer Mutter versprochen, sich für den Rest ihres Lebens von ihrer besten Seite zu zeigen.

Nur Mouse rannte los und umarmte sie. Dankbar hob sie ihn hoch. Er war inzwischen fünf und ziemlich schwer.

»Hey, Mouse«, sagte sie. Alle nannten ihn so, von klein auf; sie wusste nicht mehr, warum. Er erinnerte sie eher an ein großes, pummeliges Hündchen – immer aufgeregt, immer bereit, jemandem auf den Schoß zu springen.

»Schau, Dad, das ist Eleanor«, sagte Mouse und hüpfte nach unten. »Kennst du Eleanor?«

Richie tat, als hörte er nichts. Maisie sah zu und lutschte am Daumen. Eleanor hatte das seit Jahren nicht bei ihr gesehen. Sie war jetzt acht, aber mit dem Daumen im Mund glich sie einem kleinen Kind.

Das Baby erinnerte sich überhaupt nicht an sie. Es war zwei und saß bei Ben auf dem Boden. Ben war elf. Er starrte auf die Wand hinter dem Fernseher.

Ihre Mutter trug den Seesack mit ihren Sachen in ein Zimmer neben dem Wohnzimmer. Eleanor folgte ihr. Das Zimmer war winzig, gerade groß genug für eine Kommode und ein Stockbett. Mouse kam hinter ihnen hergerannt. »Du kriegst das obere Bett«, sagte er. »Ben muss auf dem Boden bei mir schlafen. Als Mom uns das gesagt hat, hat Ben geweint.«

»Regt euch nicht auf«, sagte ihre Mutter leise. »Wir müssen uns alle umstellen.«

Doch in diesem Zimmer war kein Platz zum Umstellen. (Was Eleanor lieber für sich behielt.) Sie ging ins Bett, sobald sie konnte, damit sie nicht mehr ins Wohnzimmer zurückmusste.

Als sie mitten in der Nacht aufwachte, lagen ihre drei Brüder schlafend auf dem Fußboden. Es war unmöglich aufzustehen, ohne auf einen zu treten, und sie wusste nicht mal, wo das Bad war …

Sie fand es. Das Haus hatte nur fünf Zimmer, und das Bad war kaum der Rede wert. Es war an die Küche angeklatscht – buchstäblich angeklatscht – und ohne Tür. Dieses Haus haben Höhlentrolle entworfen, dachte Eleanor. Jemand, wahrscheinlich ihre Mutter, hatte ein geblümtes Laken zwischen den Kühlschrank und die Toilette gehängt.

Als Eleanor von der Schule nach Hause kam, schloss sie mit ihrem neuen Schlüssel die Tür auf. Wahrscheinlich war tagsüber alles noch deprimierender – schäbig und kahl –, aber wenigstens hatte sie die Wohnung und ihre Mutter für sich.

Es war komisch, nach Hause zu kommen und ihre Mutter zu sehen, die einfach in der Küche stand, als wäre alles ganz – normal. Sie kochte gerade eine Suppe und schnitt Zwiebeln. Eleanor hätte am liebsten geheult.

»Wie war die Schule?«, fragte ihre Mutter.

»Gut«, sagte Eleanor.

»Hattest du einen schönen ersten Tag?«

»Klar. Ich meine, ja, halt eben Schule.«

»Musst du viel nachholen?«

»Ich glaube nicht.«

Ihre Mutter wischte sich die Hände hinten an der Jeans ab und strich sich das Haar hinter die Ohren. Zum zehntausendsten Mal war Eleanor fasziniert von ihrer Schönheit.

Als kleines Mädchen hatte Eleanor immer gedacht, ihre Mutter sehe aus wie eine Königin aus einem Märchen.

Nicht wie eine Prinzessin – Prinzessinnen waren nur hübsch. Eleanors Mutter war schön. Sie war groß und würdevoll, mit breiten Schultern und einer eleganten Taille. Ihr gesamter Knochenbau wirkte entschlossener als bei anderen. Als wäre er nicht nur dazu da, sie zu stützen, sondern um eine Aussage zu treffen.

Sie hatte eine kräftige Nase und ein spitzes Kinn, und ihre hohen Wangenknochen waren ausgeprägt. Wenn man ihre Mutter so sah, wirkte sie wie die geschnitzte Galionsfigur am Bug eines Wikingerschiffs oder wie ein Bild auf einem Flugzeug …

Eleanor sah ihr sehr ähnlich.

Aber nicht ähnlich genug.

Eleanor sah aus wie ihre Mutter, nur durch ein Aquarium betrachtet. Runder und weicher. Verschwommen. Wo ihre Mutter einer Statue glich, war Eleanor schwer. Wo ihre Mutter wohlproportioniert war, wirkte Eleanor plump.

Nach fünf Kindern hatte ihre Mutter immer noch Brüste und Hüften wie eine Frau in einer Zigarettenwerbung. Eleanor dagegen war mit ihren sechzehn Jahren gebaut wie die Wirtin eines mittelalterlichen Gasthofs.

Sie hatte von allem zu viel und war zu klein, um es zu verbergen. Ihr Busen fing knapp unter dem Kinn an, ihre Hüften waren … eine Parodie. Selbst das lange Haar ihrer Mutter, gewellt und kastanienbraun, war eine seriösere Version von Eleanors leuchtend roten Locken.

Eleanor fasste sich unsicher an den Kopf.

»Ich muss dir was zeigen«, sagte ihre Mutter und legte den Deckel auf den Suppentopf, »aber ich wollte nicht, dass die Kleinen dabei sind. Los, komm mit.«

Eleanor folgte ihr ins Kinderzimmer. Ihre Mutter öffnete den Schrank und holte einen Stapel Handtücher und einen Wäschekorb voller Socken heraus.

»Ich konnte nicht alles von dir mitnehmen, als wir umgezogen sind«, sagte sie. »Wie du siehst, haben wir hier nicht so viel Platz wie im alten Haus …« Sie griff in den Schrank und zog eine schwarze Plastikmülltüte heraus. »Aber ich hab so viel eingepackt, wie ich konnte.«

Sie reichte Eleanor die Tüte und sagte: »Tut mir leid wegen der restlichen Sachen.«

Eleanor hatte angenommen, dass Richie ihren ganzen Kram vor einem Jahr in den Müll geworfen hatte, zehn Sekunden nachdem er sie rausgeschmissen hatte. Sie nahm die Tüte in den Arm. »Schon okay«, sagte sie. »Danke.«

Ihre Mutter strich ihr kurz über die Schulter. »In ungefähr zwanzig Minuten kommen die Kleinen nach Hause«, sagte sie, »wir essen dann gegen halb fünf zu Abend. Mir ist es ganz lieb, wenn alles fertig ist, bevor Richie zurück ist.«

Eleanor nickte. Sie öffnete die Tüte, sobald ihre Mutter aus dem Zimmer war. Sie wollte sehen, was ihr noch gehörte …

Als Erstes erkannte sie die Papierpuppen. Sie waren lose in der Tüte und zerknittert; ein paar waren mit Malstiften markiert. Es war Jahre her, seit Eleanor mit ihnen gespielt hatte, aber sie freute sich trotzdem. Sie strich sie glatt und legte sie auf einen Stapel.

Unter den Puppen befanden sich ungefähr zehn Bücher, die ihre Mutter vermutlich wahllos eingepackt hatte, weil sie Eleanors Lieblingsbücher nicht kannte. Sie freute sich, dass Garp und wie er die Welt sah und Unten am Fluss dabei waren. Ärgerlich war, dass Olivers Freunde es geschafft hatten, Love Story dagegen nicht. Und Kleines Volk war dabei, aber nicht Junge Menschen oder Jo’s Boys.

Die Tüte enthielt noch mehr Papierkram. In ihrem alten Zimmer hatte Eleanor einen Aktenschrank gehabt, und wie es aussah, hatte ihre Mutter die meisten Mappen eingepackt. Eleanor versuchte, alles ordentlich zu stapeln, sämtliche Zeugnisse, Schulfotos und Briefe von Brieffreunden.

Sie fragte sich, wo der Rest der Sachen aus dem alten Haus gelandet war. Nicht nur ihre, sondern auch die der anderen. Zum Beispiel die Möbel und Spielsachen oder die vielen Pflanzen und Gemälde ihrer Mutter. Die dänischen Hochzeitsteller ihrer Oma … Das kleine rote Pferd aus dem skandinavischen Souvenirladen, das über der Spüle hing.

Vielleicht war alles irgendwo weggepackt. Vielleicht hoffte ihre Mutter, das Höhlentrollhaus sei nur eine Zwischenlösung.

Eleanor hoffte immer noch, dass auch Richie nur eine Zwischenlösung war.

Am Boden der schwarzen Mülltüte lag eine Schachtel. Ihr Herz machte einen kleinen Satz, als sie die Schachtel sah. Ihr Onkel in Minnesota hatte ihrer Familie zu Weihnachten immer ein monatliches Obst-Abo geschenkt, und Eleanor und ihre Geschwister stritten sich immer um die Schachteln, in denen das Obst kam. Es war albern, aber es waren gute Schachteln – stabil, mit hübschen Deckeln. Diese war eine Grapefruitschachtel, die an den Ecken vom vielen Benutzen ganz weich war.

Eleanor öffnete sie behutsam. Nichts war angefasst worden: Ihr Briefpapier, ihre Farbstifte und ihre Prismacolormarker (auch ein Weihnachtsgeschenk von ihrem Onkel). Ein paar Werbekärtchen aus dem Einkaufszentrum, die immer noch nach teurem Parfüm rochen. Und ihr Walkman. Unberührt. Ohne Batterien, aber trotzdem, er war da. Und wo ein Walkman war, konnte man Musik hören.

Eleanor ließ den Kopf über die Schachtel sinken. Sie roch nach Chanel No. 5 und Bleistiftspänen. Sie seufzte.

Aber sie wusste nicht, wohin mit ihren geretteten Habseligkeiten. In der Kommode war noch nicht mal Platz für ihre Kleider. Sie verstaute die Schachtel und die Bücher wieder in der Mülltüte und legte sie dann oben auf der Schrankablage so weit wie möglich nach hinten.

5

Park

Mr Stessman ließ alle ein Gedicht auswendig lernen, egal welches. Sie durften sich selbst eins aussuchen.

»Sie werden alles andere vergessen, was ich Ihnen beibringe«, sagte Mr Stessman und strich über seinen Schnurrbart. »Alles. Vielleicht erinnern Sie sich gerade noch daran, dass Beowulf ein Monster besiegt hat. Vielleicht erinnern Sie sich gerade noch, dass ›Sein oder nicht sein‹ aus Hamlet stammt und nicht aus Macbeth …

Aber alles andere? Vergessen Sie es.«

Langsam schlenderte er zwischen den Tischen auf und ab. Mr Stessman liebte solche Auftritte – Theater in der Stunde. Er blieb neben Park stehen und stützte sich mit der Hand lässig auf die Stuhllehne. Park hörte auf zu zeichnen und richtete sich auf. Er konnte sowieso nicht zeichnen.

»Sie werden also ein Gedicht auswendig lernen«, fuhr Mr Stessman fort, hielt einen Augenblick inne und lächelte zu Park hinab wie Gene Wilder in der Schokoladenfabrik.

»Unser Gedächtnis liebt Gedichte. Weil sie hängen bleiben. Wenn Sie Ihr Gedicht auswendig lernen und wir uns in fünf Jahren im Village Inn begegnen, werden Sie sagen: ›Mr Stessman, ich erinnere mich immer noch an ›Der Weg, den ich nicht nahm‹! Hören Sie … Ein Weg ward zwei im gelben Wald …‹«

Er ging zum nächsten Tisch weiter. Park atmete auf.

»Übrigens wird niemand ›Der Weg, den ich nicht nahm‹ auswählen, ich kann es nicht mehr hören. Und keinen Shel Silverstein. Er ist großartig, aber Sie sind inzwischen weiter. Wir sind alle erwachsen. Wählen Sie ein Gedicht für Erwachsene aus … Wählen Sie ein romantisches Gedicht aus, das ist mein Rat. Das bringt Ihnen am meisten.«

Er ging am Tisch des neuen Mädchens vorbei, aber sie schaute weiter aus dem Fenster.

»Natürlich bleibt es Ihnen überlassen. Sie können ›Ein aufgeschobener Traum‹ nehmen, Eleanor. Es ist ergreifend und wahr. Aber wie oft können Sie das einsetzen?

Nein, wählen Sie ein Gedicht, das zu Ihnen spricht. Wählen Sie ein Gedicht, das Ihnen hilft, zu jemandem zu sprechen.«

Park wollte ein Gedicht nehmen, das sich reimte, damit er es leichter behalten konnte. Er mochte Mr Stessman wirklich, aber manchmal wünschte er, er würde nicht so dick auftragen. Immer wenn er sich im Unterricht so aufführte, schämte sich Park für ihn.

»Wir treffen uns morgen in der Bibliothek«, sagte Mr Stessman, als er wieder an seinem Pult war. »Morgen sammeln wir Rosenknospen.«

Die Klingel läutete. Wie bestellt.

6

Eleanor

»Pass auf, Zottelkopf.« Tina drängte sich grob an Eleanor vorbei und stieg in den Bus.

Im Sportunterricht hatte sie alle gezwungen, Eleanor Clown zu nennen, aber inzwischen war sie schon eine Stufe weiter und nannte sie Zottelkopf und Bloody Mary. »Dein Kopf sieht nämlich aus wie ein gebrauchter Tampon«, hatte sie in der Umkleidekabine erklärt.

Es war nur logisch, dass Tina in Eleanors Sportkurs war – denn Sport war die Fortsetzung der Hölle, und Tina war definitiv ein Teufel. Ein merkwürdiger Teufel in Kleinformat. So was wie ein Spielzeugteufel. Und sie scharte eine Gang von Unterteufeln um sich, alle in den gleichen Turnanzügen.

Genau genommen trugen alle die gleichen Turnanzüge.

Schon in ihrer alten Schule hatte Eleanor es schrecklich gefunden, dass sie kurze Turnhosen anziehen mussten. (Sie hasste ihre Beine noch mehr als den Rest ihres Körpers.) Aber in der North mussten sie Turnanzüge tragen. Einteiler aus Polyester. Das Unterteil war rot, das Oberteil rotweiß gestreift und das Ganze vorne mit einem Reißverschluss.

»Rot ist nicht unbedingt deine Farbe, Clown«, hatte Tina gesagt, als sie Eleanor das erste Mal in dem Anzug sah. Die anderen Mädchen lachten alle, selbst die schwarzen, die Tina nicht ausstehen konnten. Über Eleanor zu lachen war etwas, in dem sich Schüler aller Hautfarben einig waren.

Nachdem Tina sich an ihr vorbeigezwängt hatte, ließ Eleanor sich beim Einsteigen in den Bus Zeit – aber sie war trotzdem noch vor dem blöden kleinen Asiaten auf ihrem Platz. Das hieß, dass sie aufstehen musste, um ihn auf seinen Fensterplatz zu lassen. Und das war irgendwie unangenehm. Alles war unangenehm. Bei jedem Schlagloch, über das der Bus fuhr, fiel sie dem Typen quasi in den Schoß.

Vielleicht blieb ja irgendjemand aus dem Bus weg oder starb oder sonst was, dann könnte sie sich von ihm wegsetzen.

Wenigstens redete er nie mit ihr. Oder schaute sie an.

Jedenfalls glaubte sie das; sie schaute ihn ja nie an.

Manchmal betrachtete sie seine Schuhe. Er hatte coole Schuhe. Und manchmal schielte sie zu ihm, was er las …

Immer Comics.

Eleanor nahm nie was zum Lesen mit in den Bus. Sie wollte nicht, dass Tina oder irgendwer sie mit gesenktem Kopf erwischte.

Park

Irgendwie war es ungut, jeden Tag neben einem Mädchen zu sitzen und nicht mit ihr zu reden. Auch wenn sie komisch war. (Und wie komisch! Heute sah sie aus wie ein Weihnachtsbaum, hatte alles Mögliche an ihre Klamotten gepinnt, ausgeschnittene Stofffiguren, Bänder …) Die Rückfahrt konnte gar nicht schnell genug vergehen. Park konnte es kaum erwarten, von ihr wegzukommen, von allen wegzukommen.

»Hey, wo ist dein Dobok?«

Eigentlich wollte er allein in seinem Zimmer zu Abend essen, aber sein kleiner Bruder ließ ihn nicht. Josh stand schon in seinem Taekwondo-Anzug in der Tür und verschlang eine Hähnchenkeule.

»Dad kann jeden Moment kommen«, sagte Josh durch die Keule, »und wenn du nicht fertig bist, scheißt er dich zusammen.«

Ihre Mutter erschien hinter Josh und versetzte ihm eine Kopfnuss. »Keine Kraftausdrücke, Schmuddelmund.« Sie musste dabei den Arm hochstrecken. Josh kam nach seinem Vater; er war schon jetzt mindestens siebzehn Zentimeter größer als seine Mutter – und sieben Zentimeter größer als Park.

Und das nervte ziemlich.

Park schob Josh zur Tür hinaus und knallte sie zu. Trotz des wachsenden Größenunterschieds verteidigte Park seinen Status als älterer Bruder, indem er so tat, als könnte er seinem Bruder immer noch in den Hintern treten.

Im Taekwondo konnte er ihn allerdings immer noch schlagen – aber nur, weil Josh in jeder Sportart, in der ihm seine Größe keinen offensichtlichen Vorteil brachte, schnell ungeduldig wurde. Der Footballtrainer der Highschool kam schon zu den Schülerspielen, um sich Josh anzusehen.

Park zog seinen Dobok an und fragte sich, ob er demnächst womöglich Joshs abgetragene Sachen anziehen musste. Vielleicht könnte er einen Filzstift nehmen und aus dem Husker auf Joshs Footballhemden ein Hüsker Dü machen. Aber vielleicht kam es gar nicht so weit – konnte ja sein, dass er nie größer als einen Meter dreiundsechzig und aus seinen jetzigen Sachen nie rauswachsen würde.

Er zog seine Chuck Taylors an, ging mit seinem Teller in die Küche und aß über der Anrichte. Seine Mutter versuchte gerade, einen Soßenfleck mit einem Waschlappen aus Joshs weißer Jacke zu entfernen.

»Mindy?«

So kam Parks Vater jeden Abend nach Hause, wie der Vater in einer Sitcom. (Lucy?) Und seine Mutter antwortete dann, von wo immer sie war: Bin hier!

Allerdings sagte sie: Bin hii-jä! Denn anscheinend hörte sie nie auf so zu sprechen, als wäre sie erst gestern aus Korea gekommen. Manchmal glaubte Park, dass sie ihren Akzent absichtlich bewahrte, weil er seinem Vater gefiel. Andererseits war seine Mutter in jeder anderen Hinsicht sehr bemüht, sich anzupassen … Wenn sie so hätte sprechen können, als wäre sie gleich um die Ecke aufgewachsen, dann hätte sie es auch getan.

Sein Vater kam in die Küche gerannt und nahm seine Mutter in die Arme. Das taten sie auch jeden Abend. Hemmungslose Knutschorgien, egal, wer dabei war. Es war, als würde ein baumstarker Holzfäller mit einer kleinen Disney-Puppe rummachen.

Park zupfte seinen Bruder am Ärmel. »Los, wir gehen.« Sie konnten im Impala warten. Ihr Vater würde gleich nachkommen, wenn er seinen riesigen Dobok angezogen hatte.

Eleanor

Sie konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen, so früh zu Abend zu essen.

Wann hatte das alles angefangen? Früher hatten sie alle zusammen gegessen, sogar Richie … Und jetzt war es so, als wollte ihre Mutter sie alle aus dem Weg haben, bevor er heimkam.

Sie kochte ihm sogar etwas anderes. Die Kinder bekamen Käsetoast, Richie ein Steak. Eleanor beklagte sich auch gar nicht über den Käsetoast – er war eine schöne Abwechslung zur Bohnensuppe, Bohnen mit Reis, Spiegeleier mit Reis …

Nach dem Essen verschwand Eleanor gewöhnlich zum Lesen in ihr Zimmer, während die Kleinen immer nach draußen gingen. Was sollten sie machen, wenn es kalt und früh dunkel wurde? Würden sie sich alle im Kinderzimmer verstecken? Es war verrückt. Verrückt wie im Tagebuch der Anne Frank.

Eleanor kletterte auf ihr Bett und holte die Schachtel mit dem Briefpapier heraus. Die blöde graue Katze schlief wieder in ihrem Bett. Sie schob sie runter.

Sie öffnete die Grapefruitschachtel und blätterte ihr Briefpapier durch. Sie hatte sich vorgenommen, ihren Freunden aus der alten Schule zu schreiben. Als sie ging, hatte sie keine Gelegenheit gehabt, sich zu verabschieden. Ihre Mutter war aus heiterem Himmel aufgetaucht, hatte sie aus dem Unterricht geholt und nur gesagt: »Pack deine Sachen, du kommst mit nach Hause.«

Ihre Mutter hatte sich so gefreut.

Und Eleanor hatte sich auch so gefreut.

Sie waren sofort zur North gefahren, um Eleanor anzumelden, und hatten dann auf dem Weg zum neuen Haus bei Burger King angehalten. Ihre Mutter hatte ständig ihre Hand gedrückt … Und Eleanor hatte so getan, als sähe sie die blauen Flecken am Handgelenk ihrer Mutter nicht.

Die Tür ging auf, und ihre kleine Schwester kam mit der Katze im Arm herein.

»Mom will, dass du die Tür auflässt«, sagte Maisie, »damit es durchzieht.« Sämtliche Fenster im Haus waren offen, aber von Durchzug keine Spur. Durch den Türspalt sah sie Richie auf dem Sofa sitzen. Sie duckte sich schnell, bis sie ihn nicht mehr sah.

»Was machst du da?«, fragte Maisie.

»Einen Brief schreiben.«

»An wen?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Darf ich hochkommen?«

»Nein.« Im Augenblick dachte Eleanor nur daran, ihre Schachtel sicher aufzubewahren. Sie wollte nicht, dass Maisie die Buntstifte und das saubere Papier sah. Außerdem wollte sie Maisie irgendwie immer noch dafür bestrafen, dass sie auf Richies Schoß gesessen hatte.

Früher wäre das nicht vorgekommen.

Bevor Richie Eleanor rausgeworfen hatte, waren alle Geschwister gegen ihn vereint. Vielleicht hatte sie ihn am meisten und auch am offensten gehasst, aber sie waren alle auf ihrer Seite – Ben, Maisie und sogar Mouse. Mouse klaute oft Richies Zigaretten und versteckte sie. Und Mouse war derjenige, den sie losschickten, um an die Tür ihrer Mutter zu klopfen, wenn sie Bettfedern quietschen hörten …

Wenn es schlimmer war als quietschende Bettfedern, wenn geschrien und geweint wurde, kauerten sie sich zu fünft auf Eleanors Bett zusammen. (Im alten Haus hatte jeder ein eigenes Bett gehabt.)

Maisie saß dann rechts von Eleanor. Wenn Mouse weinte und Ben ausdruckslos ins Leere starrte, drückten Maisie und Eleanor die Augen zu.

»Ich hasse ihn«, sagte Eleanor.

»Ich hasse ihn so sehr, dass ich wünschte, er wäre tot«, antwortete Maisie.

»Ich hoffe, er fällt bei der Arbeit von einer Leiter.«

»Ich hoffe, er wird von einem Lastwagen überfahren.«

»Einem Müllwagen.«

»Ja«, sagte Maisie und biss die Zähne zusammen, »und der ganze Müll soll auf seine Leiche fallen.«

»Und dann überfährt ihn noch ein Bus.«

»Ich hoffe, dass ich drinsitze.«

Maisie legte die Katze wieder auf Eleanors Bett. »Sie schläft gern da oben«, sagte sie.

»Sagst du jetzt auch Dad zu ihm?«, fragte Eleanor.

»Er ist jetzt unser Dad«, antwortete Maisie.

Eleanor wachte mitten in der Nacht auf. Richie war im Wohnzimmer vor laufendem Fernseher eingeschlafen. Auf dem Weg zum Bad hielt sie die Luft an und drückte vor lauter Angst nicht die Spülung. Als sie wieder in ihrem Zimmer war, schloss sie die Tür. Scheiß auf den Durchzug.

7

Park

»Ich frag Kim, ob sie mit mir ausgeht«, sagte Cal.

»Tu es nicht«, sagte Park.

»Warum nicht?« Sie saßen in der Bibliothek, wo sie nach Gedichten suchen sollten. Cal hatte schon ein kurzes ausgewählt, über ein Mädchen namens Julia und die »Verflüssigung ihrer Kleider«. (»Krass«, sagte Park. »Es kann nicht krass sein«, widersprach Cal. »Es ist dreihundert Jahre alt.«)

»Weil sie Kim ist«, sagte Park. »Du kannst nicht mit ihr ausgehen. Schau sie dir an.«

Kim saß am übernächsten Tisch mit zwei anderen adretten Mädchen.

»Schau sie dir an«, sagte Cal, »sie ist supersüß.«

»Ich glaub es nicht«, sagte Park. »Du bist total bescheuert.«

»Was denn? Das sagt man so. Ich denk mir das nicht aus.«

»Das hast du aus deinem Skateboard-Magazin, stimmt’s?«

»So lernt man neue Wörter, Park« – Cal klopfte auf einen Gedichtband – »lesen.«

»Du bemühst dich zu sehr.«

»Sie ist süß«, sagte Cal, nickte in Richtung Kim und holte ein Salamiwürstchen aus seinem Rucksack.

Park sah wieder zu Kim. Sie hatte einen blonden Bob mit einem steifen, nach innen gewellten Pony, und sie besaß als einzige in der Schule eine Swatch-Uhr. Kim gehörte zu den Leuten, die nie das Gesicht verzogen … Sie würde nie Augenkontakt mit Cal suchen, aus Angst, er könnte einen Fleck hinterlassen.

»Das ist mein Jahr«, sagte Cal. »Ich such mir ne Freundin.«

»Aber wahrscheinlich nicht Kim.«

»Warum nicht Kim? Glaubst du, ich muss niedriger ansetzen?«

Park musterte ihn. Cal sah nicht übel aus. Er ähnelte ein bisschen einem hoch gewachsenen Barney Rubble … Zwischen seinen Schneidezähnen steckten schon erste Salamistückchen.

»Setz woanders an«, sagte Park.

»Du kannst mich mal«, sagte Cal, »ich fang ganz oben an. Und dir besorg ich auch ein Mädchen.«

»Danke, ich verzichte«, sagte Park.

»Wir gehen zu viert aus«, sagte Cal.

»Nein.«

»Im Impala.«

»Mach dir mal keine Hoffnung.« Parks Vater war sehr streng, was Parks Fahrerlaubnis anging; am Abend vorher hatte er verkündet, Park müsse erst mal lernen, ein Auto mit manueller Gangschaltung zu fahren. Park schlug den nächsten Gedichtband auf. Es ging nur um Krieg. Er schloss ihn wieder.

»Da ist ja schon ein Mädchen, das was von dir will«, sagte Cal. »Sieht aus, als hätte da jemand das Dschungelfieber.«

»Dein Rassismus haut nicht hin. Schließlich bin ich nicht schwarz«, sagte Park und blickte auf. Cal nickte in Richtung der hinteren Ecke in der Bibliothek. Das neue Mädchen saß da und starrte sie direkt an.

»Die ist ne ganz schöne Brumme«, sagte Cal, »aber der Impala ist ja ein geräumiges Auto.«

»Sie schaut nicht mich an. Sie starrt bloß vor sich hin. Pass auf.« Park winkte dem Mädchen zu, aber sie reagierte nicht.

Seit dem ersten Tag im Bus hatte er erst einmal Augenkontakt mit ihr gehabt. Letzte Woche, in Geschichte, und sie hatte ihn mit ihrem Blick fast durchbohrt.

Wenn du nicht angestarrt werden willst, hatte Park damals gedacht, dann trag keine Fischköder im Haar. Ihr Schmuckkästchen glich wahrscheinlich einem Ramschladen. Wobei nicht alles, was sie trug, unbedingt schlecht war …

Sie hatte ein Paar Vans, die ihm gefielen, bedruckt mit Erdbeeren. Und sie hatte einen Blazer aus Haileder, den er selber anziehen würde, wenn er geglaubt hätte, dass er damit ungestraft davongekommen wäre.

Glaubte sie vielleicht, dass sie damit ungestraft davonkam?

Park wappnete sich jeden Morgen, bevor sie in den Bus stieg, aber gegen ihren Anblick konnte man sich gar nicht genug wappnen.

»Kennst du sie?«, fragte Cal.

»Nein«, sagte Park schnell. »Sie fährt bei mir im Bus mit. Sie ist komisch.«

»Dschungelfieber gibt es wirklich. Ich denk mir das nicht aus«, sagte Cal.

»Bei Schwarzen. Wenn jemand auf Schwarze steht. Und es ist kein Kompliment, glaub ich jedenfalls nicht.«

»Deine Leute kommen doch aus dem Dschungel«, sagte Cal und zeigte auf Park. »Apocalypse Now, erinnerst du dich?«

Eleanor

Eleanor dachte nicht daran, sich um einen Gedichtband von E. E. Cummings zu streiten als gäbe es keine anderen Dichter. In der Abteilung für afroamerikanische Literatur entdeckte sie einen leeren Tisch.

Das war auch so was Beschissenes an der neuen Schule – Bescheuertes, verbesserte sie sich.

Die meisten Schüler waren schwarz, aber in den Kursen der Leistungsstufe waren die meisten weiß. Sie wurden aus West-Omaha herangekarrt. Und die weißen Schüler aus der Siedlung, die Minderbegabten, kamen mit dem Bus aus der anderen Richtung.

Eleanor wünschte, sie hätte noch mehr solcher Kurse. Sie wünschte, es gäbe einen Leistungsstufenkurs in Sport …

Als ob man sie da aufnehmen würde. Man würde sie erst mal zum Fördersport schicken. Mit den anderen dicken Mädchen, die keine Sit-ups konnten.

Egal. Die Schüler in den Leistungsstufenkursen – schwarz, weiß oder aus Kleinasien – waren in der Regel netter. Vielleicht waren sie insgeheim genauso gemein, doch sie hatten Angst, Ärger zu bekommen. Oder vielleicht waren sie insgeheim genauso gemein, aber man hatte sie auf Höflichkeit getrimmt, und sie räumten ihre Sitzplätze im Bus für Alte und Mädchen.

Eleanor hatte Leistungsstufenkurse in Englisch, Geschichte und Geografie – den Rest des Tages verbrachte sie im Irrenhaus. Echt, wie in dem Film Saat der Gewalt. Wahrscheinlich sollte sie sich in ihren schlauen Kursen mehr anstrengen, damit sie nicht rausflog.

Sie fing an, ein Gedicht mit dem Titel »Der gefangene Vogel« in ihr Notizbuch zu schreiben … Süß. Es reimte sich.

8

Park

Sie las seine Comics mit.

Am Anfang dachte Park, er bilde sich das nur ein. Irgendwie hatte er ständig das Gefühl, dass sie ihn beobachtete, aber immer wenn er sie anschaute, hielt sie den Kopf gesenkt.

Schließlich wurde ihm klar, dass sie auf seinen Schoß starrte. Nicht anzüglich. Sie las seine Comics mit – er sah, wie sich ihre Augen bewegten.

Park hatte nicht gewusst, dass jemand mit rotem Haar braune Augen haben konnte. (Er hatte auch nicht gewusst, dass jemand so rotes Haar haben konnte.) Die Augen des neuen Mädchens waren dunkler als die seiner Mutter, richtig dunkel, fast wie Löcher im Gesicht.

Das klang schlimm, war es aber nicht. Vielleicht war das sogar das Beste an ihr. Es erinnerte ihn daran, wie Künstler manchmal Jean Grey in X-Men zeichnen, wenn sie ihre telepathischen Kräfte einsetzt, ihre Augen waren dann knallschwarz und außerirdisch.

Heute trug das Mädchen ein riesiges Männerhemd mit Muschelmuster. Der Kragen war vermutlich irre groß gewesen, ungefähr diskusgroß, denn sie hatte ihn abgeschnitten, am Rand war er ausgefranst. Um ihren Pferdeschwanz hatte sie eine Krawatte zur Schleife gebunden. Sie sah lächerlich aus.

Und sie schaute in seine Comics.

Park wurde das Gefühl nicht los, dass er was zu ihr sagen sollte. Irgendwas, und sei es nur Hallo oder Entschuldige. Aber er hatte schon zu lange geschwiegen seit ihrer ersten Begegnung, bei der er sie verflucht hatte, und jetzt war alles unwiderruflich komisch. Eine ganze Stunde am Tag. Eine halbe Stunde auf der Fahrt zur Schule, eine halbe Stunde zurück.

Park sagte nichts. Er öffnete seine Comics nur ein bisschen weiter und blätterte langsamer um.

Eleanor

Ihre Mutter wirkte müde, als Eleanor nach Hause kam. Noch müder als sonst. Verhärtet und kurz vor der Auflösung begriffen.

Als die Kleinen nach der Schule hereinstürmten, verlor sie wegen einer Kleinigkeit die Beherrschung – Ben und Mouse stritten sich um ein Spielzeug – und schob alle zur Hintertür hinaus, auch Eleanor.

Eleanor war so verdattert, dass sie kurz auf der Hintertreppe stand und Richies Rottweiler betrachtete. Er hatte den Hund Tonya getauft, nach seiner Exfrau. Angeblich war sie eine richtige Menschenfresserin – Tonya, der Hund –, aber bislang hatte Eleanor sie immer nur halb wach erlebt.

Sie klopfte an die Tür. »Mom! Lass mich wieder rein. Ich hab noch nicht mal gebadet.«

Normalerweise badete sie gleich nach der Schule, bevor Richie nach Hause kam. Das machte das Baden bei fehlender Tür weitaus entspannter, vor allem, seit jemand das Laken weggerissen hatte.

Ihre Mutter ignorierte sie.

Die Kleinen waren schon auf dem Spielplatz. Das neue Haus lag direkt neben einer Grundschule – der Schule, in die Ben, Mouse und Maisie gingen –, und der Spielplatz befand sich direkt hinter ihrem Garten.

Da Eleanor nicht wusste, was sie sonst tun sollte, ging sie zu den Schaukeln, wo sie Ben sehen konnte, und setzte sich auf eine. Endlich war Jackenwetter. Eleanor wünschte, sie hätte eine besessen.

»Was macht ihr eigentlich, wenn es zu kalt ist, um im Freien zu spielen?«, fragte sie Ben.

Er holte Matchbox-Autos aus seiner Tasche und stellte sie auf dem Boden in einer Reihe auf. »Letztes Jahr hat Dad uns immer um halb acht ins Bett geschickt.«

»O Gott. Dich auch? Warum sagt ihr Dad zu ihm?« Sie bemühte sich um einen gelassenen Ton.

Ben zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich weil er mit Mom verheiratet ist.«

»Ja, aber –« Eleanor strich mit den Händen die Schaukelketten auf und ab und roch dann an ihnen. »– früher haben wir das nicht gemacht. Hast du das Gefühl, dass er dein Dad ist?«

»Ich weiß nicht«, sagte Ben tonlos. »Wie soll sich das denn anfühlen?«

Sie antwortete ihm nicht, und er stellte weiter seine Autos auf. Er musste dringend zum Friseur: sein erdbeerblondes Haar kringelte sich fast bis zum Kragen. Er trug ein altes T-Shirt von Eleanor und Cordhosen, die ihre Mutter an den Beinen zu Shorts abgeschnitten hatte. Eigentlich war er zu alt, um mit Autos im Park zu spielen – er war elf. Andere Jungen in seinem Alter spielten den ganzen Abend Basketball oder hingen in Cliquen am Rand des Spielplatzes herum. Eleanor hoffte, dass Ben ein Spätzünder war. In diesem Haus war kein Platz für Teenager.

»Er mag es, wenn wir Dad zu ihm sagen«, sagte Ben und reihte weiter seine Autos auf.

Eleanor blickte auf den Spielplatz. Mouse spielte mit ein paar Kindern Fußball. Maisie hatte das Baby offenbar irgendwohin mit zu ihren Freundinnen genommen …

Früher hatte sie das Baby ständig am Hals gehabt. Im Augenblick hätte es ihr allerdings nichts ausgemacht, auf den Kleinen aufzupassen – dann wäre sie wenigstens beschäftigt gewesen –, aber Maisie wollte Eleanors Hilfe nicht.

»Wie war es denn?«, fragte Ben.

»Wie war was?«

»Bei den anderen Leuten zu leben.«

Die Sonne stand gerade noch ein wenig über dem Horizont, und Eleanor schaute konzentriert hin.

»Okay«, sagte sie. Schrecklich. Einsam. Besser als hier.

»Waren noch andere Kinder da?«

»Ja. Ganz kleine. Drei.«

»Hattest du dein eigenes Zimmer?«

»Könnte man sagen.« Immerhin hatte sie das Wohnzimmer der Hickmans mit niemandem teilen müssen.

»Waren sie nett?«

»Ja … doch. Sie waren nett. Nicht so nett wie ihr.«

Am Anfang waren die Hickmans nett gewesen. Aber dann hatten sie die Nase voll.

Eleanor sollte eigentlich nur ein paar Tage bei ihnen bleiben, vielleicht eine Woche. Bis Richie sich wieder abgeregt hatte und sie nach Hause kommen durfte.