Ellen und die lustige Ursel - Josephine Siebe - E-Book

Ellen und die lustige Ursel E-Book

Josephine Siebe

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Beschreibung

... »Es hat zum Essen geläutet. Die gnädige Frau kann das Zuspätkommen nicht leiden.« Weg war sie wieder. Ellen Leander stieg ein wenig beklommen die Treppe hinab und wurde unten von Marie in ein Zimmer gewiesen, in dem ein gedeckter Tisch stand. Die Fenster des Zimmers gingen nach dem Garten hinaus. Doch der war nicht wie sich Ellen Leander einen Garten dachte voller Blumen und dichter Büsche, ein wenig verträumt und geheimnisvoll; sondern sehr sauber, sehr gespreizt und etwas kahl. Alle Wege waren mit weißen Kacheln eingefasst, nur ein paar Rosenbüsche gab es, sonst nur Rasenflächen und im Hintergrunde lange niedrige Buschreihen. Vielleicht waren es Himbeerbüsche. Ellen Leander musste an Frau Bienerts Erzählung denken, aber das Lächeln, das ihr kommen wollte, erstarb gleich wieder, denn sie hörte die Tante kommen. Frau Hofrat Schilling rauschte in Wahrheit in das Zimmer. Sie trug jetzt ein seidenes Kleid, und sah sehr feierlich und sehr unnahbar in ihm aus. Es war ein ungemütliches Mahl. Tee gab es und allerlei sehr dünne Schnittchen, auch eine Platte mit kleinen Kuchen. Von denen aß die Hofrätin selbst sehr reichlich, Ellen bekam nur einmal angeboten, und sie dachte mit einiger Sehnsucht an Frau Bienerts herzhafte Schnitten und Schüsseln voll Kartoffeln. ...

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Ellen und die lustige Ursel

Ellen und die lustige Ursel1. Kapitel. Kleidersorgen2. Kapitel. Alte Geschichten3. Kapitel. Der erste Abend in Wolkenburg4. Kapitel. Die Verwandten am Höhenweg5. Kapitel. Die kleine Marie6. Kapitel. Urschel-Purschels Abenteuer7. Kapitel. Gefangen und frei8. Kapitel. Friedrichs Wanderung9. Kapitel. Die fremden Vögel in des Forstrats Garten10. Kapitel. Das verlorene Buch11. Kapitel. Wartezeit12. Kapitel. Wie es zu Ende gehtImpressum

Ellen und die lustige Ursel

Josephine Siebe

Eine Erzählung für Mädchen

1. Kapitel. Kleidersorgen

»So was, das geht nun nicht, Fräulein Ellen, mit den paar alten Kleidchen, diesen Lümpchen, können Sie nicht zur Frau Hofrätin fahren. Ja, und fahren müssen Sie!«

»Muss ich es wirklich, Mutter Bienert?« Ellen Leander sah bedrückt auf die paar Kittelkleider, die Frau Berta Bienert, ihre Zimmerwirtin, sehr kritisch und sehr nachdenklich betrachtete. Groß war die Pracht wirklich nicht. Die dicke Frau Bienert stieß einen recht hörbaren Seufzer aus, hob ein schon verblichenes grünes Kleidchen empor und sagte vorwurfsvoll und mitleidig zugleich: »Und das hier ist nun Ihr Feinstes. Nä, nä, Fräulein Ellen, da muss was her, sonsten macht die Frau Tante gar zu hofrätliche Augen, so was das kenne ich.«

Ellen Leander musste in all ihrer Sorge nun doch über die hofrätlichen Augen lachen, gleich darauf aber stürzten ihr die Tränen aus den Augen, sie umhalste die dicke Frau und rief klagend: »Aber Mutter Bienert, ich habe doch kein Geld.«

»Hä, so schlimm ist das nicht. Der Herr Direktor schickt doch das Geld alle Vierteljahr, na, und so knauserig wird er doch nicht sein und die Ferien abziehen. Das nehmen wir dann für'n Kleid. Na, hat die Bienerten nicht mal wieder recht?«

Frau Bienert sah sehr triumphierend drein, aber das trübe Gesicht Ellens hellte sich nicht auf. »Nein«, sagte sie leise, »für das – das Geld – soll Friedrich mitreisen, er muss mit!«

»Er muss mit!« Frau Bienert wollte das nicht so einleuchten; sie wiederholte deshalb die Worte langsam und fragte dann erstaunt: »Ja wieso denn? Die Frau Tante hat ihn doch gar nicht eingeladen. Und der Herr Direktor?«

»Nein, das hat sie nicht, weil sie ihn nicht kennt. Aber sie soll ihn kennenlernen, sie und der Onkel Gerhard«, rief Ellen eifrig. »Sie kennen ihn nicht, darum sind sie ungerecht gegen ihn. Und Onkel Gerhard ist doch unser rechter Vormund – ich denke immer, er weiß gar nicht, wie Friedrich von seinem Stellvertreter behandelt wird.«

Mutter Bienerten war zu erstaunt über diese Rede, sie musste sich setzen. Sie sank mit einem lauten Ruck auf einen Stuhl nieder, faltete die Hände über den Leib und sagte fast andächtig: »Nä, was Sie klug sind, Fräulein Ellen.«

In dem lieben jungen Gesicht hellte ein Lächeln auf. Rasch kuschelte sich Ellen neben die dicke Frau und enthüllte derselben ihren ganzen Plan. Ihr Bruder Friedrich sollte mitreisen nach Wolkenburg, in die Heimat der Tante Hofrat Schilling. Dort sollte er in irgendeinem kleinen Gasthaus wohnen, und sie wollte der Tante und dem Onkel, der auch in Wolkenburg wohnte, allmählich erklären, wie ungerecht Friedrich behandelt würde.

»Das wird er nu wirklich«, sagte Frau Bienert. »Ist das 'ne Art, einen jungen Mann, weil er nicht werden mag, was der Herr Vormund will, einfach – nu sagen wir mal, vor die Türe zu setzen.«

Ellen nickte traurig. Ja, so war es. Vor ein paar Jahren hatten weder sie noch ihr Bruder gedacht, dass sie einst beide einmal das Gnadenbrot der Verwandten würden essen müssen. Da lebten ihre Eltern noch. Der Vater, der schon jung einen großen Ruf als Gelehrter hatte, und die heitere, tätige Mutter. Und dann starben beide kurz hintereinander, der Vater nach langem Siechtum, die Mutter erschöpft von der unermüdlichen Pflege und dem tiefen Gram. Es fand sich, dass für die Kinder nichts geblieben war. Das Vermögen hatte der Professor Leander für kostspielige Reisen und Forschungen aufgebraucht und war viel zu früh gestorben, um die Früchte seiner Arbeit noch ernten zu können. Zum Vormund der Kinder hatte er einen Verwandten, den Geheimrat Gerhard von Thurn bestellt. Doch dem alten Herrn schien das Amt zu mühsam. Er übergab alles einem Neffen, dem Bankdirektor Schilling, der erstattete ihm nur von Zeit zu Zeit Bericht über das Ergehen der Kinder. Für die Erziehungskosten hatte Geheimrat von Thurn eine Summe ausgesetzt, er hatte dafür Professor Leanders Sammlungen angekauft. Wie hoch der Preis war, wussten die Geschwister nicht, sie wussten auch nicht, wie weit des Onkels Interesse an ihnen ging, es fehlte ihnen jede Verbindung mit diesem, denn Direktor Schilling hatte stets betont, der Geheimrat wünsche nicht belästigt zu werden. Der Direktor war ein selbstherrlicher, kalter Mann. Er wünschte, die Kinder sollten widerspruchslos gehorchen und bestimmte, Friedrich Leander solle Bankbeamter werden. Als darauf der junge Mann, der seines Vaters Neigung zur Wissenschaft geerbt hatte, sich weigerte, dies zu tun, erklärte der Direktor kurz, dann möge er sehen, wie er durchkomme. Zum Studium erhalte er keinen Pfennig. Und dabei blieb es. Wille stand gegen Wille. Friedrich Leander dachte, es hat sich schon mancher durch seine Studienjahre durchgehungert, warum soll ich's nicht auch tun. Er hatte aber einen kleinen tapferen Kameraden zur Seite, das war seine Schwester Ellen. Die sollte nach Bestimmung des Direktors Lehrerin werden, und sie fügte sich, obgleich ihre Sehnsucht heimlich auch einen anderen Weg ging. Direktor Schilling hatte sie in einer guten und teuren Pension untergebracht und wunderte sich, als Ellen ihm eines Tages schrieb, sie möchte gern die Pension wechseln und zu Frau Bienert ziehen, dort wäre sie noch besser untergebracht. Meinetwegen mag sie, hatte der Direktor gedacht und dann die Sache über seinen vielerlei Geschäften vergessen. Er ließ vierteljährlich das Pensionsgeld an Ellen Leander anweisen und ahnte nicht, dass davon fortan die beiden Geschwister lebten. Er ahnte auch nicht, dass sie bei Frau Bienert zwei kleine einfache Stuben hatten und dass sich beide kümmerlich durchhalfen.

Friedrich hatte erst das Opfer der Schwester nicht annehmen wollen. Aber da hatte Frau Bienert, die in ihren jungen Jahren im Elternhaus bei Frau Leander diente, ihm herzlich zugesprochen. Zwischen dieser Zeit und der späteren Krankheit von Frau Leander hatten Jahre gelegen, aber der Zufall führte die beiden Frauen dann noch einmal zusammen, und die Professorin hatte die schlichte Frau dabei gebeten: »Denken Sie ein bisschen an meine Kinder.«

Frau Berta Bienert vergaß das Wort nicht. Von Zeit zu Zeit tauchte sie in der Pension auf, in die Direktor Schilling Ellen gebracht hatte, und Ellen war es dabei immer so, als brächte sie ihr ein Stück Heimat mit. Professor Leander war schon krank in die große fremde Stadt übergesiedelt, und das schwere Erleben hatte die Kinder nie recht heimisch darin werden lassen. Wie wurzellos waren sie, voll Sehnsucht nach der kleineren Stadt, aus der ihre Mutter stammte, in der sie ihre ersten glücklichen Jugendjahre verlebt hatten. Und Frau Bienert wusste von dieser kleinen Stadt, sie wusste von der Mutter Jugendzeit, von dem Haus im Garten, in dem diese groß geworden war. Frau Bienert war auch in der großen Stadt nie recht heimisch geworden. Sie ist nach dem Tode ihres Mannes, der Briefträger war, in der Stadt geblieben und vermietete, wie dies viele einsame Frauen tun, ihre Zimmer.

Irgendein Studentlein befand sich immer wohl in Frau Bienerts Obhut. Reichtümer erwarb sie sich nicht, aber jeder, der sie verließ, bewahrte ihr im Herzen ein gutes Andenken.

Zu Frau Bienert war Ellen Leander in ihrer Sorge um den Bruder geflüchtet, und Frau Bienert hatte gemeint, für das, was Ellen verbrauche, könnten zur Not alle beide leben, gerade nicht üppig, aber – und da war Ellen der dicken Frau um den Hals gefallen und hatte gerufen: »Wir ziehen zu Ihnen, Frau Bienert, ach, dann ist's ein bisschen wie zu Hause!«

Es war wirklich ein bisschen wie zu Hause, denn Frau Bienert sorgte mütterlich für die beiden jungen Menschen. Die hausten zufrieden in ihren kleinen Zimmern, waren fleißig und redeten manchmal von der Zukunft und von erreichten Zielen. Friedrich Leander tat dies mit dem Frohmut eines jungen Menschen, der seinen rechten Lebensweg gefunden hat. Ellen wurde dann mit dem Bruder froh und verhüllte unter dieser Freude ihre eigene Sehnsucht. Über ein Jahr schon wohnten die beiden zufrieden zusammen, als für Ellen unvermutet eine Einladung der Frau Hofrat Schilling, der Mutter des Direktors, kam, die eine Base des Professors war. Sie hatte sich bisher nie um die verlassenen Kinder gekümmert, aber nun schrieb sie auf einmal, Ellen möchte die Sommerferien bei ihr zubringen. Zugleich kam ein Brief, in dem Direktor Schilling sie ermahnte, der noch unbekannten Tante, seiner Mutter, ja eine zusagende Antwort zu geben. Sie möchte es indessen vermeiden, in Wolkenburg von ihrem Bruder zu sprechen, auf den sei man sehr erzürnt. Der letzte Nachsatz hatte Ellen jede Freude an der Einladung verdorben. Erst dann wurde sie wieder froh, als ihr zum Bewusstsein kam, dass ja auch in Wolkenburg ihr eigentlicher Vormund wohne, der vom Vater ausgewählte Beschützer für sie. Nun würde es ihr gelingen, ihn endlich zu sehen, und vielleicht konnte sie dann auch trotz des Direktors Verbot mit ihm von Friedrich sprechen. Und heimlich schmiedete sie den Plan, Friedrich sollte mit nach Wolkenburg reisen, um dort zu wohnen wie irgendein Sommergast. Sie wollte dann zu dem Oheim von ihm sprechen und vielleicht, nein, ganz sicher, würde der schließlich verlangen, Friedrich zu sehen, und dann –.

»Und dann wird er ihn schon verstehen, wird ihn lieb gewinnen«, rief Ellen Leander, die der guten dicken Frau Bienert ihren schönen heimlichen Plan enthüllt hatte. »Wird er nicht, Mutter Bienert?«

»Nu freilich, ja doch, er wird schon.« Frau Berta Bienert nickte gleich dreimal. Und dann sagte sie weiter: »Sie sind wirklich klug, Fräulein Ellen.«

»Onkel Gerhard ist doch selbst ein Gelehrter, sein Name ist berühmt, sagt Friedrich, der muss doch verstehen, dass einer lieber studiert als zur Bank geht.« Ellen spann ihre Gedanken weiter aus, und ihre Beschützerin nickte wieder und wieder. »So einer, der immer mit Geld und mit weiter nischt als Geld zu tun hat, der kann das eben nich verstehen«, sagte diese. »Wie Ihre Mutter selig sich verlobt hat, dazumal hatt' ich ja schon meinen guten Bienert, da hab' ich gleich gesagt: Fräulein Lottchen muss was Gelehrtes freien, die ist fürs Geistige.«

»Ach, erzählen Sie mir doch etwas von Mutter und den Großeltern«, bat Ellen, »ich habe heute nicht so viel zu lernen, ich arbeite ein bisschen dabei.«

»Ist recht«, sagte Frau Bienert, die nur allzu gern die schon oft erzählten Geschichten wiederholte. »Aber«, fügte sie seufzend hinzu, »mit den Kleidern sind wir noch nicht im reinen. Herrjeh, jetzt fällt mir was ein« – unterbrach sie sich selbst, sie sprang trotz ihrer Dicke mit großer Behändigkeit auf, lief aus der Stube und kehrte nach einer Weile mit einem sorglich umhüllten Paket zurück. Sie wickelte es aus, und ein paar feine wie Seide glänzende Linnentücher kamen zum Vorschein. »Die hat mir dazumal Ihre Großmutter selig geschenkt, als es mit Bienerten richtig wurde«, erzählte sie. »Aber alleweile sind sie mir zu fein gewesen, und nu machen wir 'n Staatskleid draus. Sie sticken was um Hals und Ärmel, Fräulein Ellen, das geht ja bei Sie wie's Brezelbacken, das wird 'n Staat. Und aus dem alten Weißen nähen wir 'ne Bluse, na, die Frau Hofrätin soll schon staunen, wenn unser Fräulein Ellen ankommt!«

Ellen Leander strich behutsam über das seidenzarte Linnen. »Das geht doch nicht, Mutter Bienert«, sagte sie bedrückt, »das ist doch –«

»Unsinn«, unterbrach sie die dicke Frau. »Möchte wissen, was dabei ist, wenn Sie aus den Tüchern von Ihrer Großmutter selig ein Kleid bekommen. Oder ist man zu vornehm, so was von der Mutter Bienerten, die kein Kind und kein Kegel hat, anzunehmen, hä?«

Da fiel Ellen Leander lachend und weinend der treuen Schützerin um den Hals und sagte fröhlich zu allem ja, was diese ihr vorschlug. Sie machte sich auch gleich auf den Weg, um ein Schnittmuster zu holen, denn der teure Schneiderinnenlohn sollte gespart werden; Mutter Bienert meinte zuversichtlich: »Das kriegen wir alleine.« Sie suchte gleich ihre große Schere hervor und sah die weißen Tücher so kampfbereit an, dass Ellen Leander eiligst davonlief, um den Schnitt zu holen, sie merkte schon, Mutter Bienert war tatendurstig, das Zuschneiden musste heute noch begonnen werden. Und schließlich war ein neues Kleid, ein weißes Leinenkleid dazu, schon lange ein heimlicher Wunsch von ihr gewesen, der nun in Erfüllung gehen sollte und als Ereignis in Ellens Leben zu werten war. Sie hüpfte die enge steile Treppe eilfertig hinab, bog beim letzten Absatz etwas schnell um und wäre wohl zur Haustüre hinausgefallen, wenn sie unten ihr Bruder Friedrich nicht aufgefangen hätte. Der hielt sie fest, sah ihr erstaunt in das heiße, noch etwas verweinte Gesicht und fragte betroffen: »Ellen, was gibt es, was ist geschehen?«

»Komm mit!« Ellen sah auf des Bruders Büchertasche, sie war klein, und sogleich überlegte sie, zu schwer hatte er nicht zu tragen, und kam er jetzt schon heim, so hatte er auch von der Universität aus keinen Umweg gemacht. Etwas Luftschnappen an diesem warmen Junitag konnte ihm daher nur gut sein. Sie bettelte noch einmal: »Komm mit, begleite mich, ich erzähle dir alles unterwegs, ich habe mit dir viel zu besprechen.«

»Es ist recht, ich gehe mit«, sagte Friedrich, und die Geschwister schritten aus dem grauen Haus auf die im Sonnenglanz liegende Straße.

2. Kapitel. Alte Geschichten

Frau Bienert musste an diesem Nachmittag samt ihrer großen Schere sich in Geduld fassen, denn Ellen Leander, die sonst in allen Dingen flink wie ein Wiesel war, kam und kam nicht wieder. »Wenn se den Stoff mit hätte, dächte ich, sie machte gleich das Kleid«, brummte Frau Bienert, als sie zum fünften Male aus dem Fenster blickte und Umschau nach der Ausbleibenden hielt. »Na, und nu mach' ich das Abendbrot, dann wird se schon kommen.«

Vielleicht war es gerade in dem Augenblick, als Friedrich Leander zu seiner Schwester sagte: »Jetzt wollen wir umkehren, sonst wartet Mutter Bienert mit dem Abendessen auf uns.«

Sie liefen beide einen grünen, etwas vom Großstadtlärm entfernten Weg entlang und hielten sich dabei wie die verlaufenen Kinder im Märchen an den Händen. Ellen hatte dem Bruder ihren Plan enthüllt, und der hatte erst Nein gesagt, er wollte sich den Verwandten nicht aufdrängen. Doch der Schwester sanftes Zureden hatte das Nein in ein Ja verwandelt. Ellen hatte recht, der Vormund selbst kannte ihn ja gar nicht, und vielleicht gelang es doch, Anerkennung bei ihm für sein Studium zu finden. Auch fiel er ja den Verwandten nicht zur Last, wenn er irgendwo wohnte. Es war ein freudiges Rechnen, das beide anstellten, Ellen kletterte mit ihren Ansprüchen für den Bruder ein bisschen in die Höhe, behauptete, sie brauche selbst gar nichts, er aber redete von einem Bauernhaus in Wolkenburgs Nähe, in dem er vielleicht Aufnahme finden würde. »Billig, billig, billig muss es sein«, rief er lachend.

Doch Ellen klagte: »Dann bist du doch nicht in meiner Nähe, wenn du irgendwo auf dem Dorfe wohnen willst.«

»Holde Schwester, vertrau auf diese hier«, erwiderte Friedrich und schlug auf seine langen schlanken Beine. »Die überbrücken jede Entfernung, sie sind meine Elektrische und mein Auto zugleich.«

»Und die meinen kommen den deinen entgegen, und wir treffen uns unterwegs«, rief Ellen froh. »Nun aber komm flink. Lieber Himmel, Mutter Bienert und ihre Schere, was werden die sagen, wenn ich so spät komme!«

Dann eilten sie heimwärts, und sie kamen gerade, als Frau Bienert mit einem befriedigten »So« den letzten Teller auf den Tisch stellte. Die Flurtüre, etwas altersschwach, wie alles im Hause, knarrte und rasselte, und die fröhlichen Stimmen der Geschwister wurden laut. »Nu schimpfe ich«, dachte Frau Bienert, aber sie schimpfte nicht. Ellen hing ihr auf einmal wieder am Halse, Friedrich drehte die beiden rundum, die dicke Frau pustete, lachte, schrie, und dabei erfuhr sie, dass Friedrich mitfahren wolle, den Plan der Schwester guthieße und dass Ellen den Schnitt nicht besorgt hätte, weil, ja weil sie eben mit dem Bruder spazieren gegangen war.

»Nä so was!« Frau Bienert schüttelte den Kopf, und dann ließ sie sich von den beiden fröhlichen jungen Menschen in ihre Stube ziehen, atemlos sank sie auf ihr Sofa nieder, vor dem der gedeckte Tisch stand, und als sie sagen wollte: »Nu esst«, reichte ihr Friedrich schon die Kartoffelschüssel hin und bat: »Essen Sie, verehrte Mutter Bienert, ich geb's Ihnen gerne! Dies ist eine ganz seltene Frucht.« Es war ein vergnügtes Mahl, das die drei zusammen hielten. Sehr reich war der Tisch freilich nicht bestellt, außer den Kartoffeln, die Friedrich bald Lukullusfrüchte, bald Hesperidenäpfel nannte, gab es nicht viel. Aber eine munterere Laune konnte an der glänzendsten Tafel nicht herrschen. Friedrich war unerschöpflich in lustigen Einfällen, und da Frau Bienert all die schönen Namen, die er den Gerichten gab, wunderlich verdrehte, kamen die drei aus dem Lachen nicht heraus.

Von der Reise redeten sie dann auch, als die Kartoffelschüssel leer gegessen war. Friedrich rief: »Mutter Bienert, wenn die Tante Hofrätin halb so nett ist wie Sie, dann wird's gut. Himmel, was ist Ihnen, haben Sie Essig getrunken?«

Nein, Essig hatte Frau Bienert nicht getrunken, aber sie schnitt wirklich ein sehr säuerliches Gesicht. Und Ellen kam es in den Sinn, dass sie dieses Gesicht schon ein paarmal aufgesetzt hatte, wenn von der Tante Hofrat die Rede war. Sie fragte darum in jäh erwachter Angst: »Mutter Bienert, Sie kennen wohl die Tante?«

»Nu kennen, was man so richtig kennen nennt niche, aber kennen tu ich sie freilich«, orakelte Frau Bienert. Und als sie in die etwas verdutzten Gesichter der Geschwister sah, die aus dieser geheimnisvollen Kenngeschichte nicht so recht klug wurden, erzählte sie flink, wo sie einst die Tante Hofrätin kennengelernt hätte. Im großelterlichen Hause von der Mutter her war diese mit der Schwester zu Gaste gewesen. »Bei Leanders, euren Großeltern, waren sie, na, und wer da war, der kam allemal in eurer Mutter Elternhaus, das war mal so«, sagte Frau Bienert. »Und das Linchen, die jetzige Frau Hofrätin, ist oft gekommen, obgleich eure Mutter ein paar Jahre jünger, fast noch ein Kind war. Ich habe immer gemeint, sie ist wegen der vielen Himbeeren gekommen, die im Garten wuchsen, die aß sie so gerne. Ein Leckermaul war sie, und eine Zimpersuse dazu. Na, es kann sich ja geändert haben. Ihre Schwester Regine war freilich anders, ganz anders. Hm, ja die!« Frau Bienert schwieg, und die Geschwister fragten wie aus einem Munde: »Wie war diese denn?«

»Aparte war sie«, brummelte Frau Bienert. »Klug und alleweile trug sie ihre Nase so hoch wie eine Prinzessin. In die Himbeeren ist sie nie gegangen, aber in eures Großvaters Bücherstube hat sie gesteckt. Ja, ja, und dann hat sie sich mit 'nem schönen feinen Herrn verlobt, und das Glück wäre wohl groß gewesen, wenn sie sich geheiratet hätten. Ja, ja!«

»Aber warum haben sie sich denn nicht geheiratet?«, fragte Ellen hastig. Sie war voll drängender Neugier, diese Tante Regine fesselte sie viel mehr als die Frau Hofrat, auch ihr Bruder sagte: »Sie müssen uns den Schluss der Geschichte nicht vorenthalten, Mutter Bienert. Wie ist's mit der Prinzessin geworden, die keine Himbeeren aß, das lässt auf eine Geschmacklosigkeit schließen, ich wäre himmelgern in die Himbeeren gegangen.«

Frau Bienert lachte ein wenig, aber gleich darauf zeigten sich auf ihrem Gesicht wieder Sorgenfalten und sie murmelte bedrückt: »Lieber Himmel, er ist doch gestorben. Sie haben gesagt, er hätte sich die Krankheit geholt, als er ein Kind aus dem Wasser gezogen hat. Ganz kurz vor der Hochzeit war es. Na ja, und weiter weiß ich nichts, aber ich denke alleweile, das Fräulein Regine wird später einen anderen geheiratet haben. An Freiern hat's ihr nicht gefehlt.« Mit dieser erfreulichen Aussicht schloss Frau Bienert ihre Erzählung, und Ellen, die schon das allertiefste Mitleid mit der ihr fremden Anverwandten bekommen wollte, atmete wieder erleichtert auf. Es gefiel ihr nur nicht, dass Frau Bienert so gar nichts von der schönen Regine weiter wusste.

»Denken Sie doch einmal nach, Mutter Bienert«, bat sie, »vielleicht fällt es Ihnen doch ein, was aus dieser Regine geworden ist.«

»Nä doch, wie kann mir denn was einfallen, was ich nicht weiß«, rief diese etwas unwirsch. »Nachher ist mein Bienert wieder gekommen, und dann hat's bei mir Hochzeit gegeben, und ich bin fortgezogen, gerade fünfzehn Jahre war eure Mutter damals. Die hat mir aber versprochen: Bertchen, wenn ich mich verlobe, kriegst du 'ne Anzeige! Na, und sie hat Wort gehalten, ich kriegte 'ne Anzeige, und dann war's alle, bis wir uns mal hier wieder getroffen haben, aber das wisst ihr ja.«

Ja, wie das gewesen war, wussten die beiden wohl. Da war eines Tages Frau Bienert angekommen, sie hatte die Nachricht vom Tode des Professors in der Zeitung gelesen. Breit, stattlich, freundlich hatte sie vor der müden blassen Frau gestanden und gleich gesehen, es gab allerlei zu helfen und zu pflegen. Und von dem Tage an war Frau Bienert immer da gewesen, wenn sie gebraucht wurde, zuletzt war sie von der Kranken überhaupt nicht mehr weggegangen. Sie ahnte vielleicht, welch ein Trost ihre gute warme Stimme der armen Mutter war, die so schweren Herzens ihre Kinder allein ließ.

»Ach, Mutter Bienert, ich graule mich ein bisschen vor dieser Frau Hofrat«, sagte Ellen seufzend.

»Ih lieber gar, wer wird denn so was tun! Vor dem Linchen hab ich mich nie gegrault, das war mir zu klein und zimperlich. Aber gut ist's am Ende schon, dass der Herr Friedrich mitfährt. Ojemine, nun müssen wir doch auch noch dem seine Sachen richten.«

Frau Bienert sprang auf und raffte hurtig das Geschirr zusammen. Sie war plötzlich in solcher Eile, als wollten die Geschwister morgen schon reisen. Ellen half ihr dabei, Friedrichs Hilfe aber wurde von beiden abgelehnt, er solle nur an seine Arbeit gehen, riet ihm die dicke Frau fürsorglich. »Dabei kann er nämlich keine Teller zerschmeißen«, sagte sie hörbar genug zu Ellen. Friedrich, der es gut vernahm, rief lachend hinaus: »Mutter Bienertchen, Sie verleumden mich und meine wirtschaftliche Tätigkeit. Lassen Sie mich einen Tag den Haushalt führen, dann sollen Sie sehen, dass –"

»Alles drunter und drüber geht. Nä, nä, Herr Friedrich, mit Ihren Büchern, da wissen Sie Bescheid, aber nicht mit meiner Wirtschaft. Ei du heiliger Strohsack, ich denk' immer noch an das Kaffeegekoche, die ganzen Bohnen haben Sie ins Wasser getan und –"

»Genug, genug, ich flüchte in meinen Tempel«, schrie Friedrich. Die Türe klappte, und in der Küche sagte Frau Bienert mit breitem behaglichem Lachen: »Ein engelsguter Mensch ist Ihr Friedrich, Fräulein Ellen, aber als Dienstmädchen möcht' ich 'n doch nicht haben.«

Ellen lachte hell auf bei dem Gedanken, der liebe unpraktische Bruder sollte in einem Haushalt helfen. O, wie viele verkehrte törichte lustige Taten hatte er schon vollbracht, welche Verwirrung hatte er schon manchmal angerichtet in seiner gutherzigen Unbeholfenheit. Vergnügt fragte sie: »Gelt, Mutter Bienert, ich kann ihn nicht allein lassen?«

»Nä, das geht nicht. Und wenn der Herr Bankdirektor das nicht einsieht, dann – dann – na dann müssen Sie sich eben selbst helfen.«

»Und ihn – belügen.« Von Ellen Leanders klarem Gesicht war das Lachen geschwunden, eine tiefe Falte grub sich in die weiße Stirn. Da war er wieder, der quälende Gedanke, den sie sich über ihr heimliches Vorhaben machen musste. Der peinigte sie, der dämpfte so oft ihre junge Freude. Warum nur durfte sie nicht offen bekennen: Ich helfe meinem Bruder, ihm, dem Unrecht geschieht.

»Zerquälen Sie sich nur nicht wieder«, klang da gut und tröstlich Frau Bienerts Stimme an ihr Ohr. »Kindchen, es wird noch alles gut. Und die Reise, die freut mich. Ich denke immer, wenn Sie dem Herrn Vormund so recht die Wahrheit sagen, der versteht sie. Und nachher kommen Sie wieder in 'ne feine Pangschion, und der Herr Friedrich geht auch in 'nen feines –« – »Mutter Bienert!« Ellen sagte weiter gar nichts, sie sah nur mit den grauen Augen die dicke Frau vorwurfsvoll an, und die begann sich plötzlich mit der Schürze die Augen zu reiben. »Ich weiß schon, ich weiß schon«, brummelte sie, »Mutter Bienerten vergisst ihre zwei nicht. Gucken Sie mich man nicht so verbiestert an, Fräulein Ellen, und jetzt fangen wir unser Geschneidere an. Denn sonst kommt der Reisetag anspaziert, und wir sitzen da wie die törichten Jungfrauen in der Bibel, die kein Öl hatten.«